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Tom Gapski wurde 1964 in Rheinland-Pfalz geboren und kam 1984 zum Studium des Planungswesens und des Lebens nach Berlin. Nach seinem Ingenieursstudium und Tätigkeit als Stadtplaner wechselte er ins Filmgeschäft, wo er unter anderem für Requisite und Szenenbild arbeitete. Nach der Geburt seines Sohnes orientierte er sich erneut neu und wurde Erzieher. Heute arbeitet er an einer Schule in Berlin Neukölln. Tom Gapski war Mitglied in Bands unterschiedlichster musikalischer Ausrichtungen und spielte Funk, Blues, Punkrock und Rock am Bass, dem Saxophon, der Gitarre und dem Mikrofon. Zurzeit ist er Mitglied der Rockband Quarterbrain und lebt mit Frau und Kind in Berlin-Neukölln. Côte Sauvage wurde in Toulouse geschrieben.

Tom Gapski

Côte Sauvage

– die wilde Küste –

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© 2017 Tom Gapski, Berlin

Umschlaggestaltung: Tom Gapski

Lektorat: Bettina Henningsen

Verlag:

tredition GmbH Hamburg

ISBN:

978-3-7439-1009-6 (Paperback)

978-3-7439-1010-2 (Hardcover)

978-3-7439-1011-9 (e-Book)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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Für Chicken the Conquerer

und natürlich

für die beiden Gapskis in meiner kleinen Welt

1

Inzwischen lenkte ich den Wagen in Richtung der untergehenden Sonne, so wie einer dieser Cowboys auf der Flucht vor der Zivilisation. Ich war nicht auf der Flucht, ich war auf dem Weg zu Otto, aber keiner konnte wissen, worauf das hinauslaufen würde. Vieles hing davon ab, welche Art von Behausung der alte Kauz hier unten bewohnte und mit was für Leuten er sich diesmal umgab. In den vielen Jahren, in denen ich ihn nun kannte, musste ich schon öfter aus seinen Höhlen fliehen, um nicht das letzte bisschen zivilisierten Lebensstils zu verlieren, der mir noch geblieben war. Zudem hatte ich kein treues Pferd unterm Hintern, das mit mir durch Dick und Dünn ging. Keinen treuen Freund, mit dem ich im gemächlichen Trab durch die Prärie ritt. Ich, ich hatte meinen alten Mercedes-Leichenwagen, ein in Ferrari-Rot übertünchtes Modell aus den Siebzigern, und der weigerte sich strikt, mir das Fahren angenehm zu gestalten. Das Ding hustete und furzte bei jeder Kurve und bei jedem Anstieg, als läge es in den letzten Atemzügen. Überall knatterte und knarrte es. Insgeheim rechnete ich jeden Augenblick damit, dass die Kiste in ihre Einzelteile zerfiel. Einst ein eleganter und auf den Friedhöfen dieses Kontinents viel gesehener Wagen, hatte das Fahrzeug unter meinen Fittichen annähernd jeden Lebenswillen verloren. Zugegeben – ich mache es meinen Autos nicht immer leicht. Ich wusste weniger über Motoren und deren Wartung als ein Dreijähriger und deshalb unterließ ich jede Anstrengung, gelegentlich einen Blick unter die Haube zu werfen. Einmal im Jahr besuchte ich einen Freund im Elsass, der gegen ein paar Scheine dafür sorgte, dass das Brummen dort vorn nicht völlig erstarb. Solange das Fahrzeug halbwegs vorwärts rollte, war mir alles andere egal.

Auch wenn mir klar war, das bringt nicht viel, trat ich aber das Gaspedal trotzdem voll durch. Der Motor wurde noch lauter, aber der Wagen rollte unbeeindruckt in seinem gemächlichen Tempo weiter. So durchfuhren wir beschauliche Ortschaften oder baumgesäumte Landstraßen der nördlichen Bretagne, nicht weit von der Küste, und ich widmete all dem keine größere Aufmerksamkeit. Pittoreske Landschaften übten schon lange keinen größeren Reiz mehr auf mich aus. Den Bereich meines Herzens, der sich davon früher mal hatte beeindrucken lassen, den hatte ich schon vor vielen tausend Kilometern aus dem Fenster geworfen und sich selbst überlassen.

Ich schnappte mir ein Bier aus der Kühlbox auf dem Rücksitz und drehte das Radio voll auf. Ich wollte das Stück hören, und vor allem wollte ich dem Klopfen und Klappern dort vorne etwas entgegensetzen. Das melodische Klicken der leeren Bierdosen vor dem Vordersitz reichte nicht mehr aus, um die Misstöne des Aggregats unter der Motorhaube zu übertönen. Mitten in Zappas »Stinkfood« entdeckte ich das Hinweisschild hinter dem Geäst eines Baumes und hätte beinahe die richtige Abfahrt verpasst. Ich musste die Bremsanlage des Wagens bis zur Belastungsgrenze strapazieren, um zum Stehen zu kommen. Komisch, dachte ich mir, eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass Otto sich so nahe der Zivilisation eine Behausung suchen würde. Er bevorzugte in der Regel ziemlich abgelegene Gegenden, um sich niederzulassen. Diesmal schien das anders zu sein. Was ist los mit dir, Otto, wirst du langsam träge oder alt oder sowas? Mann, was zum Teufel hat dich dazu gebracht, dich so nahe einer Ortschaft anzusiedeln, in der noch Menschen wohnen?

Die Strecke wurde zunehmend steil und kurvenreich und in der Mitte einer ziemlich scharfen Linkskurve platzte mir der linke Vorderreifen. Der Wagen schoss von der Straße und wir wären fast von den Klippen geknallt, hätte ich das Fahrzeug nicht rechtzeitig in meine Gewalt gebracht. Dabei fiel mir die Dose aus der Hand und landete auf der Hose und das Bier breitete sich dort aus, als hätte es niemals woanders sein wollen. Ich hasse solche Momente. Ich hasse es, ein gutes, einigermaßen kühles Bier zu verschütten, ich hasse es, in einen Straßengraben zu knallen. Ich hasse es, keinen Ersatzreifen dabei zu haben und vor allem hasse ich unzuverlässige Autos!

Ich versuchte, die Kiste irgendwie an den Straßenrand zu bugsieren, ließ sie ausrollen, stieg aus, öffnete eine neue Büchse, starrte wütend in den Sonnenuntergang und trat dem Müllhaufen an den Kotflügel. Das hob meine Stimmung auch nicht, aber dafür schmerzte mir jetzt auch noch der Fuß. Ein störrisches Pferd hätte ich wenigstens erschießen können! Ich setzte mich ins Gras und trank erst mal in Ruhe aus, sollen sie doch warten, wozu all die Hektik, was soll der Mist? Erst mal einen kleinen Joint und die Welt sieht wieder gut aus!

Mein Zippo war nass geworden und wollte nicht mehr zünden. Und ich wusste, dass der Anzünder von dieser Schrottreuse schon lange seinen Geist aufgegeben hatte. Ich unterließ es, mein Gepäck nach einem Feuerzeug zu durchsuchen, das wäre ebenso aussichtslos wie die Suche im Auto nach einem neuen Reifen. Keine Chance, den Glimmstängel mit Feuer zu versorgen! Also fasste ich einen Entschluss: Ich schnappte mir das Nötigste und latschte los, um vielleicht irgendwo Hilfe zu finden. Die Tatsache, während dieses zwangsverordneten Spaziergangs noch nicht mal in Ruhe rauchen zu können, führte die Liste der Dinge, die mir an diesem Tag auf die Nerven gingen, fort. Zum Glück hatte ich noch ein paar Bierchen dabei!

Während ich der Straße folgte, fluchte ich vor mich hin, als wäre das der einzige Sinn meines Lebens. Keine Angst, versprach ich mir im Stillen, sobald ich bei Otto angekommen bin, werde ich der Kiste ein angemessenes Ende bescheren und mir einen Schrottplatz suchen oder besser noch: sie direkt von den Klippen am Cap Ferrat ins Meer stürzen! Konzentriert, ohne Joint, ohne Musik und wütend über all den Mist erreichte ich schließlich den kleinen Ort, den ich eigentlich schon hinter mir gelassen hatte. Ich fand eine Garage, fand einen Typen, der mit einem neuen Rad und mir zurückfuhr und mir das Ding montierte, wurde eine Menge Geld los und rollte schließlich weiter. Inzwischen war es Nacht. Nimm einfach die Küstenstraße, hatte mir Otto geschrieben, direkt hinterm Ortsausausgang, von dort geht irgendwann, nach etwa zwei Kilometern oder so, ein kleiner Weg in Richtung Strand; nimm den. Du kannst das Schild eigentlich nicht übersehen, »Chéz Otto – Bar Diskothéque«, bieg ab und du bist schon fast da.

Ich war weder überrascht darüber, dass es offensichtlich keine Küstenstraße gab, noch dass kein Schild existierte, wie der alte Knabe es mir geschrieben hatte. Wie würden es wohl die anderen Gäste anstellen, ihr Ziel zu finden? Ich jedenfalls beschloss, sollte ich nicht bald mein Ziel finden, einfach irgendwo heranzufahren und erstmal eine Runde zu pennen. Dann aber entdeckte ich ein paar kleine Lichter, direkt in Richtung Küste.

Der Laden lag eng an die Felsen geklammert und seine Beleuchtung warf ihr mattes Licht auf eine kleine Bucht, die außer einem steinigen Miniaturstrand nur zerklüfteten Fels und riesige Findlinge zu bieten hatte. Ich konnte nicht erkennen, wie weit die Bucht sich erstreckte, es war bereits zu finster und es herrschte Neumond, aber ich ahnte nichts sonderlich Berauschendes. Nur Otto konnte auf die Idee kommen, an einem solchen Ort eine Strand-Disco zu eröffnen.

Ich nahm nicht an, dass er an einem florierenden Geschäft interessiert war, denn auf den ersten Blick schien es sicher, dass er hier seine Ruhe haben würde. Es roch nach Tang und Meer, nach totem Fisch und nach irgendetwas anderem – undefinierbar und unangenehm. Vor einer großen eingeschossigen Hütte auf Stelzen und mit einer enormen Terrasse befand sich das »Chéz Otto«. Es gab einen kleinen Parkplatz und genau hier endete meine Fahrt fürs Erste. Ein paar Autos waren willkürlich abgestellt worden, und ich entschloss mich, den Daimler einfach irgendwo dort stehen zu lassen, wozu sich die Arbeit machen, das Ding unnötig zu manövrieren? Ich dachte nicht darüber nach, wo die Fahrzeuge, die hier rumstanden, herkommen mochten. Ich wusste, hier läuft demnächst ein Fest, wahrscheinlich war ich nicht der erste Gast, wozu sich Gedanken machen? Außerdem war ich völlig erledigt und wollte so schnell wie möglich an ein kaltes Bier. Mein Vorrat war nun doch noch zu Ende gegangen und meine Körper lechzte förmlich danach, wieder auf sein gewohntes Niveau gebracht zu werden. Ich schnappte mir das Nötigste und machte mich auf den Weg. Je näher ich der Hütte kam, umso intensiver wurde der Kneipenlärm, es hörte sich an, als ob dort schon gefeiert wurde. War ich etwa zu spät dran? Ich hatte geplant, mindestens vier Tage vor dem Fest hier zu sein, und ich war mir sicher, das hatte ich auch geschafft. Hatte ich vielleicht ein paar Tage verpasst oder sonst irgendwas nicht mitgekriegt? Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, was los war.

Im Laden saßen allerhand Leute, vor allem Jugendliche. Irgendwo wurde gekifft. Rockmusik übertönte das Gemurmel der Gespräche in der perfekten Lautstärke. Ich mochte Led Zeppelin schon immer und wiegte im Schritt mit dem Rhythmus des Songs. »Dazed and Confused« – das passte! Die Luft war stickig und heiß, das Licht gedämpft. Ich konnte kaum das andere Ende des Raumes sehen. Von den Leuten, die ich sehen konnte, kannte ich keinen. Die meisten sprachen Französisch. Ich war ziemlich überrascht. Die Atmosphäre hier war gut, das war keineswegs etwas, das man von Otto erwartet hätte. Otto war kein geselliger Mensch, hatte es während der letzten zehn Jahre gehasst, mit allzu vielen Leuten zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu sein. Ich hatte wirklich nicht die geringste Vorstellung davon, was hier passiert sein konnte, warum im »Chéz Otto« derart viele Leute rum saßen und dabei auch noch den Eindruck machten, sich wohl zu fühlen. Ich latschte durch den Nebel aus Zigarettenrauch hindurch zum Tresen, und nachdem ich mir einen Hocker ergattert hatte, versuchte ich herauszufinden, wie ich hier an ein Bier kommen konnte. Plötzlich stand er mir gegenüber und ich fiel fast vom Sitz. Scheiße! Otto hatte einen gestutzten, gepflegten Bart, die langen weißen Haare sauber in einem Zopf nach hinten gebunden, klarer Blick und gesunden Teint. Er trug eine neue Jeans und ein buntes Hemd, das ich erst vor kurzem auf einem großen Plakat eines sauteuren Modelabels gesehen hatte. Und er roch nach Parfum! Ich kannte den Mann jetzt schon seit etwa 12 Jahren – seit meinem ersten Semester Germanistik an der FU Berlin – aber so hatte ich den sonst verknitterten und ungepflegten Typen noch nie erlebt.

- Was ist los, Mann, Salût, schön, dich endlich mal wiederzusehen. Hey, schön, dass du da bist! Comment ça va?

Ich rappelte mich auf, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber vor allem versuchte ich, zu antworten. Ich war ziemlich geplättet. Schon seit Jahren hatte ich kein deutsches Wort mehr von Otto gehört und es war mir unbegreiflich, jetzt von ihm in dieser Sprache begrüßt zu werden. Seit seinem Rausschmiss von der Uni 1988 hatte er dem Land und seiner Kultur den Rücken gekehrt und war nie wieder da gewesen. Meist sprach er Französisch oder Englisch, konnte aber auch noch ein paar andere Sachen ganz gut. Wahrscheinlich sprach er zudem tote Sprachen besser als die meisten Lebenden ihre Muttersprache. Wir beide unterhielten uns immer in Französisch, denn das hatte ich drauf, kein Wunder nach all den Jahren hier unten.

- Salût mon ami! Comment ça va?

Er lächelte, etwas, das ich auf diese Weise noch nie gesehen hatte, da sein Lächeln sich gewöhnlich unter dem dichten Gestrüpp eines struppigen Bartes versteckt hielt. Er knallte mir eine Hand auf die Schulter, so fest, dass ich glaubte, das Schulterblatt ist hin, und erst jetzt wusste ich, hier bin ich richtig, bestimmte Gewohnheiten, die legt man nicht ab, die bleiben an einem Menschen kleben wie eine Narbe, die sind immer da. Hey, sagte ich zu ihm, was in aller Welt ist hier los?

- Mann, hast du noch nie `ne volle Kneipe gesehen? Was soll schon los sein? Wie du siehst, verdiene ich mir hier einen geruhsamen Lebensabend.

- Klasse, Otto verdient sich einen geruhsamen Lebensabend!

Ich zog die Worte in die Länge wie eine alte Snob Lady, die über ein verstopftes Klo spricht, und schnitt eine ziemlich angewiderte Grimasse. Ich konnte und wollte das alles nicht glauben. Otto und ein geruhsamer Lebensabend – das passte zusammen wie George Bush und die Friedensinitiative. Irgendetwas musste hier passiert sein, das dem armen Kerl komplett das Gehirn gewaschen hatte. Wer auch immer mir da gegenüber saß, das war nicht Otto, das war vielleicht noch nicht mal die Realität. Klar, das war die Lösung, du bist eigentlich gar nicht hier angekommen, du liegst irgendwo in der Nordbretagne mit deiner Kiste im Straßengraben oder auf dem Grund des Ärmelkanals, dein Schädel ist aufgeplatzt wie eine reife Tomate, du phantasierst im Koma oder im Todeskampf; logisch, das ist die Lösung!

- Schau nicht so ungläubig! Es ist wahr, ich habe vor Kurzem beschlossen, endlich mein Leben zu ändern, mich niederzulassen, den alten Omnibus in eine Scheune zu stellen und etwas dafür zu tun, dass ich mit Siebzig nicht von irgendwelchen Wohlfahrtsgeschichten abhängig bin. Hey Alter, ich werde in ein paar Tagen fünfundsechzig, was meinst du, wie lange mir das Glück noch hold bleibt und mich mit dem Nötigsten versorgt? Mach dir da mal keine Gedanken, Otto ist der Alte geblieben, nur die Umstände haben sich geändert. Junge – wir werden bald ein neues Jahrtausend haben, da heißt es »umdenken oder untergehen«. Und ich werde ja schließlich nicht jünger, oder!?! So, jetzt hältst du dein Maul und trinkst erst mal einen Schluck mit mir, sonst muss ich auf meine alten Tage noch kleine Jungs verprügeln! Ich sag dir, da hab ich echt keinen Bock drauf!

Er schüttete zwei Wassergläser halbvoll mit irgendeinem weißen Schnaps, der roch, als wäre er ein ganzer Obstgarten, und wir ließen die Gläser klirren und kippten das Zeug runter. Sofort änderte sich meine Wahrnehmung und so ziemlich alles war mir mit einem Mal gleichgültig. Ich schwebte auf einer Wolke aus purer Entspannung. Ich war froh, hier unten zu sein, alles andere spielte keine Rolle, Prost Leben, auf dein Wohl!

Ich schaute dem Typen, der mir gegenüber saß, in die Augen, und wieder war ich begeistert von der mysteriösen Ausstrahlung, die hinter diesem Blick verborgen lag. Ich war schon immer gefangen von dieser traurigen, wissenden, klaren, unergründlichen Gedankenwelt, die in Ottos Schädel zuhause war. Er war nicht einfach ein alter Mann, nicht einfach einer von den Typen, die sich in ihrer Lebenserfahrung baden, die aufgehört haben, über das Leben nachzudenken, wozu noch lernen, was soll das bringen? Ich hab’s bald hinter mir, jetzt sollen doch andere das Lernen übernehmen, die Zeiten, die sind für mich vorbei! Otto konnte nie genug lernen. Vom ersten Moment an, als er mir über den Weg gelaufen war, war mir das klar geworden; er war der, der die Fragen stellte, er war der, der neugierig wie ein Kind, mit offenem Mund und fasziniertem Blick, meinen kühnen philosophischen Gedanken gelauscht hatte, nur selten kritische Fragen einwarf und immer wieder nachhakte, immer wieder tiefer ging, in mich hineinzuschauen schien wie einer, dem meine Gedanken offen dargelegt würden, wie ein Buch, das du nur zu lesen brauchst.

Damals war er einer meiner ersten Professoren gewesen. Da hatte mein Alter noch Hoffnungen in mich gesetzt und mir ein Studium finanziert. Ich saß in Ottos Vorlesungen und hörte dem Typen dort vorne zu, und auch wenn seine Worte verständlich waren, auch wenn mir dessen offensichtlicher Sinn klar schien, wusste ich, dass Ottos Thesen einen tieferen Sinn verbargen, den zu entdecken er uns selbst überließ. Er stellte uns auf die Probe. Ich hatte ihn nach einer dieser Vorlesungen aufgesucht, um über diese Dinge zu reden und er hatte mich nur am Arm gepackt und mitgeschleift.

- Keine Zeit! Wir müssen los! Bist du im Besitz eines Motorradhelms?

Verdutzt folgte ich ihm und wir landeten auf einer nicht genehmigten Demo. Arm in Arm marschierten wir in der ersten Reihe und schrien unseren Protest in die Welt hinaus, bis die Bullen mit ihrem Tränengas und ihren Schlagstöcken zum Einsatz kamen und dem Ganzen ein jähes Ende setzten. Otto war dabei von einer Gasgranate umgehauen worden, die ihn mitten auf die Brust traf, also schnappte ich mir den riesigen, schweren Typen und schleppte ihn irgendwie in eine Toreinfahrt, wo wir uns versteckt hielten, bis alles vorbei war. Das war quasi der Beginn unserer Freundschaft. Wir wurden richtig aktiv im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der Welt. Immer wieder bildeten wir politische Aktionsgruppen, gingen zu jeder Demo, die es uns wert schien, überall in Europa, und kriegten öfter auch mal eins in die Fresse. Und wir diskutierten viele Nächte lang über den Sinn des Lebens, den Sinn der Politik und den ganzen anderen Scheiß. Schließlich flog er von der Uni und ich schmiss hin. Ein kleiner pickliger Erstsemestermacho hatte ihn letzten Endes zu Fall gebracht. Er hatte den Typen dabei erwischt, wie er versuchte, auf dem Damenklo einer Frau gegen ihren Willen an die Wäsche zu gehen. Ein einziger Uppercut hatte den Wichser auf die Bretter gelegt und Otto aus der Uni gekickt. Was all die politischen Aktivitäten nicht geschafft hatten, hatte der Schwanz eines Triebtäters innerhalb eines Augenblicks erledigt. Und die Bosse an der Uni rieben sich die Hände vor Freuden, dass sie diesen unbequemen Politaktivisten endlich von ihrer Gehaltsliste streichen konnten.

Otto verbrachte 30 Monate im Knast in Tegel und ich schmiss mein Studium hin. Keiner der Leute, mit denen wir gekämpft hatten, interessierte sich für Ottos Schicksal. Er war sozusagen nicht im Kampf gefallen und war somit aus ihrem Blickfeld verschwunden. Ein Typ, der einem unschuldigen Studenten die Fresse einhaut, ist es nicht wert, sich um ihn zu kümmern, und das bisschen Gefummel kann ja nicht so schlimm gewesen sein, dafür sind die Weiber doch da! Selbst einige der Frauen aus unserem ehemaligen politischen Block klagten die Gewalttat gegen den Typen an und ignorierten das Schicksal der beinahe vergewaltigten Frau. Ignoranz und Intoleranz waren schon immer große Stärken der linken Blöcke, das sah ich nun auch ein. Also beendete ich meine Zeit als Politaktivist. Ich überließ die Szene sich selbst und stürzte in ein tiefes Loch aus Dumpfheit und Antriebslosigkeit. Ich besuchte gelegentlich Otto, widmete mich dem Lesen und meinen Gedanken und ließ die Zeit sinnlos an mir vorbeiziehen. Regelmäßig kam genug Kohle von meinem Alten und ich behielt meinen neuen Status ihm gegenüber für mich. Er hatte mehr als genug auf dem Konto und ich wollte ihn nicht mit meiner neuen nihilistischen Weltanschauung nerven. Ich verdrängte jeden Gedanken daran, was ich mit meiner Zukunft anfangen sollte. Es war mir einfach egal. Bis auf die üblichen Barfliegen in meinen Lieblingslokalen hatte ich kaum sozialen Kontakt. Wenn es sich ergab, ließ ich mich auf Bettspielereien mit irgendwelchen Frauen ein, aber das hellte meine Stimmung auch nicht wirklich auf. Ich suhlte mich in meiner Depression und wartete auf das Ende der Welt. Den Fall der Mauer und das Ende von West-Berlin, wie ich es kannte, erlebte ich nur verschwommen, wie einen finsteren Traum, und während Deutschland sich im Freudentaumel in den Armen lag, lag ich auf der Couch und versuchte mich am Gesamtwerk von Thomas Mann, dessen Bücher sich wie ein papiernes Mahnmal neben meinem Bett stapelten. Ich lebte von Pizza und Bier, gelegentlichen Joints und den Geschichten in meinen Büchern. 1989 verbrachte ich viel Zeit damit, drüber nachzudenken, wie ich die alljährliche Weihnachtsfeier mit meiner Familie umgehen konnte, die in diesem Jahr ein wahrer Albtraum zu werden versprach. Mein Erzeuger hatte einiges zu feiern, garantierte die neue Weltordnung doch einiges an weiteren Milliönchen auf seinem Konto, denn endlich würde er mit seiner Firma in die neuen Länder expandieren können.

Am 12. Dezember 1989 tauschte in Kreuzberg ein 19jähriger Typ aus Pankow seinen Trabi und einen riesen Batzen Bargeld aus ungeklärter Herkunft gegen einen schrottigen 1978er BMW 635csi und machte sich damit auf den Weg nach Hamburg. Endlich auf der Westautobahn angekommen, gab er Vollgas, verlor die Kontrolle über den Wagen und schoss über die Leitplanke direkt in einen kleinen Lancia Ypsilon. Meine Mutter hatte sich aus ihrem Sylter Domizil auf den Weg zu mir gemacht, um mir endlich mal die Leviten zu lesen, mir wieder auf die Beine zu helfen, und für meine Anwesenheit am Weihnachtsschmaus zu sorgen. Der Ypsilon war nur noch ein Blechhaufen, sie war sofort tot. Direkt nach dem Anruf meines Vaters kaufte ich mir meinen ersten Kombi, füllte ihn mit Bier und Büchern und durchpflügte seither die Straßen Europas ohne ein wirkliches Ziel. Neben diesen und ein paar Klamotten, ein paar Tapes und meinen Drogen- und Bargeldvorräten ließ ich alles zurück. Das ist nun sechs Jahre her. Bis heute weiß ich nicht, was aus meinem ganzen Krempel geworden ist, und es ist mir auch scheißegal. Mithilfe seiner findigen Anwälte ließ mir mein Alter meinen Erbanteil nur als monatliche Überweisung zukommen, damit ich nicht alles verprassen würde. Ich akzeptierte das Arrangement gerne und verschwand aus dem Leben meiner restlichen Familie wie ein unangenehmes Jucken nach einem Mückenstich. Nur selten war ich seither nüchtern, und das angenehme Alkoholniveau, das ich stets anstrebte, erlaubte es mir, so ziemlich allem und jedem gegenüber gleichgültig zu sein. Doch den Kontakt mit Otto hatte ich nie aufgegeben.

- Du bist ein interessanter Mann mit interessanten Gedanken, hatte er irgendwann gesagt, ich werde deinen Weg verfolgen. Werde endlich aktiv und schreib all den Scheiß auf, der dir durch den Schädel geht, schreib es auf, mach eine Geschichte draus, erhalte es der Nachwelt und scher dich einen Dreck drum, ob die sich auch wirklich für deine Gedanken interessiert.

Inzwischen donnerte das Blood, Sugar, Sex Magic Album von den Chili Peppers über die Kneipenlautsprecher. Otto goss die Gläser wieder voll.

- Was machen deine Schriften, fragte er wie beiläufig, ich habe immer noch nichts davon gehört, dass dir irgendwer einen Literaturpreis oder sowas verliehen hat?

Keine Antwort. Ich hasste es, wenn er dieses Thema zur Sprache brachte, und er wusste genau, dass ich es hasste. Es interessierte ihn nicht im geringsten, dass er immer wieder offene Wunden mit Salz bestreute, es schien ihm egal, ob ich damit fertig wurde, von ihm zur Schnecke gemacht zu werden. Du musst stark sein, pflegte er dann zu sagen. Für Leute, die vor sich selbst und ihrer Courage wegrennen, ist in der Welt der Literaten kein Platz, glaub mir das. Krieg endlich deinen Arsch hoch und schreib!

Ich nahm den letzten Schluck Bier aus dem Glas, spülte den Schnaps die Kehle runter, und versuchte das Thema zu wechseln.

- Wo ist eigentlich Annie, wie geht’s ihr? Oder hast du sie inzwischen vergrault!

- Die ist noch unterwegs, kommt wahrscheinlich erst in ein oder zwei Tagen. Sie sagt, sie macht irgendwelche Besorgungen, keine Ahnung. Aber hier – du sollst hier nicht auf dem Trockenen sitzen!

Otto legte sein Grinsen auf, griff nach einem Glas und ließ mir ein neues Bier einlaufen. Inzwischen hatte ich mich so an das französische Fassbier gewöhnt, dass ich es sogar schätzen konnte. Die Erinnerung an gutes deutsches Gezapftes war so weit weg, dass ich schon nicht mehr ahnte, wie das Zeug schmeckt.

- Zum Wohl, mein Freund! Aber um eine Antwort wirst du nicht rumkommen, da kannst du Gift drauf nehmen, wenn nicht heute Abend, dann später.

Ich hatte seine Masche früh durchschaut, schon vor vielen Jahren. Jedes Mal, wenn wir uns wiedersahen, versuchte er, mich unter den Tisch zu trinken und nutzte dann irgendwann meinen zugeknallten Zustand aus, um mich auszufragen. An diesem Abend nahm ich mir vor, nicht einfach aufzugeben, komm alter Mann, forderte ich ihn still heraus, inzwischen bin ich kein kleiner Junge mehr, das Trinken, das hab ich gelernt. Mach dich da auf eine Überraschung gefasst, und vergiss nicht, auch du hast eine Geschichte zu erzählen, du hast dich verraten, deine Unabhängigkeit über Bord geworfen. Kann sein, ich akzeptiere deine Beweggründe, kann sein, ich vergebe dir, aber um eine Erklärung wirst du nicht rumkommen!

Ich wollte ihn herausfordern, und ich war noch lange nicht zu besoffen, um nicht zu wissen, was das hieß. Ich war noch immer verwirrt über die Veränderung, die in Ottos Leben Einzug gehalten hatte. Wenn einer wie Otto sein Leben ändert, dann musste man auf der Hut sein, das konnte alles Mögliche heißen. Der Typ war kein Idiot, sicherlich alles andere als dumm, das war klar. Er hatte so manches begriffen, als andere Schlauköpfe und Wichtigtuer noch nicht einmal eingesehen hatten, dass es hier und da überhaupt ein Problem gab. Was auch immer es bedeutete, dass der Alte auf einmal auf sesshaft machte, da musste irgendwas Großes dahinterstecken. Und ich würde es herausfinden und immer dann, wenn er seine Angriffe auf meine nicht existente Schreiberei startete, aufs Tapet bringen. Hey Otto, würde ich ihm sagen, wo ist der alte Tramp geblieben, der Kerl, dem nichts heiliger war als seine Unabhängigkeit, der Typ, der nicht aufhören würde zu reisen, bis er nicht jeden Winkel dieser verfluchten Erde wirklich gesehen hatte? Wo ist er geblieben, der Draufgänger, der mir mein sauberes, geregeltes bürgerliches Leben versaut hat, indem er mir Flausen in den Kopf setzte. Ich würde ihn löchern, immer wieder, immer mit solchen Phrasen, hey Alter, würde ich am Ende sagen, jeder muss verdammt noch mal selbst wissen, wann Ideologien und Anschauungen sterben müssen, hey, ich wünsche dir alles Beste und noch eins: Es war das größte Glück meines Lebens, dich getroffen zu haben! Ich liebte diesen Typen, das war klar, wenn ich auch nicht genau wusste, was ich damit anfangen sollte.

- Sag mal, bist du noch immer einer der besten Chili-Köche diesseits des Atlantiks? Ich könnte nämlich so einen wie dich ganz gut gebrauchen, um meine Party-Gäste zu verwöhnen.

- Der beste, den ich kenne! Ich wusste, du würdest fragen.

Es war mir schon seit Jahren immer wieder ein Vergnügen, irgendwelche Partys mit meinem Chili zu versorgen. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wann das angefangen hat. Irgendwann hatte ich mir einen großen Topf geschnappt und mein erstes Eintopfgericht fabriziert, und irgendwie schien mir das im Blut zu liegen, das klappte auf Anhieb, ohne Rezept oder so was. Das Ganze war angekommen, und seitdem hatte ich mich in der Kunst, das Zeug herzustellen, soweit verbessert, dass sich das herumsprach. Und dann waren sie alle gekommen, hey, hatten sie gesagt, ich mach da am Wochenende `ne Fete, hast du nicht vielleicht Bock drauf, vorbeizuschauen? Wäre schön, dich zu sehen, und wie wär’s denn, wenn du schon mal da bist, wenn du uns was kochst? Die wenigsten Leute konnten nachvollziehen, dass ein gutes Chili mindestens einen Tag zuvor gekocht werden musste, und so kam ich dann immer am späten Nachmittag mit einem Riesentopf im Wagen angedüst und verzog mich in die Küche.

- Was meinst du, wie viele Portionen von dem Zeug soll ich machen?

- Keine Ahnung, nimm den größten Topf, den du in der Küche findest, und wenn’s nicht ausreicht, soll’s mir auch egal sein.

- Mann, ich werde dir das beste Zeug zaubern, das du je gegessen hast, betrachte es als ein Geschenk, schließlich wirst du ja nur einmal in deinem Leben fünfundsechzig! Und jetzt halt endlich dein Maul und lass uns anstoßen, ich glaube, es wird langsam Zeit, dass du mir beweist, dass deine Kaschemme auch einen guten Schampus vorrätig hat.

Otto verschwand und kam mit einer Handvoll Flaschen zurück und lächelte, wie nur einer lächeln konnte, der eine strittige These mit einem absoluten Beweis bekräftigt. Und was dann kam, das liegt irgendwo tief drinnen, wo ich es sicher nicht mehr wieder finden werde. Vielleicht habe ich mir ja auch die Hirnzellen, die die Erinnerungen an die Details dieses Abends speicherten, mit einem satten, alles beseitigenden Delirium zerstört, wer weiß so was schon, und wenn, was spielt es für eine Rolle?

Irgendwann wurde mir klar, es ist finster und du liegst in irgendeinem Bett. Und der Rest, der war Schweigen...

2

Das Aufwachen, oder was immer das am nächsten Morgen war, das war ziemlich grauenhaft. Irgendwann schüttelte mich eine kräftige Hand an der Schulter, und irgendwo vernahm ich ein amüsiertes »Los aufstehen!«, und irgendwie gelang es mir tatsächlich, die Augen zu öffnen. Meine ersten Gedanken, nachdem ich das geschafft hatte, waren »Wasser!« und dann »Aspirin!« und dann »…wo, in aller Welt bin ich hier?« und »…bin ich überhaupt noch in der mir bekannten Welt?«

Mein malträtierter Schädel erkannte nur schrittweise das Profil von Otto, der mir, gestutzter Bart, gepflegtes, gewaschenes, gekämmtes, aber wenigstens noch langes graues Haar, klarzumachen versuchte, Alter, du musst jetzt aufstehen!

- Es geht zum Einkaufen, dann Aufräumen, dann vielleicht irgendwo ein Bier. Mann, es ist schon fast Mittag, raus aus den Federn! Immer das Gleiche mit der Jugend, warum sauft ihr auch so viel, wenn ihr’s nicht vertragen könnt?

Ich schälte mich aus dem Bett und wusste von diesem Moment an, was es heißen muss, aus den schützenden Schalen eines Eies zu schlüpfen. Jetzt weiß ich mit dem Begriff Geburtsschock etwas anzufangen. Ich denke, dieser Morgen in jedem Fall einen Kater, den ich ohne zu lügen unter die Top Ten meiner persönlichen Erlebnisse in Sachen nach dem Saufen wachwerden einstufen kann. Otto servierte Kaffee, grinste belustigt, und sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass es wohl besser sei, erst mal nicht in den Spiegel zu sehen. Ich stellte mich eine kleine Ewigkeit unter die Dusche und versuchte dort, mir meinen Kater von den Schultern und aus dem Hirn zu spülen. Dann wurde gefrühstückt.

Es gibt nach einer solchen Nacht sicherlich nichts Erholsameres, nichts, was einer göttlichen Offenbarung derart nahe kommt, als ein riesiger Pott französischer Kaffee: heiß, stark und mit dem Versprechen verknüpft, wieder wirklich wach, wirklich klar und vor allem wirklich erholt, entspannt, relaxt werden zu können. Ich kippte mir das Zeug gleich literweise rein, und erst nach einer Weile fühlte ich mich in der Lage, auch feste Nahrung zu mir zu nehmen.

- Meine Güte, was war denn das für ein Teufelszeug, dass du mir da gestern Abend eingeflößt hast, das scheint mir immer noch an der Magenschleimhaut zu nagen.

- Selbstgebrannter Obstschnaps, hier aus dem Ort. Schroeder, der Gendarm, brennt ihn, und wer einen guten Draht zu ihm hat, der kann welchen kaufen.

Otto pflegte gut und offensichtlich auch noch intensive Kontakte zu Bullen!?! Das war zu viel für mich. Ich ging erst mal ganz lange aufs Klo und beschloss, mir am besten niemals wieder Gedanken über die Widersprüche des Lebens zu machen. Vielleicht, dachte ich mir, vielleicht sollte ich überhaupt ganz damit aufhören, über das Leben nachzudenken, vielleicht sollte sich die Menschheit grundsätzlich nicht mehr mit solchen Gedanken beschäftigen, zu kompliziert, zu verworren und vor allem bereitet es einem einfach nur ungeheure Kopfschmerzen.

Ottos »Herrenhaus« lag oben auf den Klippen, eine alte Fabrik, riesig groß, die sich ca. vierzig Meter lang am Abgrund entlang schlängelte, auch über die Straße hinweg, mit einer großen, hohen Durchfahrt. Diese wirkte ein wenig wie ein übergroßer viereckiger Schlund, durch den Besucher der Kneipe gehen mussten, um sich dort unten zu vergnügen. Das hatte wahrlich etwas Symbolisches – besonders mit meinem Kater! Irgendwer, so erzählte mir Otto, irgendwer hat das Ding vor Jahren zum Wohnhaus umgebaut, na ja, zumindest einen Teil des Gebäudes, und nun wohne ich hier und werde das Gefühl nicht los, zum erstem Mal in meinem Leben mehr Platz zu haben als ich benötige.

Die Eingänge lagen alle an der dem Meer abgewandten Seite, und so konnte ich wieder keinen Blick auf die Bucht werfen, als wir durch die Tür ins viel zu grelle Sonnenlicht marschierten. Ich musste lange die Augen schließen, bevor ich überhaupt was sehen konnte, und dann sah ich als erstes meinen alten Daimler.

- Das Ding musste ich gestern Abend noch wegfahren, du hattest ihn derart beschissen geparkt, dass kein Schwanz mehr vorbeikam. Sag mal, wie schaffst du es eigentlich, mit dem Ding immer noch zu reisen? Wir haben fast eine ganze Stunde gebraucht, um ihn überhaupt anzuwerfen, und als er dann endlich lief, hörte sich das nicht so an, als würde er das lange tun wollen.

Ich bedauerte den Typen für seine Anstrengungen, denn ich wusste genau, wovon er sprach. Wenn die Kiste kalt war, sprang sie am liebsten gar nicht an, und sie konnte verflucht schnell kalt werden!

- Sorry, ich hatte nicht mehr an den Wagen gedacht, tut mir leid, dass ihr Ärger damit hattet.

- Wann hast du eigentlich das letzte Mal einen Blick unter die Haube geworfen? Ich hab vorhin kurz reingeschaut, und ich muss sagen, du musst eine verflucht glückliche Hand mit Motoren haben, dass du das Ding noch immer zum Laufen kriegst, ich dachte, wenn hier vorne ein ölverschmiertes Ersatzteillager ist, wo in aller Welt mag nur der Motor sein?

- Ich benutze den vom Scheibenwischer, der hat etwas mehr Leistung. Bei so einer alten Kiste, muss man eben mit Kompromissen leben!

Ich marschierte zur Durchfahrt, weil mich interessierte, wie diese Bucht aussah. Von hier oben hatte man einen ziemlich guten Überblick über die Szenerie. Wir waren etwa dreißig Meter über dem Meeresspiegel. Die Felsen und Findlinge, die sich über die ganze Bucht dort unten verteilten, schienen bei Tag noch größer und bedrohlicher zu sein als bei Nacht. Der Strand war mickrig, vielleicht im Ganzen fünfzehn Meter lang. Es sah aus, als würden sie hier jeden Morgen den Müll der Hauptstadt abladen. Und die Brandung peitschte derart stark gegen die steilen bedrohlichen Klippen, dass einem angst und bange wurde. Wer hier freiwillig baden ging, der konnte nur komplett verrückt oder lebensmüde oder wahrscheinlich beides sein. Das Wasser in der Bucht hatte die Farbe von öligem, feuchtem Matsch. Und an eine der Felswände lag der Stelzenbau des »Chéz Otto«. Von hier oben wirkte der Kneipenbau, als würde er sich ängstlich ducken, um sich vor herabfallenden Findlingen zu schützen. Tagsüber wirkte das ganze so einladend wie das einzige Klohäuschen auf einem Heavy Metal Festival mit 30.000 Besuchern. Etwas weiter draußen, auf einer schmalen Landzunge, oder besser einer Felszunge, war eine kleine Kapelle an die Felswand gepappt worden, die aussah, als sei sie von einem schottischen Gespensterschloss geklaut worden. In meinen Augen gehörte sie einfach nicht dorthin.

- Was ist denn das für ein Ding, und wie kommt es dorthin?

Ich zeigte mit dem Arm in die entsprechende Richtung, aber Otto konnte wohl erraten, worauf sich meine Frage bezog. Noch immer hing er mit seinem Kopf unter der Haube meines Gefährts.

- Eine Kapelle. Irgendwann vor über hundert Jahren soll dort draußen ein großes Fischerboot zerschellt sein. Viele Tote aus dem Ort. Die Leute hier haben das Ding zum Andenken an die Verunglückten gebaut. Wie erzählt wird, war auch ein Angehöriger der reichsten Familie der Gegend dabei, der zur Erlernung eines anständigen Handwerks verdonnert worden war, weil er sich über eine Jungfrau aus gutem Hause hergemacht hatte – damals ein ziemlicher Skandal. Jeder erzählt es ein bisschen anders, aber irgendwie so scheint es gewesen zu sein. Keiner hier will so richtig darüber reden. Das sind noch immer irgendwie abergläubische Seefahrer hier, und wie du weißt, ist dieser Menschenschlag sehr – sagen wir mal »schicksalsergeben«. Die Bucht hier jedenfalls, die gilt als verrufen, daher kommen hier auch selten Einheimische her, abgesehen von den Kids, die weit und breit keinen Ort haben, wo sie sich mal amüsieren könnten. - Wie, in aller Welt, soll man denn zu dem Teil hinkommen und wie hinein?

Die Brandung am Eingangsbereich der Kirche war wild und ungestüm. Keine Chance, durch das Eingangsportal zu gelangen, ohne ins Meer gespült zu werden – und das Meer war zurzeit noch ruhig!

- Was macht eine Kapelle, die man nicht betreten kann, für einen Sinn?

- Vielleicht ist das ja der Clou an der Sache. Du kannst nicht hinein, wenn du nicht das Geheimnis kennst! Soweit ich weiß, gibt es kaum noch Leute, die wissen, was die Kapelle im Inneren verbirgt. Das ist hier ein komischer Ort, sehr verschroben, es gibt jede Menge merkwürdiger Geschichten. Schroeder hat mir erzählt, dass sich dort drinnen während des letzten Krieges eine Frau erhängt hat. Damals wurde der Totensonntag noch in der Kapelle abgehalten – von einer Handvoll Verschworener, die ihren vor langem Verstorbenen gedenken wollten. Diese Leute haben sie gefunden. Die Frau ist irgendwie hinein gekommen, hat eine Strippe in der Kapelle an den Deckenbalken gebunden und Schluss gemacht. Ihr Geliebter hatte sich an der Front eine Kugel eingefangen und das Ganze nicht überlebt. Blöde Geschichte. Komm, lassen wir das! Wir müssen los, wenn wir heute noch was auf die Reihe kriegen wollen!

Das war wieder mal der Otto, wie ich ihn kennen gelernt hatte: Der alte, ehemalige Professor. Das Mystische war Ottos Leidenschaft. Er war genau der Richtige für solch einen Ort, auch wenn ich glaubte, dass er seine »Forschungen« schon lange aufgegeben hatte. Ich wusste, der Alte hätte mir sicherlich alles über diese Kapelle dort vorne sagen können, was mich interessierte, aber warum sollte er das tun? Er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass mich fast alles irgendwie kalt ließ und Details nicht interessierten. Ich ging den Dingen nur selten auf den Grund und zog mich auf die Ausrede zurück, dass liege eben in meiner Natur. Um ehrlich zu sein, hatte ich einfach keine Lust mehr, allzu viel über den Sinn und die tiefe Bedeutung des Lebens nachzudenken. Natürlich ging ich mit dieser Einstellung Otto gehörig auf die Nerven.

- Gehe den Dingen auf den Grund, sagte er immer wieder, und lerne daraus, höre auf dein inneres Ich und forme dir daraus deine Geschichten. Und erwarte nicht von mir, dass ich dir den nötigen Stoff dazu liefere.

Wir setzten uns in seinen alten Citroën-Kombi und schaukelten davon. Mein Hunger nach Geschichten über diese Bucht war fürs Erste gestillt. Natürlich hatte ich eine Frau vor meinem inneren Auge, die sich bei stürmischem Wetter dort runter wagte, um sich das Leben zu nehmen. Warum ist sie nicht einfach gesprungen? Wieder einmal hatte Otto es geschafft, dass ich darüber spekulierte, wie interessant es sein musste, sich hier eine Handlung für ein Buch zusammenzureimen. Noch war das egal, ich hatte nicht die Absicht, ein Buch darüber zu schreiben, ich wusste noch nichts davon, dass ich überhaupt jemals ein Buch schreiben würde.

Schroeder war ein kleiner vergrätzter alter Mann, der genauso aussah wie man sich einen kleinen vergrätzten französischen Flick vorzustellen hat. Seine Uniform sah aus, als würde er sie niemals bügeln und am liebsten zerknautscht in einen Kissenbezug packen, wenn er sie auszog. Es schien jedoch unklar, ob er sie jemals ausziehen würde. Sie roch nicht angenehm, aber irgendwie schien das nichts zu bedeuten. Er war ein alleinstehender Elsässer, den es nach der Bullenpenne hier runter verschlagen hatte. Es schien, als würde er Deutschen gegenüber eine ähnliche Sympathie hegen wie Otto, wenn auch wahrscheinlich aus anderen Gründen. Er war mir gegenüber misstrauisch, was ich irgendwie nachvollziehen konnte. Die Leute begegnen mir in der Regel mit Vorsicht. Ich wirke nicht gerade wie ein seriöser Geschäftsmann – und ich gebe mich auch nicht mit deren schmutzigen Geschäften ab.

- Meine Eltern hatten `s mit den Nazis, aber ich war eigentlich noch zu jung, damals, vertraute er mir später irgendwann an, ich hab’s meinen Leistungen zu verdanken, dass ich ein Polizist geworden bin, und meinen Eltern, dass ich hier in diesem Kaff rumhänge, mehr darf ich nicht erwarten. Die, die das Sagen haben, die können nicht gut mit Nachkommen von Kollaborateuren. Keiner von den Arschlöchern nimmt mir ab, dass ich damals als Baby mit den Deutschen, den Boches nichts am Hut hatte.

Es machte den Eindruck, als wäre er im Ort angesehen, aber ich war mir sicher, dass das wohl eher mit seiner Schnapsbrennerei zu tun hatte, als mit seinem Job.

- Das ist das beste Zeug, das du in der ganzen Gegend hier kriegen kannst, klärte Otto mich auf, wer sich `s mit Schroeder versaut, ist ziemlich schlecht dran, wenn er einen guten Schnaps braucht. Ich kenne keinen hier, der es darauf anlegt.

Otto kaufte ein Fässchen von dem Zeug und mir wurde klar, der Typ, der würde zum Fest kommen, und ich konnte den Gedanken nicht so recht verarbeiten, eine Portion gutes Chili an einen Bullen zu verfüttern. Scheiß drauf, dachte ich mir dann, was soll’s, der Typ, der ist beschissen genug dran. Anzunehmen, dass er nicht so viel dafür kann, dass sie ihn zum Flick gemacht haben.

- Mann, der Typ ist okay, in erster Linie ist er für die Versorgung der Gegend mit Lebensgeistern zuständig. Ein Bulle ist der nur, weil ihm das `ne Pension einbringt. Glaub mir, und hör endlich auf, Menschen nach ihren Jobs zu kategorisieren!

Vielleicht hatte Otto nicht ganz Unrecht, vielleicht konnte er ahnen, dass ich in dieser Hinsicht zu einer Änderung meiner Denkweise bereit war. Einer wie Otto durchschaut die Menschen schnell – manchmal zu schnell. Es gab Zeiten, da hasste ich alles, was mit Universitätsprofessoren zu tun hatte – auch mit ehemaligen.

Wir setzten uns in eine Bar am Hafen und nahmen einen Café-Creme und ein Bier.

- Vergiss nicht, eine Liste zu machen von all dem Zeug, das du zum Kochen brauchst, kann sein, dass wir hier nicht alles kriegen, dann müssen wir in die Stadt.

- Mann, kümmere du dich um deine Vorbereitung, ich übernehme alles, was mit meiner Kocherei zu tun hat, klar?

- Wenn du meinst.

- Auf dein Wohl, alter Mann, und ich hoffe nicht, dass auch noch der Bürgermeister oder so was kommt, um mitzufeiern, ich weiß nämlich nicht, ob ich das auch noch verkrafte.

- Mann, no worries, es kommen `ne Menge Leute, die du kennst und `ne Menge anderer, die du lieben wirst. Hey Kid, das ist MEIN Fest, kriegst du das in dein Hirn? Auf dein Wohl, mein kleiner, schreibfauler Küchenjunge!

Es stimmte, es war allein Ottos Fest, sein Fünfundsechzigster. Ich trank aus und schaute mir den Typen an, all die Lebenskraft, die er ausstrahlte. Ein kräftiger Riese saß mir da gegenüber, der mich vor nicht allzu langer Zeit noch in die Höhe gestemmt hatte, grau, aber mit wachem Blick. Ein Vergleich mit dem sicherlich jüngeren Schroeder war nicht möglich. Was mir da gegenübersaß, das war sprühender Optimismus. Ich hatte den Knaben schon immer bewundert, bleib mir noch `ne Weile erhalten, dachte ich, ich hab noch viel zu lernen!