|2| Wolfgang Fuhrmann unterrichtet Musikwissenschaft an der Universität Wien. Seine Forschung gilt dem Mittelalter und der Renaissance ebenso wie der bürgerlichen Musikkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Melanie Wald Ahnung und Erinnerung. Die Dramaturgie der Leitmotive bei Richard Wagner.

Weitere Bände der Reihe OPERNFÜHRER KOMPAKT:

Daniel Brandenburg Verdi Rigoletto

Detlef Giese Verdi Aida

Michael Horst Puccini Tosca

Michael Horst Puccini Turandot

Wolfgang Jansen und Gregor Herzfeld Bernstein West Side Story

Malte Krasting Mozart Così fan tutte

Silke Leopold Verdi La Traviata

Robert Maschka Beethoven Fidelio

Robert Maschka Mozart Die Zauberflöte

Robert Maschka Wagner Tristan und Isolde

Volker Mertens Wagner Der Ring des Nibelungen

Volker Mertens Wagner Parsifal

Clemens Prokop Mozart Don Giovanni

Olaf Matthias Roth Donizetti Lucia di Lammermoor

Olaf Matthias Roth Puccini La Bohème

Marianne Zelger-Vogt und Heinz Kern Strauss Der Rosenkavalier

|3| OPERNFÜHRER KOMPAKT

WOLFGANG  FUHRMANN

Bizet

Carmen

|4| Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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eBook-Version 2017

© 2016 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel

Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel, und Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig

Umschlaggestaltung: Carmen Klaucke unter Verwendung eines Fotos der Tänzerin Tamara Rojo (© Nigel Norrington / ArenaPAL)

Lektorat: Jutta Schmoll-Barthel

Korrektur: Daniel Lettgen, Köln

Notensatz: Tatjana Waßmann, Winnigstedt

ISBN 978 - 3-7618 - 7075-4

DBV 141 - 08

www.baerenreiter.com

www.henschel-verlag.de

eBook-Produktion: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

|5| Inhalt

Cover

Der Autor

Titel

Impressum

Einleitung: Mythos Carmen

Bizets Leben und Werk im Spiegel der Zeit

Entstehung und Sujet

Die Handlung

Die Figurenkonstellation

Die musikalische und dramaturgische Gestaltung

Sprechen, Singen, Tanzen

Spanienmode und Exotismus

Erotik, Fatalismus, Tod

Realismus, Verismo und Lakonie

Streifzug durch die Partitur

Mutmaßungen über Carmen

»Carmen« auf der Bühne und im Film

Rezeption der Uraufführung und internationale Verbreitung

Die populärste Oper der Welt?

»Carmen«: eine Interpretationsgeschichte

Carmen im Film

Anhang

Zitatnachweise und wissenschaftliche Anmerkungen

Die Figurenkonstellation

Literatur

Ausgewählte Discografie und Videografie

Abbildungsnachweis

Dank

|7| Einleitung: Mythos Carmen

Carmen ist eine verhängnisvoll-verführerische »Zigeunerin« und Schmugglerin im Andalusien des frühen 19. Jahrhunderts. Nein! Carmen ist eine abenteuerlustige afroamerikanische Angestellte einer Fallschirmfabrik während des Zweiten Weltkriegs. Nein: Carmen ist eine aufstrebende Tänzerin in einem Flamenco-Theater zwischen Realität und Illusion. Nein; Carmen ist eine selbstbewusste Arbeiterin in einer südafrikanischen Township nach dem Ende der Apartheid …

Die Liste ließe sich fortsetzen. Carmen, die Protagonistin der Novelle von Prosper Mérimée und der Oper von Georges Bizet, hat im 20. Jahrhundert vielfältige Resonanz gefunden – in der Musicaladaption Carmen Jones (1943, verfilmt 1954) ebenso wie im Mittelteil von Carlos Sauras Flamenco-Filmtrilogie (Carmen, 1983) und in der nach Südafrika transponierten U-Carmen e-Khayelitsha (Carmen in Khayelitsha, Regie: Mark Dornford-May, 2004). Aber damit nicht genug: Carmen hat den großen Theatermacher Peter Brook zu seiner radikal konzentrierten Version La Tragédie de Carmen angeregt und Beyoncé Knowles zu ihrer für MTV produzierten Carmen: A Hip Hopera. Auch jenseits von Musiktheater (und Ballett) ist Carmen in Stumm- und Tonfilm präsent und wurde in den unterschiedlichsten Versionen von Pola Negri, Rita Hayworth, Maruschka Detmers und Paz Vega verkörpert. Nicht zuletzt ist sie eine der wenigen fiktiven Figuren, denen ein reales Denkmal errichtet wurde: In Stein gehauen steht sie in Sevilla vor La Maestranza, der berühmten Stierkampfarena, dort, wo sie, zumindest gemäß der Opern-Version, von Don José, ihrem ehemaligen Liebhaber, ermordet worden ist.

Insofern zählt Georges Bizets 1875 uraufgeführte Oper nicht nur – neben Giuseppe Verdis La traviata und Wolfgang Amadé Mozarts Die Zauberflöte – zu den beliebtesten Opern der Welt, sondern bildet auch die Grundlage eines modernen Mythos. Zumindest scheint es, als ob auf die Gestalt der Carmen das zuträfe, was nach dem griechischen Philosophen Saloustios das Wesen des Mythos ausmacht: »Mythos ist, was niemals war |8| und immer ist.« Blickt man auf andere Mythen der europäischen Kulturgeschichte der Neuzeit – Don Quixote, Don Juan, Faust –, so ist dieser der weitaus jüngste. Aber in Carmen und ihrer verhängnisvollen Affäre mit Don José spiegelt sich mehr als nur eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, und so wichtig der historische Kontext auch ist, so kann er hier wie auch sonst nicht die dauerhafte Lebendigkeit eines Werks erklären.

Auch wenn die Gestalt der Carmen in Prosper Mérimées gleichnamiger Novelle bereits 1845 Gestalt annahm, ist es in erster Linie Bizets Musik, die diesen Mythos begründete – ohne seine Carmen-Version, die 1875 an der Opéra-Comique in Paris ihre Uraufführung erlebte, wäre die von Mérimée (teilweise nach einem realen Vorbild) erschaffene Figur niemals so bekannt geworden. Die scheinbar unproblematische Popularität von Bizets Melodien sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Version dieses Mythos immer noch die gültige und wohl auch (neben Mérimées Novelle) die künstlerisch bedeutendste ist. Bizets Carmen ist kein Wunschkonzert in Kostümen, sondern ein Musikdrama, in dem jede Note die Handlung vorantreibt.

Aber es ist eben auch diese Handlung, die die Faszination des Sujets ausmacht. Was das Publikum der Opéra-Comique bei der Uraufführung 1875 so schockierte und Carmen zunächst zu einem Misserfolg machte, das war die Erhebung von Deklassierten und Minderprivilegierten zu Hauptfiguren einer Geschichte: Eine Arbeiterin in einer Tabakfabrik und ein desertierter Soldat, das waren schon an sich Protagonisten unterhalb jenes Milieus, das das vorwiegend kleinbürgerliche Comique-Publikum auf der Bühne dargestellt finden wollte (vgl. S. 28f.). Don José, dem sich in Micaëla und der durch sie repräsentierten bürgerlichen »Mutterkultur« ein Ausweg zu öffnen scheint, wählt stattdessen sein Verderben. Heillos in seinen Amour fou verstrickt, richtet er sich sozial zugrunde und ersticht Carmen schließlich auf offener Bühne. Nicht minder schockierend als dieser allen Konventionen der Opéra-Comique widersprechende blutige Schluss war die Titelfigur: eine »Zigeunerin« (siehe Kasten S. 10) mitsamt allen damit verbundenen Klischees, die auch noch als Schmugglerin arbeitet und ihre Liebhaber auf Zeit selbst aussucht. Damit kommen wir zu dem zweiten großen Skandalon der Oper: der offenen Darstellung von Verführung, sexuellem Begehren und einer Vorstellung von Liebe, die weder auf Dauer gründet noch auf Sympathie und echter Zuneigung: »die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grund der Todhass der Geschlechter ist«, wie Friedrich Nietzsche über Carmen schrieb.

Wie beides zusammengehört – das Unterschichtenmilieu und die Entzauberung der Liebe zum Begehren ohne Zuneigung –, das hat am |9| klarsten der eigentlich musikferne Sigmund Freud ausgesprochen, der Carmen als einzige Oper außer jenen von Mozart zu hören pflegte. 1883 schrieb Freud an seine Verlobte Martha Bernays über die Gedanken, die ihm – der während seiner vierjährigen Verlobungszeit sexuell abstinent lebte – während einer Vorstellung von Carmen durch den Kopf gegangen waren: »Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren …«

Es ist klar, wer hier die Oberhand hat: Elīna Garanča (Carmen) und Jonas Kaufmann (Don José) in der Münchner Inszenierung von Lina Wertmüller (2010).

|10| »Zigeuner«

Der Begriff »Zigeuner« ist keine Selbstbezeichnung für jene ethnischen Gruppen, die sich selbst vielmehr Roma, Sinti und anders nennen. Die Herkunft des Begriffs ist unbekannt; wie vergleichbare Bezeichnungen aus anderen europäischen Sprachen (»gitanos«, »gypsies«, »bohémiens«) benennt er eine Ethnie und ist zugleich in negativer, herabwürdigender Absicht zum Synonym für eine unstete, ortlos schweifende und durch Diebstahl und andere Verbrechen gekennzeichnete Lebensführung geworden. Seit dem 19. Jahrhundert tritt dieser negativen rassistischen eine positive, aber verklärende Bewertung, die »Zigeunerromantik«, zur Seite, die die so Bezeichneten als Verkörperung eines romantischen Freiheitsideals, einer ungehemmten Lebens- und Liebenslust und vor allem auch einer urtümlichen Musikalität betrachtet. Das alles sind Klischees, die in der Oper und der Operette immer wieder fröhliche Urständ feiern.

Diese Verklärung hinderte die Nationalsozialisten nicht daran, die »Zigeuner« in § 6 der Ersten Verordnung zum »Blutschutzgesetz« von 1935 neben »Juden« und »Negern« als »rassegefährdend« zu betrachten. Während des Zweiten Weltkriegs starben allein etwa 21 000 Sinti und Roma im »Zigeunerlager Auschwitz«, dem Abschnitt BII e des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Dass nicht jeder aus der Geschichte gelernt hat, zeigen die antiziganistischen Reden des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy 2010, denen eine Räumung von rund 50 illegalen Roma-Lagern und die Ausweisung ihrer Bewohner aus Frankreich folgte, die vom restlichen Europa ohne größeren Widerstand zur Kenntnis genommen wurde.

In Mérimées Erzählung Carmen ist von »bohémiens« und daneben mit korrekten Eigenbezeichnungen von »rom(a)« und »calé« (die »Schwarzen«) die Rede; in Bizets Oper werden die Ausdrücke »bohémiens« und »zingara« gebraucht. Die Bezeichnung »Zigeuner« wird in diesem Buch aber aus folgenden Gründen beibehalten: Erstens ginge eine scheinbar »politisch korrekte« Übersetzung mit »Roma« oder »Calé« in Wahrheit an der Sache vorbei, denn das Klischeebild der Zigeuner im 19. Jahrhundert, wie es sich in Carmen zeigt, beruht ja auf einer kulturellen Konstruktion, die die Lebenswirklichkeit verzerrte. Zweitens würde damit auch die historische Realität verfälscht, in der Wort und Begriff zusammengehörten. Gewiss besteht zwischen Mérimées Novelle, Bizets Oper und den Verbrechen der Nationalsozialisten kein direkter Zusammenhang. Aber Novelle und Oper partizipieren an den erwähnten rassistischen Diskursen und kulturellen Klischees, die im 20. und noch im 21. Jahrhundert so bestürzende Folgen haben sollten.

|11|

Ungewohnt unterwürfig und hausfraulich benimmt sich Carmen (Dorothy Dandridge) gegenüber Joe (Harry Belafonte) im rein afroamerikanisch besetzten Musical »Carmen Jones« (1954).

|12| Freud bringt jenes Milieu bürgerlicher Triebsublimierung auf den Punkt, in dem seine psychoanalytischen Konzepte gedeihen konnten. Aber was macht die anhaltende Faszination dieser Figurenkonstellation auch heute, nach der sexuellen Revolution der 68er, aus? Die Transformation in das Studentenmilieu in Jean-Luc Godards Prénom Carmen oder die Übersetzung der »Zigeuner« in das afroamerikanische Milieu in Carmen Jones und Beyoncés Hip Hopera bzw. in die Township der schwarzen Südafrikaner in U-Carmen zeigt auf, dass die hier verhandelten Themen sozialer Ungleichheit und rassistischer Ausgrenzung bis heute nichts an Virulenz verloren haben.

Dass sich die Geschichte von Carmen über die radikalen Wandlungen, die das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in den vergangenen 140 Jahren erfahren hat, ihre Faszination bewahren konnte, legt außerdem nahe, dass uns hier etwas über das Verhältnis von Mann und Frau, von Begehren und Verführung, von Besitzanspruch und Freiheitsdrang in Beziehungen erzählt wird, das seine Aktualität nicht verloren hat. Es ist eben nicht einfach so, dass die bürgerlich-patriarchalische Ordnung, die Carmen durcheinandergebracht hat, durch ihren Tod nun wiederhergestellt wäre, wie es allzu einfache Lesarten nahegelegt haben. Die Verunsicherung der moralischen Ordnung ist nachhaltig, und in den leeren Schlussoktaven in Fis-Dur hallen noch die letzten Worte Don Josés nach. Auch sie wurden von Nietzsche bewundert: »Ich weiss keinen Fall, wo der tragische Witz, der das Wesen der Liebe macht, so streng sich ausdrückte, so schrecklich zur Formel würde, wie im letzten Schrei Don José’s, mit dem das Werk schliesst: ›Ja! Ich habe sie getödtet, / ich – meine angebetete Carmen!‹– Eine solche Auffassung der Liebe (die einzige, die des Philosophen würdig ist –) ist selten: sie hebt ein Kunstwerk unter Tausenden heraus.«

Carmen ist immer aktuell, wie es einem »kanonisierten« Werk oder auch einem Mythos zukommt, weil man in dieser Oper die elementaren Fragen danach, was Liebe und Begehren bedeutet, in künstlerisch einmalig präziser Form gestellt findet – und weil Bizet und seine Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy uns selbst überlassen, die Antworten zu finden. Bizet begnügt sich wie alle großen Dramatiker damit, das Geschehen vorzuführen. Dadurch wird das Stück so offen für die unterschiedlichsten Lesarten. So sehr Carmen den Bedingungen ihrer Entstehungszeit, auch ihren Ideologien verpflichtet ist, so wenig lässt sie sich darauf reduzieren. Immer wieder fordert sie Sänger, Musiker, Regisseure, Dirigenten und das Publikum dazu heraus, sie neu zu verstehen und mit Wirklichkeit zu erfüllen.

|13| Bizets Leben und Werk im Spiegel der Zeit

Alexandre-César-Léopold Bizet (1838–1875), genannt Georges, stand an der Schwelle zum Erfolg, als er mit lediglich 36 Jahren starb, und wären ihm auch nur wenige Jahre mehr beschieden gewesen, so hätte der Weltruhm von Carmen sein Leben – und seinen Rang in der französischen Musikkultur – zutiefst verändert. So bietet sich das Bild einer musikalischen und musikdramatischen Hochbegabung, die sich im komplexen und (nicht zuletzt durch allerlei Korruption) verminten Terrain der Pariser Musikszene zu behaupten, aber nicht durchzusetzen vermochte. An Bizets Werken, schon den frühen, lässt sich ein Komponist von blühender Inspiration und perfektem Handwerk, was Harmonik, Formbeherrschung und Orchestration anbelangt, erkennen; dennoch ist Carmen das einzige seiner Werke geblieben, das sich im Repertoire der Opernhäuser gehalten hat. Immerhin wollte Richard Strauss, den man doch wohl als Kenner der Musiktheaterpraxis ansehen darf, in seinem »Künstlerischen Vermächtnis für Karl Böhm«, dem Entwurf eines idealen Opernspielplans, nicht nur Carmen für das große Opernhaus (oder Opernmuseum, wie er es nannte), sondern auch Les Pêcheurs de perles (Die Perlenfischer) und Djamileh an der Spieloper bzw. Opéra-Comique im Repertoire verankert wissen. Und die Begegnung selbst mit scheinbar obskuren oder nebensächlichen Werken Bizets ist fast immer eine Bereicherung.

Wie viele sogenannte »Wunderkinder« kam auch Bizet, ein Einzelkind, aus einem musiknahen Elternhaus. Sein aus Rouen stammender Vater, Adolphe-Armand Bizet (1810–1886), eigentlich Friseur und Perückenmacher, arbeitete in Paris als Gesangslehrer und (erfolgloser) Komponist, seine Mutter Aimée, geb. Delsarte (1815–1861), war eine gute Pianistin. Der am 25. Oktober 1838 geborene Bizet wuchs also in einer mit Musik geradezu durchtränkten Umwelt auf; bei den Stunden, die sein Vater gab, |14| pflegte er hinter der Tür zu lauschen, und bereits kurz vor seinem zehnten Geburtstag wurde er am Conservatoire aufgenommen.

Sein Wunsch, Komponist zu werden, muss sich früh ausgebildet haben, obwohl der so intelligente wie belesene Knabe zweifellos auch andere Möglichkeiten gehabt hätte – nicht zuletzt als Pianist. In der Klavierklasse von Antoine-François Marmontel gewann er nach einem halben Jahr einen Premier Prix für Solfège, und viele weitere Auszeichnungen folgten. 1853 aber trat Bizet in die Kompositionsklasse von Fromental Halévy ein, dem gefeierten Opernkomponisten (La Juive); Jahre später sollte er dessen Tochter Geneviève heiraten. Zudem lernte er Charles Gounod kennen, den Schwiegersohn des Klavierlehrers Pierre-Joseph-Guillaume Zimmermann. Der bereits arrivierte Gounod, dessen Oper Sapho 1851 ein Erfolg gewesen war, übte einen bedeutenden Einfluss auf Bizet aus, noch das stilistische Profil der Micaëla in Carmen ist von ihm geprägt. Als Bizet 1855 Gounods 1. Sinfonie für Klavier arrangierte, wurde er dadurch zu seinem eigenen sinfonischen Erstling inspiriert: ein originelles und vollendetes Stück, dessen schwungvolle Motivik und häufige Dialoge zwischen Streichern und Bläsern an Beethoven denken lassen, während die atmosphärische Dichte namentlich des »exotisierenden« langsamen Satzes bereits den Bühnenmusiker ahnen lässt. »Ich bin aus Ihnen entsprungen; Sie sind die Ursache, ich bin die Folge«, schrieb Bizet an Gounod und gestand seine Angst ein, in Gounods Schatten zu stehen – aber gerade diese »Einflussangst« beflügelte ihn kreativ.

Im selben Jahr schrieb er bereits seine erste Oper La Maison du docteur, über deren Anlass wir nichts wissen und die unaufgeführt blieb; Bizets erste Veröffentlichungen waren marktgängigere Produkte wie Lieder und Klavierstücke. Kurioserweise war es Jacques Offenbach, der ihm ein Jahr später die Chance zum Debüt als Musikdramatiker bot: Auf dem Weg zur »Erfindung« der Operette oder, wie es richtiger heißt, opéra bouffe hatte Offenbach einen Wettbewerb zur Vertonung eines Librettos ausgeschrieben, den Bizet gleichrangig mit seinem Kollegen aus der Kompositionsklasse von Halévy, Alexandre Charles Lecocq, für sich entschied. (Einer der Autoren des Librettos war ein Neffe von Fromental Halévy, Ludovic, der später die Verse des Carmen-Librettos verfassen sollte.) Le Docteur Miracle mit seinem burlesken »Omelette-Quartett« zeigt, dass Bizet auch eine Laufbahn in der musikalischen Satire offengestanden hätte (wie sie Lecocq auch erfolgreich beschreiten sollte), und die in ihrer Herkunft ungewisse, aber hartnäckige Bezeichnung von Carmen als einer »tragischen Operette« weist darauf hin, dass die neue Gattung nicht spurlos an Bizet vorbeigegangen war. Doch blieb es dabei – abgesehen vom |15| 1. Akt zu einer kuriosen Gemeinschaftsproduktion von vier Komponisten (Marlbrough s’en va-t-en guerre, 1869), und einem angeblich pseudonym geschriebenen (heute verschollenen) Einakter Sol-si-ré-pif-pan (1872).

Der am Conservatoire mehrfach preisgekrönte Bizet trat in die Konkurrenz um die höchste Auszeichnung für Künstler, das Fünfjahresstipendium Prix de Rome, das er 19-jährig (1857) nach zwei Anläufen mit seiner Kantate Clovis et Clotilde gewann. Den Statuten des Preises gemäß begab sich Bizet mit weiteren Künstlerkollegen nach Rom: in die Académie française in der Villa Medici, keinen anderen Verpflichtungen unterworfen als der, jährlich eine Komposition einzusenden (ein sogenannter Envoi). Er unternahm Ausflüge nach ganz Italien – von Venedig bis Neapel –, nach dem Muster der Grand Tour Kunstwerke, Landschaft und Lebensart genießend. Nur die Gegenwart ernüchterte ihn: »Italien ist von schlechtem Geschmack vergiftet. Für die Kunst ist das Land völlig verloren«, schrieb er in einem Brief, und sein Verhältnis zum bedeutendsten lebenden italienischen Opernkomponisten, Giuseppe Verdi, blieb gespalten. Die einzige Musikkritik, die Bizet je veröffentlichte (1867) – aufgrund von Differenzen über redaktionelle Eingriffe, die in seinen zweiten Text geplant waren, gab er diese gut bezahlte Tätigkeit sofort wieder auf –, gibt einen Einblick in dieses Verhältnis, aber auch in seine Ästhetik: »Wenn eine leidenschaftliche, gewalttätige, ja brutale Persönlichkeit wie Verdi unserem Kunstverständnis ein Werk gibt, das überaus lebhaft ist und sich aus Gold, Dreck, Blut und Galle zusammensetzt, wollen wir nicht etwa zu ihm gehen und kühl erklären: ›Aber mein Herr, das ist doch geschmacklos, das ist doch nicht vornehm.‹ Vornehm! Sind Michelangelo, Homer, Dante, Shakespeare, Beethoven, Cervantes und Rabelais vornehm?«

Dagegen liebte er die Musik Gioachino Rossinis. Eine Frucht dieser Liebe war Don Procopio, eine reizvolle opera buffa, die er als Envoi statt der verlangten Messe einsandte; sein Verhältnis zur Kirchenmusik wie zum Christentum blieb zeit seines Lebens problematisch. Nichtsdestoweniger erregte die Oper beim Komitee Wohlgefallen, wurde aber, weil in italienischer Sprache komponiert, nicht uraufgeführt (bzw. erst 1906 in Monte Carlo). In Rom vertiefte sich auch Bizets Freundschaft mit dem in New Orleans geborenen Wahlpariser Ernest Guiraud, der nach Bizets Tod die Rezitative für Carmen komponieren sollte. Nach Paris wegen der schweren Krankheit seiner Mutter zurückgekehrt (1860), doch noch für zwei Jahre durch das Rom-Stipendium abgesichert, begann Bizet die Suche nach einem Opernsujet.

Schon in Rom hatte ihn die grand opéra beschäftigt, und die verbleibenden eineinhalb Jahrzehnte seines Lebens sind von vollendeten |16| und – vor allem – unvollendeten Opernprojekten und den Versuchen, Aufführungsmöglichkeiten zu finden, durchzogen. Zählt man zu den unterschiedlichen Werken, die Bizet in Angriff nahm, alle Ansätze, Skizzen und vagen Ideen hinzu, die in seiner Korrespondenz und seinem Nachlass auftauchen, kommt man – Winton Dean zufolge – auf genau 30 Opernprojekte, von denen bei optimistischer Schätzung sieben zu Bizets Lebzeiten aufgeführt wurden.

Eine Absurdität stellen die Umstände rund um La Guzla de l’émir dar: Diese opéra comique wurde 1862 vollendet, die Proben zur Uraufführung mussten aber abgebrochen werden, weil ein neuer Auftrag des Théâtre-Lyrique unter der Bedingung stand, dass es sich bei diesem Werk um die erste zur Aufführung kommende Oper des jeweiligen Rompreisträgers handeln müsse. Dies führte immerhin zu der ersten noch heute gelegentlich gespielten Oper Bizets, Les Pêcheurs de perles (1863). Kaum ist ein größerer Kontrast zu Carmen denkbar: Zwar geht es auch hier um zwei Männer, die um dieselbe Frau werben, aber diese Männer sind durch eine Freundschaft miteinander verbunden, deren lyrische Melodie – erstmals in dem Duett »Au fond du temple saint« präsentiert – das Stück motivisch durchzieht; zuletzt opfert sich der unterlegene Rivale für das Glück des Paars. Bei der Uraufführung erkannte nur ein einziger Kritiker Bizets Talent: Hector Berlioz in seiner letzten Musikkritik. Mit 18 Aufführungen erzielte die Oper nur einen Achtungserfolg. Exakt genauso oft wurde La Jolie Fille de Perth (1867), gleichfalls am Théâtre-Lyrique, aufgeführt, ein Werk, von dem Bizet selbst eingestand, es habe »den falschen Göttern der Quadrille, der Roucoulade und den Zugeständnissen der Koloratur geopfert« – und das wohl genau deswegen als einzige seiner Opern Gnade bei der Kritik fand.

Es ist bitter, zu verfolgen, wie wenig Chancen Paris einem der größten Musikdramatiker des 19. Jahrhunderts bot. In den drei Jahren zwischen dem (niemals aufgeführten) Wettbewerbsbeitrag La Coupe du roi de Thulé (1869) und dem Einakter Djamileh für die Opéra-Comique (1872) häuften sich die Pläne und Fragmente: Die einigermaßen weit gediehenen, dann aus diesem oder jenem Grund abgebrochenen Opernentwürfe (Ivan IV, La Coupe du roi de Thulé, Clarisse Harlowe, Grisélidis) wurden regelmäßig für spätere Projekte »kannibalisiert«. In Bizets Biografie reihen sich die frustrierenden Misserfolge aneinander; kein Wunder, dass der Komponist in seinen späteren Jahren zu paranoiden Vorstellungen neigte. Auch wenn die Umstände tatsächlich wider ihn waren – die reaktionäre Verknöcherung des Pariser Publikums, die Unfähigkeit und Korruption der meisten Kritiker und die entweder übervorsichtig oder |17| allzu riskant kalkulierenden Operndirektoren bildeten eine tödliche Mischung –, gewinnt man dennoch den Eindruck, dass Bizet trotz seiner großartigen Anlagen kein deutliches Ziel vor Augen hatte; Selbstzweifel und ein wachsender Hass auf den Pariser Betrieb kamen dazu. Bizet hat sich (darin freilich zeittypisch) ein wenig wahllos in allen Musiktheater-Genres seiner Zeit versucht, ohne dass ihm dauerhaft bewusst wurde (so hat es zumindest sein Biograf Hervé Lacombe gesehen), wo seine wahren Stärken lagen, nämlich in den kleineren, geschmeidigeren und pointierteren Formen, nicht im pathetischen Großaufgebot. Dass er nach Carmen ein Oratorium plante und die spanische Heldenoper Don Rodrigue zur Aufführung bringen wollte, ist für dieses Selbstmissverständnis charakteristisch. Verdi und Wagner hatten in seinem Alter bereits viel klarere Vorstellungen von ihrer musiktheatralischen Sendung.

Wovon lebte Bizet in dieser Zeit? Nach dem Auslaufen seines Rom-Stipendiums (1862) hielt er sich durch Auftragsarbeiten über Wasser: Arrangements insbesondere von Klavierauszügen anderer Opern, aber auch etwa von Gounods / Bachs Ave Maria für Klavier solo. Angeekelt berichtet er einmal Edmond Galabert, einem Komponisten, dem er brieflich (!) Unterricht gab, wie er sich an einem schlechten Walzer, den er orchestrieren sollte, durch vulgäre Instrumentation rächte. Auch unterrichtete er wenig und ungern, sieht man von den »Fernstudien« in Komposition ab, die Galabert und Paul Lacombe bei ihm absolvierten – die daraus resultierenden Briefwechsel gewähren Einblick in Bizets Ästhetik und in seine Vorstellungen von musikalischer Dramaturgie. Eine Virtuosenkarriere hat Bizet, obwohl von Liszt als Pianist bewundert, bewusst vermieden, weil sie nach den Vorurteilen seiner Zeit zugleich das Ende des Opernkomponisten bedeutet hätte. Er hat auch wenig Klaviermusik komponiert, wovon die vierhändigen Jeux d’enfants (die er später orchestrierte) das bekannteste Werk sind, eine Beschwörung der Kindheit, die ein bezauberndes Gegenstück zu Schumanns Kinderszenen und Ravels Ma Mère l’oye bildet. Der Zyklus Chants du Rhin präsentiert als viertes seiner Stücke »La Bohémienne«, die Zigeunerin. An Kammermusik hat Bizet lediglich ein Duo für Fagott und Violoncello hinterlassen. Ebenso verstreut sind rein orchestrale Werke.

Dass Bizet trotz seiner prekären finanziellen Lage 1869 die Tochter seines mittlerweile verstorbenen Kompositionslehrers Halévy gegen den Widerstand ihrer Familie heiratete, mutet erstaunlich an, zumal er bis dahin wenig Neigung zur Häuslichkeit gezeigt hatte. Wie die meisten Bürger seiner Zeit war er in Frankreich wie in Italien ein fleißiger Bordellbesucher gewesen und hatte nebenbei seine Liebschaften gepflegt. 1861 berichtete er Gounod über zwei gleichzeitig betriebene Affären; der Sohn, den eine |18| Dienstmagd seines Vaters im selben Jahr zur Welt brachte, stellte sich viel später als der Sohn von Georges heraus. Doch Geneviève Halévy schien Bizet verwandelt zu haben: »Keine Liebelei mehr! All das ist nun zu Ende! Absolut zu Ende! Ich spreche im Ernst zu Ihnen. Ich bin einem anbetungswürdigen Mädchen begegnet, das ich verehre! In zwei Jahren wird sie meine Frau sein. Von nun an nur noch arbeiten und lesen; denken, das ist Leben«, berichtete er 1867 Galabert.

Doch diese Liebesehe wurde keine glückliche. Geneviève war – möglicherweise ein Erbteil ihrer Mutter – seelisch instabil, zeitweise bis an den Rand des Wahnsinns. Die politischen Ereignisse von 1870/71 – die Belagerung von Paris während des Preußisch-Französischen Kriegs und die Tage der Commune, der blutig niedergeschlagene Versuch einer radikalsozialistischen Stadtherrschaft in Paris – trieben das Ehepaar in die Flucht und trugen ihr Teil zur permanenten Unruhe und zum Scheitern mancher Pläne im Leben der Bizets bei.

Paradoxerweise verbesserte gerade der Krieg die Situation für französische Komponisten. In den Tagen der Commune hatte Bizet noch überlegt auszuwandern, weil er nun in das französische Musikleben gar keine Hoffnungen mehr setzte – zur Wahl standen Italien, England oder Amerika. (»Deutschland, das Land der Musik, ist unmöglich für jeden, der einen französischen Namen führt und ein französisches Herz hat. Alles ist maßlos traurig.«) Doch nach Kriegsende begründeten Camille Saint-Saëns und der Gesangslehrer Romain Bussine 1871 die Société nationale de musique. Bizet war eines ihrer ersten Mitglieder, doch er lebte nicht lange genug, um von diesem Versuch einer Restauration französischer Musikkultur zu Beginn der Dritten Republik zu profitieren. Das einzige Ergebnis ist der Einakter Djamileh, eine raffinierte, kunstvoll-künstliche Stilübung in musikalischem Orientalismus, diesmal auf ein wenig dramatisches Sujet (der Direktor der Opéra-Comique, Adolphe de Leuven, wünschte sich, dass ein Darsteller einen Teller fallen ließe, damit wenigstens irgendetwas geschehe). Nur elfmal aufgeführt und weitgehend verrissen, wurde Djamileh aber von Kollegen wie Ernest Reyer, Jules Massenet und Saint-Saëns bewundert.

|19| Die Opéra-Comique und die »opéra comique«

Die Opéra-Comique war (und ist) nicht nur die Bezeichnung für ein 1840 eröffnetes Gebäude im 2. Pariser Arrondissement (auch Salle Favart genannt). Sie steht auch für eine bestimmte Gattung gleichen Namens, die wir als opéra comique typografisch unterscheiden wollen. Im Gegensatz zur königlich-aristokratisch geprägten tragédie lyrique im Haus der Opéra war die opéra comique eine Spielart des populären, volksnahen Theaters, in ihren Anfängen nach 1700 auch oft eine Parodie auf die »hohe« Oper – meist mit populären Melodien arbeitend, auf die neue Texte gedichtet wurden. Etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden dann auch originale Werke, vor allem André-Ernest-Modeste Grétry brachte Ideen der Aufklärung in die Gattung ein.

Opéra comique bedeutete damals längst nicht mehr »komische Oper«; eines der bedeutendsten Werke der Revolutionszeit war Luigi Cherubinis tragische Médée (1797). Der Name bezog sich wie im 18. so im 19. Jahrhundert vor allem darauf, dass hier meist Geschichten von Bürgerlichen, nicht vom Adel erzählt wurden; formal zeichnete sich die Gattung durch gesprochene Dialoge (statt Rezitativen) aus. Nach 1815 bot man allerdings primär harmlose Unterhaltung mit sanglicher, leicht fasslicher Musik, die zur entstehenden Romantik Distanz hielt. Die Gattung nahm in ästhetisch-musikdramatischer Hinsicht wie im Sozialstatus ihres Publikums eine »mittlere« Position ein, zählte aber zu den »ersten«, staatlich finanzierten Musiktheaterformen, und galt als »eminent französisches Genre«, auch wenn sie im 19. Jahrhundert internationale Verbreitung erfuhr. Die beliebtesten Werke brachten es auf vierstellige Aufführungsziffern. Dabei wird die Statistik zwischen 1825 und 1893 angeführt von François-Adrien Boieldieus La Dame blanche (1825) mit 1 568 Aufführungen; einem Stück, das Bizet zutiefst verachtete. Zu den Erfolgsstücken zählten auch Daniel-François-Esprit Aubers Le Domino noir (1837, 1 116 Aufführungen) und Gaetano Donizettis La Fille du régiment (1840, 890 Aufführungen).

Zu Bizets Zeit wurde das Repertoire immer noch von diesen Werken bestimmt. Die opéra comique war in eine Erstarrung und in die Krise geraten; Charles Vimenal schrieb 1875, die Gattung werde »attackiert von zwei Seiten zugleich, durch die Entwicklungen der Dichtung und der Symphonie [des Orchesters] im drame lyrique, durch den Exzess an musikalischer Fröhlichkeit und die improvisierten Übertreibungen in der Operette.« Der Anlass für diese Bemerkung war Carmen.

Die zunehmende dramatische Gewalt von Bizets musiktheatralischem Zugriff wird hingegen – neben Carmen – am schärfsten deutlich bei einem Werk, das 1872 entstand: der Bühnenmusik zu L’Arlésienne für 26 Musiker. Auch im Stück von Alphonse Daudet ist eine Femme fatale, das titelgebende Mädchen aus Arles, der Motor des unheilvollen Geschehens, doch tritt sie niemals selbst auf. Stück wie Musik waren ein weiterer Misserfolg, doch setzte sich eine von Bizet orchestrierte Suite im Konzertsaal |20| durch (eine weitere wurde von Guiraud nach Bizets Tod zusammengestellt).

Georges Bizet 1875, im Jahr der Uraufführung von »Carmen«, seinem Todesjahr. Porträt des Pariser Prominentenfotografen Étienne Carjat.

Man kann begreifen, welche Hoffnungen der Komponist auf sein nächstes Auftragswerk für die Opéra-Comique gesetzt haben muss (siehe Kasten S. 19). Umso härter muss ihn die kühle Aufnahme von Carmen durch Publikum und Kritik getroffen haben. Zwar gilt die Behauptung, dieser Misserfolg habe zu Bizets frühem Tod nur drei Monate nach der Uraufführung geführt, mittlerweile als romantische Legende: Seine Gesundheit war nie die beste gewesen, und sein Körper war durch eine Mandelentzündung, einen Abszess am Hals, ein sein Gehör beeinträchtigendes Leiden am linken Ohr und Rheumatismus geschwächt. Aber schon ein zeitgenössischer Arzt äußerte die Vermutung, dass die »physische und moralische Erschöpfung, die der Misserfolg von Carmen ausgelöst hatte«, die eigentliche Todesursache sei. Es scheint fast unmöglich zu glauben, dass die Enttäuschung sich nicht irgendwie gesundheitlich ausgewirkt haben sollte; an seinem nächsten Projekt, einem Oratorium Geneviève de Paris, arbeitete Bizet bis zu seinem Tod jedenfalls nicht ernsthaft, was auch mit dem religiösen Sujet zu tun haben könnte. (Der parallel zu Carmen im Auftrag der Opéra entworfene Don Rodrigue, die Geschichte von El Cid, liegt als Entwurfspartitur in der Bibliothèque nationale, an deren Vervollständigung sich noch niemand gewagt hat.)

In der Sommerfrische in Bougival (nahe Paris) ließ der ohnehin leidende Komponist sich zu einem ausgedehnten Bad in der Seine verleiten, das am 30. Mai einen schweren Rheuma-Anfall zur Folge hatte. Am 1. Juni folgte eine erste Herzattacke, in der Nacht vom 2. zum 3. eine zweite. Georges Bizet starb in den frühen Morgenstunden des 3. Juni 1875. Es war sein sechster Hochzeitstag. Am selben Abend wurde in der Opéra-Comique die von Bizet verachtete Dame blanche von Boieldieu gegeben.