Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Gustaf af Geijerstam

Das ewige Rätsel

Der Verfall einer Ehe
Übersetzer: Gertrud Ingeborg Klett
e-artnow, 2017
Kontakt info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-7532-1

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Ich hab mich müde gegrübelt, all das zu begreifen, was ich in ein paar kurzen Jahren erlebt habe. Es war ja so wenig, was ich verlangte, und so viel, was ich geben wollte ... Eigentlich verlangte ich bloß, geben zu dürfen ...

Und dennoch ...

Müde wandre ich in meinem Zimmer auf und ab; wenn die Lampe heruntergebrannt ist, werf' ich mich aufs Bett und sinke in Schlummer – – aber nicht in Schlaf. Noch hat die Zeit, die verflossen ist, mich nicht geheilt. Und doch müßten die Jahre längst das ihrige getan haben. Niemand weiß, daß ich so lebe. Niemand ahnt, daß dann und wann, wenn ich's am mindesten glaube, das Alte wieder aufbricht in mir, die alten Wunden, die sich nicht heilen lassen wollen. Züge gehen und kommen auf dem kleinen Bahnhof. Der Winter kommt früh hier oben im Norden, und der Schnee liegt schon hoch über Hecken und Feld. Dunkel heben sich um mich die Berge gegen den Nachthimmel mit seinen Sternen. Niemals hab ich sie leuchten sehen damals, als die große Stadt mich gefangen hielt. Die Winternacht ist nah. Bald wird die Sonne ganz verschwinden, und Monate werden vergehen, eh ich sie wieder emporgleiten sehe über die Berge, die mein Tal umgrenzen. Vielen Menschen begegne ich nicht hier. Und die Züge gehen nicht so oft im Winter.

Hier müßte alles in mir sich klären. Aber auch das geht langsam. Es ist wie ein Genesen nach einer langen Krankheit, die in mir kämpft, mich nicht loslassen will ...

Neulich fuhr ich nach der Stadt, um meinen Jungen zu besuchen. Wir schlossen uns auf seiner Stube ein und saßen da bis spät am Abend. Manchmal sah der Junge mich an, als wollte er meine Gedanken erraten, und sagte:

»Haben wir's nicht gemütlich jetzt?«

»Doch!« antwortete ich. »Gemütlicher haben wir's gar nie gehabt ...«

Er strahlte und kam zu mir her und streichelte mir den Bart, wie ein Mädchen oder ein Kind. Oder eigentlich wie ein älterer Freund, den um des Jüngeren willen eine Unruhe quält ... Ich verstand ihn ja so gut. Er ängstigt sich, was ich in meiner Einsamkeit anfange, seit er mich allein auf dem Land draußen gelassen und das Gymnasium bezogen hat. Ich wiederum kann die Furcht nicht los werden, er könnte Schaden gelitten, könnte eine Art seelischen Knax davongetragen haben von allem, was er durchgemacht hat. Er ist auch ein bißchen blaß und klein, als wär er im Wachstum stehen geblieben.

Aufs neue erwachen die Gedanken, während ich im Zug sitze, der mich dampfend durch Wald und schneeverhülltes Land nach Hause zurückführt.

Aber ich habe den Entschluß gefaßt, gesund zu werden, und um mich selber darin zu bestärken, schreib' ich dies hier nieder. Ich bin kein Schriftsteller. Was ich schreibe, weist auch die Spuren davon auf. Ich bin nichts als ein Mensch, der nah daran war, sich am Leben zu verheben ...

Aus der ersten Zeit meiner Ehe möchte ich am liebsten gar nichts erzählen. Zu jener Zeit war ich schlechtweg glücklich, das heißt, so glücklich, wie ein Mensch meiner Art überhaupt sein kann. Und glückliche Menschen haben bekanntlich keine Geschichte. Ich will auch nicht erzählen, wie Maud und ich ursprünglich auseinanderkamen. Das heißt, das kann ich nicht erzählen. Denn eben hierin liegt das ganze Rätsel, das mich krank gemacht hat. Maud hat es mir gesagt und ich hab es ihr gesagt. Sie hat auf ihre Weise geredet und ich auf meine. Aber in all dem, was zwischen uns geredet worden ist, ist nichts, was ich festhalten und worin ich eine Erklärung finden kann die mir Ruhe gibt.

Ich hab einmal ein Märchen gehört. Hier draußen, wo ich jetzt lebe, kommen die Märchen zu mir. Der Bahnhof liegt am Fuß des Gebirgs, und viele Stunden können vergehen, ohne daß ein Zug kommt. Und in der Stille beginnen die alten Märchen zu reden. Besonders an eines erinnerte ich mich an einem solchen Abend. Es war das von der Waldfrau. Viele Sagen gibt es von ihr. Und sie sind alle ganz verschieden. Aber in einem Punkt stimmen sie alle überein. Die Waldfrau schenkt dem Manne höheres Glück, als Erdenfrauen ihm schenken können. Aber im Wald hat die Waldfrau einen Fuchsschwanz, oder auch ist sie hohl wie ein Backtrog oder ein morscher Baumstumpf. Das sieht man erst, wenn sie einem den Rücken wendet. Der Sage nach ist sie grausam, böse, hohl. Es gibt, wie gesagt, viele solche Sagen von Rittern und von Königen.

Aber an keine von denen denke ich. Die, an die ich denke, handelt von einem Mann, der einsam im Wald lebte.

Seine Hütte war niedrig, und er nährte sich von Jagd und Fischfang. Aber die Tage wurden ihm lang. Denn er war ein warmherziger Mensch. Und er sehnte sich nach einem Weib.

Schwermütig lag er eines Morgens und sah die Sonne durch ein Astloch an der Wand über seinem Bett spielen. Es war zeitig im Frühling; die Regenwasser rauschten durch den Wald, daß man sie weithin hörte. Das vermehrte seine Schwermut, und er seufzte vor Sehnsucht.

Da sah er, wie die Sonnenstrahlen im Astloch sich gleichsam verdichteten, und etwas rann durch die Wand zu ihm herein. Zuerst erbebte er vor Schreck. Denn er kannte jedes Getier im Wald und wußte, wo Gefahren drohen. Aber als er sich umblickte, stand ein Weib am Herd und machte Feuer. Nie hatte er Schöneres gesehen.

Da stand er von seinem Lager auf, und schnitzte, ohne ein Wort zu dem Weibe zu reden, mit seinem Taschenmesser einen Keil, den er in das Loch trieb.

Die Waldfrau blieb bei ihm und schenkte ihm ihre Liebe. Sie bettete sein Lager und kochte sein Essen. Sie ward ihm ein demütiges, williges Weib. Ein Kind gebar sie ihm auch. Tag und Nacht beglückte sie ihn.

Viele Jahre lebten sie so, und der Mann fing schon fast an, zu vergessen, wie er zu seiner Frau gekommen war. Aber eines Nachts, als er in ihren Armen ruhte, fragte sie ihn kosend, wie er zu ihr gekommen wäre. Und der Mann begriff, weshalb sie in den letzten Wochen so schwermütig gewesen war, wie dereinst er, zu der Zeit, da er einsam war. Erst wollte er nicht antworten; aber berauscht vom Kuß der Waldfrau gab er nach. Er nahm den Holzkeil heraus, der noch im Astloch saß. Und siehe! Da spielte der Mondschein übers Lager herein. Denn draußen im Wald war es Nacht.

Und er sah, wie sein Weib vor seinen Augen gleichsam durchsichtig ward und eins mit dem Mondlicht. Und auf demselben Weg, wie sie gekommen war, glitt sie wieder hinaus. Durch die Wand vernahm er einen klagenden Laut, wie wenn im Fels der Uhu ruft.

Er ging zum Bett, wo das Kind lag. Es war kalt und tot. Da verstand er, weshalb die Waldfrau geklagt hatte, als sie entschwand.

Denn ihm ward jetzt klar, daß er mit der Waldfrau verheiratet gewesen war. Und nie ward er wieder wie zuvor. Sein ganzes Leben lang wartete er auf sie. Aber im Wald begegnete er ihr nimmer.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

So unerwartet kam dereinst auch Maud in meinen Weg. Ich fühlte mich einsam, wie kaum einer in der Hauptstadt. In meinem Blut lebte die Erinnerung an meine Jugend im Wald. Mein Vater war nämlich Förster gewesen. Er hatte mich zum Studieren gezwungen, um mir das harte Leben zu ersparen, das er selbst hatte. Während ich noch Student war, starb er. Ich habe ihn nie gekannt.

Ich erhielt eine bescheidene Anstellung beim Eisenbahndienst. Aber ich war ein Fremdling in meiner Umgebung. Die Menschen waren mir so fremd, daß ich mich ihnen kaum zu nähern wagte. Vielleicht war etwas Krankhaftes in mir. Maud hat es immer behauptet. Und sie hatte wohl recht. Aber wird nicht das Gemüt krank, wenn man in eine Umgebung kommt, in der man nicht daheim ist? Gibt es nicht viele solcher Kranken?

Ich weiß nur, daß, weil ich mich fremd fühlte unter den Menschen, ich mir meine eigene Welt aufbaute, eine Welt, die ich in mir selbst trug. Schwermütig lebte ich dahin; es war mir unheimlich, einsam auf einem Zimmer mit der Aussicht auf Telephongalgen und Dächer zu sitzen. Da kam Maud in mein Leben. Wie ich mich ihr zu nähern wagte, ist mir ein Rätsel. Was hatte ich ihr zu bieten? Aber sie nahm mich so, wie ich war. Und was kein anderer in mir sah, das sah sie. Von dem Tag an wich meine Schwermut. Glücklicher konnte kein Mann sein, als ich. Dennoch wich die Schwermut nicht auf immer. Später kehrte sie zurück, tauchte ganz plötzlich mitten aus meinem Glück auf und ängstigte mich. Da suchte ich Trost bei Maud, und als ich nicht fand, was ich suchte, begann mein Übel wieder Macht über meine Seele zu gewinnen.

Nun ist es im allgemeinen gefährlich, eine bürgerliche Stellung innezuhaben, wenn man sich so ganz und gar nicht auf die Kunst versteht, bürgerlich zu leben. Andere merken das nämlich. Und die Solidität, die die Gesellschaft von einem derartigen Hausstand erwartet, fehlt. Es ist immer gefährlich, seinem Leben ein Gepräge zu geben, das dem der andern nicht gleicht. Ich muß es selbst gestehen – unser Haushalt machte nie den Eindruck, als wär es ein Haushalt wie der der andern. Er machte den Eindruck, daß da ein Mann mit seiner Geliebten hauste, und sogar der Knabe, der in den Zimmern umhersprang und spielte, hatte in seinem ganzen Wesen etwas Zwangloses, als sei er die Frucht einer ungesetzlichen Verbindung. Unser Haushalt war nicht so, wie der eines Beamten sein soll und muß. Ihm fehlte vollständig die Art Ernst, die Gewicht verleiht. Maud und ich gehörten außerdem zu denen, die gern Freunde bei sich sehen, und so lang alles in unserem Haus eitel Freude war, fehlten diese auch nie. Aber wenn sie von uns sprachen, schüttelten die Freunde die Köpfe und sagten: »Das geht nicht auf die Dauer. Frau Maud ist zu apart, und er ist viel zu verliebt in seine Frau.« Eine eigentümliche Figur müssen wir gemacht haben in der Welt – so als Mann und Frau betrachtet. Immerhin – unser Leben ging weiter, wie das der andern auch. Auch ökonomisch schlugen wir uns durch, und nach vielem Wenn und Aber erhielt ich schließlich sogar eine Beförderung. Und die Freunde sagten: »Wird sich zeigen, wie lang das so weitergeht.« Im übrigen, das weiß Gott, lebten wir bürgerlich genug. Unsere Wünsche gingen nicht über das hinaus, was Menschen erreichbar ist. Und dennoch hatten unsere Freunde recht. Lange währte unsere Freude nicht. Nicht einmal, daß ich befördert und daß unsere Lage eine recht gute wurde, konnte uns retten. Immerhin – befördert wurde ich. Ah, der Tag, an dem ich auf meine Visitenkarte drucken lassen konnte: Karsten Bloch, Kontrolleur in der Eisenbahnverwaltung! Nie vergeß ich den. Damals schien mir, als wär ich nun über das Schlimmste weg. Und doch begann damals, oder gleich darauf, das Unheil.

Illusionen! Illusionen!

Als ich glaubte, der beste Teil unsres Lebens würde jetzt erst kommen, war schon alles zu Ende.

Wir nahmen zu jener Zeit eine andere Wohnung. Mein Wunsch war das nicht. Ich hing an den beiden kleinen Zimmern ganz am Ende der Regierungsstraße, wo wir anfänglich gewohnt hatten. Als ich sah, wie Maud unsern Hausrat zusammenpackte und von den Wänden die kleinen Zieraten nahm, die wir, eins ums andere, dort aufgehängt hatten, schnitt es mir ins Herz. Leer und öde schauten die Zimmer uns nach, als wir sie verließen. Und in mir klang es, als ob unheimliche Dissonanzen in meinen Ohren schrillten. Mir traten die Tränen in die Augen. Als ich ein letztes Mal die Treppen hinabging, war ich allein. Maud war so glücklich, daß sie diese Räume, die für mich alles enthielten, verlassen durfte, daß ich nicht das Herz hatte, ihre Freude zu stören. Wie von einer Last befreit verließ sie die Räume, die unser Glück umschlossen hatten.

Dennoch war ich froh, daß Maud sich nicht mehr abarbeiten mußte, wie bisher, daß wir nun die Mittel hatten, ein Dienstmädchen zu halten. Wie eine Königin kam sie mir vor, und eine Königin soll nicht unter der groben Arbeit des Lebens leiden. Zudem sagte sie, sie hätte die Gegend, in der wir zuerst wohnten, nie ausstehen können. Die obere Regierungsstraße war zu jener Zeit ein trübseliger Stadtteil. Nur arme und kleine Leute wohnten da. Maud liebte es, unter die Menschen zu gehen, die ganz Stockholm kennt. Sie wollte im Sonnenschein leben. Ihr Stockholm war nicht das meine. Aber ich zog um, weil ich wußte, daß sie es wünschte.

Ja, ich war sogar der erste, der auf eine Veränderung drang. Unsere neue Wohnung war bald zu unserem Empfang bereit. Sie lag ganz hinten in der Kardellstraße, der kleinen, schmalen Gasse, die von der Sturestraße abgeht. Dicht bei der großen Pulsader, auf der Stockholms beau monde zu flanieren pflegte, lag sie. Mir war fast ängstlich zumut, so oft ich nach Hause ging. Die Wohnung war nicht groß, aber bequem. Mir war sie groß genug, so groß, daß es mir schien, als wären Maud und ich wer weiß wie weit auseinandergekommen. Maud hatte ihr Zimmer, Harry seines und ich meines. Das Traumland war verschwunden.

Es war verschwunden. Aber das sah ich nicht, wollte es nicht sehen. Äußerlich lebten Maud und ich wie zuvor. Stark, wie zuvor, glühte in mir die Illusion. Jahre vergingen, in denen ich mir einbildete, das Glück sei mit uns gezogen. Meine Kollegen hatte ich nie zu mir eingeladen. Sie hätten sich bei uns nicht wohl gefühlt. Weder der Ton noch der Verkehr würde ihnen gepaßt haben. Ich hielt meinen Beruf und mein Familienleben so ängstlich getrennt, wie zwei Welten, die nichts miteinander zu schaffen haben. In der ersten Zeit hatte meine Frau den Haushalt allein geführt. Und es wäre im Amt eine schlechte Empfehlung für mich gewesen, wenn meine Kollegen damals einen Einblick in unsere ungeschickte Wirtschaft bekommen hätten. Und auch, als ich es hätte machen können, lebte ich auf dieselbe Art weiter. Ich wollte meine Welt für mich haben. Ich sah ja mehr als genug von diesen Menschen, die ich nicht verstand. Tüchtige Menschen, arbeitsame, ehrenwerte Menschen. Aber so ganz anders als ich, daß ich lachen mußte, wenn ich daran dachte, was für Gesichter sie machen würden, wenn ich ihnen eines schönen Tags erzählte, welches meine Gedanken, meine Freuden und Liebhabereien waren! Aber ich hütete mich wohl! Ich war nie eine Rebellennatur gewesen, und Proselyten machen – das konnte und wollte ich nicht. Ich war ganz einfach ein Mensch, der, so gut er konnte, sein eigenes Ich zu wahren versuchte. Im Innersten ein unbedeutender Mensch, ein Spießbürger.

Ein anderes war für mich das Amt – ein anderes die Familie. Ich lebte in zwei vollständig getrennten Welten, und befand mich wohl dabei. Daraus baute ich mir meine Traumwelt. Eine ganze Traumwelt baute ich auf um Maud und mich; und es war meine Lust, wenn ich auf dem Bureau saß, die Augen manchmal zu schließen und mich an dem Gedanken zu laben, daß ich einen Winkel in der Welt hatte, der mein eigen war. Ich lachte vor mich hin. Ich fand das lustig. Zu denken, daß ich einen heimlichen Glückswinkel hatte, von dem keiner etwas ahnte! Was tat es, ob die Vorgesetzten mich überlegen behandelten und der Bureaudiener ein bißchen herablassend war? Ich war nicht wie die andern. Ich paßte nicht zu ihnen. Was tat's? Mein Traumland hatte ich, das konnte keiner mir nehmen. Und dort wartete ein Weib auf mich, das ich liebte. Ein Weib und ein Kind, das mein war! Es war mir eine Wonne, zu wissen, daß hier, auf meinem Bureau, keiner sie kannte. Keiner kannte sie oder mich. Sie und ich – wir waren wie zwei große Kinder, die einander an der Hand halten, um sich nicht einsam zu fühlen in der großen, wilden Welt. Darum ward mein Heim zu einem Wunderland, wie Dichter es sich errichten, um aus der Welt dorthin zu fliehen. Kein Unbefugter hat Zutritt. Makellos, unberührt ist für sie das Wunderland, und ein solches besaß auch ich in meinem Heim.

Der große Bienenkorb, in dem ich eine Stellung einnahm, lag im großen Zentralbahnhofsgebäude, und von meinem Fenster aus hatte ich die Aussicht auf das schmutzige Glasdach, unter dem die Züge aus und einrollten. Ich war nun einmal bei der Eisenbahn angestellt, und seit ich Maud gefunden hatte, dachte ich auch gar nicht daran, daß ich mich überhaupt zu etwas anderem eignen könnte. Den ganzen Tag lang hörte ich die Züge pfeifen und schnauben und die Wagen rasseln. Eigentlich war mir nichts unangenehmer; denn ich hasse den Lärm. All das Geräusch, das eine große Stadt erfüllt, ist mir eine ganz besondere Qual. Und wenn ich mich vor den Stoß von Papieren setzte, der mich jeden Morgen erwartete, wünschte ich mir oft den Tod – nur damit ich nicht mehr zu hören brauchte. Ich bin nämlich mitten im großen Wald geboren, und nach ihm hab' ich immer Heimweh gehabt. Darum brauchte ich auch inmitten dieser Werkstatt des Lärms das Bewußtsein, daß ein Traumleben auf mich wartete. Mit seiner Hilfe gelang es mir auch oft, zu vergessen, daß ich ein eingesperrter Waldmensch war, der sich an den unrechten Platz verirrt hatte, und der Lärm störte mich fast gar nicht mehr. Ich trug in mir den festen Punkt, von dem Archimedes sprach, und um den ein Mann zum mindesten seine eigene kleine Welt drehen kann.

Im übrigen hatte ich nicht nur ein Traumland, sondern ich hatte deren zwei. Das zweite lag auf einer Insel weit draußen in den Schären. Es lag einer Bucht gegenüber, und man mußte von der Dampferlandestelle mit dem Boot hinüber rudern. War ich nicht reich? Dort wohnte ich, wenn der Urlaubsmonat kam, mit den Meinen, und nie dachte ich dann daran, daß ich wieder in die Stadt zurück mußte. Kein Baum wuchs da, dessen Gestalt ich nicht noch jetzt deutlich vor mir sehe. Keine Bucht, keine Untiefe im Wasser, die ich nicht gekannt hätte. Früh morgens saß ich im Kahn und ruderte: die Angel wirbelte hinter dem Boot her; im Schilf schlug der Hecht. Und spät abends, wenn das lichte Sommerdämmer sank, wanderten Maud und ich durch den Wald.

Aber wozu von all dem reden? Ich sehe noch die Sonnenuntergänge da draußen ... Und das Wasser, das klare Wasser! Die Insel lag nah am offenen Meer. Die Haselwälder seh ich noch, die Eiche, die sich über das große Rondell breitete, wo im Herbst die Champignons aufschossen, den Landungssteg mit dem grauen Bootshaus – – – alles seh ich noch. Und ich glaubte, daß Maud das ebenso liebte, wie ich. Zu einer Zeit tat sie das gewiß. Nur daß ich und alles, was zu mir gehörte, zu gering war für sie.

Um sie sammelte sich alles, was ich mein nannte. Kein Mensch kann ohne Ansporn leben. Mögen auch blasse Kirchenmänner das Gegenteil predigen. Ich glaub es nicht. Meine Stimulanz, die mich zur Arbeit, Entbehrung und Freude antrieb, hieß Maud.