Über Sinclair Lewis

Sinclair Lewis (1885–1951) reiste durch Europa, besuchte das Deutschland der erstarkenden Nazis, arbeitete als Journalist und Übersetzer in New York und als Privatsekretär von Jack London. Für seine scharfsichtigen sozialkritischen Romane erhielt er 1930 als erster Amerikaner den Nobelpreis für Literatur.

Hans Meisel (1900–1991), Autor des Romans »Torstenson. Entstehung einer Diktatur« (Kleist-Preis 1927), war im amerikanischen Exil Thomas Manns Sekretär, später Professor of Political Science an der University of Michigan.

Jan Brandt, geboren 1974 in Leer (Ostfriesland), studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Köln, London und Berlin. In München besuchte er die Deutsche Journalistenschule, heute schreibt er u. a. regelmäßig für Die Zeit. Sein Roman »Gegen die Welt« stand 2011 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Buch »Stadt ohne Engel. Wahre Geschichten aus Los Angeles«.

Informationen zum Buch

Sinclair Lewis’ Roman aus dem Jahr 1935 führt einen Antihelden vor, der mit seinen Hetzreden die Begeisterung unzufriedener Wähler entfacht. Durch seine Lügen und eine Rhetorik des Populismus und der Ressentiments wird er Präsident der Vereinigten Staaten. Das klingt vertraut?

»Eine unheimliche Vorwegnahme der aktuellen Ereignisse.« The Guardian

»Ein Populist im Weißen Haus? Literaturnobelpreisträger Sinclair Lewis hat es vor 80 Jahren durchgespielt.« DIE ZEIT

»Sinclair Lewis ist wieder aktuell.« der Freitag

»Ein Meister des absoluten Realismus." Bob Dylan

1935 in den USA ein aufsehenerregender Bestseller, heute wieder eine Sensation und aktuell wie selten zuvor. In der Übersetzung des bekannten Exilautors und Kleist-Preis-Trägers Hans Meisel – mit einem Nachwort von Jan Brandt.

Sinclair Lewis wusste durch seine Frau Dorothy Thompson, Auslandskorrespondentin in Berlin, über den Aufstieg der Nazis Bescheid. In den USA beobachtete er, wie die Populisten nach Wirtschaftskrise und Sozialreformen des New Deal immer weiter an Einfluss gewannen. Der radikale Senator Huey Long versuchte Präsident Roosevelt aus dem Amt zu drängen, bevor Long 1935 einem Attentat zum Opfer fiel. Lewis diente er als Vorbild für den fanatischen Verführer Buzz Windrip in seinem Roman.

Buzz Windrip, für seine Gegner ein »ungebildeter Lügner mit idiotischer Weltanschauung« und ein gefährlicher Populist, will Präsidentschaftskandidat werden. Er gibt vor, sich für die kleinen Leute einzusetzen, und verspricht, »aus Amerika wieder ein stolzes Land zu machen«. Trotz völlig unglaubwürdiger Versprechen laufen ihm die Wähler zu, und er zieht ins Weiße Haus ein. Sogleich regiert er wie ein absolutistischer Herrscher, beschneidet die Freiheiten der Minderheiten, legt sich mit Mexiko an und lässt seine Kritiker rabiat verfolgen. Einer davon ist der liberale Zeitungsherausgeber Doremus Jessup, der sich nicht mundtot machen lassen will.

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Sinclair Lewis

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Roman

Aus dem Amerikanischen
von Hans Meisel

Mit einem Nachwort
von Jan Brandt

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Kapitel 36

Kapitel 37

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Nachwort

Impressum

1

Der Speisesaal des Hotels Wessex, berühmt durch seinen Goldstuck und das Panorama ferner Berge, die man auf den Wänden abgemalt erblicken konnte, sah an diesem Abend nur Rotarier, die Rotarier von Fort Beulah. Es war ein ›Damenessen‹.

Hier, in Vermont, war das keine ganz so malerische Angelegenheit wie weiter westlich in der riesigen Prärie; doch immerhin, es gab schon ungewöhnliche Momente, wie die Darbietung der Herren Medary Cole (Getreidemühle, Futtermittel) und Louis Rotenstern (Maßschneiderei, Bügeln und Reinigen), die dem Publikum verrieten, sie seien die historischen zwei Ur-Vermonter Brigham Young und Joseph Smith, als welche sie die anwesenden Damen ohne Ausnahme durch freimütige Scherze über Vielweiberei in reizende Verzweiflung stürzten. Doch der eigentliche Anlass der Zusammenkunft war bitterernst, so ernst, wie alles in Amerika jetzt nach den sieben mageren Jahren war, die 1929 angefangen hatten. Der Weltkrieg 1914/18 war gerade so viel Jahre her, dass die Knaben, die in ihm geboren waren, jetzt ins College gehen konnten – oder in einen neuen Krieg, in irgendeinen guten alten Krieg, der gerade zur Hand wäre.

Ernst also, oder wenigstens nicht ausgesprochen heiter, lauschten die Rotarier dem Brigadegeneral a. D. Herbert Y. Edgeways, USA, der sich zornig mit dem Thema ›Frieden durch Verteidigung – Millionen für Waffen, keinen Cent für Steuern‹ befasste, und Mrs. Adelaide Tarr Gimmitch, mit deren Namen der kühne Feldzug gegen das Frauenwahlrecht verbunden war, den sie im Jahre 19 unternommen hatte, sowie die geniale Eingebung, im Kriege das gesamte amerikanische Expeditionskorps vor dem Sumpf französischer Absinthcafés durch Zusendung von zehntausend Dominospielen bewahrt zu haben.

Und welcher Patriot mit einer Spur von sozialem Gefühl konnte über ihren jüngsten Vorschlag die Nase rümpfen, der leider nicht entfernt die Anerkennung gefunden hatte, die er verdiente, obwohl sein Ziel nichts Geringeres als die Reinhaltung des amerikanischen Heims vor schlechter Filmkunst durch ein Arbeitsverbot für alle Personen, Schauspieler, Direktoren oder Kameramänner anstrebte, die a) geschieden, b) im Ausland geboren waren – Großbritannien ausgenommen, von dessen Königin Mary Mrs. Gimmitch sehr hoch dachte – oder c) den Eid auf das Sternenbanner, die Verfassung, die Bibel und alle sonstigen typisch amerikanischen Einrichtungen verweigerten.

Das alljährliche Damenessen war ein schönes Bild – die Blüte von Fort Beulah hatte sich versammelt. Nahezu alle Damen und mehr als die Hälfte der Herren trugen Abendkleid und Smoking. Es ging ein Gerücht, dass sich die ›Elite‹ vor dem Essen unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf Zimmer 289 Cocktails genehmigt hatte. Die Tische, hufeisenförmig angeordnet, strahlten im Kerzenschein, und in ihm glitzerten die Kristallschälchen mit Süßigkeiten und etwas altbackenen Mandeln, Mickymausfiguren, Rotarierräder aus Messing, und kleine seidene Fähnchen der Nation steckten in vergoldeten hartgekochten Eiern. Von der Wand herab forderte ein wallendes Banner auf: ›Bediene dich selbst!‹, und die Speisenfolge: Sellerie, Tomatensuppe, gedünsteter Schellfisch, Hühnercroquettes mit Erbsen und Tutti-frutti-Eis, rechtfertigte den alten Ruf des Hotels.

Gebannt hörte alles den Sätzen zu, mit denen General Edgeways eine zugleich männliche und mystische Rhapsodie der Vaterlandsliebe schloss:

»… denn diese Vereinigten Staaten trachten, als einzige Großmacht der Welt, nicht nach fremden Eroberungen. Unser sehnlichster Wunsch ist, in drei Deubels Namen, in Ruhe gelassen zu werden! Mit Europa verbindet uns nichts als die Bemühung, aus den rohen und ungebildeten Massen, die man uns gütigst überlassen hat, halbwegs kultivierte Menschen zu machen. Das aber darf uns, wie ich Ihnen bewiesen habe, nicht daran hindern, an die Verteidigung unsrer Küsten zu denken. Es gibt genug ausländische Abenteurerbanden, die sich den stolzen Namen ›Regierung‹ beilegen und den Blick, einen neidischen Blick, auf unsere unerschöpflichen Gruben und ragenden Wälder, auf unsere titanischen Städte, auf die unendliche Weite unserer Felder werfen.

Zum ersten Mal in der Geschichte muss ein großes Volk sich rüsten, nicht zur Eroberung – nicht aus Hass – nicht zum Krieg – nein, für den Frieden! Möge Gott verhüten, dass es je so weit komme, aber wenn die andern Völker unsere Warnungen auch weiterhin so in den Wind schlagen wie bisher, dann wird, als wären die sprichwörtlichen Drachenzähne gesät, ein gewappneter, furchtloser Krieger aus jedem Fußbreit Boden dieses Landes springen, das in harter Arbeit von unseren Vätern gerodet und verteidigt wurde, von den Pionieren, deren schwertgegürtete Ebenbilder wir sein werden – oder aber wir werden nicht mehr sein.«

Zyklonischer Beifall; Professor Emil Staubmeyer, Schulinspektor, schoss auf: »Unser General – hipp, hipp, hurra!«

Alle Zuhörermienen schalteten sich auf Glanz um über den General und Mr. Staubmeyer – alle bis auf die einiger verschrobener Pazifistinnen und die eines gewissen Doremus Jessup, Herausgeber des Daily Informer von Fort Beulah. Er, der im Ort als ›tüchtiger Bursche, aber Zyniker‹ galt, flüsterte jetzt seinem Freunde, dem Reverend Falck, zu: »Unsre Pionierväter haben eine ziemlich dürftige Arbeit geleistet, indem sie in harter Arbeit einige Fußbreit Boden in Arizona rodeten.«

Nun aber kam die Ansprache von Mrs. Adelaide Tarr Gimmitch, im ganzen Land bekannt als ›Tante Onkelchen‹, weil sie während des Weltkriegs dafür eingetreten war, den amerikanischen Soldaten ›Onkelchen‹ zu nennen. Sie hatte ihm Dominospiele geschickt, vorher aber hatte sie einen noch viel kühneren Einfall: Jeder Frontsoldat sollte seinen Kanarienvogel im Käfig haben! Man bedenke, wie viel Erinnerung an Heim und Mutter der kleine Kamerad bedeutet! Süßer kleiner Zwitscherer! Und wer weiß – vielleicht konnte man Kanarienvögel zur Läusejagd abrichten?

Besessen von ihrer Eingebung, stürmte Adelaide Tarr Gimmitch ins Büro des Generalquartiermeisters, doch dieser dumpfe Bürokrat schlug ihr (oder vielmehr den armen Jungens, die einsam in den Schlammtrichtern lagen) die Bitte ab, indem er feige und undeutlich irgendwas von Transportschwierigkeiten murmelte. Es wird berichtet, dass Adelaide Tarr Gimmitch durch ihre Brille hindurch, der Jungfrau von Orléans vergleichbar, wahre Feuerströme auf den Etappenhengst schoss, während sie ›ihm Dinge sagte, die er bis an sein Lebensende nicht mehr vergaß‹!

Damals hatten Frauen ihres Schlages eine gute Zeit. Sie konnten ihre Männer, oder wenn nicht ihre eigenen, dann die Männer anderer Frauen, in den Krieg schicken. Mrs. Gimmitch redete jeden Soldaten, den sie auf der Straße traf – und sie achtete darauf, dass sie jeden traf, der sich in eine Reichweite von zwei Häuserblocks mit ihr wagte –, mit ›mein einzig geliebter Junge‹ an. Es heißt, dass sie einen Oberst der Marine-Infanterie, der aus dem Mannschaftsstand hervorgegangen war, solcherart grüßte, und er antwortete: »Wir einzig geliebten Jungen scheinen eine Menge Mütter zu bekommen in diesen Tagen. Mir persönlich wären ein paar nette Freundinnen lieber.« Und die Fabel berichtet weiter, dass die Antwort Adelaides nach der Armbanduhr des Offiziers eine Stunde und siebzehn Minuten währte, die Hustenpausen abgerechnet.

Aber die Liste ihrer Verdienste war nicht auf prähistorische Zeiten begrenzt. Nach dem Kriege verfocht sie erst und bekämpfte dann die Prohibition; auch gehörte sie (nachdem man ihr das Frauenwahlrecht aufgezwungen hatte) dem Wahlausschuss der Republikanischen Partei im Jahre 32 an und sandte dem Präsidenten Hoover täglich ein längeres Telegramm mit Ratschlägen.

Obwohl selbst unglücklicherweise kinderlos, sprach und schrieb sie mit großem Erfolg über Kindererziehung, und von ihr rührte der Band Säuglingslyrik her, der die unsterblichen Zeilen enthielt:

›Alle kleinen Dickerchen

Machen schon ihr Nickerchen …‹

Doch immer, ob das 1917 oder 1936 war, blieb sie eine rabiate ›Tochter der amerikanischen Revolution‹.

Diese Töchter (sinnierte der Zyniker Doremus Jessup) waren eine reichlich verworrene Sache, so verworren wie Theosophie, die Relativität der Dinge und indische Fakirtricks. Die Mitglieder dieser großen Vereinigung verbrachten die Hälfte ihrer Tage damit, sich ihrer Abstammung von den aufständischen amerikanischen Kolonisten von 1776 zu rühmen, und die übrige Hälfte erschöpfte sich in Angriffen auf alle Zeitgenossen, welche auf genau die Prinzipien schworen, für die jene Vorfahren stritten.

Die ›Töchter‹ (fand Doremus) waren mit der Zeit so sakrosankt geworden wie kaum die katholische Kirche oder die Heilsarmee. Und hierzu muss bemerkt werden, es ist ihnen gelungen, an Komik den unselig verblichenen Ku-Klux-Klan zu übertreffen, und das, ohne, wie dieser, Narrenkappen und Nachthemden zu tragen.

Wurde also Mrs. Adelaide Tarr Gimmitch zur Hebung der militärischen Moral aufgerufen oder dazu, litauische Chorvereinigungen davon zu überzeugen, ihr Programm mit dem Lied ›Columbia, du Perle des Ozeans‹ zu beginnen, immer war sie eine ›Tochter‹, und man konnte das auch feststellen, während man ihr mit den Rotariern von Fort Beulah an diesem schönen Maiabend lauschte.

Sie war klein, untersetzt und stupsnasig. Ihr üppiges graues Haar (sie war sechzig Jahre alt, genauso alt wie der sarkastische Jessup) quoll unter ihrem jugendlich geschwungenen Livorneser Strohhut hervor; sie trug ein Kleid aus bedruckter Seide und eine riesige Glasperlenkette; und auf ihrem reifen Busen erblühte, von Maiblümchen umrankt, eine Orchidee. Mrs. Gimmitch war allen anwesenden Männern hold. Sie schaukelte, sie gaukelte, während sie mit einer Stimme voll Flötenwohllaut und süß wie Schokoladensauce ihre Ansprache über das Thema hielt: ›Wie ihr Jungs uns Mädels helfen könnt.‹

Die Frau, so führte sie aus, hat mit dem Stimmrecht nichts zu schaffen. Wenn das Land damals, 1919, auf sie gehört hätte, wäre ihm all dieser Jammer erspart geblieben. Nein und wieder nein, kein Stimmrecht! Die Frau muss ihren Platz am Herdfeuer wieder einnehmen. Der große Schriftsteller und Gelehrte Arthur Brisbane hat diese Forderung unübertrefflich formuliert: ›Die einzige Pflicht der Frau ist, sechs Kinder zu kriegen.‹

Hier gab es eine peinliche, entsetzliche Unterbrechung.

An der Störung war Lorinda Pike schuld, die junge Witwe eines bekannten unitarischen Predigers und Leiterin einer hochherrschaftlichen Pension, die sich ›Beulah-Tal-Taverne‹ nannte. Lorinda gehörte zu den trügerischen Madonnen mit ruhigen Augen, glatt kastanienbraunem, in der Mitte gescheiteltem Haar; dazu kam eine sanfte Stimme, von fröhlichem Lachen häufig durchwirkt. Doch in der Öffentlichkeit erklang diese Stimme recht metallisch, und die sanften Augen konnten überraschend zornig blitzen. Sie war der Schrecken, die Plage des Orts. Es gab nichts, um das sie sich nicht kümmerte; die Versammlungsleiter zitterten vor ihr. Sie wetterte gegen die zu hohen Stromgebühren und gegen die zu niedrigen Gehälter der Volksschullehrer, gegen die Zusammensetzung des Zensurrats für die Bibliotheken. Und jetzt, als alles eitel Sonnenschein hätte sein sollen, störte sie die andächtige Stimmung mit dem Zwischenruf:

»Drei Hochs für Brisbane! Aber wenn so ’n armes Huhn sich keinen angeln kann? Muss sie dann ihre sechs Kleinen unehelich in die Welt setzen?«

Da bäumte sich das alte Schlachtross, Gimmitch, Veteranin aus hundert Kämpfen gegen subversive Rote, Meisterin in der Kunst, sozialistische Zwischenrufer abzutöten und sie dem Gelächter preiszugeben, auf:

»Meine liebe, gute Dame«, rief sie, »wenn das arme Huhn, wie Sie sich auszudrücken beliebten, auch nur einen Funken weiblicher Anmut besitzt, dann wird es sich keinen Mann zu ›angeln‹ brauchen, dann werden die Männer vor ihrer Haustür Schlange stehen!« (Gelächter und Händeklatschen.)

Der ordinäre Zwischenruf hatte in Frau Adelaide die edelsten Instinkte entfesselt. Sie gaukelte nicht mehr. Sie wurde heilig ernst.

»Ich will euch sagen, liebe Freunde, warum unser Land so leiden muss: weil es ein Land von Egoisten ist! Hundertundzwanzig Millionen zählen wir, und davon denken fünfundneunzig Prozent nur an sich, anstatt den verantwortlichen Wirtschaftsführern bei ihrem schweren Kampf zu helfen, den Wohlstand wiederherzustellen! Stattdessen korrupte und selbstsüchtige Gewerkschaften! Geldscharrer und sonst nichts! Ihr einziges Ziel: ihren unglücklichen Unternehmern noch mehr Löhne abzupressen, bei der Verantwortung, die sie zu tragen haben.

Diesem Lande tut nur eins not: Disziplin! Der Frieden ist ein großer Traum, doch manchmal, wer weiß, ist er flüchtig wie der Pfeifenrauch … Und nun muss ich euch etwas erschrecken – doch ich hoffe, ihr wollt von mir Wahrheit hören und nicht sentimentales Gewäsch! Nun – kann sein, wir brauchen wieder einmal einen richtigen Krieg, um Disziplin zu lernen! Was soll uns all der hochnäsige Intellektualismus! Bücherwissen mag in engen Grenzen nützlich sein, doch Hand aufs Herz, ist dieser ganze Geistbetrieb nicht etwas reichlich unernst für ausgewachsene Menschen? Nein! Was uns nottut, was dieses große Land braucht, um seinen Rang im Konzert der Nationen zu behaupten, ist, noch einmal, Disziplin – Willensstärke, kurz: Charakter!«

Artig wandte sie sich dann an General Edgeways und lachte: »Sie haben uns gesagt, wie wir den Frieden sichern müssen – nun aber mal Farbe bekannt, General, hier unter uns Rotariern: Meinen Sie, Hand aufs Herz, mit Ihrer großen Erfahrung nicht, wenn ein Volk geldtoll geworden ist, wenn seine Gewerkschaften höhere Einkommenssteuern fordern, damit die Sparsamen und Fleißigen auch noch die Faulpelze und Tunichtgute mit durchschleppen müssen, wenn es mit dem einen Volk so steht – dass vielleicht, nur vielleicht, dann ein Krieg nicht geradezu notwendig wäre? Heraus mit der Sprache, mong General!«

Sie setzte sich dramatisch nieder, und das Geräusch des Händeklatschens erfüllte die Luft wie das Rauschen vieler Flügel. Stürmische Rufe: »Mut, General! Gestehen Sie!« – »Sie sind durchschaut!« – »Decken Sie Ihre Karten auf!«, oder ein gutmütiges: »Was, die ist richtig, General!«

Der General war klein und kugelrund, sein rotes Gesicht glatt wie ein Kinderpopo und verziert durch eine goldene Brille. Allein, sein Schnauben war das echt soldatische und sein Gelächter mannhaft.

»In Gottes Namen!«, brüllte er, emporschnellend und Mrs. Gimmitch schalkhaft mit dem Zeigefinger drohend. »Da ihr Rasselbande euch nun mal verschworen habt, mir altem Haudegen sein innerstes Geheimnis zu entreißen, will ich es nur gleich gestehen: Der Krieg ist ein abscheulich Ding, doch – es gibt Schlimmeres! Ja, meine Freunde, weit Schlimmeres. Zum Beispiel einen sogenannten Frieden, in dem die Arbeiterschaft von der Idee eines roten Russlands verseucht ist! Einen Frieden, in dem Hochschullehrer, Journalisten und bekannte Schriftsteller um die Wette an unserer großen alten Verfassung herumnörgeln! Einen Frieden, in dem das Volk schlaff, feige, gierig und unkriegerisch geworden ist! Nein, solch ein Frieden ist weit schlimmer als der schlimmste Krieg!

Meine Damen und Herren, mir kommt es jetzt so vor, als hätte ich Ihnen in meiner Rede reichlich viele Ladenhüter aufgetischt, von den Vereinigten Staaten, die nichts als Frieden wünschen und ja keine Verwicklungen mit fremden Staaten. Quatsch! Ich wollte, dass wir vor der ganzen Welt erklären: So, Kinder, und nun einmal Schluss mit dem moralischen Gewäsch. Wir haben die Macht, und die trägt ihre Rechtfertigung in sich selbst!

Ich bitte, mich recht zu verstehen, ich billige durchaus nicht alles, was in Deutschland und Italien geschah und geschieht. Aber alles, was recht ist: Diese Nationen haben uns nichts vorgemacht, sondern ehrlich erklärt: ›Soundso richten wir uns ein, und das geht euch ja wohl nichts an. Wir sind erwacht und stark geworden, und der Starke hat nicht nur das Recht, nein, auch die Pflicht, von seiner Kraft Gebrauch zu machen!‹ Dürfte schwer sein, was dagegen einzuwenden. Niemand auf Gottes weiter Welt liebt den Schwächling – nicht einmal dann, wenn er selber einer ist!

Aber seid getrost, ich habe gute Nachrichten für euch! Das Evangelium der Kraft findet unter unserer Jugend immer zahlreichere Jünger. Woher käme es sonst, dass in diesem Jahre 1936 alle Colleges, bis auf nicht ganz sieben Prozent, über Wehrsportvereine nach dem Vorbild der Nazis verfügen? Was bedeutet es, dass die jungen Männer und die Mädchen das härteste Training, das ihnen vor Jahren aufgezwungen werden musste, heute als ihr Recht fordern? Ja, auch die Mädchen! In ihren Fächern, Gasschutz, Krankenpflege, geben sie an Fanatismus ihren Brüdern nichts nach! Und alle wirklich denkenden Professoren sind mit ihnen!

Und was, frage ich, hat es zu bedeuten, dass es noch vor drei Jahren einen erschreckend hohen Prozentsatz pazifistischer Studenten gab, die jederzeit bereit waren, ihrem Vaterland in den Rücken zu fallen – und heute, wie ergeht es heute allen schamlosen Narren und den bezahlten Agenten des Kommunismus, die unter falscher, pazifistischer Flagge das Volk verhetzen wollen? Warum, meine Freunde, sind in den letzten fünf Monaten, seit dem 1. Januar, nicht weniger als sechsundsiebzig solcher Orgien des politischen Exhibitionismus durch Kommilitonen gesprengt und dabei neunundfünfzig ehrvergessne rote Studenten so zugerichtet worden, dass kein einziger von ihnen es mehr wagen wird, in diesem freien Land das blutbefleckte Banner des Anarchismus zu erheben? Warum, frage ich? Ja, Freunde, das sind Nachrichten!«

Als der General sich unter Beifallsekstasen setzte, störte der Ortsschreck Lorinda Pike zum zweiten Mal die allgemeine Eintracht:

»Hören Sie mal, Mr. Edgeways, wenn Sie denken, dass Sie hier mit solchem sadistischen Blödsinn davonkommen, ohne …«

Den Rest der Drohung schmetterte der Vorsitzende Francis Tasbrough, Steinbruchbesitzer und wichtigster Industrieller am Ort, mit ausgestrecktem Arm nieder und grollte mit seinem Sarastrobass:

»Einen Augenblick, wenn ich bitten darf, meine liebe Dame! Die Versammlung kennt ja Ihre politischen Ansichten zur Genüge. Als Vorsitzender muss ich Sie leider daran erinnern, dass der Club General Edgeways und Mrs. Gimmitch aufgefordert hat, zu uns zu sprechen, während Sie – wenn Sie mir diese Bemerkung nicht übelnehmen wollen – keinerlei Beziehungen zu irgendeinem Rotarier haben und lediglich hier sind als Gast unseres allverehrten Reverend Falck. Wenn Sie daher die große Liebenswürdigkeit hätten … Danke bestens, gnädige Frau!«

Lorinda Pike hatte sich, mit der Kugel im Lauf, auf ihren Stuhl zurückfallen lassen, während Mr. Francis Tasbrough mit der Würde eines Erzbischofs von Canterbury wieder seinen Thron einnahm.

Da stand Doremus Jessup auf, um Öl auf die erregte Flut zu gießen. Er war ein Freund Lorindas, und Frank Tasbrough kannte er und hasste ihn von Jugend an.

Dieser Doremus Jessup, der Herausgeber des Daily Informer, galt, abgesehen von seiner Eigenschaft als tüchtiger Geschäftsmann und Leitartikler mit Witz und guter neuenglischer Bodenständigkeit, als der exzentrischste Einwohner von Fort Beulah. Er saß im Schulausschuss, im Bibliothekausschuss, und sein Amt war es, Persönlichkeiten wie Oswald Garrison Villard, Admiral Byrd oder Norman Thomas einzuführen, wenn sie auf einer Vortragsreise die Stadt beehrten.

Jessup war ein ziemlich kleiner, hagerer Herr, freundlich blickend und sonnengebräunt. Er wagte, einen kleinen grauen Schnurrbart und einen kleinen wohlgepflegten Bart zu tragen, unter Leuten, für die ein Mann mit Haar am Kinn entweder ein Farmer, ein Veteran aus dem Bürgerkrieg oder ein Adventist war. Jessups Kritiker behaupteten, er trüge diesen Bart nur aus Wichtigtuerei und ›um sich ein künstlerisches Air‹ zu geben.

Vielleicht hatten sie recht. Dieser Mann also stand jetzt auf und murmelte:

»Ich stelle fest, es freuen sich rings alle Vöglein in den Nestern. Meine Freundin, Mrs. Pike, sollte wissen, dass die Freiheit der Rede zur Zügellosigkeit wird, wenn sie sich zur Kritik an der Armee auswächst, in Konflikt mit den Töchtern der Revolution gerät und die sogenannten Rechte des Pöbels verficht. Ich meine daher, Lorinda, Sie täten gut daran, den General um Entschuldigung zu bitten, dem wir alle für die Offenheit, mit der er uns erläutert hat, was unsere herrschenden Schichten wirklich wollen, dankbar sein müssen. Also, liebe Freundin! Geben Sie sich einen Stoß, und bitten Sie hübsch ab.«

Er blickte streng auf Lorinda hernieder. Dennoch konnte sich Medary Cole, Präsident der Rotarier, nicht des dumpfen Gefühls erwehren, dass hinter Jessups Worten irgendeine Teufelei steckte. Er kannte das schon. Ja – nein, diesmal irrte er sich offenbar, denn Mrs. Lorinda Pike jubelte (ohne sich zu erheben):

»Gern! Bitte um Verzeihung, General! Und Dank für Ihre aufklärenden Worte!«

Der General winkte mit der Patschhand freundlich ab (auf seinen Wurstfingern trug er einen Freimaurerring und einen West-Point-Ring); er verbeugte sich wie Galahad oder ein Oberkellner und knarrte mit Paradestimme: »Nichts zu verzeihen, Gnädigste, nichts zu verzeihen! Wär ja noch schöner, wenn wir alten Veteranen nicht mal einen kleinen Puff vertrügen! Freue mich, wenn sich überhaupt jemand so für unsere närrischen Ideen interessiert, dass er sich darüber ärgert, ha, ha, ha!«

Alles lachte, und die Eintracht war wiederhergestellt. Das Programm schloss mit Louis Rotensterns Vortrag vaterländischer Liedchen: ›Wir ziehen durch Georgia‹ und ›Zeltend auf dem alten Grund‹ und ›Dixie‹ und ›Alter schwarzer Jack‹ und ›Ich bin ein armer Cowboy nur und weiß, ich hab gefehlt‹.

Die öffentliche Meinung von Fort Beulah über Louis Rotenstern ging dahin, dass er ›ein famoser Kerl‹ sei, aber eine Stufe unter dem ›waschechten Gentleman alten Schlages‹ rangiere. Doremus Jessup liebte es, mit ihm zu angeln und auf Rebhuhnjagd zu gehen; und beruflich hielt er von ihm so große Stücke, dass er sich zu der Behauptung verstieg, es gäbe keinen Schneider auf der ganzen Fünften Avenue, der Louis Rotenstern das Wasser reiche. Leider war Louis Chauvinist. Er legte Wert auf die Feststellung (und dies häufig), dass weder er noch sein Vater im Ghetto von Preußisch-Polen zur Welt gekommen sei, sondern sein Großvater (dessen Name, wie Doremus vermutete, wohl noch nicht so vornehm und nordisch wie Rotenstern geklungen haben dürfte). Die Heroen, welche Louis bei jeder Gelegenheit aus der Tasche holte, waren Calvin Coolidge, Leonhard Wood, Dwight L. Moody und Admiral Dewey (ein gebürtiger Vermonter! jubelte Louis, der seinerseits das Licht der Welt in Fiatbush auf Long Island erblickt hatte).

Er war nicht nur hundertprozentiger Amerikaner, sondern lieferte noch vierzig Prozent Chauvinismus extra. Bei jeder Gelegenheit konnte man ihn sagen hören: »Wir sollten uns alle diese Ausländer vom Halse halten, ich meine die Juden ebenso wie die Makkaroni, die Schlawiner und die gelben Hunde.« Louis war durchdrungen von der Überzeugung, die unwissenden Politiker brauchten nur ihre Finger von Bank und Börse zu lassen und sich nicht mehr um die Überstunden der Warenhausangestellten zu kümmern, damit sofort der allgemeine Wohlstand wieder ausbrach und jedermann (mit Einschluss der Maßschneider) so reich wurde wie der Aga Khan.

So legte Louis denn in seinen Gesang nicht nur die Inbrunst eines Bydgoszczer Synagogenkantors, sondern auch all seine nationalistische Leidenschaft hinein, so überzeugend, dass die Hörerschaft die Melodie mitsang; alle übertönend Adelaide Tarr Gimmitchs dröhnend tiefer Alt.

Das Dinner endete, man sagte sich wortreich Adieu, und Doremus Jessup flüsterte seiner guten Frau Emma zu, einer schlichten, freundlich bekümmerten Seele, die leidenschaftlich gern strickte, Patience legte und die Romane von Kathleen Norris las: »War ich schrecklich, mich so einzumischen?«

»Durchaus nicht, Dormaus, du hattest ganz recht. Ich mag Lorinda sehr, aber warum muss sie immer so angeben und ihre verrückten sozialistischen Ideen zur Schau stellen?«

»Alter Reaktionär!«, sagte Doremus. »Hast du Lust, den siamesischen Elefanten, die Gimmitch, auf ein Gläschen zu uns zu bitten?«

»Nein, ich habe keine Lust!«, erklärte Emma Jessup.

Zu guter Letzt ergab sich, während die Rotarier sich in ihre Wagen verstauten, dass Frank Tasbrough einen kleinen Kreis von Herren, darunter Doremus, zu sich nach Hause zu einer Nachfeier einlud.

2

Auf der Fahrt nach Hause, wo er seine Frau absetzte, und weiter nach Pleasant Hill hinauf zu Tasbrough, sinnierte Doremus Jessup über den epidemischen Patriotismus des Generals Edgeways. Aber stärker ergriff ihn das nächtliche Bild der Hügel, zwischen denen er nun schon dreiundfünfzig von seinen sechzig Lebensjahren wohnte.

Von Amts wegen eine Stadt, war Fort Beulah im Grunde nur ein großes Dorf, bewohnt von Backstein- und Granit-Steinmetzen, die in alten Werkstätten und weißen Holzhäusern mit grauen Schindeldächern saßen; es gab nur wenig anspruchsvollere moderne Bungalows, in Gelb oder Braun. Industrie war im Ort kaum vorhanden: eine kleine Weberei, eine Rahmentischlerei, eine Pumpenfabrik. Granit, der Hauptartikel, kam aus Steinbrüchen sechs Kilometer weit entfernt; in Fort Beulah gab es nur die Büros – das ganze Geld – und die bescheidenen Wohnstätten der meisten Steinbrucharbeiter. Es war ein Städtchen von etwa zehntausend Seelen und zwanzigtausend Einwohnern – die Schätzung der Seelen mag zu hoch gegriffen sein.

Es gab einen einzigen ›Wolkenkratzer‹ im Ort – das sechsstöckige Tasbrough-Haus, in dem sich außer dem Büro der Tasbrough & Scarlett, Granitsteinbruch-Werke, auch noch die Sprechzimmer von Jessups Schwiegersohn befanden, dem Arzt Dr. Fowler Greenhill, und seinem Partner, dem alten Dr. Olmsted, das Büro des Rechtsanwalts Mungo Kitterick, dasjenige von Harry Kindermann, Generalvertreter für Ahornsirup und milchwirtschaftliche Artikel, und noch die Berufsräume von dreißig bis vierzig anderen Samurais von Fort Beulah.

Es war ein hügeliges, verträumtes Städtchen, ein Ort der Sicherheit und Tradition, der noch streng all die Feste beging wie Erntedankfest, den 4. Juli, Heldengedenktag. Hier war der 1. Mai kein Anlass für Arbeiteraufmärsche, sondern der Tag, an dem kleine Blumenkörbe verteilt wurden.

Es war eine der letzten Mainächte 1936 mit einem beinah vollen Mond. Jessups Haus lag knappe zwei Kilometer vom Geschäftszentrum entfernt auf Pleasant Hill, der wie eine ausgestreckte Hand aus dem dunkel ragenden Massiv des Mount Terror hervorsprang. Es kamen Bergwiesen, in Mondlicht gebadet, öffneten sie sich zwischen wild wuchernder Pechtanne, Ahorn und Pappel über dem Fahrenden; und unter ihm schlängelte sich der kleine Ethan-Fluss durch die Wiesen dahin. Dunkle Wälder – die dräuenden Bollwerke der Felsen, und die Luft so frisch wie Quellwasser – friedliche, mit Schindeln gedeckte Häuser, die an den Krieg von 1812 erinnerten und an die Zeit der Kindheit jener abenteuerlichen Vermonter wie Stephen A. Douglas, ›Little Giant‹ und Hiram Powers, Thaddeus Stevens, Brigham Young und Präsident Chester Alan Arthur.

›Nein, Powers und Arthur – das waren schwache Schwestern‹, dachte Doremus. ›Aber Douglas und Thad Stevens und Brigham, die alte Galionsfigur – ich frage mich, ob wir jemals wieder solche Helden wie diese tapferen, mürrischen alten Teufel hervorbringen, ob wir sie irgendwo in Neuengland, irgendwo in Amerika, irgendwo in der Welt großziehen. Sie besaßen Schneid, Unabhängigkeit. Taten, wozu sie Lust hatten, dachten, was sie wollten, und jeder konnte sich zum Teufel scheren. Die Jugend von heute – ja, die Piloten haben eine Menge Nerven. Die Physiker, diese fünfundzwanzigjährigen Doktoren, die das unzertrümmerbare Atom zertrümmern, das sind Pioniere. Aber die meisten dieser knochenlosen jungen Leute heutzutage gehen hundert Kilometer in der Stunde, ohne irgendwohin zu gehen – haben nicht genug Phantasie, auch nur zu wünschen, irgendwohin zu gehen. Ihre Musik verschaffen sie sich, indem sie an einer kleinen Scheibe drehen. Ihren Wortschatz holen sie sich aus Comic Strips statt von Shakespeare und der Bibel. Muttersöhnchen! So wie dieser geschniegelte junge Hund Malcolm Tasbrough, der immer um Sissy herumstreicht! Oh!

Wäre es nicht die Hölle, wenn nun dieser Hohlkopf Edgeways und die Gimmitch, diese Mae West der Politik, ganz recht hätten? Wenn wir ihren Militärklimbim, ja sogar irgendeinen hirnverbrannten Krieg (um irgendeine stickige Wüste, mit der wir nicht das Geringste anfangen können) tatsächlich brauchten, um den Marionetten, die sich unsere Kinder nennen, etwas Mark in die Knochen zu blasen?

Hol’s der Teufel – das sind meine Hügel! Herrliche Luft. Der Harz mitsamt den Alpen kann mir gestohlen bleiben. Ergebenst D. Jessup – Landschaftspatriot. Und ich bin ein –

»Dormaus«, ließ sich friedvoll die Stimme seiner Frau vernehmen, »macht es dir was aus, rechts zu fahren – wenigstens in den Kurven?«

Eine Bergsenke, aus der heraus der Nebel stieg bis unter den Mond – Nebelschleier auf den weißen Apfelblüten und ein schwer geneigter Fliederbusch bei der Ruine eines Bauernhauses setzten diese sechzig Jahre und mehr in Flammen.

Francis Tasbrough war der Leiter, die tätige Kraft und der Besitzer von Tasbrough & Scarlett, Steinbruch-Werke, gelegen in West Beulah, neun Kilometer von der Stadt entfernt. Er war reich, beredt und hatte immer Schwierigkeiten mit den Arbeitern. Er lebte in einem neuen Haus im georgianischen Stil auf Pleasant Hill oberhalb von Doremus’ Wohnung und war stolz auf eine Privatbar, so luxuriös wie die des Werbemanagers einer Autofirma in Grosse Point. Es war gleichermaßen das traditionelle Neuengland wie der katholische Teil von Boston, und Frank selbst rühmte sich ganz offen, unbeschadet der Tatsache, dass seine Familie seit sechs Generationen in Neuengland saß, kein engherziger Yankee zu sein, sondern an Leistungsfähigkeit und Geschäftstüchtigkeit der vollendete panamerikanische Geschäftsmann.

Tasbrough war groß, trug einen gelb verräucherten Schnurrbart und sprach viel mit einer monotonen, aber emphatischen Stimme. Er war vierundfünfzig Jahre alt, und der zehnjährige Doremus hatte den vierjährigen Frank gegen die Spielgefährten beschützt, die für seine Liebhaberei, unvermittelt und ziemlich wahllos mit Stöcken, Spielkarren, Frühlingstrommeln und getrockneten Kuhfladen auf ihre Schädel einzudreschen, nicht das richtige Verständnis aufbrachten.

Versammelt waren in der Privatbar, nach dem Rotary-Essen, außer dem Hausherrn und Doremus Jessup: Mühlenbesitzer Medary Cole, Schulinspektor Staubmeyer, R. C. Crowley – Roscoe Conkling Crowley, der gewichtigste Bankier am Ort – und, zur allgemeinen Überraschung, Tasbroughs Pfarrer, der Episkopalgeistliche Reverend Mr. Falck, seine alten Hände so zerbrechlich wie Porzellan, sein wildes Haar seidenweich und weiß, sein vergeistigtes Gesicht Abbild eines rechtschaffenen Lebens. Mr. Falck stammte aus einer soliden Knickerbockerfamilie, er hatte in Edinburgh und Oxford und später am Allgemeinen Theologieseminar in New York studiert; im ganzen Beulah-Tal gab es, abgesehen von Doremus, keinen, der sich mit größerer Zufriedenheit im Schutze der Berge verbarg.

Der Barraum war von einem jugendlichen Fachmann aus New York eingerichtet worden, der die Gewohnheit hatte, den rechten Handrücken auf die Hüfte zu legen. Es gab da eine tadellose Stahltheke, an den Wänden hingen gerahmte Farbendrucke aus ›La Vie Parisienne‹, es gab Tische mit versilberten Platten und verchromte Aluminiumstühle mit scharlachfarbenen Lederpolstern.

Alle, mit Ausnahme von Tasbrough und Medary Cole (einem Emporkömmling, dem die Gunst Tasbroughs so süß einging wie Honig und frisch vom Baum gepflückte Feigen) und ›Professor‹ Emil Staubmeyer, fühlten sich in dieser Papageienkäfig-Eleganz ungemütlich, aber keiner, Mr. Falck einbegriffen, schien weder Franks ausgezeichneten Scotch Whisky noch die Sardinenbrötchen zu verachten.

›Ich frage mich nur, ob Thad Stevens das auch genossen hätte?‹, überlegte Doremus. ›Er hätte geknurrt. Diese alte in die Enge getriebene Wildkatze. Aber sicher nicht über den Whisky!‹

»Doremus«, fragte Tasbrough, »warum gibst du dir nicht endlich einen Stoß? Du hast nun genug Jahre deinen Spaß gehabt – egal weg gegen die Regierung –, jeden an der Nase gezupft – liberal bis zum Erbrechen, bis zu dem Punkt, dass du dich für alle aufrührerischen Elemente glaubtest einsetzen zu müssen. Es ist Zeit für dich, mit dem Ideen-Zeckspiel Schluss zu machen und wieder zur alten Familie zu stoßen. Die Zeit ist ernst – an die achtundzwanzig Millionen Wohlfahrtsempfänger, die immer unverschämter werden, bilden sich ein, sie hätten ein verbrieftes Recht darauf, erhalten zu werden.

Inzwischen teilen die jüdischen Kommunisten und die jüdischen Bankiers untereinander die Herrschaft über dieses Land auf. Ich habe ja durchaus Verständnis dafür, wenn du, in deinen jungen Jahren, dir ein wenig Sympathie für die Gewerkschaften und sogar für die Juden hast abringen können – obwohl ich dir, du weißt es, nie vergessen werde, dass du damals bei dem großen Streik die Sache der Banditen verfochten hast, die meine Werkstätten anzünden wollten, jawohl, anzünden, du warst ja sogar mit dem ausländischen Mörder, dem Karl Pascal, dick befreundet, der den Streik in Szene gesetzt hat. Wenn du etwa denkst, ich war sehr traurig, wie ich ihn hinausgepfeffert habe nach dem Streik – dann irrst du dich gewaltig.

Wie auch immer, diese Desperados wollen uns erzählen – mir erzählen! –, wie man aus der Krise rauskommt, und es ist gerade so, wie General Edgeways sagte. Sie werden ihr Land just in dem Augenblick verraten, wenn es gegen feindliche Bedrohung zu den Waffen greifen muss. Jawohl, mein Junge, mächtig ernste Zeiten und die höchste Zeit, mit dem Gekicher aufzuhören und zu den verantwortungsbewussten Bürgern zu stoßen.«

»Hm«, sagte Doremus, »du hast recht, die Zeit ist ernst. Mit so viel Unzufriedenheit im Land hat Senator Windrip alle Aussicht, im November Präsident zu werden, und wenn er’s erst ist, dann wird uns garantiert die Bande seiner Ohrenbläser bald in einen Krieg verwickeln, nur um ihre ungesunde Eitelkeit zu kitzeln und der Welt zu zeigen, dass wir reif sind für den Ruhm, der Welt ruppigste Nation genannt zu werden, und dann werden sie mich Liberalen und dich reichen Mann und falschen Tory holen und um drei Uhr früh erschießen. Ernst genug?«

»Unsinn! Sie übertreiben wieder mal!«, sagte R. C. Crowley.

Doremus fuhr fort: »Wenn Bischof Prang, unser Savonarola im Cardillac 16, in seinen Radio-Ansprachen und mit seiner ›Liga der vergessenen Männer‹ für Buzz Windrip eintritt, dann wird Buzz siegen. Das Volk wird überzeugt sein, in ihm den Garanten wirtschaftlicher Sicherheit zu wählen. Wartet nur den Terror ab! Gott weiß, es gibt genug Anzeichen dafür, dass eine Tyrannei in Amerika möglich ist – die üble Lage der Pächter in den Südstaaten, die Arbeitsbedingungen der Kumpel in den Bergwerken und Arbeiter in der Kleiderbranche sowie die Tatsache, dass wir Mooney so viele Jahre gefangen halten. Wartet nur, bis Windrip es uns mit Maschinengewehren sagt! Die Demokratie, mag sie noch so schlimm sein, bei uns, in England oder Frankreich ist sie weder zu solch allgemeiner Sklaverei entartet wie der deutsche Nazismus noch einem so phantasiefeindlichen pharisäischen Materialismus verfallen, wie Russland ihm huldigt – selbst wenn die Demokratie solche Industrielle wie dich, Frank, und Bankiers wie dich, R. C., hervorgebracht, in eure Hand so große Macht und so viel Geld gegeben hat. Im großen Ganzen, mit skandalösen Ausnahmen natürlich, hat die Demokratie dem normalen Arbeiter mehr Würde geschenkt, als er je besaß. Und wenn sie nun durch Windrip – durch alle Windrips – bedroht wird, nun gut! Dann werden wir die väterliche Diktatur mit etwas gesundem Vatermord bekämpfen – Maschinengewehre gegen Maschinengewehre. Wartet nur, bis Buzz den Laden übernimmt. Das wird einen feinen Faschismus geben!«

»Unsinn, Unsinn!«, schnaubte Tasbrough. »Das ist bei uns nicht möglich, in Amerika! Wir sind doch in einem freien Land.«

»Wenn Reverend Falck«, entgegnete Doremus Jessup, »mir die Antwort verzeihen will, zum Teufel mit eurem: nicht möglich! Nennt mir doch ein anderes Volk, das so viel Anlage zur Hysterie hätte wie unseres … Jawohl, und zur Knechtseligkeit! Wie war das denn mit Huey Long, der sich zum absoluten Monarchen von ganz Louisiana machen konnte? Und wie ›besitzt‹ der sehr ehrenwerte Mr. Senator Berzelius Windrip seinen Bundesstaat? Hört doch zu, was Bischof Prang und Pater Coughlin im Rundfunk reden – göttliche Orakel für Millionen. Mit wie viel Gleichgültigkeit hat Amerika Tammanys Wahlmethoden, Chicagos Gangster und die Verschrobenheit so mancher Regierungsakte des Präsidenten Harding aufgenommen! Schlimmer sind die Hitlers und der Windrip auch nicht. Erinnert ihr euch noch an Ku-Klux-Klan? Erinnert ihr euch an die Hysterie des Kriegs, als wir das deutsche Sauerkraut in ›Freiheitskohl‹ umtauften? Und dann erst die Kriegszensur ehrlicher Druckerzeugnisse! Ganz wie in Russland! Erinnert ihr euch, wie wir – na ja, die Füße von Billy Sunday, diesem millionenschweren Evangelisten, geküsst haben und die von Aimée McPherson, die geradewegs vom Pazifischen Ozean in die Wüste von Arizona geschwommen war, und was dann passierte? Erinnert ihr euch an Voliva und Mutter Eddy? – Wisst ihr noch: die Zeit des roten Schreckens und der Katholikenfurcht? Als jeder wohl informierte Mann im Lande wusste, dass die O. G. P. U. ihr geheimes Hauptquartier in Oskaloosa aufgeschlagen hatte und der republikanische Wahlfeldzug gegen den Katholiken Al Smith bei der Bergbevölkerung von Carolina unter der Parole geführt wurde, wenn Al siegt, wird der Papst ihre Kinder für unehelich erklären! Denkt ihr an Tom Heflin und Tom Dixon und an jene Gesetzgeber in gewissen Bundesstaaten, welche, gehorsam dem großen William Jennings Bryan, der die Biologie von seiner frommen alten Omama gelernt hat, biedere Geschäftsleute als wissenschaftliche Sachverständige einsetzten und die ganze Welt durch das Verbot der Evolutionslehre zum Lachen brachten? – Gedenkt der Night-riders aus Kentucky und der wilden Freude, die viele unter uns über einen Lynchmord empfinden? Bei uns nicht möglich? Hat man zur Prohibitionszeit etwa nicht Leute niedergeschossen, weil sie möglicherweise Schnaps schmuggelten? Ach nein, das kann hier nicht passieren! Wann in der Geschichte war je ein Volk so reif für eine Diktatur wie unseres! Wir sind in diesem Moment alle bereit, zu einem Kinderkreuzzug aufzubrechen – zu einem Kreuzzug von Erwachsenen … Und die ehrwürdigen Geistlichen Windrip und Prang wollen ihn anführen!«

»Na, und wenn es so wäre?«, widersprach R. C. Crowley. »Es wäre nicht das Schlimmste. Ich habe diese unverantwortlichen und unaufhörlichen Angriffe gegen uns Bankiers satt! Es ist richtig, Senator Windrip hat öffentlich erklärt, er wolle mit den Banken aufräumen – aber lasst den Mann nur erst einmal zur Macht kommen, und ihr sollt sehen, wie er den Banken ihren vollen Einfluss wiedergibt, von unsrer Erfahrung Gebrauch machen wird. So ist es! Doch warum lassen Sie sich von dem Wort ›Faschismus‹ so erschrecken, Doremus? Es ist nur ein Wort, verlassen Sie sich drauf! Und wenn ich an das träge Pack denke, das von meinen Einkommenssteuern und von Ihren lebt – wär gar nicht so übel solch ein wirklich starker Mann wie Hitler oder Mussolini – wie Napoleon oder Bismarck in der guten alten Zeit. Der würde das Land wirklich auf die Beine bringen! Mit anderen Worten, wir brauchen einen Arzt, der dem Patienten nicht mit schönen Worten kommt, sondern ihn an die Kandare nimmt und ihn gesund macht, ob er will oder nicht!«

»Sehr richtig!«, rief Emil Staubmeyer. »Hat vielleicht Hitler Deutschland nicht vor dem Marxismus gerettet? Ich habe Vettern drüben. Ich weiß Bescheid!«

»Hm«, machte Doremus, so wie er’s oft tat. »Den Teufel Demokratie durch den Beelzebub Faschismus austreiben – ulkige Heilmethode. Ich habe schon davon gehört, dass man Syphilis durch Einimpfung von Malaria heilt, das Umgekehrte aber, dass man Malariapatienten durch Syphilisbazillen kuriert, habe ich bisher noch nicht vernommen!«

»Findest du diese Ausdrucksweise sehr passend in Gegenwart des Reverend Falck?«, knirschte Tasbrough.

Der alte Geistliche fuhr auf: »Ich finde diese Sprache äußerst passend, und ich halte Ihre Warnung für sehr wichtig, Bruder Jessup!«

»Kinder«, meinte Tasbrough, »wir dreschen leeres Stroh. Crowley mag ja recht haben, dass ein starker Mann im Sattel uns guttäte, aber – das ist hier bei uns in Amerika nicht möglich.«

Doremus aber kam es vor, als ob die Lippen des Reverend Mr. Falck die Worte formten: ›Der Teufel hol euer: Nicht möglich!‹

3

Doremus Jessup, Herausgeber und Besitzer des Daily Informer, der Bibel des konservativen Farmers auf und ab im ganzen Beulah-Tal, war in Fort Beulah im Jahre 1876 als einziger Sohn eines unbegüterten Universalistenpastors, des Reverend Loren Jessup, zur Welt gekommen. Seine Mutter war keine Geringere als eine geborene Bass aus Massachusetts. Reverend Loren, ein Freund der Bücher und der Blumen, von einem angenehmen, wenn auch nicht aufregenden Witz, pflegte zu singen: »Nein, so etwas, dass eine Bass aus Mass zum Mann nahm einen armen Pastor, der schon griff zum Gas!« Im Pfarrhaus gab es wenig Fleisch und viele Bücher, und keineswegs nur theologische, so dass Doremus, als er sein zwölftes Lebensjahr erreicht hatte, bereits so profane Schriftsteller wie Scott, Dickens, Thackeray, Jane Austen, Tennyson, Byron, Keats, Shelley, Tolstoi und Balzac kannte. Er absolvierte das Jesaja-College – einst ein kühnes Unternehmen der Unitarier, doch um 1894 eine interkonfessionelle Einrichtung mit verschwommenen Trinitariersehnsüchten –, einen ländlichen kleinen Lernstall in Nord Beulah, zwanzig Kilometer vom ›Fort‹ entfernt, mit einem großen Ruf, der allerdings nicht so sehr wissenschaftlicher als sportlicher Natur war: Im Jahre 1931 demütigte Jesaja die Dartmouther Fußballmannschaft mit nicht weniger als 64:6 Toren!

In seiner Collegezeit schrieb Doremus eine Menge schlechter Verse und wurde ein unheilbarer Büchernarr, stand aber auf der Aschenbahn als Leichtathlet seinen Mann. Natürlich schickte er Blättern in Boston und Springsfield Berichte, und nach dem Examen war er in Rutland und Worcester Reporter und ein glorreiches Jahr auch in Boston, das mit seiner herben Schönheit und den Spuren der geschichtlichen Vergangenheit für ihn ungefähr dasselbe bedeutete wie London für einen jungen Provinzler aus Yorkshire. Er lief begeistert in Konzerte, Galerien und Buchläden; dreimal in der Woche saß er für fünfundzwanzig Cent auf dem Olymp eines Theaters, und zwei Monate lang hauste er mit einem Reporter-Kollegen zusammen, der gerade eine Kurzgeschichte in The Century gehabt hatte und daher über Autoren und Verleger reden konnte wie der leibhaftige Dickens. Aber Doremus hatte nicht die nötige Ausdauer; den Lärm, den Verkehr und die Hektik bei der Arbeit ertrug er nicht, und als 1901, drei Jahre nach dem Examen, sein verwitweter Vater starb und ihm 2980 Dollar und seine Bibliothek hinterließ, kehrte Doremus nach Fort Beulah heim und kaufte erst einen Vierteljahrsanteil des Informer, dann einen wöchentlichen.

Doch 1936 war ein täglicher daraus geworden, und alles gehörte ihm – mit einer erträglichen Hypothek darauf.