Sofie Cramer

SMS für dich

Roman

Leseprobe

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Ein Sommer für immer

Lilly würde alles geben, um noch einmal das Meer zu sehen. Beim Cellospielen eine Gänsehaut zu bekommen, beim Küssen Schmetterlinge im Bauch zu spüren: Sie will jeden Moment genießen. Denn sie weiß, wie kurz das Leben sein kann.

Len hat alles aufgegeben: seine Musik, seine Freunde und vor allem sich selbst. Seit jenem tragischen Tag vor zwei Jahren ist jeder Moment eine Qual. Denn er weiß, wie grausam das Schicksal sein kann.

Lilly und Len. Beinahe wären sich nie begegnet. Beinahe hätten sie es nicht gewagt - das Abenteuer ihres Lebens. Aber manchmal muss der Himmel einfach warten …

Lilly

Ich liebe den Regen, dachte Lilly, als sie aus dem Fenster in den weitläufigen Garten blickte. Bei Regenwetter fühlte sie sich so schön normal. Denn was taten normale Menschen in ihrem Alter sonst, als bei Regen drinnen zu hocken und ihre kostbare Zeit vor irgendeinem Display totzuschlagen?

Lilly hatte sich wie so häufig in ihrem Zimmer in den übergroßen Sitzsack aus lila Samt gelümmelt und stöberte im Internet nach neuen Büchern. Gute Lektüre würde ihr vielleicht den Einstieg in die öden Sommerferien erleichtern. Denn Pläne hatte sie keine.

Während ihre Freunde drauf und dran waren, nach zwölf Jahren Schule endlich die Welt zu erobern, wurde Lillys Welt immer kleiner. Zwar hatte auch sie das Abitur frisch in der Tasche, dazu als Jahrgangsbeste. Doch was sollte sie schon damit anfangen? Sie würde nicht wirklich etwas davon haben.

«Haste schon gesehen?»

Lilly erschrak fürchterlich und starrte ihre Schwester entgeistert an, die, ohne anzuklopfen, in ihr Zimmer gepoltert war.

«Die Bilder sind online!»

Lilly stöhnte. «Welche Bilder?»

Es interessierte sie nicht. Überhaupt fand sie ihre drei Jahre jüngere Schwester einfach nur nervig. In ihrem Grufti-Outfit, mit dem dicken, schwarzen Lidstrich hinter der dunkel geränderten Brille und dem strengen Zopf sah Laura aus wie der Tod persönlich. Sehr zum Leidwesen ihrer Eltern trug die jüngere der beiden Heinemann-Töchter grundsätzlich nur Schwarz. Selbst ihre naturblonden Haare färbte sie schwarz, was die Mutter beim ersten Mal an den Rande des Wahnsinns getrieben hatte.

Lilly dagegen war schon immer angepasster gewesen. Sie lernte fleißig für die Schule, griff freiwillig zum Cello und ließ sich nicht auf Drogen, Computerspiele oder Männer ein. Auch bestand nie Gefahr, wie Laura in eine schwarze Phase abzudriften.

Trotzdem war Lilly das eigentliche Sorgenkind in der Familie.

«Na, vom Abiball», entgegnete Laura verständnislos. Sie trat zu Lilly, riss ihr den Laptop aus der Hand und ließ sich damit auf der Bettkante nieder.

«Guck mal hier!», befahl sie, sodass Lilly gezwungen war, sich aus dem Sitzsack zu hieven und neben die Schwester zu setzen.

Das Foto, das Laura zur Vergrößerung angeklickt hatte, zeigte Lillys beste Freundin Natascha zusammen mit einem Typen.

«Das ist doch Basti», sagte Laura.

Lilly wunderte sich, dass ihre Schwester den Kerl kannte. Basti war ein ehemaliger Schüler ihrer Schule, dem größten Gymnasium Lüneburgs. Es war nicht weiter verwunderlich, dass auch Absolventen der Vorjahre zum Abiball kamen. Ungewöhnlich war nur, dass Basti seinen Arm um Natascha gelegt hatte und sie durch ein glückliches Grinsen verriet, wie gut ihr dies gefiel. Bislang war er nur der Kumpel von Nataschas älterem Bruder gewesen. Aber das auf dem Bild sah eindeutig anders aus.

«Was haben die bitte am Laufen?», fragte Laura neugierig und wollte sich schon weiter durch die Galerie der bunten Partyfotos auf der Seite klicken. Aber Lilly nahm ihr den Laptop wieder ab.

«Das geht dich gar nichts an!»

Am liebsten hätte sie ihre Schwester einfach zurück auf den Flur geschoben. Auf keinen Fall wollte sie sich anmerken lassen, wie enttäuscht sie war. Lilly hatte den Abiball frühzeitig verlassen müssen und nicht mehr mitbekommen, wie ausgiebig offensichtlich noch gefeiert worden war. Aber Natascha hatte in den Tagen danach auch nichts Besonderes mehr erwähnt und Lilly nur mit den Worten getröstet: «Du hast echt nichts verpasst.»

«Also doch», stichelte Laura. «Die haben was miteinander!» Lilly zuckte nur mit den Schultern.

«Na ja, das hält eh nicht lange», prophezeite Laura und schlug hinter sich die Tür zu.

Typisch Laura! Dabei war es noch gar nicht so lange her, dass die beiden Schwestern viel Zeit zusammen verbracht hatten. Wie oft hatten sie gemeinsam Musik gemacht: Lilly auf dem Cello und Laura am Klavier.

Lilly zog sich wieder in ihre Leseecke zurück. Das Knirschen des Sitzsacks erinnerte sie an das Innenleben von Kuscheltieren. Es klang nach unbeschwerter Kindheit, nach einer Zeit, als die Welt noch in Ordnung war.

Nicht ein einziges, dachte Lilly traurig, als sie sich tapfer bis zum letzten Foto des Abiballs durchgeklickt hatte. Und mit einem Mal fühlte sie sich seltsam verloren. Noch einmal rief sie die Startseite der Schule auf, um sicherzugehen, nicht doch ein Album ihres Abijahrgangs übersehen zu haben. Doch sie hatte alle rund 200 Bilder des wichtigsten Ereignisses des Jahres betrachtet – und keines zeigte sie.

Zum Glück hatte ihre Mutter ein paar Aufnahmen gemacht, bevor sie zusammen zum Fest aufgebrochen waren. Es gab auch ein paar Gruppen-Selfies auf ihrem eigenen Handy. Und doch löste es in Lilly eine starke Beklemmung aus, dass der eigens angeheuerte Fotograf sie als Einzige nicht für die Ewigkeit festgehalten hatte. War das ein Omen? Womöglich hatte er sie bloß für eine Verwandte gehalten und nicht für eine der achtzig Hauptpersonen. Schließlich hatte sie nicht getanzt und auch nichts auf der Bühne aufgeführt. Außerdem war sie als Erste wieder heimgefahren, weil die Anstrengungen der vergangenen Wochen deutliche Spuren hinterlassen hatten. Auch bei ihren Eltern. Und Lilly wusste nur zu gut, dass die beiden nicht ohne sie gefahren wären. Kein Auge würden sie zumachen, ehe die älteste Tochter nicht sicher in ihrem Bett lag. Also hatte sich Lilly gegen Mitternacht kurzerhand entschlossen, der unausgesprochenen, aber in den Augen ihrer Mutter deutlich ablesbaren Bitte nachzukommen und sich ihren Eltern und Laura beim Aufbruch anzuschließen. Unter anderen Umständen wäre sie vielleicht noch länger geblieben, aber sie war eben schon ziemlich kaputt.

Und so gab es eigentlich auch keinen Grund, sich zu wundern, dass es für die Nachwelt so aussehen musste, als hätte es sie nie auf diesem Abiball gegeben. Dabei hätte sich Lilly ausnahmsweise sicher gut gefallen auf einem Foto. Sie trug eine aufwendige Hochsteckfrisur und das hellblaue Chiffonkleid, das ihre Eltern eigens für den großen Tag spendiert hatten. Es war weit genug, um ihre spitzen Knochen in weibliche Rundungen zu verwandeln, und so geschickt ausgeschnitten, dass Lillys Narbe nicht zu sehen war. Dank eines Push-up-BHs hatte sie sogar ein annehmbares Dekolleté vorzuweisen.

Lilly klappte den Laptop zu und betrachtete das Kleid, das auch ein paar Wochen später noch immer an der Außenseite ihres Schranks hing. So konnte sie es jeden Tag bewundern. Ob sie jemals wieder eine Gelegenheit haben würde, es anzuziehen?

Sie stand auf und nahm das knielange Kleid, das auf einem vornehmen, mit Samt bezogenen Bügel hing, in die Hand. Dann hielt sie es an ihren zarten Körper und sah in den Spiegel. Aber es war nicht das gleiche Strahlen, welches sie am Tag des Abiballs umgeben hatte. Heute war ihr Blick leer. Seit die Schulzeit offiziell zu Ende war und bereits etliche Freunde die Stadt verlassen hatten, fühlten sich Lillys Tage unerträglich leblos an.

Es schnürte Lilly den Hals zu. Sie hatte wirklich Angst vor den großen Ferien. Denn es waren keine wie sonst. Nie wieder würde sie mit ihrer alten Mädchenclique auf dem Schulhof zusammenstehen und über die Lehrer lästern oder einen ganzen Tag lang auf der Wiese des Freibads verbringen. Sie würde langsam, aber sicher den Kontakt zur Außenwelt verlieren, zu den «normalen» Menschen. Aber zum Glück hatte sie Natascha! Ihre Freundin ahnte wohl, wie sehr Lilly die Aussicht auf diese nie mehr endenden Sommerferien bedrückte. Jedenfalls hatte Natascha angekündigt, am Wochenende mit ihr einen Ausflug zu unternehmen. Noch zwei Tage! Lilly befürchtete, bis dahin einzugehen. Vor Langeweile, weil ihre Eltern sie am liebsten gar nicht aus dem Haus ließen.

Natürlich durfte Lilly das Haus verlassen, aber nur, wenn ihr Vorhaben garantierte, dass es für sie nicht zu kräftezehrend war. Außerdem musste sie immer einen Notrufknopf an einem Schlüsselband um den Hals tragen. Wie ein Hund sein Halsband, hatte Natascha gewitzelt, als Lilly ihr das Plastikding zum ersten Mal gezeigt hatte. Natascha hatte ihr kurz darauf eine

Kette mit riesigen bunten Perlen geschenkt, ein echtes «statement piece» wie sie sich ausdrückte. Die sollte Lilly tragen, um das Notrufhalsband darunter zu verstecken. Es tat so gut, eine Freundin wie Natascha zu haben, die einen auch im größten Kummer noch aufmuntern konnte. Eine Freundin, der nichts peinlich war und die sich nicht abschrecken ließ von Lillys schwächer werdendem Zustand.

Trotzdem war Lilly viel alleine auf ihrem Zimmer. Zu viel. Manchmal hatte sie das Gefühl, seltsam zu werden. Sie führte Selbstgespräche und verbrachte an einigen Tagen mehr Zeit im Internet als mit ihrem geliebten Cello. Cello spielen war ihre große Leidenschaft, und das durfte sie immerhin noch eine halbe Stunde pro Tag. Ansonsten blieb ihr nicht wirklich viel von der realen Welt da draußen, außer dem wöchentlichen Besuch in ihrem Lieblingscafé oder in der Stadtbücherei. Das waren sie schon, ihre wöchentlichen Highlights. Auch Shoppen gehörte nicht mehr dazu, weil es zu anstrengend war, stundenlang durch die Läden zu laufen. Lilly wusste nur zu gut, dass es auch für Natascha kein Vergnügen war, ihre Shopping-Begleitung zu sein. Zwar war ihre Freundin unschlagbar darin, die passenden Teile für Lilly herauszusuchen und sie in der Kabine mit gefühlt hundert angesagten Outfits zu überhäufen. Doch dauerte es meist nicht lange, bis Lilly schwindelig wurde oder ihre Beine anschwollen wie Marshmallows. Wie glücklich war sie gewesen, als sie bei der Suche nach einem Ballkleid schon im ersten Geschäft fündig geworden waren, einschließlich gefährlich hoher Peeptoes.

Der nächste besondere Anlass, ihr Outfit noch einmal zu tragen, wäre wohl der Abiball ihrer Schwester in drei Jahren. Doch es war ganz und gar ungewiss, ob Lilly diesen Tag noch erleben würde.

Len

Verdammter Mist!», schrie Len und sprang wie ein tollwütiges Eichhörnchen durch die Werkstatt.

Sein Chef Manni sah erschrocken auf und kam sofort herangeeilt: «Was ist los? Noch alles dran?»

Doch seine Worte wurden von Lens Gejammer über seinen schmerzenden Daumennagel übertönt.

«Hast du mir einen Schrecken eingejagt!»

Als er sich vergewissert hatte, dass sein Schützling keinen ernsthaften Schaden genommen hatte, klopfte Manni ihm freundschaftlich auf die Schulter und widmete sich wieder seinen Balken in der Kantenschleifmaschine.

Len fluchte leise weiter. Das war schon das zweite Mal an diesem Tag, dass er mit dem Hammer danebengehauen hatte! Höchste Zeit für eine Zigarettenpause, dachte er und gab seinem Meister ein Zeichen, dass er sich für ein paar Minuten verdünnisieren würde.

Er schob sich durch den schmalen Gang zwischen der langen Werkbank und einem Stapel Sperrholzbrettern zur kleinen Veranda. Sie lag wie eine kleine Oase der Ruhe eingebettet zwischen der Maschinenhalle und dem Holzlager, an dessen Wand riesige Efeupflanzen rankten. Davor stand eine massive Bank, die Len gleich zu Beginn seiner Ausbildung gezimmert hatte, und ein Tisch aus umgedrehten, leeren Bierkästen mit einer Holzplatte obendrauf.

Gerade als er sich gesetzt, eine Lucky Strike angezündet und den ersten Zug tief inhaliert hatte, hörte Len, wie die Kreissäge ausgeschaltet wurde. Er musste grinsen. Denn das bedeutete, sein Chef würde ihm folgen und sicher wieder bei ihm schnorren.

Ehe Manni fragen konnte, hielt Len ihm eine Zigarette hin und gab ihm Feuer.

«Solange du hier arbeitest, werde ich es nie schaffen, von dem Dreckszeug loszukommen», beschwerte sich Manni und schubste Len unsanft zur Seite. Doch seine sympathischen, hellblau leuchtenden Augen verrieten, dass er eigentlich keine Lust hatte, tatsächlich mit dem Rauchen aufzuhören. Und dass er Lens Gegenwart sehr zu schätzen wusste.

Er hatte ein faltiges, sonnengegerbtes Gesicht, sah aber extrem lässig aus mit seinem schlichten Jeans-T-Shirt-Wuschelfrisur-Stil und seiner Kutte, die er an kälteren Tagen auch in der Werkstatt trug.

Mit einem tiefen Seufzer ließ Manni sich neben seinen Lehrling sinken.

«Du bist doch das schlechte Vorbild für mich», witzelte Len. «Ich meine, ein tätowierter Chef, der ‹Louder than hell› auf seinem Arm stehen hat, weil er Heavy-Metal-süchtig ist … Also, wenn das mein Alter wüsste.»

«Du kannst ihm doch eh nichts recht machen, oder?» Statt zu antworten, schloss Len die Augen, um die kräftigen Strahlen der Junisonne auszukosten, die sich nach tagelanger Pause endlich wieder blickenließ.

Er mochte Manni sehr, was sicher damit zu tun hatte, dass seine Eltern ihn gleich zu Beginn in eine Schublade gesteckt hatten, aus der es kein Entkommen mehr gab. Jedenfalls hatten sie ihm seit der ersten und letzten Begegnung keine Chance gegeben, ihn näher kennenzulernen. Und das bloß, weil er harte Musik liebte und die alljährliche Pilgerfahrt nach Wacken zum Höhepunkt des Jahres erklärte. Auch dieses Jahr würde er sicher wieder auf das Metal-Festival in Norddeutschland fahren. Manni hatte sogar eine Art Zeitleiste in die Bank geritzt, um sich täglich daran zu erfreuen, dass das Großereignis immer näher rückte.

«Erzähl», sagte Manni, um das allmorgendliche Update über das leidige Dauerthema Elternzoff zu eröffnen, «hat dein Vater sich wieder eingekriegt?»

Len seufzte, als er an den letzten Streit denken musste. Wie so oft in den vergangenen Monaten hatten sein Vater und er sich so lange angeschnauzt, bis Len es nicht mehr ertragen konnte. Fluchtartig hatte er sein Elternhaus verlassen und sich in der Tischlerei verschanzt.

Mannis Reich war Lens Schutzburg. Hier fühlte er sich wohl, hier wurde er nicht ständig kritisiert, hier wurde er gefordert und gefördert. Außerdem war es wirklich ein Segen, dass die Werkstatt auf der anderen Seite des Rheins lag. Als Len vor knapp zwei Jahren seine Lehre zum Tischler begonnen hatte, dauerte es nicht lange, bis ihm das Pendeln mit Bus und Bahn von Kerpen zu Mannis Schreinerei im östlichsten Zipfel von Köln zu nervig und zu teuer geworden war.

Als im vergangenen Winter die Situation zu Hause eskalierte, bot Manni ihm an, den hinteren Teil seiner Werkstatt als Refugium zu nutzen. Kostenlos. Dort lag eine kleine Abstellkammer mit Küchenzeile sowie ein winziges Bad. Len baute die Räumlichkeitennach und nach um, holte seine wichtigsten Sachen rüber und richtete sich, so gut es ging, ein. Auf einen Fernsehoder WLAN-Anschluss musste er seitdem zwar verzichten, dafür hatte er aber seine eigenen vier Wände. Er nannte es sein Luxusloft. Ein Platz, an dem er sich in seiner freien Zeit ungestört aufhalten und mit seiner Gitarre beschäftigen konnte.

Die Streitigkeiten mit seinem Vater fielen seitdem nicht weniger heftig aus, aber immerhin weniger häufig. Wann immer es Len schlechtging, machte er es sich auf seinem selbstgezimmerten Futon gemütlich und komponierte weiter an seinen Songs herum. Stundenlang zupfte er an den Saiten herum und variierte Akkorde, bis sie es verdienten, auf Notenpapier festgehalten zu werden. Und wenn es eine richtig gute Melodie war, versuchte sich Len sogar an einem passenden Text. Meist fielen die Zeilen viel zu gefühlsduselig und traurig aus, um sie laut zu singen. Aber die Musik machte etwas mit ihm. Sie heilte seine Wunden ein Stück weit.

«Du willst also nicht drüber sprechen?» Manni riss ihn aus seinen Gedanken.

Len winkte resigniert ab. «Ach, es ist doch immer die gleiche Ansage. Ich soll mein Leben nicht vergeuden und mehr draus machen … bla, bla, bla.» Gedankenverloren strich er über das schwarze Schweißband an seinem linken Handgelenk.

Manni nickte verständnisvoll und nahm einen kräftigen Zug. «Was soll denn so schlecht daran sein, wie du dein Leben lebst?»

Len zuckte mit den Schultern. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, kam ihm in den Sinn. So oder so ähnlich fühlte es sich jedenfalls an.

«Mein alter Herr», fügte Manni hinzu, «wäre froh gewesen, wenn ich meinen Weg so straight gegangen wäre wie du.»

Es sollte aufmunternd gemeint sein, da war sich Len sicher. Trotzdem kam es ihm nicht richtig vor. Er hatte schon so viel falsch gemacht in seinem jungen Leben.

«Ich weiß nicht, was daran straight sein soll, die Schule abzubrechen und mit zwanzig immer noch keinen Plan vom Leben zu haben», sagte er.

Manni erhob sich, drückte den glimmenden Zigarettenstängel in einem improvisierten Aschenbecher aus und klopfte Len auf die Schulter.

«Ich wäre stolz auf dich, wenn du mein Sohn wärst. Ehrlich! Was geschehen ist, ist geschehen.»

Damit verschwand sein Chef nach drinnen. Len blickte ihm noch einen kurzen Moment hinterher, dann ließ er müde seinen Kopf sinken. Kurze Zeit später war wieder das Kreischen der Kreissäge bis auf die Veranda zu hören.

Nur noch eine Woche, dachte Len, dann würde der schlimmste aller Jahrestage zum zweiten Mal über ihn hereinbrechen. Je näher der Tag kam, desto unwohler fühlte er sich in seiner Haut. Und er hatte absolut keinen Schimmer, wie er ihn überstehen sollte.