Cover

Table of Contents

Titel und Impressum

Widmung

Wenn ich der andern Leid gedichtet...

VORWORT

CHRONIK

DER TAG DAVOR

ABENDS

DAS 1. JAHR DANACH

MEINE LETZTE BEGEGNUNG MIT

05.07.2012

07.07.2012

DAS 2. JAHR DANACH

DAS 3. JAHR DANACH

DIE LETZTEN AUGENBLICKE MIT

BRIEF AN MEINEN BRUDER

FOTOANHANG

 

 

 

Karin Karczewski

 

 

 

 

Mama,

Roman hat es nicht geschafft

 

Die Zeit meines eigenen

Überlebens nach dem Suizid meines Sohnes

 

 

DeBehr

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright by: Karin Karczewski

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2016

ISBN: 9783957532954

Grafik Copyright by Fotolia by selezenj

 

Ich widme dieses Buch

meinen Töchtern Anna und Livia,

die mich mit ihrer immer verständnisvollen Art ins Leben zurückgeholt haben.

 

 

 

 

 

Wenn ich der andern Leid gedichtet,

hab ich wie sie gefühlt, wie sie gedacht.

Doch hatte ich von all dem fremden Leid berichtet, bin ich erlöst in deiner Wirklichkeit erwacht.

Jetzt weiß ich erst, wie gut ich alles fühlte und jedem Schmerz die rechte Form verlieh.

Wie tief ich auch in meiner Seele wühlte

für d i e s e Wirklichkeit reicht keine Phantasie.                       

Jost Bonner

 

VORWORT

WARUM ICH MEINE PERSÖNLICHEN AUFZEICHNUNGEN VERÖFFENTLICHE

 

Als mich die Nachricht vom Tod meines Sohnes erreichte, war auch für mich das Leben zu Ende. Um irgendwie weiterleben zu können, habe ich verzweifelt nach gleichen Schicksalen gesucht. Es konnte doch nicht sein, dass nur mir so etwas passiert? Am Anfang dachte ich, niemals kann, werde und will ich das überleben. Was soll man noch auf der Welt, wenn einem so etwas passiert?

Es gibt einige Literatur, die den Suizid eher allgemein, mit vielen guten Ratschlägen abhandelt. Aber ich konnte keine Bücher finden, welche die Tage, Wochen, Monate nach dem Suizid eines Kindes ungeschönt aufzeichnen. Mir hätte das sehr geholfen.

Die Beantwortung der vielen Fragen, die sich endlos in deinem Kopf drehen: Wie lange kann man diesen Schmerz aushalten? Wie lange haben ihn andere ausgehalten? Warum ist das mir passiert? Warum gehen mir die Menschen aus dem Weg? Warum musste gerade mein Sohn sich das Leben nehmen?

Jedes Jahr nehmen sich ca. 10.000 Menschen in Deutschland das Leben. Jeder Suizid soll statistisch gesehen mindestens 4 Angehörige betreffen. Trotzdem hat man das Gefühl, allein auf der Welt zu sein.

Sicher, jedes Schicksal ist anders und jeder Mensch verarbeitet den Schmerz auf seine ganz persönliche Weise. Ich habe damals alle paar Tage in meinen Aufzeichnungen über Roman, die ich schon seit seiner Geburt führe, geschrieben. Und das war gut so. Ich wüsste heute nicht mehr genau, wie die Zeit nach diesem schrecklichsten Tag meines Lebens genau verlaufen ist.

Bewusst habe ich auf Adressen und Selbsthilfegruppen verzichtet, da es darüber genug Literatur gibt. Auch über die korrekte Beschreibung der einzelnen Trauerabschnitte kann man viele Bücher finden.

Die Kindheit meines Sohnes habe ich hier nicht detaillierter ausgeführt, da ich denke, dass dies für Leser, die über die Befindlichkeiten nach solch einem Suizid lesen möchten, nicht von Interesse ist.

Die glückliche, vergangene Zeit, damals mit ihm, kann mir niemand nehmen. Diese Zeit ist nicht nur aufgeschrieben, sondern fest in meinem Herzen.

Für mich war das Schreiben und Überarbeiten meiner Aufzeichnungen eine Art Therapie. Immer und immer wieder musste ich beim Lesen weinen. Den Schmerz und die Verzweiflung, welche ich dabei gefühlt habe, zuzulassen, war für mich doch irgendwie heilsam.

An der Wortwahl habe ich nachträglich noch gearbeitet, da einige Erkenntnisse erst Wochen oder Monate später durch Dritte aufgetaucht sind. Im Großen und Ganzen erzählt das Buch aber genau das, was ich in den drei Jahren nach dem Suizid meines Sohnes empfunden habe.

Ich hoffe sehr, dass sich niemand beleidigt fühlen wird und dass ich einigen mit meinen Aufzeichnungen ein bisschen über die schwere Zeit hinweghelfen kann.

Niemand sollte mit diesem Schicksal allein gelassen werden.

Dresden, im November 2015

Karin Karczewski

 

CHRONIK

 

14. Juni 2012

2.59 Uhr

Roman macht Fotos von seinem Körper. Er sieht aufgequollen und verweint aus. Er hat nicht geschlafen.

 

7.15 Uhr

Roman fährt zur Tankstelle an der Königsbrücker Straße und holt sich einen Sechserpack Bier und Zigaretten.

 

10.30 Uhr

Roman wirft seine Playstation und sein Handy aus dem Fenster seiner Wohnung im fünften Stock.

Die Concierge beobachtet alles.

 

10.45 Uhr

Roman holt die Sachen wieder in seine Wohnung.

 

11.00 Uhr

Roman versucht Anna, seine kleine Schwester, telefonisch zu erreichen.

Anna ist krank und schläft.

 

11.45 Uhr

Anna simst Roman, warum er angerufen hat.

 

12.00 Uhr

Roman simst Anna zurück, sie möge einfach schnell kommen.

 

13.30 Uhr

Anna kommt bei Romans Wohnung an. Sie hört ihn in der Wohnung rumoren. Sie klopft an der Tür und ruft nach ihm.

Er antwortet nicht.

Er versucht, sich die Halsschlagadern mit einem stumpfen Messer aufzuschneiden.

 

14.35 Uhr

Anna geht zurück zur Straßenbahnhaltestelle der Linie 7 an der Synagoge.

 

14.40 Uhr

Anna trifft Livia, ihre große Schwester und sie gehen zurück zu Romans Wohnung.

Sie fahren mit dem Fahrstuhl in den 5. Stock.

 

14.40 Uhr

Roman schleppt sich blutend in den 8. Stock des Hauses.

Er ist geschwächt und verschmiert die Wände mit Blut, als er sich daran abstützen muss. Er versucht auf das Dach des Hochhauses zu kommen. Die Dachtür ist verschlossen. Er öffnet das Fenster im Treppenhaus und springt auf den Fenstersims. Ein fremder Mann steht auf dem Gang ca. 2 Meter von ihm entfernt. Er hält ihn nicht auf.

 

14.44 Uhr

Anna und Livia erreichen den Vordereingang des Hauses. Sie fahren mit dem Fahrstuhl in den 5. Stock.

Als sich die Fahrstuhltür öffnet, springt Roman ohne zu zögern aus dem 8. Stock des Treppenhausfensters aus 18 Meter Höhe auf das Vordach des Eingangsbereiches im Innenhof.

Er hat seine Bestzeitmedaille vom Dresdner Marathon um den Hals.

Beim Sprung stößt er einen lauten Schrei aus.

 

14.45 Uhr

Livia und Anna hören aufgeregte Rufe verschiedener Menschen.

Livia schaut aus dem Fenster des Treppenhauses.

Sie zwingt Anna, sich auf den Boden des Treppenhauses zu setzen und nicht aus dem Fenster zu sehen.

 

14.46 Uhr

Livia läuft die Treppe herunter und klettert zu ihrem Bruder auf das Vordach.

Er lebt.

Er murmelt leise, unverständliche Worte. Livia kann ihn nicht verstehen.

Sein Körper ist unnatürlich verdreht.

Die Blutlache um seinen Kopf wird größer.

 

14.50 Uhr

Die Polizei trifft ein.

 

14.55 Uhr

Mehrere Krankenwagen treffen ein.

Zwei Feuerwehrwagen stehen außerhalb des Wohnkarrees.

 

15.00 Uhr

Roman wird in ein künstliches Koma versetzt.

Die Rettungsmaßnahmen laufen an.

 

15.10 Uhr

Roman wird ins Uniklinikum Dresden gebracht.

 

15.20 Uhr

Roman wird durchgängig reanimiert. 45 Minuten lang.

6 Bluttransfusionen werden verabreicht.

 

16.25 Uhr

Romans Herz hört auf zu schlagen.

 

16.35 Uhr

Romans Seele verlässt den Körper.

Es ist ein wunderschöner Tag im Juni. Die Sonne scheint und ich trage das erste Mal im Jahr kurze Hosen.

Ich stehe nach einem erholsamen Mittagsschlaf auf der Leiter im Kirschbaum.

Die Luft ist erfüllt von Kinderlachen und Frühlingsduft.

Keine negativen Schwingungen oder Panikattacken.

Mir geht es gut.

 

Mein Sohn hat mehrere Stunden gelitten. Er hat versucht, sich die Halsschlagadern mit einem stumpfen Küchenmesser aufzuschneiden. Er ist wie ein verletztes Tier noch lange Zeit in seiner Wohnung herumgelaufen. Alles war voller Blut.

 

Ich habe im Kirschbaum gestanden. Ich habe den Kindern ganze Äste mit herrlichen, reifen Kirschen zugeworfen.

 

Früh hat Roman Anna, seine kleine Schwester, angerufen. Sie hat es nicht gehört. Sie hat geschlafen.

 

Er hat sich lange nicht gemeldet, deshalb meinte ich später zu ihr: „Geh doch einfach mal hin.“ Anna war erkältet und hatte nicht die richtige Lust dazu. Zu der Zeit hat er oft Verabredungen nicht eingehalten. Sie fragt ihn per SMS warum sie kommen soll.

 

Roman simst zurück; sie solle einfach kommen, schnell. Er hat um Hilfe gerufen.

 

Vor dem Zug um dreizehn Uhr habe ich sie erneut gedrängt hinzufahren.

Ich war so froh, dass er sich wieder einmal gemeldet hat. Mich wollte er ja nicht sehen.

Sie hat den Zug genommen und war dann gegen 13.30 Uhr vor seiner Wohnung. Er muss sie wahrgenommen haben. Anna hat Geräusche aus der Wohnung gehört.

Eine Stunde hat sie es rufend und klopfend vor der Wohnung ausgehalten. Verzweifelt wendet sie sich per SMS an ihre beste Freundin. Die hat zu tun und schaltet ihr Handy aus. Anna ist 15 und weiß nicht, was sie machen soll. Sie wird immer kopfloser. Ich sage ihr, dass sie da weggehen soll. Was soll sie machen, wenn er nicht aufmachen will.

Anna hat große Angst um ihren Bruder.

 

Eine ganze Stunde. Warum hat er nicht aufgemacht? Wollte er uns schützen? Hätte es sonst ein Blutbad gegeben?

 

Roman hat seine Schwester durch den Türspion gesehen. Überall an der Innentür waren Spuren von seinen Händen. Er hat stark geblutet. An den Verletzungen am Hals wäre er nicht gestorben. Vielleicht Stunden später.

Er hat sich nirgends hingesetzt. Wie ein verwundetes Tier ist er hin- und hergelaufen. Ist Anna zu spät gekommen, für sein Verständnis von Geliebtwerden? Was hat er noch überlegt?

Roman schreibt für Anna auf einen kleinen Zettel: „Sei mir nicht böse. Ich hab dich sehr lieb.“ Livia findet ihn später beim Saubermachen. Der Zettel ist voller Blut. Sie wirft ihn weg.

Roman sucht die Urkunden von seinen Marathonläufen heraus. Viele waren voller Blutspritzer.

Wollte er verbluten, wollte er gar nicht springen?

Mit einem stumpfen Gemüsemesser hat er versucht, seine Halsschlagadern zu zertrennen. Er hatte doch so Angst vor Schmerzen.

Ich rufe Livia, meine große Tochter, an, sie möge Anna von da wegholen. Gegen 14.35 Uhr geht Anna zur Straßenbahnhaltestelle. Da sie voller Panik wegen Roman ist, laufen beide schnellen Schrittes über die Kreuzung zu Romans Haus zurück. Anna hat ein ungutes Gefühl. Sie hat ihn deutlich in der Wohnung gehört.

Er hat sie über die Kreuzung kommen sehen. Die Blutspuren an der Jalousie zeigen das. Wen hat er gesehen? Mich? Anna? Livia?

Sie waren gegen 14.40 Uhr an der vorderen Eingangstür. Das Haus hat zwei Eingänge.

Während die Mädchen vorn ins Haus gehen, läuft Roman die Treppe vom fünften in den achten Stock. Im Treppenhaus waren Blutspuren an den Wänden. Er hatte keine Kraft mehr. Wen hat er gesehen? Mich oder Livia? Wollte er einer erneuten Zwangseinweisung entgehen? Nie hätte ich das noch einmal gemacht. Ich hatte das ihm und mir versprochen.

Ohne zu zögern, will er auf das Dach des Hochhauses. Die Dachtür ist verschlossen. Er läuft die kleine Treppe wieder runter, öffnet das Treppenhausfenster und springt ohne anzuhalten. Ein Mann steht zwei Meter von ihm entfernt.

Er versucht nicht einmal ihn aufzuhalten. Wahrscheinlich geht alles zu schnell.

Beim Sprung hat Roman laut geschrien. Ein Nachbar, der gerade seinen 40. Geburtstag auf einem der gegenüberliegenden Balkone feierte, hat es später erzählt. Er hat Fotos von Roman auf dem Vordach liegend gemacht und ins Internet gestellt.

 

Als Anna und Livia im fünften Stock aus dem Fahrstuhl steigen, schlägt sein Körper auf dem Vordach auf. Hätten sie ihn einige Augenblicke eher abhalten können?

 

Sie hören laute Schreie nach einem Krankenwagen und ob er noch leben würde.

Der Notruf geht 14.46 Uhr bei der Feuerwehr ein. Zuerst ist die Polizei da. Sie befindet sich nur eine Straße weiter.

Der Krankenwagen und die Feuerwehr kommen gegen 14.55 Uhr.

 

Roman lebt.

Livia schaut aus dem Treppenhausfenster. Roman liegt auf dem Vordach. Sie zwingt Anna, sich auf die Treppe zu setzen. Livia strahlt in diesem Moment eine für sie seltene Autorität aus. Anna spürt das Unfassbare des Augenblicks und zweifelt keine Sekunde an der Richtigkeit dieser Anweisung. Eine fremde Frau im pinkfarbenen T-Shirt setzt sich neben Anna und hält sie schweigend im Arm.

Livia ruft ihren Mann an. Er soll sich um Anna kümmern. Sie läuft in den ersten Stock und steigt zu ihrem Bruder auf das Vordach. Viele Gaffer haben sich versammelt und stehen auf den Balkonen und beobachten neugierig das Geschehen. Livia schreit die Leute an, endlich wegzugehen. Einige tun es, einige bleiben penetrant an den Fenstern und Balkonen. Es wird gefilmt und fotografiert. Später tauchen die Bilder im Internet auf.

Livia versucht, Roman bei Bewusstsein zu halten. Er liegt grotesk verdreht auf dem Bauch. Seine Augen flackern, er versucht zu sprechen. Livia kann ihn nicht verstehen.

Hat er mich erwartet? Nimmt er sie noch wahr? Ich hoffe es so sehr.

 

Wollte er nicht alleine sterben?

 

Livia streichelt ihn unbeholfen. Er ist auf die Seite gefallen. Der Halswirbel ist gebrochen. Und doch hat er noch den Kopf im Reflex drehen können. An einer Seite hat er eine große Wunde und an der anderen Seite eine kleine Schürfwunde. Er wird stabilisiert und sofort in ein Schlafkoma versetzt. 9 Feuerwehrleute und Krankentransporter stützen Roman in einem Rettungstuch. Es ist tröstlich, dass sich so viele Leute um ihn gekümmert haben, obwohl es ihm am Ende nichts genützt hat.

Er kommt sofort ins Uniklinikum Dresden.

Die Beamten befragen Livia und Anna ohne Rücksicht auf das Geschehene.

Nach einer ganzen Weile kommt ein Mann vom Kriseninterventionsdienst. Er soll sich um sie kümmern. Die Beamten wollen wissen, was die Schwestern im Angesicht des Todes hier zu suchen hätten.

Die Concierge des Hauses fragt die Mädchen in dieser traumatisierten Situation, wer das alles saubermachen soll. Es gibt im Treppenhaus drei, vier Blutspuren von Romans Handabdrücken an den Wänden.

Die Polizisten nehmen die Personalien von Anna und Livia auf. Der Mann vom Kriseninterventionsdienst fährt mit den Mädchen nach Weixdorf. Er soll mir die Nachricht schonend überbringen.

Die Polizei will mir den Hergang telefonisch mitteilen. Livia will das nicht. Es ist lieb von ihr gemeint. Für mich wäre es besser gewesen. Ich hätte noch ins Krankenhaus fahren können. Ich wäre in Romans Nähe gewesen. Er hätte nicht alleine sterben müssen.

Sie rufen 10-minütlich vom Auto aus in der Klinik an. Um 17 Uhr erhalten sie die Nachricht, dass Roman es nach mehr als einer Stunde Reanimationsmaßnahmen nicht geschafft hat. Sein Herz hat um 16.25 Uhr aufgehört zu schlagen.

Später berichtet mir der zuletzt behandelnde Arzt, Roman hätte Notfalldosen für 6 Schwerverletzte bekommen. Es sah zuerst so aus, als ob er es hätte schaffen können. 2,5 Liter Blut hat er bekommen.

Einen Sturz aus 18 Meter überlebt man selten.

Die Kinder spielen im Garten. Ich kehre die Einfahrt. Livia und Anna und ein fremder Mann kommen schnellen Schrittes angelaufen. Ich denke mir nichts dabei. Ist das der neue Freund meiner Tochter?

Ich gehe ihnen lachend entgegen. Warum schauen sie so ernst. Hat Roman in seiner Wut Annas Handy zu Boden geworfen? Hat deshalb niemand mehr auf meine Anrufe in den letzten Stunden reagiert? Hat er sie etwa geschubst?