Charles-Ferdinand Ramuz

Derborence

Roman

Aus dem Französischen von Hanno Helbling

Limmat Verlag

Zürich

II

Derborence, das Wort klingt sanft; sanft und etwas traurig klingt es in uns nach. Es beginnt mit einem festen und bestimmten Laut, dann zögert es und sinkt, noch während man es klingen lässt, ins Leere: Derborence; als wollte es so auf den Untergang, auf die Einsamkeit und das Vergessen deuten.

Denn der Ort ist jetzt verwüstet, den es nennt. Er liegt fünf, sechs Stunden über der Ebene, wenn man von Westen, vom Waadtland her, kommt. Derborence, wo ist das?, und man sagt uns: «Das ist dort dahinter.» Lange steigt man einem Wildbach entgegen, schönem Wasser, das wie Luft ist über den Steinen des Betts. Derborence, das liegt zwischen zwei unregelmäßigen Bergkämmen, gegen die man zuerst lange hinaufsteigen muss; sie sind wie zwei Messerklingen, die mit dem Rücken im Boden stecken, und die Schneide steht in die Luft voller Scharten, ihr Stahl glänzt an einzelnen Stellen und ist an andern vom Rost zerfressen. Zur Rechten und zur Linken wachsen sie an, diese Kämme; je höher man steigt, desto höher steigen sie auch; und das Wort klingt sanft in uns fort, während wir an den schönen unteren Hütten vorbeikommen, lang gestreckten, sorgsam geweißten Hütten mit Dächern aus Schindeln, die ganz ähnlich wie Fischschuppen sind. Da gibt es Ställe für das Vieh und stattliche Tränken.

Man steigt weiter; der Hang wird steiler. Jetzt kommt man zu großen Weiden, die durch steinige Absätze ganz unterteilt sind, so dass Boden auf Boden folgt. Man gelangt von einem Boden zum andern. Nun ist man nicht mehr allzu weit von Derborence; man ist auch nicht mehr allzu weit vom Gletschergebiet, denn der Anstieg führt schließlich zu einem Joch, an der Stelle, wo sich die Bergketten aneinander drängen, gerade über den Weiden und Hütten von Anzeindaz, die dort wie ein kleines Dorf bilden. Bäume hat es schon lang keine mehr.

Auf einmal bricht der Boden unter den Füßen ab.

Auf einmal zieht der Horizont des Weidlands, der sich in der Mitte senkt, seine gebuchtete Linie vor einer Leere. Und man sieht, dass man da ist, denn ein riesiges Loch tut sich jäh vor einem auf, es hat ovale Form, es ist wie ein weiter Korb mit senkrechten Wänden, über die man sich beugen muss, denn man steht auf einer Höhe von fast zweitausend Metern, und der Boden des Korbs liegt fünf- oder sechshundert Meter tiefer.

Man beugt sich darüber, man streckt den Kopf etwas vor.

Ein kalter Hauch weht einem ins Gesicht.

Derborence, das ist zunächst ein Stück Winter, das uns mitten im Sommer entgegentritt, denn der Schatten verweilt dort fast den ganzen Tag und hält sich noch, wenn die Sonne am höchsten steht. Und man sieht, dass es da nur noch Steine gibt, Steine und nochmals Steine.

Die Wände fallen grad herab auf allen Seiten, mehr oder weniger hoch, mehr oder weniger glatt, und der Weg gleitet zu der Wand unter uns, krümmt sich dabei um sich selbst wie ein Wurm; und wo wir auch hinschauen, vor uns, links und rechts von uns, aufrecht oder flach am Boden, schwebend in der Luft oder niedergestürzt, als Sporen hervortretend oder zurückgerafft oder in enge Schründe gefaltet – überall Fels, nichts als der Fels, nichts als seine immer gleiche Nacktheit.

Die Sonne, die teilweise auf ihm liegt, färbt ihn noch auf verschiedene Weise, denn eine der Bergketten wirft ihren Schatten auf die andere, die Kette im Süden wirft ihren Schatten auf die Kette im Norden: man sieht, ganz oben sind die Wände gelb wie reife Trauben oder rot wie Rosen.

Darunter ist eine seltsam geschnittene Linie, die Grenze des Schattens.

Aber der Schatten steigt schon, er steigt immer weiter; er dringt unwiderstehlich herauf wie das Wasser in einem Brunnenbecken; und wie er steigt, erlischt alles, erkaltet alles, verstummt alles, schwindet und stirbt; während eine gleiche traurige Farbe, ein gleicher bläulicher Ton sich unter uns wie ein feiner Nebel ausbreitet, durch den man zwei kleine düstere Seen noch ein wenig glänzen, dann blind werden sieht, flach in der Wirrnis wie Dächer aus Zink.

Denn da ist noch dieser Boden, und schaut man gut hin: so rührt sich dort nichts. Man kann lang hinschauen und gut Acht haben: von den hohen Wänden im Norden bis zu denen im Süden ist nirgend ein Platz für Lebendiges. Sondern alles ist bedeckt von dem, was Leben verhindert.

Etwas liegt hier überall zwischen dem, was lebt, und uns selber. Das ist zunächst wie Sand, ein Kegel, mit der Spitze halb in die Nordwand verstrebt; und von dort aus, überall zerstreut wie Würfel aus dem Becher, wirkliche Würfel, Würfel von allen Größen, ein viereckiger Block, noch ein viereckiger Block, Blöcke aufeinander, hintereinander, kleine und große, so weit man sieht.

In früherer Zeit dagegen zogen sie in großer Zahl hinauf, nach Derborence; ja man versichert, dass es gegen hundert waren, die hinaufzogen.

Sie stiegen durch die Schlucht, die sich am anderen Ende zur Rhone hin öffnet; sie kamen von Aïre und von Premier, das sind hoch gelegene Walliser Dörfer am Nordhang des Rhonetals.

Sie brachen gegen Mitte Juni auf mit ihren kleinen braunen Kühen und mit ihren Ziegen; sie hatten droben zum eigenen Gebrauch viele Hütten aus ungepflastertem Stein mit Schieferdächern gebaut; dort blieben sie zwei, drei Monate.

Diese Weidgründe waren in jener Zeit vom Mai an schön grün gefärbt, denn dort oben führt dieser Monat den Pinsel.

Dort oben (man sagt «dort oben», wenn man vom Wallis kommt, aber wenn man von Anzeindaz kommt, sagt man «dort drüben» oder «dort hinten») ließ der Schnee dicke Polster zurück bei der Schmelze; an ihrem Rand, in der schwarzen Feuchtigkeit, die das alte Gras mit einer Art mattem Filz halb verdeckte, ließ er allerlei kleine Blumen hervorkommen; sie öffneten sich am äußersten Rand einer Eisborte, die dünner als Fensterglas war. Allerlei kleine Bergblumen mit ihrer besonderen Leuchtkraft, ihrer besonderen Reinheit, ihren besonderen Farben: weißer als der Schnee, blauer als der Himmel, strahlend orange oder violett: Krokusse, Anemonen, Apothekerprimeln. Sie bildeten von fern gesehen zwischen den grauen Schneeflecken, die sich zusammenzogen, andere Flecken, die in der Sonne glänzten. Wie auf einem Seidentuch, wie auf den Tüchern, welche die Mädchen in der Stadt unten kaufen, wenn sie zum Markt gehn, am Peterstag oder am Josephstag, und die übersät sind mit kleinen Sträußen. Dann verwandelte sich auch der Grund des Stoffs, wenn der Schnee endlich ganz geschwunden war. Alles wurde grün: das Gras kommt wieder hervor; das ist, wie wenn der Maler zuerst grüne Farbe hätte von dem Pinsel tropfen lassen, und die Tropfen flößen dann ineinander.

Ah! Derborence, du warst schön, du warst schön in jener Zeit, wenn du dich schmücktest von Ende Mai an, für die Männer, die kommen würden. Und sie ließen nicht auf sich warten; sobald du das Zeichen gabst, kamen sie. An einem Nachmittag ließ das eintönige, dumpfe Rauschen des Wildbachs in seiner Schlucht das Klingen eines Viehglöckchens frei; das Rauschen wurde durchbrochen, zerteilt. Ein erstes Tier tauchte auf, dann zehn, dann fünfzehn, dann bis zu dreihundert.

Der kleine Geißenhüter blies auf seinem Horn.

Überall hatten sie schon das Feuer angefacht in den Hütten; überall schwebte, aus den Kaminen oder durch die Türlöcher hinaus, eine hübsche kleine Fahne bläulich und zart in die unbewegte Luft.

Die Rauchfahnen wuchsen, sie wurden flach an den Enden, sie vermischten sich droben; sie bildeten über den Dächern eine durchsichtige Fläche, ähnlich einem Spinngewebe, das sorgfältig ausgespannt ist.

Und darunter fing das Leben wieder an, bei diesen Dächern, die nicht weit voneinander lagen, wie kleine Bücher auf einem grünen Teppich, all diese grau gebundenen Deckel; bei den zwei, drei kleinen Bächen, die da und dort aufglänzten, wie wenn einer ein Schwert aufhebt; mit runden Tupfen, mit ovalen Tupfen, die sich rings bewegten, und die runden waren die Männer, die ovalen die Kühe.

Als Derborence noch bewohnt war; bevor der Berg eingestürzt war.

Doch jetzt eben ist er eingestürzt.

I

Er hielt einen langen Stecken, der am Ende schwarz geworden war, er stieß ihn dann und wann ins Feuer, seine andere Hand lag auf dem linken Schenkel. Das war am 22. Juni, gegen neun Uhr am Abend.

Er ließ Funken aus dem Feuer auffliegen mit seinem Stecken; sie blieben an der rußbedeckten Wand hängen und leuchteten dort wie Sterne an einem schwarzen Himmel.

Dann konnte man ihn für einen Augenblick besser sehen, den Séraphin, während er seinen Schürstock ruhen ließ; und man sah den andern Mann besser, ihm gegenüber, viel jünger war er, hatte die Arme auch auf die angezogenen Knie gestützt, hielt den Kopf gesenkt.

«Also», sagte Séraphin, «ich sehe schon … Die Zeit wird dir lang. Dabei sind wir noch nicht lang hier.»

Sie waren gegen den 15. Juni heraufgekommen, mit denen von Aïre und einer oder zwei Familien aus einem Nachbardorf von Aïre, welches Premier heißt: Das war wirklich erst ein paar Tage her.

Séraphin fing wieder an, die Gluten zu schüren, in die er einen, zwei Tannenäste geworfen hatte; und die Tannen­äste fingen Feuer, sie brannten so hell, dass man die zwei Männer ganz deutlich sehen konnte, wie sie sich gegenübersaßen, zu beiden Seiten des Herds, jeder am Ende seiner Bank: der eine schon bejahrt, dürr, ziemlich groß, mit kleinen hellen Augen, welche tief in Höhlen ohne Brauen lagen, unter einem alten Filzhut; der andere viel jünger, zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, in weißem Hemd und brauner Jacke, mit einem kleinen schwarzen Schnurrbart und mit schwarzen, kurz geschnittenen Haaren.

«Komm schon», sagte Séraphin … «Wie wenn du am anderen Ende der Welt wärst … Wie wenn du sie nie mehr sehn würdest …»

Er wiegte den Kopf, er schwieg.

Denn Antoine war erst seit zwei Monaten verheiratet, und man muss gleich wissen, dass diese Heirat nicht ohne Mühe zustande gekommen war. Als Waisenknabe war er dreizehnjährig zu einer Familie des Dorfs in Dienst gegeben worden; dagegen war das Mädchen, das er liebte, begütert. Und lange hatte ihre Mutter nichts von einem Schwiegersohn hören wollen, der nicht seinen rechten Teil zu dem Haushalt einbringen würde. Lange hatte die alte Philomène den Kopf geschüttelt, «Nein!» gesagt und «Nein!» und wieder «Nein!». Was wäre wohl geschehen, wenn Séraphin nicht gewesen wäre, nämlich ganz an der rechten Stelle, damit seine Meinung wichtig und sogar sehr wichtig war? Denn er war Philomènes Bruder, die den Maye geheiratet hatte und verwitwet war, und als Junggeselle verwaltete er den Besitz der Schwes­ter. Nun hatte Séraphin für Antoine Partei ergriffen; er hatte sich schließlich durchgesetzt.

Die Heirat war im April gewesen; und jetzt waren Séraphin und Antoine, wie man sagt, zu Berg gegangen.

Es ist bei den Leuten von Aïre der Brauch, dass sie mit ihrem Vieh gegen den 15. Juni hinaufziehen zu den Alpweiden; eine von ihnen ist die Weide von Derborence, wo sie eben an jenem Abend waren – Séraphin hatte Antoine mit sich genommen, um ihm alles zu zeigen, denn seine Kräfte ließen nach. Er hinkte, er hatte ein steifes Bein. Und da sich das Rheuma vor kurzem auf seine linke Achsel geworfen hatte, begann auch die, ihren Dienst zu verweigern; so wurde es mühsam auf alle Weise, denn die Arbeit lässt sich nicht aufschieben in diesen Berghütten, wo man zweimal am Tag das Vieh melken und jeden Tag Butter und Käse bereiten muss. So hatte Séraphin den Antoine mit heraufgenommen und gehofft, er werde bald imstande sein, ihn zu ersetzen: Aber nun sah er, dass Antoine bei diesen Verrichtungen, die ihm neu waren, nicht anbeißen wollte (wie man so sagt) und dass er Heimweh hatte nach seiner Frau.

«Nun komm schon», fing er wieder an, «gehtʼs denn nicht besser? Ist es denn so schrecklich, ungefähr noch drei, vier Tage lang mit mir zusammen zu sein, und dann hast du sie wieder?»

Er dachte nicht an sich, er dachte nur an Antoine. Und zu Antoine redete er an dem Abend noch einmal, an diesem 22. Juni, gegen neun Uhr; und da die Flamme sich wieder zu senken begann, gibt er ihr neue Nahrung und macht sie mit ein paar Tannenästen wieder lebendig.

«Oh, gewiss nicht», sagt Antoine.

Das war alles; er verstummte wieder. Und in diesem Augenblick, Séraphin schwieg nun auch, hörten sie um sich her etwas wachsen, das unmenschlich war und auf die Dauer nicht zu ertragen: die Stille. Die Stille des Hochgebirges, die Stille dieser verlassenen Zonen, wo der Mensch nur zeitweise auftaucht; da muss einer nur zufällig selber still sein, so kann er lang hinhorchen, er hört nur, dass er nichts hört. So konnte man jetzt lang horchen: es war, als gäbe es nirgend mehr etwas zwischen uns und dem anderen Ende der Welt, zwischen uns und dem Himmelsgrund. Nichts, das leere Nichts, die vollkommene Leere, alles hört auf zu sein, als wäre die Welt noch gar nicht erschaffen, oder sie wäre nicht mehr, als stünde man vor dem Anfang der Welt oder hinter dem Weltuntergang. Und die Angst kommt, sie zieht in unsere Brust ein, und da ist es, wie wenn eine Hand sich um unser Herz schließt.

Zum Glück beginnt das Feuer wieder zu knistern, oder ein Wassertropfen fällt herab, oder ein Wind streicht über das Dach. Und das leiseste Geräusch ist wie ein sehr lautes Geräusch. Der Tropfen fällt und hallt wider. Der Ast, den die Flamme verzehrt, kracht wie ein Gewehrschuss; das Streichen des Windes füllt ganz allein den Raum aus. Allerlei kleine Geräusche, die groß sind; da wird man selber wieder lebendig, weil sie selber lebendig sind.

«Komm schon, komm schon!», begann Séraphin wieder.

Das Feuer kracht von neuem:

«Du gehst am Samstag hinunter … Du verbringst den Sonntag mit ihr …»

«Und Ihr?»

«Oh, ich!», sagt Séraphin … «Ich bin es gewohnt, allein zu sein. Sorg dich nicht um mich.»

Er lächelt in seinen Bart, der fast weiß war, dabei war der Schnurrbart noch schwarz; gegen neun Uhr am Abend war das, am 22. Juni, in Derborence, in Philomènes Hütte, wo die zwei Männer am Feuer saßen. Im Dachwerk knackte es dann und wann.

«Du kommst zurück, wann du willst; ich kann mir immer behelfen. Und wenn du zurückkommst, ist immer noch jemand bei dir.»

Er lächelte in den weißen Bart, er hielt seine kleinen grauen Augen auf Antoine gerichtet:

«Oder zähle ich etwa nicht?»

«Redet nicht so», sagt Antoine.

«Also kann man sich doch gut leiden?»

«Aber sicher», sagt Antoine.

«Was willst du noch mehr?»

Noch einmal knackt etwas im Dachwerk, das aus Balken und großen flachen Steinen gemacht war, es stieg schräg über ihnen auf, nur in einer Richtung, denn die Hütte stand an einen Felsvorsprung gelehnt, der die Rückwand ersetzte.

«Dann ist das abgemacht für den Samstag … Das sind nur noch drei Tage …»

Etwas knackt im Dachwerk: denn die Schieferplatten sind tagsüber der Sonne ausgesetzt und dehnen sich stark in der Hitze; wenn dann der Abend kommt, ziehen sie sich in der Kälte zusammen, machen plötzliche, vereinzelte Bewegungen, als ob einer auf dem Dach umherginge. Ein Schritt, den einer droben sehr bedachtsam setzt, dann macht er Halt: wie wenn ein Dieb ganz sicher sein will, dass ihn keiner gehört hat, bevor er sich weiter vorwagt. Es knackte, knackte nicht mehr; und sie, unter dem Dachwerk, das wieder still war, sahen einander, dann sahen sie sich nicht mehr. Die Flamme steigt auf, die Flamme sinkt wieder zurück.

Doch in diesem Augenblick hatte ein neues Geräusch sich gemeldet, und Antoine hob den Kopf. Das war nicht mehr das Dach, das knackte; ein viel dumpferer Ton war das, einer, der aus den Tiefen des Raums kam. Man hätte ihn für einen Donner halten können, dem ein scharfes Krachen vorangegangen war; und nun rollte er über ihnen fort durch den Raum.

Séraphin lächelte. Er sagt:

«Ah!, da fangen sie wieder an …»

«Wer denn?»

«Ja hast du denn nichts gehört in den letzten Nächten? Sei froh, du hast einen guten Schlaf … Und dann», fährt Séraphin fort, «kennst du dich auch in der Nachbarschaft hier noch nicht aus. Dabei müsstest du nur daran denken, wie der Berg heißt … Der Kamm, ja, wo der Gletscher ist … Die Diablerets …»

Das Getöse erstarb allmählich, wurde sehr leise, fast unhörbar, wie wenn ein leichter Wind die Blätter der Bäume bewegt.

«Du weißt doch, was man sich erzählt. Dass er dort oben wohnt, auf dem Gletscher, mit seiner Frau und den Kindern.»

Das Tosen war jetzt ganz verstummt.

«Da kommt es vor, dass er sich langweilt, und er sagt zu seinen Teufelchen: ‹Nehmt Wurfsteine.› Das ist dort oben auf der Platte, am Rand des Gletschers, dort wo der ‹Kegel› ist, du weißt doch, eben der Kegel des Teufels … Das ist ein Spiel, das sie machen. Sie zielen mit ihren Wurfsteinen auf den Kegel. Ah!, mit schönen Steinen, sag ich dir, mit Edelsteinen … Blau sind die, grün, durchsichtig … Ich kann davon erzählen. Denn es kommt vor, dass die Wurfsteine den Kegel verfehlen, und du kannst dir denken, wo sie dann hingehn, ihre Geschosse. Was kommt nach dem Gletscherrand, auf unserer Seite? Die Wurfsteine können nur noch fallen. Und manchmal sieht man sie fallen, wenn der Mond scheint, und gerade jetzt scheint der Mond …»

Er sagt:

«Willst du kommen und sehn? …»

War Antoine unruhig?, das weiß man nicht, aber neugierig war er. Séraphin war aufgestanden, er steht auch auf. Séraphin geht voraus. Séraphin macht die Tür auf. Wirklich schien der Mond ganz hell; sein Licht liegt weiß und glänzend vor ihnen auf dem festgetretenen Boden.

Ein Wiesengrund ist das hier, ein flacher Grund mit ein paar Hütten. Eine Art Ebene war das, aber eng umschlossen von den Felsen, die man rings sich auftürmen sah. Die beiden Männer schauen zuerst nach Süden, dorthin, wo der Mond erschienen war: hinter vielen Zacken hervor, die dort stehen; dann kehren sie sich nach Westen und sehen, wie dort die Bergwände anfangen, hoch sind sie noch nicht, und im Halbkreis von rechts nach links weitergehen.

Von allen Seiten waren sie so umstellt, überragt vom Bau des Gebirges, und so hebt Séraphin am Grund der Senkung seinen Arm. Man sieht seine Hand in der hellen Nacht. Séraphin zeigt auf etwas dort oben, tausendfünfhundert Meter hoch über ihnen.

Und es war leicht einzusehen, dass man auch von dieser Seite, von Norden her, ganz abgeschlossen war, und von Osten her auch, wo der Eingang zur Schlucht durch den ersten Vorbau des Bergs verdeckt war. Séraphin hebt den Arm, er lässt so eine neue Wand aufsteigen, höher noch als alle andern; diese große Wand ist aber ganz durchfurcht von engen Schrunden, wo in ständiger Bewegung kleine Wasserfälle hangen. Der Blick folgt ihr auch, von unten nach oben; dann zwingt der ausgestreckte Finger Séraphins die Augen anzuhalten.

Ganz dort droben war es, ganz am Rand der Bergwand, grade auf dem Kamm. Der Kamm hing stark vor, denn über ihn, ins Leere hinaus, trat der Wulst des Gletschers. Und etwas leuchtete dort oben schwach: eine helle Borte, eine schmale Leiste, die merkwürdig schimmerte, blau oder grün schien, je nach der Stelle; ganz durchsichtig in der durchsichtigen Luft, über der Weiße des Felsens, unter einem fast schwarzen Himmel, auf dem die ersten Sterne sich zeigten – das war die Bruchstelle des Eises. Und nichts regte sich mehr, nirgends, unter der körperlosen Asche des Mondlichts; man sah es weich durch die Lüfte gehen oder fein verteilt auf den Dingen liegen, wo immer es sich hatte festhalten können.

«Dort oben …»

Séraphin hielt noch immer den Arm in die Höhe:

«Ja, dort, wo es überhängt. Aber es sieht so aus, als käme heut Abend nichts mehr.»

Seine Stimme war laut in der Stille.

«Oh!», sagte er, «das ist da immer herabgekommen, so weit man zurückdenken kann.»

Er ließ den Arm sinken:

«Die alten Männer bei uns erzählten davon, zu ihrer Zeit. Und sie waren noch ganz klein, als sie die alten Männer schon davon erzählen hörten …»

Man hörte von Zeit zu Zeit das Klingen eines Glöckchens am Hals einer Ziege irgendwo in der Nähe. Die Alphütten standen rings verstreut. Das sind kleine Hütten aus ungepflastertem Stein. Die eine Schräge des Dachs lag schneeweiß im Mondlicht; die andere verschmolz mit dem Schatten, den sie auf den Boden warf.

Und die zwei Männer warten noch einen Augenblick, um zu sehen, ob nicht noch etwas herunterkomme, aber alles war jetzt unbeweglich und still.

Höchstens trug von Zeit zu Zeit ein Windhauch das ferne Rauschen eines Wasserfalls leise ans Ohr. Der Windhauch selbst war nicht stärker, als wenn einer mit der Hand über ein Gewebe fährt; denn er streifte flach über den Erdboden hin. Alles schlief bei den Menschen, alles schlief bei den Tieren. Und dort oben …

Dort oben, wo sie noch einmal hinschauen, war nur die schmale Borte aus Eis im Mondlicht zu sehen, so fein, so dünn, dass es mitunter aussah, als bewege sie sich wie ein Faden, den ein Luftzug aufhebt.

«Ich glaube, der Teufel ist schlafen gegangen», sagte Séraphin; «und uns bleibt auch nichts anderes übrig.»

Antoine gab keine Antwort; die beiden Männer gingen in die Hütte zurück, sie zogen die Tür hinter sich zu.

Sie schliefen auf Strohsäcken, und die Strohsäcke lagen auf Brettern, die übereinander an der Wand festgemacht waren und zwei Stockwerke bildeten, sie schliefen einer über dem anderen wie auf einem Schiff.

Antoine schlief auf dem oberen Lager.

Sie hängen ihre Schuhe an den Riemen über einen Bolzen, wegen der Ratten.

Antoine stieg zu seinem Bett hinauf.

«Gute Nacht», sagte Séraphin.

Er antwortete: «Gute Nacht.»

Und schon war sie da, in seinen Träumen, kaum hatte sich Antoine in die braune Wolldecke gewickelt und sich zur Wand gedreht. Warum geht es nicht? Da ist Thérèse.

Sie kommt, sie war wieder da, sie selbst und die Felder, sie fand Platz für sich und für sie in dem engen Raum zwischen der Wand und Antoine. Er sagt ihr Guten Tag, sie sagte ihm Guten Tag. Er sagt zu ihr: «Nun und?», sie sagt: «Nun eben.» Sie mussten sich weit draußen vor dem Dorf treffen, denn es gibt immer Neugierige. Immer gibt es Neugierige, immer gibt es Leute, die sich in etwas einmischen, das sie nichts angeht. Sie trug einen Rechen auf der Schulter; er sah, wie sie mit den Zähnen des Rechens die Wolken festhielt, während sie daherkam. Die Wolken fielen ihr auf den Kopf. Warum setzt er sich über ihr auf die Böschung? Er sieht bloß ihren Rücken; sie beugt sich vor, zwischen dem Haarknoten und dem roten Halstuch wird ein Stück braune Haut sichtbar. «Es geht also nicht?» – «Oh!», sagt sie, «nicht wegen mir.» – «Oh!, und wegen wem denn?» – «Oh!», sagt sie, «wegen meiner Mutter.»

Es ging nicht, in jener Zeit.