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Vorwort

Um dieses Buch zu schreiben, bin ich heute wieder einmal nach Regensburg gefahren – dorthin, wo alles begann. Wo ich geboren wurde, wo ich bei den weltberühmten Domspatzen war, wo ich in deren Internat durch die Hölle ging. Wo hinter dicken Mauern des Bischofssitzes der Diözese mächtige Kirchenfürsten heute vor mir so zittern wie ich bei den Domspatzen vor meinen Lehrern. Ich bin Alexander J. Probst, der Mann, der einen gewaltigen Stein ins Rollen brachte. Der den Mantel des Schweigens über dem jahrzehntelangen Missbrauch an Aberhunderten von Jungen hob. Der sich nicht davor fürchtete, Schuldige zu nennen. Der auf diese Weise dafür sorgte, dass Bischof Gerhard Ludwig Müller vom damaligen Vertreter Gottes auf Erden, Papst Benedikt XVI., in den Vatikan versetzt wurde. Offiziell, um der Römischen Kurie als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre und Präsident der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei, der Päpstlichen Bibelkommission und der Internationalen Theologenkommission zu dienen. Vielleicht aber auch einfach, um nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Warum dieser Aufwand vonseiten der Kirche? Weil Bischof Gerhard Ludwig Müller neben dem Bruder des Papstes, Georg Ratzinger, in den Skandal verwickelt ist. Georg Ratzinger stand dem Internat der Domspatzen dreißig Jahre lang vor – eine Zeit, in welcher der Missbrauch an mir und vielen anderen Schülern geschah. Trotzdem will er nie etwas gesehen oder gehört, geschweige denn selbst geschlagen und misshandelt haben.

»Von sexuellen Missbräuchen habe ich überhaupt nichts gehört in meiner Zeit. Mir ist nicht bekannt geworden, dass sich damals ein sexueller Missbrauch ereignet hätte«, sagte er der Presse. »Schläge, das heißt Ohrfeigen, waren nicht nur bei den Domspatzen, sondern in allen Erziehungsbereichen wie auch in den Familien üblich. Bei den Domspatzen hatten sie keine andere Bedeutung als in den genannten Bereichen auch.«

»Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«, bittet Jesus am Kreuz. Was aber ist mit denen, die genau wussten, was sie taten? Von ihnen wird hier die Rede sein. Wie es ihnen gelang, ein System aus Angst und Schweigen aufzubauen, ohne das ein groß angelegter Missbrauch niemals möglich ist.

Warum liegt ausgerechnet in der katholischen Kirche der Anteil männlicher Missbrauchsopfer deutlich höher als in allen anderen Institutionen? Auch das ist eine Frage, die mich, Tausende von Opfern und Millionen von Menschen auf der Erde seit Jahren umtreibt. Dazu passt die Welt der Regensburger Domspatzen, denn sie ist eine Welt aus Licht und Schatten. Die lichten Augenblicke sind für die Öffentlichkeit gedacht. Wenn Hunderte Buben mit Engelsstimmen Mozarts Missa solemnis zum Besten geben, sind die Zuhörer ergriffen. Die dunklen Momente lagen bisher in den Erinnerungen von uns Missbrauchsopfern vergraben. Damit haben die Täter gerechnet, doch nun sehen sie sich getäuscht. Alexander J. Probst tauchte plötzlich aus der Versenkung auf – ob sie sich wohl an meinen Namen erinnern? Oder bin ich für sie einfach ein Niemand, der plötzlich in der Öffentlichkeit erscheint und laut ausspricht, was für immer unter dem Mantel der Verschwiegenheit verborgen sein sollte? Ob sich Cornelius Hafner an meinen Namen erinnert? Während ich diese Zeilen schreibe, halten die Kirchengewaltigen den damaligen Präfekten und späteren Pfarrer von Dietenhofen-Großhabersdorf an einem geheimen Ort versteckt, so wie es Zeugenschutzprogramme für aussagewillige Mitglieder des organisierten Verbrechens tun. Cornelius Hafner hat mich rund zweihundertmal missbraucht, doch bis heute steht er nicht als Zeuge seiner Taten zur Verfügung. Was tut einer wie er den lieben langen Tag? Bittet er um Vergebung für seine Sünden? Oder macht er einfach weiter wie bisher?

Weitermachen wie bisher, das wollte auch die katholische Kirche. Dann kam der 10. März 2010, ein Tag kurz vor meinem fünfzigsten Geburtstag, der Tag, an dem alles anders werden sollte. Es war der Tag, an dem ich beschloss, diesem System ein Ende zu bereiten. Warum erst in diesem Alter? Weil da etwas in mir zerbrach und mir dabei schmerzlich klar wurde, dass ich die Auseinandersetzung mit diesem übermächtigen Gegner wagen muss. Alexander J. Probst, der Niemand, gegen den ehemaligen Domkapellmeister Georg Ratzinger, gegen den Bischof von Regensburg, selbst gegen den damals amtierenden Papst Benedikt XVI.: Ich konnte nur den Kopf schütteln über meine Naivität. Wer, fragte ich mich, von allen Mitwissern, Mittätern und Mitläufern in diesem Schreckenssystem aus körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch wird sich auch nur einen Deut darum scheren, dass ein Niemand nicht länger schweigen kann?

Heute bin ich selbst überrascht darüber, welche Lawine ich ausgelöst habe. Mich selbst habe ich ebenfalls erstaunt. Ich wusste von meinem Kämpferherzen und davon, dass Aufgeben, das Handtuch schmeißen, für mich niemals infrage kommt. »Mit dem Herz eines Boxers«, singt Marius Müller-Westernhagen auf einer Platte, die im Jahr 1982 aufgenommen wurde. Da war ich 22 Jahre alt und mein Vater ehemaliger bayerischer Boxchampion im Schwergewicht. Was ihm zwar dabei half, mich in einer heftigen Auseinandersetzung mit Georg Ratzinger aus dem Schreckenssystem zu befreien, ihn aber nicht dazu befähigte, ein guter Vater zu sein. Heute bin ich 56 und es ist mir gelungen, nicht nur diesen Skandal aufzudecken, sondern auch Aberhunderte Männer, die ein Schicksal ähnlich dem meinen erlitten haben, um mich zu versammeln. Gemeinsam zwangen wir die Kirchenoberen an einen runden Tisch – ein Vorgang, den es in der langen Geschichte der katholischen Kirche bis dahin nie gegeben hatte. Ich bin der Beweis dafür, dass ein Niemand ein für alle Ewigkeiten geschaffenes System zum Kippen bringen kann – wenn der Mensch hinter dem Niemand bereit ist, alles dafür in die Waagschale zu werfen.

Genau davon handelt diese Geschichte. Erwarten Sie nicht, dass sie dunkel beginnt und dunkel endet. Das ist ganz und gar nicht der Fall. Meine Erinnerungen beginnen im Licht und mit fröhlichem Jungenlachen. Es ist Ende der Sommerferien 1968 und heute ist mein erster Tag an der Vorschule der Regensburger Domspatzen in Etterzhausen. Wie ich mich fühle? Ich bin ja so was von aufgeregt! Oder wie wir Jungs es damals ausdrückten: Hey, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen!

»Sein Verhalten ist nun freundlich und dienstgefällig.«

Aus dem Zeugnis von Alexander J. Probst,
3. Klasse, Vorschule der Domspatzen, 1968

Meine Mami drückt ganz schön auf die Tube. Dabei ist die Straße, die vom Dorf Etterzhausen zur Vorschule der Regensburger Domspatzen führt, alles andere als eine Rennstrecke. Doch irgendwie hat sie es eilig. Das wundert mich nicht, sie hat es immer eilig. Aber heute ganz besonders. Normalerweise geht sie mir damit ganz schön auf die Nerven, wenn sie wieder meckert und durch die Gegend hetzt, und dann denke ich mir: Du bist ja auch gar nicht meine Mami. Meine wirkliche Mutter, die wir Mutti nennen müssen, damit keine Verwechslungen passieren, die hat Vater aus dem Haus gejagt. So ist das in meinem Kopf verankert, in meinem achtjährigen Kopf, der, wie ich finde, die Dinge ganz schön klar sieht.

1963, als ich gerade drei Jahre alt war, musste meine leibliche Mutter das Haus verlassen, um für die neue Frau meines Vaters Platz zu machen. Unsere Wohnung war zwar nicht klein, doch die Ansprüche meiner neuen Mami waren groß. Daher mussten wir Kinder jetzt im Keller übernachten. Dort bekamen wir ein Zimmer mit einem kleinen vergitterten Fenster, durch das kaum Licht fiel. Nachts durften wir nicht hoch aufs Klo. Als das mit dem Nachttopf einmal danebenging, zeigte meine neue Mami ihr wahres Gesicht. Sie fuhr mich an: »Du bist flüssige Scheiße zu Zöpfchen geflochten!« Das sollte einer ihrer Lieblingssprüche werden, und ich hasse es, wenn sie das zu mir sagt. Aber Mami kann hart wie Stein und kalt wie Eis sein. Einmal sollten wir Chicoréesalat essen und ich kriegte den nicht runter. Er war bitter. Sie bestand darauf. Ich probierte es und nach ein paar Bissen wurde mir schlecht. Alles, was ich schon gegessen hatte, kam hoch und landete auf dem Teller. Mami sah sich die Schweinerei an und sagte: »So. Du bleibst hier sitzen, bis du das alles wieder gegessen hast.« Ich wollte das nicht. Aber sie blieb stur. Ich musste das Erbrochene in mich hineinlöffeln. Danach musste ich noch mal Chicorée essen und zum Glück blieb er dieses Mal unten. Mami sagte: »Siehst du? Es geht doch.«

Eigentlich wollte ich das alles meinem Vater erzählen, aber sie wusste das zu verhindern. Wenn er nach Hause kam, nahm sie meine Schwester und mich an der Hand. Wir mussten neben ihr stehen und ihn begrüßen. Dabei drückte sie unsere Hände so fest, dass ich am liebsten schreien wollte. Sie sagte: »Euer Vater möchte wissen, ob ihr einen guten Tag hattet. Sagt es ihm.«

Dabei drückte sie noch fester zu. Wir sagten immer, dass wir einen guten Tag hatten. Ich sagte es ganz laut und deutlich, damit er es gleich verstand und Mami meine Hand losließ. Ich erzählte nichts vom Chicorée. Mami sagte: »So ist es brav, Kinder.«

Kurz darauf ist meine Schwester im Internat der Salesianerinnen in Pielenhofen gelandet. Ich sage Schulnonnen zu denen, denn so werden sie von ihr beschrieben: Sie tragen die Tracht von Nonnen, sind aber auch Lehrerinnen. Vielleicht hat das Mami auf die Idee gebracht. Schließlich bin ich zwei Jahre später, mit acht Jahren, immer noch da und störe.

»Gibt es nicht die Vorschule der Domspatzen in Etterzhausen?«, sagt sie eines Tages zu meinem Vater. Es ist keine Frage, jeder weiß, dass es die Schule gibt. Auch wir wissen das, obwohl wir Zugezogene sind. Ich bin in Regensburg geboren, dort haben wir drei Jahre lang gewohnt. Damals noch ohne die neue Mami, denn die stammt ja aus Polen, auch wenn sie darüber selten spricht. Warum, weiß ich nicht, aber irgendwie hat sie keine guten Erinnerungen daran. Obwohl ihr Papa der größte Bonbonhersteller des Landes war. Aber irgendwas passierte im Krieg, was, weiß ich nicht, und ob er noch lebt, weiß ich auch nicht. Ab und zu sagt sie, dass sie in der Stadt Posen eine tolle Villa hatten, aber flüchten mussten. Ihr Bruder sogar bis nach Australien! Sie selbst hat es nach Paris verschlagen und darüber spricht sie gern. Da hat sie gelebt, bis sie Vater kennenlernte, und offenbar hat sie an Paris bessere Erinnerungen. Wenn die beiden mal streiten, fällt das Wort »Paris« häufig. Dann kann ich hören, dass es dort besser ist als in Regensburg oder Etterzhausen. Wahrscheinlich ist in Paris auch mehr Platz. Aber bei uns ist auch bald mehr Platz. Denn mein Vater antwortet auf die Frage, die gar keine Frage war: »Stimmt. Und der Tag der offenen Tür steht vor der Tür.« Er lacht über sein kleines Wortspiel. Mami lacht auch und dann fragt sie mich: »Hättest du Lust, dir das anzuschauen?« Sie macht eine Pause und fügt hinzu: »Da findest du sicher auch Freunde.«

Es ist nicht so, dass ich keine Freunde im Dorf habe. Seit wir hier leben, bin ich in der Volksschule. Dort habe ich mir einen guten Ruf erarbeitet: Wann immer es gilt, eine Mutprobe zu bestehen, bin ich der Erste, der sie angeht. Man kann nämlich nicht einfach aus Regensburg aufkreuzen und gleich überall mitmachen. Den Jungs musste ich erst mal was bieten. Das tue ich noch immer. Morgens zum Beispiel, vor der Schule, das ist jedes Mal ein Schauspiel, von dem Vater und Mami nichts wissen. Zwischen unserer Wohnung und der Dorfschule fließt der Fluss Naab und darüber geht eine Brücke. Wir sind ein Haufen Schulkameraden, die jeden Morgen darübergehen. Das heißt, die anderen gehen über die Brücke, doch ich balanciere auf dem Geländer. Das ist schmal und hoch und das Wasser darunter ein reißender Strudel, vor allem im Winter oder wenn es geregnet hat. Aber ich lasse mir das nicht nehmen, zumal sich keiner der anderen aufs Geländer traut. Man muss sich Respekt verschaffen, das ist so ein Spruch, den ich von meinem Vater aufgeschnappt habe. Als es darum ging, wie er Boxchampion geworden ist. Damals war mir nicht klar, was Respekt bedeutet, aber ich schaute im Wörterbuch nach. »Anerkennung« und »Ehrerbietung« stand da. Den Ausdruck »Ehrerbietung« kannte ich auch nicht, also schaute ich den ebenfalls nach. So mache ich das immer. Ich liebe Wörter, ich liebe Sätze, ich liebe Bücher. Ich konnte schon im Kindergarten lesen, das habe ich mir selbst beigebracht. Vater sagte: »Heute Abend kommt Stahlnetz im Fernsehen.« Das war ein Krimi, den ich nicht sehen durfte. Aber ich lief zum Wörterbuch und suchte nach dem Wort »Stahlnetz«. Das gab es nicht, aber ich fand »Stahl« und ich fand »Netz«. Ich fuhr die Buchstaben mit den Fingern nach, bis ich sie mir eingeprägt hatte. Und ich passte auf, was Vater in der TV-Zeitschrift las. Er schaute rein und meinte: »Edgar Wallace kommt.« Ich suchte die Stelle, an der er gestöbert hatte, und prägte mir die Worte ein. Auf diese Weise lernte ich lesen, sogar die alte Antiquaschrift. Die brachte mir Oma bei, die Mutter von meiner richtigen Mutter. Die Mutter von Mutti. Oma liebe ich abgöttisch, und Mutti liebe ich genauso, auch wenn sie nicht mehr da ist. Mami liebe ich nicht, aber ich werde mich hüten, es ihr zu sagen. Wenn sie will, kann sie so richtig ausrasten, und dann kommt man ihr besser nicht in die Quere. Zwischen uns herrscht nicht gerade Friede, Freude, Eierkuchen.

Vielleicht sage ich deshalb: »Ja, das will ich mir ansehen.« Vielleicht auch, weil keiner meiner Freunde aus dem Dorf da oben in der Schule sein wird. »Die ist was für Bessere«, sagt man im Dorf hinter vorgehaltener Hand. Manche sagen auch: »Oje, die Vorschule«, was immer das zu bedeuten hat. Viele sagen einfach nichts. Als ob es die Schule gar nicht gäbe.

Am Tag der offenen Tür schauen wir uns alles an. Sieht nicht schlecht aus, finde ich. Die Vorschule ist riesig. Umgeben von weiten Wäldern liegt sie auf einer großen Lichtung. In der Mitte ist ein lang gestrecktes Gebäude, an das sich ein mehrstöckiges Haus anschließt. Auf der anderen Seite gibt’s auch noch ein Haus und weitere Häuser und Bungalows sind um das Anwesen verstreut. Dort wohnen Lehrer, heißt es, aber viel wichtiger für mich sind die Spiel- und Sportplätze. Wir lauschen einem Vortrag, in dem es heißt, dass wir Buben eine gediegene Schulbildung bekommen. Das Wort »gediegen« habe ich noch nie zuvor gehört, das werde ich zu Hause nachschlagen.

»Ausreichende Betreuung gibt es«, sagt der Mann, der den Vortrag hält. »Die kommt den besonderen Neigungen und Begabungen zugute.«

Was er damit meint, bleibt unklar. Anschließend werden wir herumgeführt. Es gibt einen Musiksaal, darin wird täglich gesungen, sagt er. Er nennt es Stimmbildung und Chorerziehung, und ich kann nur hoffen, dass ich mir all die neuen Wörter merken kann.

»Jeder Singknabe«, sagt er, »lernt ein Instrument. Das kann Klavier sein oder Violine. Damit ist dieser Ort ideal für die Vorbereitung auf das Musikgymnasium und die Chöre der Regensburger Domspatzen.«

Er schaut sich in der Runde um. Es sind vielleicht fünfzig Elternpaare da. Einige haben ihre Jungs dabei, andere nicht. Sein Auge fällt auf mich. Er lächelt mich an.

»Wir haben Glück«, sagt er. »Heute ist der Domkapellmeister da. Hättest du Lust, ihm vorzusingen?«

In der Volksschule singen wir manchmal auch. Ich kann aber nicht behaupten, dass ich mich in den Vordergrund dränge, wenn es dazu kommt. Auf dem Geländer balancieren, wenn alle Muffensausen kriegen, das schon. Auf der anderen Seite, was ist schon dabei? Ich antworte: »Ja«, und der Mann bittet uns mitzukommen.

Georg Ratzinger wartet in einem der Musikräume auf uns. Die werde ich später noch ganz genau kennenlernen und auch ihn soll ich noch von einer völlig anderen Seite erleben. Heute ist er aufgeräumt. Freundlich schüttelt er erst Mami die Hand, dann Vater. Der ahnt nichts davon, dass er das nächste Mal, wenn er Ratzinger gegenübersteht, seine Boxerhände zu Fäusten geballt hat. Keiner ahnt etwas davon. Ich ahne ja auch nicht, dass die Worte »besondere Neigungen« in der katholischen Kirche doppeldeutig zu werten sind.

»Was wollen wir singen?«, fragt Georg Ratzinger. Er schlägt ein paar Noten auf dem Klavier an. »Wie wäre es mit ›Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar‹? Kennst du das?«

Ich zeige Textlücken beim Singen des Liedes, aber das scheint den Domkapellmeister nicht zu stören. Dafür trällere ich wie ein junger Zeisig, und das gefällt ihm.

»Schön, schön«, sagt er. »Ich spiele ein paar Noten und du singst die Noten nach. Auf den Vokal A.«

Das ist ja Pipi, denke ich. Jedes Mal wenn das Klavier einen Ton von sich gibt, singe ich ihn nach. Auf A. Das kann ja wohl nicht alles sein, fährt es mir durch den Kopf, aber so ist es.

»Ihr Sohn ist sehr begabt«, sagt Georg Ratzinger. »Er wird seinen Weg bei den Domspatzen machen.«

Für ihn ist es also schon eine ausgemachte Sache, dass ich ein Domspatz werde. Für meinen Vater und Mami ebenfalls. Auf dem Weg nach Hause reden sie von nichts anderem. Dann fragen sie mich. Sie wollen wissen, was ich von der Sache halte. Ich habe dieselbe Meinung wie der Domkapellmeister und meine Eltern. Ich will Domspatz werden. Ich will raus aus der Volksschule und hier was Besonderes sein. Einer, der mit neuen Freunden über die Wiesen tobt. Der Fußball spielt und singt und von mir aus Klavier lernt oder Violine, das ist mir ziemlich wurst.

»Mir gefällt’s«, sage ich.

Vater und Mami schauen sich an.

»Es kostet 170 Mark im Monat. Für Kost und Logis«, sagt mein Vater. Er ist Ingenieur und immer fix, was Zahlen angeht. »Plus 12,50 Mark für den Musikunterricht, 2,55 Mark für Noten, 2 Mark für die Unfallversicherung und 2 Mark für die Glasversicherung.« Er wendet sich an mich. »Schmeiß ja kein Fenster ein, hörst du. Die gehen glatt rauf mit dem Beitrag.«

»Alles in allem 189 Mark und 5 Pfennig.« Auch Mami ist stolz auf ihre Rechenkünste. Bevor sie nach Regensburg kam, arbeitete sie in Paris und gibt mächtig damit an. Chefkosmetikerin bei Germaine Monteil, sagt sie allen, die es wissen wollen, und auch denen, die das nicht so interessiert. Weil mein Vater den Pilotenschein hat und sie mitnahm, als sie eines Tages geschäftlich in Regensburg zu tun hatte und sie sich in einem Restaurant kennenlernten, hat sie sich in ihn verknallt. So nenne ich das, verknallt. Und weil sie jetzt verknallt waren und zusammen sein wollten, ging sie weg von Paris und wurde Kosmetikerin in einer Regensburger Parfümerie. Da war sie schon vierzig Jahre alt, viel älter als mein Vater, und sie sagte zu mir und meiner Schwester: »Ich heiße Marie-José. Ihr könnt Jo zu mir sagen. ›Scho‹ gesprochen, mit weichem sch, so macht man das in Paris.« Dann war die Scheidung und Mutti wurde schuldig gesprochen. Als sie weg war, hieß es, dass wir sie nicht mehr sehen dürfen. Das war die Zeit, als aus Jo – weich gesprochen wie ›sch‹ – Mami wurde.

»Ab heute sagt ihr Mami zu mir, ist das klar?«, hieß es.

Es war klar. Es ist immer klar, wenn Mami was sagt. Und wer weiß, vielleicht ist das ebenfalls ein Grund, weshalb ich jetzt bekräftige: »Ich will dahin.«

Und damit ist mein Schicksal besiegelt.

Als wir wieder zu Hause sind, geht alles ruck, zuck. Noch habe ich große Ferien, aber die scheinen auf einmal wie von selbst zu Ende zu gehen. Wenn ich daran denke, dass ich nicht mehr in die Volksschule zurückkehre, wird mir warm ums Herz. Doch, doch, es ist die richtige Entscheidung, auf die Vorschule der Regensburger Domspatzen zu wechseln.

Dort gibt es keine Mamis, denke ich. Ich denke nicht, dort gibt es keine Muttis, das macht den Unterschied. An meine Mutti denke ich jeden Tag, aber das lasse ich mir nicht anmerken. Ich sorge dafür, dass ich immer der Erste am Briefkasten bin, um zu sehen, ob ein Brief von ihr an mich kommt. Noch weiß ich nicht, dass man ihr verboten hat zu schreiben. Noch weiß ich nicht, dass sie es später trotzdem tun wird, aber ihre Briefe abgefangen werden. Ich überlege mir, ob ich das Balancieren auf dem Geländer vermissen werde, und komme zu dem Schluss, dass es nicht der Fall ist. Sollen doch andere jetzt Mutproben bestreiten! Ich werde ein Domspatz werden und vielleicht sogar mal einen großen Auftritt haben. Gerüchteweise ist zu hören, dass sie regelmäßig im Regensburger Dom singen und der dann rappelvoll ist mit Zuhörern. Und dass sie sogar im Fernsehen auftreten und um die Welt reisen. Du meine Güte, das will ich auch! Wer bei so etwas dabei ist, muss jemand Besonderes sein, und ich war lange genug ein Niemand gewesen. Ein Niemand, der zwar auf Brückengeländern balancieren kann, aber mal ehrlich, wie lange hält eine Mutprobe? Spätestens nach der ersten Stunde in der Schule ist alles wieder vergessen. Das war der Grund, warum ich sie jeden Tag wiederholen musste.

Und dann, zack, bumm, sind die Ferien zu Ende. Mami packt einen kleinen Koffer mit meinen Siebensachen und schon geht’s im Auto hoch zur Vorschule. Sie drückt mächtig aufs Gas, in einer Kurve quietschen die Reifen. Oben hält sie an, steigt aus, gibt mir den Koffer und sagt: »Dann mach’s gut.«

Oder sagt sie etwas anderes? So richtig höre ich gar nicht hin. Ich habe auch nicht hingehört, was Vater sagte, heute Morgen, als er es ganz eilig hatte, ins Geschäft zu kommen. Stattdessen vernehme ich das Gelächter von Jungen und denke nochmals: »Keine Mamis!«

Trotzdem sage ich artig: »Auf Wiedersehen«, denn das verlangt sie von uns. Kein bayerisches »Pfiat di« zum Abschied, auch kein »Griaß di Gott«, wenn man sich trifft. Mit dem Koffer in der Hand marschiere ich zur Schule. Ich drehe mich nicht um, zumindest habe ich es nicht vor. Dann habe ich plötzlich so ein komisches Gefühl … Ich weiß gar nicht, was es ist, doch es zwingt mich, den Koffer abzustellen, um Mami nachzuschauen. Sicher steht sie da und winkt, doch da täusche ich mich. Ich sehe gerade noch, wie sie vom Parkplatz kurvt. Sie hat keine Zeit verloren, aber das liegt sicher nur daran, weil sie jetzt nach Regensburg in die Parfümerie muss. Warum ich stehen bleibe und dem Auto nachsehe, bis es völlig aus meinem Blickfeld verschwunden ist, kann ich nicht sagen. Dann ist es weg und ich bin auf mich allein gestellt.

»Keine Mamis hier«, sage ich zu mir selbst und es klingt irgendwie trotzig. Ich schnappe den Koffer und gehe Richtung Eingang. Ob wohl heute gleich gesungen wird? Ob der Herr Domkapellmeister sich wieder ans Klavier setzt und will, dass ich Noten nachsinge? Ob er immer da ist? Oder setzen sich andere ans Klavier? Vielleicht einer der Lehrer, die im Bungalow wohnen? Woher die anderen Jungs stammen? Aus dem Dorf unten jedenfalls nicht. Ob sie nett sind? Ob ich tatsächlich Freunde gewinne? Und was hat es mit der gediegenen Schulbildung auf sich, mit der Stimmbildung und Chorerziehung? Ich habe die Wörter zu Hause nachgeschlagen, bin aber nicht wirklich schlauer geworden. Vielleicht sollte ich später einen der anderen Jungs fragen? Der Parkplatz füllt sich mit immer mehr Autos. Väter und Mütter steigen aus. Sie streicheln ihren Buben über den Kopf, sie nehmen sie in die Arme, sie küssen und herzen sie. Das gefällt nicht jedem, das kann ich sehen. Aber irgendwie hätte ich es gern gehabt, wenn mich Mami ebenfalls in den Arm genommen hätte. Schließlich dauert es sechs Wochen, bis ich wieder nach Hause darf, das ist eine der Regeln. Aber dann schüttle ich den Kopf und sage laut zu mir: »Nein, ich hätte es nicht gern gehabt.« Wenn mich jemand umarmen soll, dann Mutti. Aber Mutti ist weit weg. Ob sie weiß, dass ich hier bin? Ob sie eine Ahnung davon hat, dass ich ein Domspatz werden soll? Was sie wohl dazu meint?

Ich habe echt viele Fragen. Als Achtjähriger hat man immer viele Fragen, das ist mir schon aufgefallen. Ich habe immer mehr Fragen als Antworten, das ist mir auch aufgefallen. Ich habe einen richtiggehenden Hunger nach Antworten, und den zu stillen, ist gar nicht einfach. Ein Wörterbuch erklärt nur Wörter, aber es ist mehr als Wörter, die ich wissen will. Ob ich in der Vorschule der Regensburger Domspatzen Antworten auf meine Fragen kriege? Ich habe das Gefühl, es ist an der Zeit, endlich die Tür zu öffnen und einzutreten.

Bisher bin ich davor stehen geblieben. Sah dem Strom der Autos zu, die den Parkplatz ganz gefüllt haben. Nun legt sich meine Hand auf die Klinke, ich drücke sie herab und trete ein. Dabei mache ich unwillkürlich einen großen Schritt, als müsste ich einen Graben überqueren. Dann fällt die Tür hinter mir ins Schloss und für einen Augenblick ist es ganz still um mich. Ich bin allein. Kein Mensch ist zu sehen. Ich schaue mich um, ein Schauer fährt mir den Rücken hinab. Dann höre ich aus der Ferne Lachen. Einige Buben in meinem Alter kommen die Treppe herabgerannt. Sie pfeifen und laufen so schnell, wie es ihre Beine erlauben. Einer hat einen Fußball in der Hand. Schon sind sie bei mir, rufen mir zu: »Komm mit!«, dann sind sie auch schon draußen. Wieder geht die Tür zu, wieder wird es still. Doch dieses Mal ist es eine andere Stille. Denn ich habe verstanden. Ich werde so schnell wie möglich mein Zeugs verstauen, dann kann ich rausgehen und mit den anderen spielen. Niemand wird mir das verbieten.

»Keine Mamis«, sage ich nochmals. Und dann vergesse ich diesen Satz für heute, weil alles andere wichtiger ist.

An diesem Tag komme ich nicht zum Fußballspielen und an den folgenden Tagen auch nicht. Zunächst irre ich noch ziemlich lange durch die Gänge. In einem Gang treffe ich auf einen Mann. Er hat einen dunklen Gehrock an und lächelt mir zu.

»Na«, sagt er, »weißt du nicht, wo du hinmusst?«

Ich nicke. Irgendetwas an ihm lässt mich verstummen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich auf einmal so etwas wie Heimweh spüre. Das darf doch nicht wahr sein! Ich bin gerade mal eine Viertelstunde hier und froh, dass Mami sich vom Acker gemacht hat, zumindest rede ich mir das ständig ein. Und auf einmal muss ich an meine Schwester und an meinen Vater denken. Warum nur hatte er es heute Morgen so eilig? Sonst trinkt er gern noch einen zweiten Kaffee, bevor er aus dem Haus geht.

»Nur nicht so schüchtern«, sagt der Mann. »Wie heißt du denn?« Ich nenne ihm meinen Namen. Er nickt wissend, als hätte er ihn schon einmal gehört. »Du wirst sehen, du lebst dich rasch ein«, sagt er. »Komm mit. Hier bist du ganz falsch.«

Er wendet sich um und geht mit schnellen Schritten den Gang entlang. Ich folge ihm und der Koffer schlägt mir an die Beine. Es ist nicht viel drin, aber auf einmal kommt er mir zentnerschwer vor. Wir biegen um eine Ecke und gelangen zu einer Treppe. Die steigen wir hinab. Ich glaube nicht, dass ich es jemals schaffe, mich in diesem Gebäude zurechtzufinden. Hier und dort sind Zimmertüren offen und ein paar Jungs blicken neugierig heraus. Ob ich mich mit allen anfreunden werde? Von irgendwo tönt auf einmal Klaviermusik an unser Ohr.

»Beethoven«, sagt der Mann, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Klaviersonate Nr. 4 Es-Dur, allegro molto e con brio. Hier geht’s lang.«

Wir sind in einem Gang angekommen, der aussieht wie der, in dem er mich aufgegabelt hat. Laufen wir im Kreis herum? Dann aber sehe ich, dass hier noch viel mehr Türen offen stehen. Ich erkenne zwei der Jungs wieder, die vorhin auf dem Parkplatz von ihren Eltern umarmt und geküsst worden sind. Wie ich haben sie kleine Koffer dabei und stehen unschlüssig herum.

»Die Neuen werden alle zusammen untergebracht«, sagt der Mann. »Dann wollen wir mal sehen. Alexander, Alexander? Ich glaube, dein Bett ist da vorn.«

Es ist ein großer Raum mit acht Stockbetten, die fein säuberlich in Reih und Glied stehen. Bettzeug liegt darauf, und der Mann sagt: »Zu Hause hat wahrscheinlich deine Mutti das Bett gemacht, hier wirst du es selber tun. Du wirst es lernen müssen.« Ich antworte nicht, dass meine Mutti gar nicht da war, um mein Bett zu machen, und Mami unsere Betten nie gemacht hat. Das haben wir selbst getan. Daher weiß ich, wie man ein Bett macht. Da gibt es für mich nichts zu lernen.

Dafür gibt es jede Menge anderer Dinge, die ich lernen muss. An diesem Tag erfahren wir, dass wir morgens um 6 Uhr geweckt werden. Man zeigt uns den Waschraum, wo wir uns waschen und die Zähne putzen sollen. Um 6:30 Uhr findet eine Messe statt. Für einige der Neuen ist das kalter Kaffee, sie sind schon immer jeden Tag in die Kirche gegangen. Für andere wie mich ist das anders. Ich kenne Gottesdienste aus der Schule oder von Feiertagen. Doch weder Vater noch Mami sind große Kirchgänger, daher sind wir Kinder es auch nicht. Aber gut. Mit einer Morgenmesse kann ich leben. Danach, heißt es, kommt das Antreten. Was es damit auf sich hat, liegt noch im Dunkeln, also messe ich der Sache keine große Bedeutung bei. Da werde ich mich noch wundern – und alle anderen auch. Nach dem Antreten gibt’s dann endlich Frühstück, anschließend geht der Unterricht los. Der dauert bis 13 Uhr, danach ist Zeit zum Mittagessen. Dann kommt die Studierzeit, ein Begriff, mit dem ich auch nichts anfangen kann. Anschließend üben wir, auf den Instrumenten zu spielen. Und endlich, endlich haben wir Freizeit. »Jetzt könnt ihr rausgehen und spielen«, heißt es, und sofort beginnen unsere Gesichter zu strahlen. Ich kriege richtiggehend Pickel am Hintern, wenn ich nicht draußen rumtoben darf, und den anderen geht es sicher ganz ähnlich, das sehe ich ihnen an. Wir treten von einem Bein aufs andere und wären am liebsten gleich raus, um die Gegend zu erkunden. Doch die Einweisung ist noch nicht zu Ende. Wir erfahren, wann es Abendessen gibt und dass wir um 20 Uhr im Bett zu liegen haben.

»Und dann ist Ruhe!« Der Mann, der mich durch die Gänge geleitet hat, baut sich vor uns auf. Nun wird mir klar, dass er einer der Lehrer ist. Groß und wuchtig sieht er aus und sagt mit lauter Stimme seinen Namen: »Ich bin Herr Kautzsch.«

Dann stellt Herr Kautzsch den Mann neben ihm vor. Das ist Direktor Meier und er ist auch gleichzeitig der Pfarrer.

»Ihr sagt Herr Direktor zu ihm oder Herr Pfarrer. Und zu mir«, wiederholt er, »sagt ihr Herr Kautzsch. Klar?«

Klar. Dann gibt es den Präfekten Hansch und zu dem sollen wir Herr Präfekt oder Herr Hansch sagen. Auch klar. Die anderen Namen kommen nach und nach, doch an diesem ersten Tag wird deutlich: Direktor Meier, Präfekt Hansch und Lehrer Kautzsch geben den Ton an. Wenn man so will, sind das die Mamis von hier, denke ich.

Wie alle Mamis dieser Welt haben die drei ihre Launen. Die von Lehrer Kautzsch ist am schnellsten durchschaubar. Sie ist meistens schlecht. Vom ersten Tag an habe ich Angst vor ihm und den anderen geht es ähnlich. Er hat so eine Art, uns anzugucken, als wollte er uns mit seinem Blick durchbohren. Ich nehme mir vor, ihm aus dem Weg zu gehen, doch das wird nicht möglich sein. Auch wenn die Vorschule eine ordentliche Größe aufweist, läuft man sich ständig über den Weg. Lehrer Kautzsch wird einer der Ersten sein, die uns klarmachen, wie lange sechs Wochen sein können. Das Gefühl, in einem Gefängnis zu sein, das die meisten von uns irgendwann ergreift, ist eng mit seiner Person verbunden.

An diesem ersten Tag weiß er seine cholerischen Ausbrüche zu zügeln. Noch sind Autos im Hof, ein paar der Eltern stehen unschlüssig herum, als wären sie unsicher, ob es richtig ist, ihren Buben einfach hierzulassen. Doch schon trennen uns dicke Mauern. In ein paar Stunden, wenn wir alle zum ersten Mal in den Betten liegen und versuchen, uns an die ungewohnten Geräusche zu gewöhnen, wird der Hof leer sein und die Eltern zu Hause. Vielleicht werden die einen oder anderen von ihnen den Gang ins Kinderzimmer machen und möglicherweise einen Stich im Herzen fühlen, weil es dort so leer ist. Als ich an diesem Abend im Bett liege, denke ich an Vater und Mami. Ich glaube nicht, dass sie zu Hause nach meinem leeren Bett sehen. Mutti würde das tun, da bin ich mir sicher. Aber Mutti ist weg und vielleicht weiß sie nicht einmal, dass ich hier bin.

Am nächsten Tag beginnt der Alltag. Um 6 Uhr läutet eine Glocke und Präfekt Hansch geht von Raum zu Raum. Raus aus den Federn, heißt es. Manche von uns springen aus den Betten, andere brauchen etwas länger. Doch trödeln darf man nicht. In einer halben Stunde beginnt die Messe und bis dahin muss man sich wenigstens das Gesicht gewaschen haben und notdürftig mit der Zahnbürste über die Zähne gefahren sein. Es ist ein Gedränge im Waschsaal und irgendwie ist das lustig. Wir kennen uns noch nicht, aber wir fremdeln auch nicht. »Fremdeln« ist ein Wort, das ich von Oma aufgeschnappt habe. Wenn man mit anderen nicht gut kann, hat sie mir erklärt, dann fremdelt man. Offenbar ist das bei uns nicht der Fall. Wir schubsen uns ein bisschen, und das ist alles freundschaftlich gemeint. Einer der Jungs prustet Zahnpasta gegen den Spiegel und wir johlen los vor Lachen. Doch da ist schon Präfekt Hansch im Waschsaal. Der findet das überhaupt nicht lustig und wird ziemlich laut. Wir verstummen und putzen uns schweigend die Zähne zu Ende. Es ist ein bedröppelter Haufen, der danach in Richtung Kirche marschiert.

Die Kirche befindet sich im rechten Anbau des großen Hauses. Als wir Platz genommen haben, müssen wir gleich wieder aufstehen, weil der Pfarrer und Direktor Meier mit den Ministranten hereinkommt. Das Ministrieren werde ich auch noch lernen, zumindest in den Grundzügen, weil dieses Amt mich niemals interessieren wird.

Dann kommt die erste Überraschung: Ich verstehe kein Wort von dem, was der Pfarrer redet. Die anderen verstehen auch kein Wort. Wir wechseln verwirrte Blicke. Liegt es daran, dass es noch früh am Tag ist? Weil keiner von uns so richtig ausgeschlafen ist? Nein, das ist Unsinn, das kann es nicht sein. Das ist eine andere Sprache, das ist der Grund, und plötzlich murmelt einer: »Es ist Latein.«

Die Nachricht breitet sich aus, wie nur Jungs in unserem Alter das zu meistern verstehen. Reden, ohne die Lippen zu bewegen, ist eine Kunst, die man unbedingt beherrschen muss. »Latein, Latein, das ist Latein«, geht die Botschaft durch die Reihen. Einige der Jungs schütteln den Kopf. Andere sagen später: »Das kennen wir. Unser Pfarrer redet auch auf Latein und niemand kapiert etwas. Das ist halt so.«