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Thomas West

Die schöne Russin: Thriller

Die schöne Russin

Thriller von Thomas West

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 235 Taschenbuchseiten.

 

Ein Österreicher hat als Informatiker Karriere im Silicon Valley gemacht. Seit er als Kind Zeuge eines Banküberfalls wurde, ist es sein Ziel, ein Sicherheitsprogramm für Banken zu entwickeln, das Überfälle verhindern soll. Bevor er seine geniale Software der >Transatlantic Traffic Bank< in New York anbieten kann, wird er beinahe Opfer eines Mordanschlags. Offenbar wollen nicht nur Gangster sein Computerprogramm stehlen, sondern auch ein Killer ist hinter ihm her.

Jesse Trevellian und seine Kollegen setzen alles daran, den Fall zu lösen - während die schöne wie undurchsichtige Russin Saskia nicht nur dem Ermittler gefährlich nahe kommt ...

 

Cover: Firuz Askin

 

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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Prolog: Spittal, Österreich - Spätsommer 1984

Die Bank lag in einer kleinen Seitenstraße, nicht weit vom Fluss - ein hässlicher Flachbau mit grauer Eternitfassade und ein paar verblühten Azaleentöpfen in den beiden ansonsten schmucklosen Fenstern.

Auf dem Vordach über der einflügeligen Eingangstür leuchtete in roten Neonbuchstaben der Name der Bank: >Raiffeisenkasse<. In fast jedem Kuhdorf der Hohentauern fand man diese schlichten Bankfilialen mit dem roten Namenszug an der Fassade oder auf dem Vordach - zweckmäßig und nach rein praktischen Gesichtspunkten konzipiert.

Bergbauern, Handwerker und Sägewerksbetreiber legten keinen Wert auf Bankgebäude, deren Architektur an Kathedralen oder antike Tempel erinnerte. Kirchen hatten auszusehen wie Kirchen und Banken wie Banken: Büros mit einem Kassenschalter eben. Ordentlich und ein wenig wie staatliche Behörden.

Die Dreitausender um das kleine Kreisstädtchen waren aufregend genug. Genau wie der Fluss, der während der Schneeschmelze manchmal zu einem reißenden Strom anschwoll, oder die anstrengende Landwirtschaft auf dem oftmals steilen Äckern und Weiden. Da konnten die Gebäude der öffentlichen Institutionen ruhig ein wenig Langeweile ausstrahlen. Und das taten die meisten Filialen der Raiffeisenkasse.

Dem Halbwüchsigen, der an diesem Vormittag mit feuchten Händen die Milchglastür zum Schalterraum der Bank aufdrückte, klopfte trotzdem das Herz.

Nicht, weil mit dem Betreten der Bank sechs katastrophale Minuten für ihn anbrachen - sechs Minuten, die sein Leben entscheidend prägen sollten. Das wusste der Dreizehnjährige zu diesem Zeitpunkt, als sich die Eingangstür der Bank scharrend hinter ihm schloss, noch nicht. Wer merkt das schon, wenn sich die entscheidenden Weichenstellungen des Schicksals vollziehen. Im Rückblick dann, sicher, im Rückblick sagt man: Dann und dann ist es geschehen. Jahre später würde auch der junge Wolf Amann das sagen.

Aber jetzt war er nur aufgeregt, weil er zum ersten Mal in seinem Leben Geld abheben wollte. Und zwar Geld, das ihm niemand geschenkt hatte. Geld, das er sich selbst verdient hatte. Mit seinen Händen, mit seinem Schweiß, mit eigener Kraft. Wolf Amann hatte die Sommerferien über als Küchenhilfe in einem Hotel gearbeitet: Geschirrspülen, Putzen, Mülleimer leeren und Kartoffeln schälen - vier Wochen lang.

Zwei Leute standen vor ihm am Kassenschalter. Eine junge Frau und ein Mann in den Vierzigern. Die Frau kannte Wolf flüchtig. Eine Kollegin der ältesten seiner vier Schwestern. Sie war Verkäuferin in einer Bäckerei schräg gegenüber. Er beobachtete, wie sie einen großen Geldschein unter dem Schalterglas hindurchschob. Der Kassierer auf der anderen Seite des Glases, ein dicklicher Endfünfziger in grauem Anzug, legte ihr ein halbes Dutzend Münzrollen in die Schublade.

Den Mann, der jetzt direkt vor ihm stand, kannte Wolf ebenfalls. Hannes Gastein. Er war in den ersten vier Schuljahren sein Klassenlehrer gewesen. Und hatte sich bei Wolfs Vater dafür eingesetzt, dass der Junge das Gymnasium besuchen konnte.

»Na, Wolf - Bankgeschäfte?«, lächelte er.

Wolf murmelte einen Gruß und nickte. Bankgeschäfte - das klang gut. Das klang sogar sehr gut. In seiner Brust schwoll etwas an, und er musste tief durchatmen, damit der Stolz ihm nicht als breites Grinsen aufs Gesicht kroch. Achttausend Schilling abheben - wenn das kein Bankgeschäft war!

Sein ehemaliger Lehrer lächelte immer noch. Und zog dabei fragend die Brauen nach oben.

»Hab' gejobbt in den Ferien«, erklärte Wolf, »und jetzt hol' ich's Geld.«

»Gratuliere.« Gastein machte ein anerkennendes Gesicht. »Größere Anschaffung geplant?«

Noch einmal holte Wolf tief Luft. Stereoanlage, neue Abfahrtski, Moped und anderes schoss ihm für Momente durch den Kopf.

Doch dann sagte er die Wahrheit.

»Einen Computer.«

Er hielt den Atem an, während er die Gedanken seines ehemaligen Lehrers auf dessen Gesicht zu lesen versuchte. Überraschung mischte sich in das Lächeln des Mannes. »Das ist eine lohnende Investition«, sagte er schließlich.

Eine lohnende Investition - Wolf platzte fast vor Stolz. Sein Vater hatte anders reagiert, als er ihn vor einem halben Jahr um Geld für einen gebrauchten Commodore gebeten hatte.

»Schmarren«, hatte sein Vater gesagt, »kommt mir nicht ins Haus, so ein Schmarren!«

Er war Schreinermeister und hatte einen kleinen Betrieb von Wolfs Großvater übernommen. Sein Lebenstraum: dass sein einziger Sohn die Schreinerei eines Tages übernehmen würde.

Wolfs Onkel, der Bruder seines Vaters, hatte ein gutes Wort für den Filius eingelegt. Er war Techniker beim Schieferbergwerk in der Nachbarstadt.

»Dem Computer gehört die Zukunft«, hatte er seinem Bruder in langen, feuchten Nächten auseinandergesetzt.

Und irgendwann hatte der alte Amann gesagt: »Von mir aus. Aber ich zahle keinen Groschen für so einen Schmarren. Sieh zu, wie du an das Geld kommst!«

Das hatte Wolf getan.

Und jetzt lagen fast achttausend Schilling auf seinem Konto.

Zusammen mit seinem Ersparten konnte Wolf damit sogar einen neuen Rechner kaufen.

Und genau das wollte er tun.

Die Frau raffte ihre Münzrollen zusammen und wandte sich vom Kassenschalter ab. Gastein nickte Wolf noch einmal zu, zückte seine Brieftasche und drehte sich zu dem Bankangestellten hinter dem Schalter um.

Und dann ging alles sehr schnell.

Die Frau stieß einen unterdrückten Schrei aus. Wolf sah die Augen des Kassierers sich weiten. Gleichzeitig mit Gastein fuhr er herum.

Das Mädchen stand wie festgewurzelt zwei Schritte vor dem Ausgang, mit hochgezogenen Schultern und die Hände mit der Geldtasche gegen ihre Brust gepresst.

Vor ihr ein Maskierter - rote Turnschuhe, schwarze Zimmermannshose, schwarzes Blouson, schwarze Wollmütze mit Augen und Mundschlitzen bis über das Kinn gezogen.

In seiner Rechten eine Flinte mit abgesägtem Lauf.

»Überfall!«, schrie er und stieß die junge Frau zurück in den Raum. »Keiner rührt sich, sonst knallt's!«

Er richtete die Waffe auf Wolf und Gastein.

»Hinlegen! Auf den Bauch!«

Der Kassierer war aufgesprungen und streckte die Arme in die Luft, als wäre dort eine unsichtbare Stange, an der er sich festhalten konnte. Sein Mund stand weit offen, und Wolf sah für einen Moment eine Reihe von Goldkronen in seinem Unterkiefer.

»Du auch!«, fuhr der Mann die Frau an. Wolf warf sich neben seinen ehemaligen Lehrer auf den Boden.

Plötzlich ein donnerndes Krachen über ihm.

Wolf hob unwillkürlich den Kopf.

Der Maskierte holte zu einem weiteren Schlag mit einem kurzstieligen Vorschlaghammer aus - die Scheibe vor dem Kassenschalter zersplitterte. Die Bruchstücke sausten in den winzigen Kassenraum.

Von dem Kassierer sah Wolf nur das leichenblasse Gesicht mit den weit aufgerissenen, starren Augen und die hoch gestreckten Hände. Er hatte sich bis an die Rückwand des Schalterraums zurückgezogen.

Der Maskierte zog eine Plastiktüte aus der Jacke. »Rein mit dem Geld!«

Wolf konnte seinen Blick nicht von dem Bankräuber losreißen. Breitbeinig stand der Mann drei Schritte vor ihm, vor der zertrümmerten Schalterscheibe, und hielt die abgesägte Flinte auf den Kassierer gerichtet.

Plötzlich sah er sich um. Für einen Moment nur blickte Wolf in das maskierte Gesicht - weite Pupillen zwischen zusammengekniffenen Lidern, und über der Oberlippe glänzte ein feiner Schweißfilm.

»Glotz nicht!«, schrie der Mann. Mit zwei raschen Schritten war er neben dem Jungen und trat zu.

Wolf drückte die Stirn auf den kalten Steinboden, schlang die Arme über Kopf und Nacken. Die Tritte trafen seine Ohren, seine Rippen, seine Nieren ...

»Hören Sie auf!« Gasteins heisere Stimme neben ihm.

Aus den Augenwinkeln sah Wolf, wie der Lehrer das Hosenbein des Maskierten umklammerte, sah, wie der taumelte, sah den kurzen Lauf des Gewehrs senkrecht nach unten in sein Blickfeld stoßen und auf Gasteins Kopf zielen.

Wolf schloss die Augen. Sein Körper krampfte sich zusammen, als der Schuss fiel.

Panik raste seine Beine hinunter, dann hinauf bis in seine Kopfhaut und wieder zurück in die Zehenspitzen.

Der Junge spürte nichts mehr - nicht seine schmerzenden Rippen, nicht den kalten Stein an seiner Stirn, nicht, wie sich sein Darm und seine Blase leerten.

Er sah auch nicht, wie der Maskierte dem Kassierer fluchend die Plastiktüte mit Geld entriss und aus der Bank stürmte.

Endlose Minuten später drang das sich nähernde Signalhorn der Gendarmerie in sein Bewusstsein. Und das Schluchzen der jungen Frau über ihm. Zitternd hob Wolf den Kopf.

Die Frau stand direkt vor ihm, beide Hände auf den Mund gepresst. Ihre tränenverhangenen Augen blickten nicht zu Wolf herunter, sondern zu Gastein.

Der Kopf des Lehrers lag in einer Blutlache. Sein Mund öffnete sich alle vier, fünf Sekunden, und er schnappte nach Luft. Sein Körper bäumte sich immer leicht auf dabei.

Der Kassierer kniete neben ihm. »Heilige Mutter Gottes«, flüsterte er immer wieder. »Heilige Mutter Gottes ...«

Wolf hörte sein Herz durch seine Brust galoppieren, als hätte es sich losgerissen. Sein Unterkiefer schien sich ebenfalls zu verselbstständigen, denn seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Die Gestalt des sterbenden Lehrers verschwamm vor seinen Augen.

Die Intervalle zwischen den schnappenden Atemzügen des Angeschossenen dehnten sich mehr und mehr. Während draußen Bremsen quietschten und Autotüren knallten, zuckte Gasteins Körper zum letzten Mal ...

Spät am Abend brachte ihn ein Polizeiwagen aus der Klinik nach Hause. Seine Schwestern und seine Eltern warteten vor dem Eingang des hell erleuchteten Fachwerkhauses. Und fast zwei Dutzend andere Bewohner des kleinen Bergbauerndorfes.

Im Schein der Außenbeleuchtung erkannte Wolf die glitzernden Spuren zwischen den Bartstoppeln seines Vaters. Nie zuvor hatte er ihn weinen gesehen.

Sie umringten ihn wie eine schützende Eskorte und führten ihn ins Haus.

Drei Tage lang sprach der Junge kein Wort. Stumm hockte er auf der Bank des großen Kachelofens und starrte vor sich hin. Er fand keine Worte, um das zu beschreiben, was er mit hatte ansehen müssen - große Pupillen in den Sehschlitzen einer schwarzen Wollmütze, ein Schweißfilm auf einer Oberlippe, einen sich gierig öffnenden Mund, das letzte Aufbäumen eines Sterbenden ...

Als er nach drei Wochen zum ersten Mal wieder das Haus verließ, begleitete ihn seine älteste Schwester hinunter in die Stadt. Mit zwei großen Paketen kehrten sie Stunden später zurück. Wolfs Herz klopfte, als der >Commodore< endlich auf seinem Schreibtisch thronte.

Von diesem Tag an ging Wolf wieder zur Schule. Äußerlich nahm sein Leben den gewohnten Gang. Abgesehen davon, dass er fast seine gesamte Freizeit vor dem Computer verbrachte.

Oft stand sein Vater außen an seiner Zimmertür und lauschte dem Klappern der Tastatur.

»Weißt du eigentlich schon, was du später einmal beruflich machen willst?«, fragte ihn eines Tages der Psychiater, der ihn in den zwei Jahren nach dem Banküberfall behandeln musste.

»Ja, das weiß ich«, antwortete Wolf, »das weiß ich sogar ganz genau.«

Er blickte in die fragenden Augen des Arztes und schwieg.

 

 

1

Catskill Mountains, New York State, 20. September 1998

Etwa zwanzig Bootslängen vor mir huschte ein grauer Schatten über das flach abfallende Geröllfeld auf das Ufer des Flusses zu. Ich steuerte meinen Kajak näher an die gegenüberliegende Uferseite, legte das Doppelpaddel vor mir über mein Boot und beobachtete das Tier.

Es war ein Waschbär. Ein ziemlich fetter Bursche. Er trug einen länglichen Gegenstand in seiner spitzen Schnauze. Ich war noch zu weit entfernt, um seine Beute identifizieren zu können.

Am Ufer angelangt, griff sich der Waschbär das Ding in seinem Maul und tauchte es ins Wasser des Gebirgsflusses.

Langsam trieb mein Kajak näher.

Seit fünf Tagen hatte ich mich hier in der Wildnis der Catskill Mountains verkrochen. Fünf Tage ohne einen Menschen zu Gesicht zu bekommen, fünf Tage ohne Telefon, Hektik und die vierundzwanzig Stunden am Tag dröhnende Geräuschkulisse des Big Apple. Fünf Tage nur mit mir allein.

Ein ungeplanter Kurzurlaub. »Sie beide müssen mal eine Woche raus«, hatte unser Chef gesagt.

Die letzten Monate waren weiß Gott hart gewesen - wir hatten einen Waffenhändlerring gesprengt, einen Killer durch New York State verfolgt, der einen hochgefährlichen, bakteriologischen Kampfstoff aus Armybeständen geraubt hatte, und ein aufreibender Undercover-Einsatz an der Route 66 lag hinter uns.

Eine kleine Atempause war also angesagt.

Mit Streichhölzern hatten wir ausgeknobelt, wer zuerst fahren sollte. Ausnahmsweise hatte Milo mal den Kürzeren gezogen. Er würde seine Woche Urlaub nach mir antreten.

Mit beiden Pfoten drehte der Waschbär seine Beute im Wasser hin und her. Bis jetzt hatte er mich noch nicht entdeckt.

Er war nicht das erste Wildtier, dass mir in diesen Tagen über den Weg gelaufen war. Gestern hatte ich einen Rudel Rothirsche beobachtet. Und gleich in der ersten Nacht hatte ich tatsächlich einen ausgewachsenen Uhu gesehen.

Wie meistens in der ersten Nacht auf ungewohnter Matratze hatte ich nicht schlafen können. Am Flussufer hatte ich im Gras gelegen und fasziniert den glitzernden Sternenhimmel beobachtet. Im von Abermillionen Watt erleuchteten Manhattan kommt man selten in diesen Genuss.

Plötzlich war über mir die Silhouette der riesigen Eule aufgetaucht. Sie war lautlos über das Wasser gesegelt und dann wie ein Stein in die gegenüberliegende Uferböschung gefallen. Der Todesschrei einer Bisamratte oder eines Kaninchens, Flügelschlagen und das Rascheln fliehender Tiere im Unterholz. Fast eine halbe Stunde lang hatte ich beobachten können, wie der Uhu seine Beute kröpfte.

Bis auf etwa zehn Bootslängen kam ich nun an den Waschbären heran. Dann entdeckte er mich. Er stellte sich auf die Hinterbeine und beäugte mich kurz.

Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich die Beute zwischen seinen Vorderpfoten erkannte - ein knusprig braun gebratener Hühnerschlegel!

Im nächsten Augenblick schoss das Vieh die steinige Böschung hinauf und tauchte ins Unterholz des dichten Waldes ein.

Mir schwante Übles. Ich hatte keinen Camper, Angler öder Pfadfinder in der näheren Umgebung meiner Blockhütte gesehen. Also gab es nur eine mögliche Quelle für angebratene Hühnerbeine ...

Ich paddelte zum Ufer, zog den Kajak an Land und trug ihn hinauf an den Waldrand, wo ich ihn mit Ästen und Zweigen tarnte. Das Doppelpaddel nahm ich mit. Die Hütte lag keine zehn Minuten vom Fluss entfernt auf einer kleinen Waldlichtung. Sie gehörte Orry. Fast jeder aus unserem Team war hier schon einmal in Klausur gegangen. So manches Wochenende hatte ich auch zusammen mit Milo in dem urigen Holzhaus verbracht.

Schon von Weitem bestätigte sich mein Verdacht: Das Dachfenster stand offen. Eine Fichte streckte ihr Geäst bis dicht an das Ziegeldach der Hütte heran.

Als ich die Eingangstür aufstieß, gab es keinen Zweifel mehr: Der Tisch, auf dem ich das Mittagsgeschirr hatte stehen lassen, war leer gefegt. Auf dem Boden: zerbrochenes Glas, Scherben eines Tellers, Besteck und Essensreste, dazwischen angebissene Äpfel und zermanschte Bananen. Und vor dem Herd lag die Bratpfanne in einer fettglänzenden Soßenpfütze. Keine Spur mehr von dem Hühnerschlegel, den ich heute zum Abendbrot hatte essen wollen.

Ich trat wieder hinaus ins Freie.

»Mistvieh!«, brüllte ich in den Wald hinein.

Die nächste Stunde war ich mit Aufräumen und Putzen beschäftigt. Fluchend beseitigte ich das Chaos, das das räuberische Pelzvieh angerichtet hatte.

Danach hatte ich genug von der Einsamkeit. Nichts gegen Gebirgsflüsse, Naturromantik, Eulen und Rotwild - aber fünf Tage reichten. Ich musste mal wieder einen Menschen zu Gesicht bekommen, ein paar banale Sätze mit jemandem reden und mal wieder ein frisch gezapftes Bier trinken.

Der nächste Ort lag eine knappe Autostunde entfernt. Ich rasierte mich, wechselte Hosen und Hemd und holte meinen Sportwagen aus der Wellblechgarage neben der Hütte.

Ein paar Meilen ging es über holprige Waldwege, bevor ich endlich auf eine schmale asphaltierte Straße gelangte.

Links und rechts von mir zogen die Ahornbäume und Buchen vorbei. Erste orangene und ockerfarbene Flecken breiteten sich in ihrem grünen Laub aus. In spätestens drei Wochen würden sich die Wälder hier in ein atemberaubendes Farbenmeer verwandelt haben.

Nach über einer halben Stunde erreichte ich den Highway 28 und konnte endlich aufs Gaspedal treten. Und fünfundzwanzig Minuten später passierte ich den Ortseingang von Woodstock.

In der ortsansässigen Künstlerkolonie hatten hier vor dreißig Jahren einige Größen der Rockmusik gelebt. Jimmy Hendrix und Bob Dylan. Und wenn ich mich recht erinnerte auch Van Morrison.

Das legendäre Musikfestival, das den idyllischen Ort 1969 schlagartig berühmt machte, hatte allerdings sechzig Meilen südwestlich von hier stattgefunden. In Bethel. Ein paar alternative Wohngemeinschaften waren das einzige Überbleibsel dieser glorreichen Tage.

>Woodstock Pizza< verkündete der große Schriftzug auf einer der Holzfassaden eines großen Flachbaus. Genau das Richtige für mich. Ich stellte meinen Sportwagen auf dem Parkplatz ab.

Flüchtig glitt mein Blick über die Kennzeichen der parkenden Wagen: Connecticut, Maine, Ohio, Michigan - fast alle östlichen Bundesstaaten waren vertreten. Sogar texanische Kennzeichen entdeckte ich. Und ein Wohnmobil aus Kalifornien.

Vermutlich alles Altfreaks, die hierherkamen, um in Erinnerungen zu schwelgen.

Ich betrat das Restaurant. Der große Gastraum war nicht mal zur Hälfte gefüllt. Neben ein paar Waldarbeitern und Truckern schienen die meisten der Gäste tatsächlich Touristen zu sein. Genau wie ich.

Ich orderte eine Riesenpizza und Bier vom Fass. Auf einem leeren Stuhl lag die Sonntagsausgabe der >New York Times<. Ohne die Zeitung anzurühren, überflog ich die Schlagzeilen >Rechtsausschuss des Kongresses gibt die Videobänder des Präsidenten-Verhörs vor der Grand Jury zur Veröffentlichung frei< >Hurrikan George tobt auf der Karibik zu< ...

Das reichte mir. Ich beschloss, meine in den fünften Tag gehende Nachrichtenabstinenz noch ein Weilchen durchzuhalten. Die großen und kleinen Katastrophen konnten warten, bis ich mich übermorgen in der Federal Plaza zurückmelden würde. Als ich meine Lederjacke auszog und über die Stuhllehne hängte, fiel mein Blick auf das Handy. Es ragte aus der Innentasche heraus und schien mich vorwurfsvoll anzugucken. Ich hatte es auf Mailbox umgestellt und seit vier Tagen nicht mehr hineingehört. Trevellian in Urlaub - unerreichbar und nicht zu stören.

Ich zögerte.

Bis deine Pizza im Holzofen durchgebacken ist, kannst du ruhig mal in die Box hören, sagte ich mir. Um ehrlich zu sein: Es gab da eine gewisse Lady, über deren Anruf ich nicht ganz unglücklich gewesen wäre.

Also zog ich das lästige Gerät heraus und tippte die Nummer meiner Mailbox in die Tastatur.

Ich hätte es bleiben lassen sollen - wenigstens noch vierundzwanzig Stunden lang.

Drei Anrufe waren auf der Box gespeichert. Und einer tatsächlich von der gewissen Lady - Sarah Boyle. Ein paar Tage vor meinem Urlaub war ich zum ersten Mal mit der Nachrichtensprecherin von CBS essen gewesen. Leider wirklich nur essen. Jetzt teilte sie mir mit, dass sie vier Wochen an der Westküste zu tun hätte. Schade.

Der zweite Anruf von Orry Medina. »Ich hab' was vergessen, Jesse - du musst unbedingt darauf achten, die Fenster zu schließen. Ein Waschbär hat sich in der Nähe der Hütte angesiedelt. Ein verdammt frecher Bursche. Vor dem ist nichts sicher ...«

Ich verdrehte die Augen. »Vielen Dank, Kollege«, murmelte ich, »herzlichen Dank für die Warnung ...«

Der dritte Anruf schließlich von Mr McKee. Er hatte erst im Laufe des Vormittags versucht, mich zu erreichen. Im Telegrammstil bat mich unser Chef um Rückruf.

Es lag auf der Hand, was das zu bedeuten hatte: Mein Kurzurlaub war beendet!

Ich versuchte, meine Pizza und mein Bier zu genießen, so gut es eben ging. Danach rief ich die Zentrale in Manhattan an.

»FBI District Office New York, was kann ich für Sie tun?« Die Altstimme unserer Chef-Telefonistin. Nach fünf Tagen Einsamkeit in der Wildnis schien sie mir noch eine Spur erotischer zu klingen als sonst.

»Trevellian hier. Hi, Linda - wie geht's?«

»Hallo, Jesse! Hast du etwa Sehnsucht nach uns?«

So schlimm war es nicht. Aber ich konnte nicht leugnen, dass es mir guttat, eine vertraute Stimme zu hören. »Muss ich mal drüber nachdenken, Linda. Sicher ist aber, dass der Chef Sehnsucht nach mir hat. Er hat mir nämlich auf die Mailbox gesprochen. Kannst du mich mal eben mit ihm verbinden?«

»Mach' ich - bye, bye, Jesse!«

Ein paar Sekunden später die Stimme von Mr McKee. »Hallo, Jesse. Schön, dass Sie sich gleich melden. Tut mir wirklich leid, Sie im Urlaub stören zu müssen, aber ich hab' da ein Problem.«

Mein Verdacht schien sich also zu bestätigen. »Mein Urlaub ist zu Ende, stimmt's?«

»Na ja - so schnell noch nicht. Aber wenn Sie einen Tag früher zurückkommen könnten, wäre ich Ihnen dankbar. Ich habe keinen Agenten frei im Augenblick und brauche Sie dringend. Oder genauer gesagt: Norman Ruther braucht Sie.«

»Ruther? Was hat der denn für Sorgen?« Norman Ruther war Inspector der New York City Police und leitete die >Bank Robbery Task Force<. In dieser Spezialeinheit ermittelten Beamte der New York City Police und Agenten des FBI gemeinsam in Fällen von Bankraub. Insofern arbeiteten wir immer wieder eng mit Ruther zusammen. Ich kannte ihn gut.

»Das ist mit wenigen Worten am Telefon nicht zu sagen ...« Der Chef räusperte sich und legte eine Denkpause ein. »Vielleicht so viel: Es geht um einen jungen Informatiker, der eine brisante Software für Sicherheitssysteme in Banken entwickelt hat. Er hat sie verschiedenen Banken hier in Manhattan angeboten. Die >Transatlantic Traffic Bank< hat uns den Tipp gegeben. Der Mann läuft mit seiner Software in der Tasche herum, und die Bankleute glauben, man sollte ein Auge auf ihn haben. Norman und ich sehen das genauso.«

»Verstehe«, sagte ich, »und ich soll ihn observieren.«

»So ungefähr. Wenn die Software in falsche Hände gerät, wäre das fatal. Die Sache ist übrigens schon bis nach Washington vorgedrungen. Ich habe heute Morgen mit Director Sessions gesprochen. Es geht also um eine Chefsache, wenn ich das mal so formulieren darf.«

»Verstehe«, brummte ich. Obwohl ich nicht allzu viel verstand. »Wann soll ich zurückkommen?«

»Die >Transatlantic Traffic Bank< hat am Mittwochvormittag einen Termin mit dem Mann vereinbart. Wir sind gerade dabei, seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Morgen werden wir sicher wissen, in welchem Hotel er abgestiegen ist. Ruther will dann vorübergehend ein paar Kollegen von der New York City Police in seiner Nähe postieren. Wenn Sie ihn spätestens ab Dienstag unter ihre Fittiche nehmen könnten, wären wir alle sehr beruhigt, Jesse.«

»Das heißt, ich sollte spätestens morgen Nachmittag an der Federal Plaza sein.«

»Wenn sich das machen ließe, wäre es wirklich fein, Jesse.«

»Okay, Sir, bis morgen.«

Fast alles lässt sich machen. Es ließ sich ja auch machen, mich in einen ungeplanten Urlaub zu schicken. Warum sollte ich ihn nicht ungeplant beenden, wenn die Firma rief.

Sicher - ich wäre gern noch einen Tag geblieben. Schon, um den räuberischen Waschbären aufzustöbern und ein wenig zu ärgern. Aber der Gedanke, in weniger als vierundzwanzig Stunden wieder zu Hause in Manhattan zu sein, hatte auch etwas für sich.

Ich griff mir nun doch die Zeitung und vertiefte mich in den Bericht über den Hurrikan. Im Laufe des nächsten Tages würde George die Dominikanische Republik erreichen. Weit über tausend Meilen entfernt von Woodstock. Die Menschen auf den Inseln dort hatten keine Möglichkeit, vor ihm zu fliehen.

Der Sturm, der sich über mir zusammenbraute, war noch knapp hundertfünfzig Meilen entfernt. Und statt zu fliehen, würde ich ihm morgen entgegenfahren.