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Silvia Stolzenburg

Blutfährte

Thriller

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Die Salbenmacherin und der Bettelknabe (2016), Die Salbernmacherin (2015)

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Andrey_Kuzmin / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5374-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Widmung

Für Effan, die Leichtigkeit in meinem Leben

Prolog

Ein Wald, Mai 2016

Er hörte die Verfolger durchs Unterholz brechen. Obwohl sie sich bemühten, ihm geräuschlos nachzustellen, waren sie wie eine Horde Elefanten: schwerfällig, laut und schon von Weitem zu sehen. Mehr oder weniger ungeschickt kämpften sie sich durch das Gestrüpp, stolperten über Steine, Äste und ihre eigenen Füße. Alle paar Meter hob ihr Anführer die Hand und lauschte in die Nacht – als erwarte er, dass ihr Gegner sich genauso auffällig benahm wie sie. Sie waren zu sechst. Jeder von ihnen steckte in einem Flecktarn-Kampfanzug, einer trug zudem schusssichere Weste und Helm. Von ihren Hälsen baumelten Sturmgewehre, und zwei der Männer umklammerten Faustfeuerwaffen, die sie beidhändig vor sich her trugen.

Was für eine Versammlung von Witzfiguren!, dachte der Beobachter. Im Schutz der Eiche, in deren Laub er sich verbarg, verfolgte er, wie die Männer bei einem Stapel gefällter Bäume anhielten, um sich suchend umzusehen. Die Optik seines Nachtsichtgerätes verlieh ihren Schemen einen Grünstich, sodass sie wirkten wie Wesen aus einer anderen Welt. Auf ein Handzeichen des Truppführers hin rückten sie näher zusammen. Auch sie trugen Nachtsichtbrillen, da die Dunkelheit nahezu undurchdringlich war. Lediglich hie und da lugten ein paar Sterne zwischen den Wolken hervor. Einige Zeit lang fuchtelten sie in der Luft herum, zeigten hierhin und dorthin, nickten und schüttelten die Köpfe, bis sie sich schließlich aufteilten. Drei Gruppen zu jeweils zwei Mann. Der Beobachter drehte an der Einstellschraube seines Fernglases und spannte die Muskeln. Nicht mehr lange, dann würden sie ihm direkt in die Falle laufen! Er verkniff sich ein Lachen. Es war beinahe zu einfach. Fast als würde man einem Kind den Schnuller wegnehmen.

Nach einem weiteren kurzen Austausch von Gesten stahlen sie sich in Richtung Süden, Osten und Westen davon. Den Norden, wo das verlassene Dorf lag, ignorierten sie, da nur ein blutiger Anfänger sich an diesem offensichtlichen Ort verschanzt hätte. Während er sich bemühte, ruhig und regelmäßig zu atmen, wog der Mann im Baum ab, welche Gruppe am leichtesten zu neutralisieren war. Wie unglaublich arrogant anzunehmen, dass sie ihm zu zweit gewachsen waren! Er rutschte lautlos einige Zentimeter auf dem Ast nach vorne, um die drei Gruppen besser im Blick behalten zu können. Die nach Osten und Westen davonschleichenden Gegner kehrten ihm den Rücken zu. Doch die beiden Männer, die ungeschickt auf sein Versteck zu stolperten, waren leichte Beute.

»Pass doch auf!«, zischte einer von ihnen, als der andere auf einen Ast trat. Das Knacken war weithin vernehmbar und schreckte einen Nachtvogel auf, der schimpfend das Weite suchte.

»Scheiß Wurzeln!«, war die gepresste Antwort.

Der Mann im Baum verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. Beinahe schämte er sich für das, was er gleich tun würde. Allerdings nur beinahe, da die beiden bis an die Zähne bewaffnet waren. Er robbte ein weiteres Stück nach vorn und spähte in die Dunkelheit. Das Messer – seine einzige Waffe – steckte noch in seinem Gürtel. Er hatte keine Lust, es zu verlieren und in dem moosigen Waldboden danach suchen zu müssen. Ohnehin würde er es nur einsetzen, wenn sein Leben in unmittelbarer Gefahr war – was bei diesen Trampeltieren vollkommen unwahrscheinlich war. Er verharrte regungslos, bis einer der beiden Männer in die Hocke ging, um den feuchten Boden nach Spuren abzusuchen. Sein Begleiter stand neben ihm und behielt die Umgebung im Blick.

»Kannst du was erkennen?«, flüsterte er schließlich.

Die gebrummte Antwort war unverständlich.

Der Beobachter nutzte den Augenblick, um sich geschmeidig wie eine Katze an dem Seil, das er um einen dicken Ast geschlungen hatte, nach unten gleiten zu lassen. Am Boden angekommen, verharrte er einige Herzschläge lang auf der Stelle. Der Geruch der feuchten Erde stieg ihm in die Nase, vermischte sich mit dem Duft des Harzes und der Tannennadeln. Zu seiner Linken glühten die Augen eines Fuchses im Dickicht. Er wartete, bis die beiden sich wieder in Bewegung setzten, dann schlich er ihnen hinterher. Als er sie schließlich direkt vor sich sah, hob er einen Stein auf und schleuderte ihn weit von sich.

»Was war das?«, wisperte einer von ihnen. Während er sich der Richtung zuwandte, aus der das Geräusch des auftreffenden Steines gekommen war, schnellte der Beobachter vor. Im Bruchteil einer Sekunde presste er seinem Opfer von hinten die Linke auf Mund und Nase, zog dessen Kopf an seine Schulter und drückte den Daumen der anderen Hand in die Halsschlagader des Mannes. Als der so Überwältigte zu Boden glitt und dabei ein Rascheln verursachte, wirbelte sein Begleiter herum. Bevor er die Waffe heben und auf seinen Gegner zielen konnte, gelangte der ihm mit zwei ausgreifenden Schritten in den Rücken. Blitzschnell rammte er dem Ahnungslosen die Knöchel seiner Rechten zwischen Lenden- und Brustwirbel, sodass er gelähmt zusammensackte. Ohne auch nur einen Augenblick zu verschwenden, zückte der Beobachter eine Handvoll Kabelbinder und fesselte den beiden Arme und Beine. So verschnürt ließ er sie liegen und machte sich auf, um die restlichen vier Gegner auszuschalten.

Dem zweiten Trupp erging es wie dem ersten. Doch als er sich der dritten Zweiergruppe näherte, ließ ihn eine Bewegung am Waldrand mitten im Laufschritt innehalten. Was war das? Er drehte den Kopf, um besser sehen zu können, entdeckte jedoch nichts Ungewöhnliches. Die beiden Verfolgten trotteten etwa 30 Meter vor ihm über ein Stück freies Feld, das von stacheligen Wacholderbüschen begrenzt wurde. Er kauerte sich hinter einen Felsen und rückte das Nachtsichtgerät zurecht. Da war es wieder. Kaum wahrnehmbar bewegten sich die untersten Äste einer Reihe junger Tannen. All seine Sinne schärften sich. War noch jemand auf dem Gelände? Er ließ sich auf den Bauch fallen und kroch vorsichtig so weit hinter dem Felsen hervor, dass er besser sehen konnte.

Nichts.

Fast zehn Minuten lang verharrte er in dieser Position, ehe er sich wieder aufrappelte, um die Verfolgung fortzusetzen. Vermutlich war es nur der Fuchs gewesen. Er schüttelte das ungute Gefühl ab, das ihn trotz allem immer noch beschlich, und nahm die Fährte wieder auf. Während der aufkommende Wind die Wolken über den Nachthimmel trieb, nutzte er jede nur mögliche Deckung, um sich an die beiden Männer heranzustehlen. Als er sie schließlich in einer Senke bei einem kleinen Kiefernwäldchen einholte, fackelte er nicht lange. Den ersten Gegner packte er am Arm, drehte ihn brutal zu sich um und rammte ihm den angewinkelten Ellenbogen unters Kinn. Der Mann ging wie ein gefällter Baum zu Boden. Der zweite stieß einen Wutschrei aus und riss sein Sturmgewehr in die Höhe. Allerdings hatte er den fatalen Fehler begangen, es vom Schulterriemen zu lösen. Daher war es ein Leichtes für den Angreifer, die Bewegung zu seinem Vorteil zu nutzen. So überraschend, dass sein Gegner keine Zeit hatte zu reagieren, machte er einen Schritt auf ihn zu, schlug die Waffe mit dem einen Arm zur Seite und umklammerte mit dem anderen den Hals des verdutzten Mannes. In Sekundenschnelle schmetterte er ihn rücklings zu Boden, kniete sich über ihn und presste die Hand in seinen Kehlkopf. Mit der Linken nahm er ihm das Gewehr ab.

»Keine Bewegung«, warnte er.

Doch der am Boden Liegende ignorierte die Warnung. Angestachelt von Wut und dem blinden Willen zu überleben versuchte er sich zu befreien und griff nach dem Messer des Gegners. Obwohl ihn dessen Würgegriff eigentlich bewegungsunfähig hätte machen müssen, gelang es ihm, die Waffe zu ergreifen und sie seinem Bezwinger in den Arm zu treiben.

Der Schmerz durchzuckte den Beobachter so unerwartet, dass er seinen Griff einen Augenblick lang lockerte. Diesen Moment nutzte der Mann am Boden aus, um sich zur Seite zu rollen, sich aufzurappeln und mit dem Messer auf ihn loszugehen. Ehe der eben noch Überlegene sich versah, traf ihn die Klinge ein zweites Mal. Doch als sein Gegner ein drittes Mal ausholte, wehrte er die Attacke ab, entwand ihm die Waffe und setzte zu einem tödlichen Gegenangriff an. Die Klinge war gerade im Begriff, auf den ungeschützten Hals niederzusausen, als ihn etwas mit solcher Wucht an der Schulter traf, dass er zur Seite geschleudert wurde. Bevor er begriff, was passiert war, zerschmetterte ihm ein zweites Geschoss den Schädel.

Kapitel 1

Ulm, Bundeswehrkrankenhaus, 19. Mai 2016

Es war eine dieser Nächte, in denen es Sanitätshauptfeldwebel Tim Baumann schwerfiel, nicht im Dienst einzuschlafen. Seit Stunden kämpfte er mit Kaffee gegen die Müdigkeit an und schwor sich, das nächste Mal deutlichere Worte für seine übergewichtige Nachbarin zu finden. Stundenlang war ihr verzogener Sohnemann wieder mit seinem verdammten Bobby Car vor Tims Schlafzimmerfenster auf und ab geholpert und hatte aus vollem Hals »Wiuwiuwiuwiu« gebrüllt. Einerseits war es bemerkenswert, was für eine Ausdauer der Dreikäsehoch an den Tag legte, andererseits machte das Geschrei Tim immer aggressiver, weil es ihm den Schlaf raubte.

»Ist doch nicht mein Problem, dass Sie nachts arbeiten«, hatte die dicke Mutti beim letzten Mal patzig erwidert, als er sie gebeten hatte, mit dem Bengel auf den Spielplatz zu gehen. »Sie sind wohl auch so ein Kinderfeind?«

Eigentlich war er das nicht, dachte Tim, als er sich im Pausenraum gegenüber des Schockraums einen weiteren Kaffee eingoss. Aber wenn der kleine Hosenscheißer nicht bald etwas anderes fand, mit dem er sich beschäftigen konnte, würde Tim ihm den Hals umdrehen! Er ließ sich auf einen der grauen Stühle fallen und stützte die Ellenbogen auf die gelbe Plastiktischdecke mit der Aufschrift »Break«. Irgendein guter Geist hatte eine Dose Haribo Schlümpfe, eine Prinzenrolle und einen Teller voller Äpfel auf den Tisch gestellt. Allerdings war Tim im Moment eher nach etwas Herzhaftem. Daher schob er sich einen Fünf-Minuten-Terrine Gulaschtopf in die Mikrowelle und löffelte wenig später die dampfende Suppe in sich hinein. Seine beiden Kollegen und der diensthabende Oberfeldarzt waren in dessen Büro verschwunden – vermutlich, um noch einmal kurz über den Patienten zu reden, der vor einigen Stunden eingeliefert worden war. Ein Autounfall. Tim fluchte, als er sich an der heißen Suppe den Gaumen verbrannte. Während er hastig einen Schluck Mineralwasser nahm, wanderte sein Blick zum nebenan gelegenen Schockraum. Nichts erinnerte mehr an das Chaos, das dort kurz nach der Einlieferung geherrscht hatte. Zusammen mit den beiden Chirurgen, dem Anästhesisten, dem Radiologen und einem Röntgenassistenten hatten sie den Verunfallten nach dem ATLS – dem Advanced Trauma Life Support – versorgt. Tim fragte sich, ob der Junge sein Bein behalten würde. Es hatte übel ausgesehen, und die Blicke zwischen dem Oberfeldarzt und einem der Chirurgen hatten Bände gesprochen. Aber das war nicht sein Problem. Er schob den Gedanken beiseite und pustete in seine Gulaschsuppe. Hätte der Junge besser aufgepasst, wäre er sicher nicht mit überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen. Er starrte aus dem Fenster, vor dem sich tagsüber die Bagger durch den Dreck wühlten. Allerdings blickte ihm, dank der Dunkelheit, nur sein eigenes Spiegelbild entgegen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, die in alle Himmelsrichtungen abstanden. Dann schielte er auf seine Uhr. Kurz nach drei. Er unterdrückte ein Stöhnen. Ob die Nacht jemals zu Ende gehen würde? Nachdem er seine Suppe ausgelöffelt hatte, spülte er den Plastikbehälter aus und warf ihn in den gelben Sack. Dann griff er nach einer Autozeitschrift und blätterte lustlos darin herum.

»Baumann, kommen Sie mal in mein Büro«, riss ihn eine halbe Stunde später die Stimme des diensthabenden Arztes aus der dösenden Betrachtung eines Sportwagens.

Bevor Tim etwas erwidern konnte, war sein Chef schon wieder verschwunden, weshalb er ihm zum Bereitschaftsraum hinterher trottete. Von seinen beiden Kollegen war weit und breit keine Spur mehr zu entdecken.

»Kommen Sie schon«, sagte der Notarzt schroff. Er saß auf einem Drehstuhl an seinem grünen Schreibtisch und sah einen Stapel Akten durch. Irgendwie wirkte er angespannt – etwas, das Tim in letzter Zeit schon öfter aufgefallen war. »Der Autounfall von vorhin ist auf die Intensivstation verlegt worden«, informierte er Tim. »Bringen Sie ihm die Patiententüte hoch.«

Tim nickte. Wenn es weiter nichts war. »Wie geht es ihm?«, fragte er.

»Wird durchkommen«, brummte der Oberfeldarzt.

»Sonst noch was?«, erkundigte sich Tim.

Sein Chef schüttelte den Kopf. Er schien mit den Gedanken bereits wieder woanders zu sein, da er nervös aus dem Fenster sah und mit dem Telefon auf seinem Schreibtisch spielte.

Tim zuckte die Achseln, kehrte dem Raum den Rücken und holte die persönlichen Gegenstände des Patienten aus dem Schockraum. Vieles davon war blutig und würde nicht mehr zu gebrauchen sein. Aber oft spendete der Anblick der vertrauten Sachen den Verletzten wenigstens ein bisschen Trost, wenn sie aus der Narkose aufwachten und begriffen, was passiert war. Er versicherte sich, dass sie nichts vergessen hatten, ehe er sich auf den Weg zum Personaleingang machte. Die langen Gänge mit dem grauen PVC-Boden waren vollkommen verwaist. Wie immer war es – nach Tims Ansicht – viel zu warm, weshalb er froh war, als er den kühleren Bereich außerhalb der Notaufnahme erreichte. Er wandte sich nach rechts, wo sich neben der »Anmeldung Kardiologie« der schwarze Würfel befand, in dem die Lifte untergebracht waren. Zusammen mit einem grantigen Opa im Morgenmantel, der seinen Tropf neben sich herschob, fuhr er in den zweiten Stock hinauf zur Intensivstation. Dort erledigte er seinen Auftrag und machte sich etwa zehn Minuten später wieder auf den Weg nach unten. Da der Zutritt zur Notaufnahme nur Befugten gestattet war, benötigte Tim beim Personaleingang seinen Transponder, um die Tür zu bedienen, die sich mit einem Summen öffnete. Augenblicklich spürte er, dass etwas anders war als vorhin. Ein merkwürdiger Geruch lag in der Luft, und auf dem Weg zurück zum Pausenraum wäre er um ein Haar mit seinen beiden Kollegen zusammengestoßen. Diese schoben eine Bahre mit einem bewegungslosen zugedeckten Körper darauf und schienen zu erschrecken, als sie Tim sahen.

»Was ist denn hier los?«, fragte er verdutzt. Sein Blick wanderte von der Bahre zu den beiden Pflegern und zurück. »Wo kommt der denn her?« Er war doch kaum zehn Minuten fort gewesen!

Einen Augenblick lang herrschte angespanntes Schweigen. Dann antwortete der Mann am Kopfende der Trage knapp: »Der kam rein, als du oben warst.« Er hob bedauernd die Schultern. »War nichts mehr zu machen.«

Tim wollte etwas erwidern, doch die beiden drängten sich hastig an ihm vorbei.

»Er muss in die Pathologie«, sagte der Pfleger am Fußende der Bahre überflüssigerweise. »Du weißt ja, wie es ist …« Sein Lächeln war eher steif als entschuldigend.

Tim öffnete den Mund, um ihnen eine Frage hinterherzuschicken, aber sie hatten es mehr als eilig. »Seltsam«, murmelte er und lehnte sich mit dem Rücken an die kühle Wand, während er ihnen nachblickte. Wurde er langsam paranoid? Oder waren es wirklich zu viele Zufälle in letzter Zeit? Dieser Vorfall war bereits der dritte innerhalb der vergangenen zwei Monate, und allmählich kam ihm die Sache spanisch vor. Konnte es tatsächlich höhere Gewalt sein, dass ausgerechnet er drei Mal abwesend war, wenn Unfallpatienten eingeliefert wurden, die bereits im Rettungswagen verstorben waren? Und war es nicht merkwürdig, dass ihn sein Chef jedes Mal fortgeschickt hatte, um etwas ins Labor oder auf die Intensivstation zu bringen? Er rieb sich das Kinn. Allmählich fragte er sich, ob er zu viele schlechte Filme sah, oder ob der unbestimmte Verdacht, der sich irgendwo tief in ihm einnisten wollte, berechtigt war.

Während er vor sich hin grübelte, stürmte plötzlich der Arzt an ihm vorbei, einige Papiere in der Hand, die Wangen hektisch gerötet. Als er Tim sah, trat ein beinahe feindseliger Ausdruck in seinen Blick. »Halten Sie hier die Stellung«, befahl er barsch. »Ich bin in der Pathologie.« Kein überflüssiges Wort, keine weitere Erklärung.

Tim nickte, aber sein Chef war bereits weitergehastet. »Sicher«, murmelte er. »Zu Befehl.« Er kniff die Augen zusammen, wartete, bis er eine Tür ins Schloss fallen hörte, und fasste einen Entschluss. Was auch immer hier faul war, er würde es herausfinden! Nachdem er kurz in die Stille gelauscht hatte, bog er in einen Korridor ein, passierte den Noteingriffsraum, die Notfallkabinen und den Funkraum und betrat wenig später das Bereitschaftszimmer seines Chefs. Auf dem Schreibtisch lagen mehrere Akten übereinander. Aus einer davon lugte ein Leichenschauschein. Tim schlug den Aktendeckel auf und überflog den Schein. »Todesart: natürlich«, las er. Außerdem fand sich ein Vermerk in dem Dienstbuch, dass kein anderer Arzt zum Schockraum hinzugezogen worden war, weil der Patient bei Ankunft angeblich bereits verstorben war. Tim spürte ein Prickeln über seine Kopfhaut kriechen. Sein Verdacht verstärkte sich. Konnte es wirklich sein, dass er sich so in seinen Kollegen und seinem Vorgesetzten getäuscht hatte? War es möglich, dass ausgerechnet in seiner Schicht so etwas passierte? Bevor er darüber nachdenken konnte, was für Folgen sein Tun haben würde, schnappte er sich die Akte und lief damit in den Computerraum. Dort befand sich auch ein Kopierer. Mit zitternden Händen schob er den Stapel Papier in den automatischen Einzug. »Mach schon, mach schon, mach schon«, drängte er. In dem kleinen Kabuff schien es immer heißer zu werden. Als der Kopierer endlich die letzte Seite ausspuckte, stopfte er die Papiere in seinen Hosenbund und verstaute die Originale wieder zwischen den Aktendeckeln. Dann flitzte er zurück zum Büro seines Chefs. Doch bevor er es betreten und das Dienstbuch zurück auf den Schreibtisch legen konnte, bogen der Arzt und die beiden Pfleger um die Ecke.

»Was tun Sie da, Baumann?«, herrschte sein Chef ihn an. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Ich …«, stammelte Tim.

»Verdammt!«, fluchte einer seiner Kollegen. »Er hat das Dienstbuch!«

Tims Blick zuckte von einem zum anderen, während er versuchte zu verstehen, in was er durch seine Neugier hineingestolpert war. Wenn sein Verdacht stimmte … Er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.

»Schnappt ihn euch!« Die Worte des Oberfeldarztes waren kaum lauter als ein Flüstern.

Dennoch trafen sie Tim wie ein Faustschlag. Die Furcht fuhr ihm in die Glieder, als seine Instinkte seinem Verstand die Kontrolle abnahmen. Noch bevor er begriff, was er tat, ließ er die Akte fallen, machte auf dem Absatz kehrt und rannte auf den einzigen Ausgang weit und breit zu. Die Türen des Schockraums führten direkt zu dem Parkplatz, auf dem die Notarzteinsatzfahrzeuge, die Krankentransport- und die Rettungswagen standen.

»Los, hinterher!«, hörte er seinen Chef rufen. Dann brüllte er etwas in einer Sprache, die Tim nicht verstand.

Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass der Arzt mit jemandem telefonierte. Während Tim hektisch die Tür aufstieß, zog sich sein Magen zusammen. Gott, in was hatte er sich da nur reingeritten? Er stolperte auf den überdachten Parkplatz hinaus und sah sich panisch um. Die Ausfahrt wurde von einem gelben Krankentransporter blockiert, dessen Türen sich in diesem Moment öffneten. Zwei stämmige Männer mit schwarzem Haar und dunkler Haut sprangen zu Boden. Einer von ihnen nahm ein Handy vom Ohr und gestikulierte in Tims Richtung.

Erneut rief sein Chef etwas in einer fremden Sprache, und zu seinem grenzenlosen Entsetzen sah Tim, dass einer der Männer ein Messer zog.

»Heilige Scheiße!«, stieß er hervor. Er sprintete weiter, aber die dunkelhäutigen Männer schnitten ihm den Weg ab. Während er wie ein gehetztes Tier nach einem Ausgang suchte, blieb sein Blick an einer roten Doppeltür haften. Die EVA! Die erdversenkte Anlage! Er riss seinen Dienstschlüsselbund aus der Tasche, kam heftig atmend vor der roten Tür zum Stehen und öffnete mit zitternden Händen das Schloss. Dann stürmte er die Treppen hinab in den stillgelegten Bunker. Es blieb keine Zeit, um die Tür hinter sich zu schließen. Während er die metallenen Stufen hinab rannte, hörte er die trampelnden Schritte seiner Verfolger hinter sich. Viel Vorsprung hatte er nicht. Je tiefer er kam, desto dunkler wurde es, sodass er schließlich nach seiner Pupillenleuchte griff, um diese kurz aufblitzen zu lassen. In einem Gang zu seiner Linken sah er einen Aufzug, ein paar Wegweiser und das, was er gesucht hatte: einen fluoreszierenden Streifen mit der Aufschrift »Verbindungsflur B«. Diese Streifen durchzogen das gesamte Labyrinth an Gängen, Laboren, Operationssälen und Büros, damit man sich im Fall einer atomaren Katastrophe in dem Bunker zurechtfand. Ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie leicht man sich in der EVA verirren konnte, stürmte Tim den Flur entlang, stieß sich an einem Verteilerkasten, rannte weiter und landete schließlich in einer Sackgasse: dem ABC Dekontaminierungsbereich mit Duschen, Badewanne und Ankleideraum. Die gekachelten Wände verliehen diesem Bereich etwas Unheimliches, doch Tim hatte anderes im Kopf, als sich ein Schreckensszenario aus dem Kalten Krieg auszumalen. Er versuchte, seinen keuchenden Atem zu beruhigen, und lauschte in die Dunkelheit. Das Trampeln der Verfolger schien aus größerer Entfernung zu kommen als noch vor wenigen Augenblicken, allerdings waren ihre wütenden Stimmen noch gut zu vernehmen. Mit einer Verwünschung auf den Lippen machte er kehrt und hastete weiter den Gang entlang. Er durfte keine Zeit verlieren! Wenn sie ihn erwischten, würde er vielleicht für immer tief unter der Erde verschwinden. So selten, wie der Bunker betreten wurde, konnte er hier monate-, wenn nicht gar jahrelang liegen, ohne dass ihn jemand entdeckte. Die Furcht, die ihm im Nacken saß, verlieh ihm Flügel und ließ ihn ohne Rücksicht auf Stolperfallen weiter die Korridore entlang jagen. Der winzige Lichtkegel seiner Pupillenleuchte malte gespenstische Schatten an die Betonwände, beleuchtete Türen mit der Aufschrift »Technik«, »Erste Hilfe«, »Frischoperierte« und »OP-Vorbereitung«. Zu seiner gewaltigen Erleichterung fand er an der nächsten Weggabelung einen fluoreszierenden Schriftzug, der ihm mitteilte, dass er sich auf dem »Fluchtweg Nord-West« befand. Gott sei Dank! Wenn ihn sein Orientierungssinn nicht täuschte, konnte der Notausgang nicht weit sein. Dieser würde ihn in den Bereich führen, den das Krankenhaus als Parkhaus und Materiallager nutzte. Wenn er ihn erreichte, konnte ihm die Flucht vor den Verfolgern gelingen. Als er an einer Tür mit der Aufschrift »Sterilisation« vorbeikam, schoss ihm ein Einfall in den Kopf. Sollte man ihn schnappen, würde man ihm die Papiere abnehmen. Sollte ihm jedoch die Flucht gelingen … Das Risiko war zu groß. Offenbar stand in der Akte, die er kopiert hatte, etwas, das von solcher Wichtigkeit war, dass sein Chef bereit war, dafür über Leichen zu gehen. Denn Tim zweifelte keine Sekunde daran, dass es hier um weitaus mehr ging als um ein Disziplinarverfahren, weil er Befehle missachtet hatte. Ohne lange darüber nachzudenken, eilte er in den Raum, in dem sich riesige Reinigungsapparate aus Edelstahl befanden. Er wählte die hinterste der drei Trommeln, legte die Papiere hinein und schloss die Tür. Dann verließ er den Raum und rannte so schnell er konnte auf die Schleuse vor dem Notausgang zu. Der Abstecher in den Sterilisationsraum hatte ihn wertvolle Sekunden gekostet, weshalb seine Verfolger aufgeholt hatten und inzwischen so nah waren, dass Tim ihre Schatten an den Wänden sehen konnte. Offenbar benutzten auch sie Taschenlampen. Mit rasendem Herzen und vor Erschöpfung schwachen Händen packte er den Hebel, mit dem sich die Metalltür mit der Aufschrift »Notausgang Nord-West letzte Tür« öffnen ließ. Als diese schließlich quietschend nachgab und er in den tiefgaragenähnlichen Bereich davor hinaus stolperte, hätte er vor Erleichterung beinahe geweint. Allerdings blieb ihm nicht einmal die Zeit, um etwas zu verschnaufen, da er seine Verfolger hinter sich auftauchen sah.

»Da ist er!«, rief einer der Pfleger.

»Bleib stehen, du Idiot!«, brüllte der andere.

Ich bin doch nicht bescheuert!, dachte Tim und sprintete an einem eingemotteten Schneeräumfahrzeug vorbei auf die schiefe Ebene der Einfahrt zu. Vorbei an vier am Rand geparkten Rettungswagen stob er auf den vergitterten Eingang zu, bis er die Tür in einem der Segmente erreichte. »Verdammt!«, fluchte er, als er erfolglos an der Klinke rüttelte. Die Tür war verschlossen, und für diesen Bereich befand sich kein Schlüssel an seinem Bund. Die Angst saß ihm wie ein Tier im Nacken, als er sich von dem Gitter abwandte und die Verfolger auf sich zustürmen sah. Es gab nur einen einzigen Ausweg! Unter Aufbietung seiner letzten Reserven sprintete er auf das vorderste der geparkten Fahrzeuge zu, riss dessen Tür auf und warf sich auf den Fahrersitz. Es dauerte einige Sekunden, bis er den richtigen Schlüssel fand – so lange, dass in dem Augenblick, in dem er das Fahrzeug startete, eine Hand nach dem Türgriff fasste. Bevor der Mann die Tür jedoch öffnen und Tim ins Freie zerren konnte, gab er mit einem Aufheulen des Motors Gas und raste auf die vergitterte Einfahrt zu.

Kapitel 2

Eine Kleinstadt in der Nähe von Ulm, 25. Mai 2016

»Vergiss nicht, was wir besprochen haben. Das ist mir wirklich wichtig!«

Oberleutnant Mark Becker fiel es schwer, nicht die Augen zu verdrehen. Hatte diese Leier denn gar kein Ende? »Jaja«, erwiderte er wenig begeistert, während er die Jacke seines Feldanzugs zuknöpfte. Das rote Barett der Feldjäger saß bereits auf seinem Kopf, der sich von dem anstrengenden Gespräch am frühen Morgen ein bisschen schwer anfühlte. Gut, vielleicht war es auch das dritte Weizenbier gewesen, das er gestern Abend im einzig brauchbaren Biergarten der Stadt getrunken hatte. Aber die Unterhaltung mit seiner Verlobten Julia hatte sicherlich auch dazu beigetragen.

»Sag nicht jaja«, nörgelte diese. Sie stand in der Terrassentür, die Hände in die Hüften gestemmt, und bedachte Mark mit einem erzürnten Blick. »Jaja heißt: leck mich am Arsch!«

Becker verkniff sich ein Grinsen. Vielleicht lag sie damit gar nicht so falsch, dachte er, hütete sich jedoch, sich seine Gedanken anmerken zu lassen. Es war ein heikles Thema, das hatte sie ihm bereits gestern im Biergarten unmissverständlich klar gemacht. Wie schnell sie eine Entscheidung von ihm erwartete, hatte sie ihm allerdings erst vorhin über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg gesagt. Mit Inbrunst, kompromisslos und emotional, so wie sie nun einmal war. Manchmal fand er diese Eigenschaften hinreißend. Allerdings nicht, wenn sie ihm das Messer auf die Brust setzte! Er nestelte noch ein wenig an seinen Schulterklappen herum, dann schenkte er ihr ein gekünsteltes Lächeln. »Hör mal, Julia«, sagte er, »können wir das nicht später in aller Ruhe besprechen?«

»Wie viel Ruhe brauchst du denn noch?«, schoss sie zurück. »Vor deinem letzten Einsatz in Afghanistan hast du dasselbe gesagt. Und dann hast du dich dazu entschlossen, es geflissentlich zu ignorieren.« Sie verschränkte die Hände vor der Brust, was ihren ohnehin üppigen Busen betonte. »Ich will jedenfalls eine Entscheidung von dir, und zwar bald!«, wiederholte sie ihre Forderung vom Frühstückstisch.

Als ob er begriffsstutzig wäre! Ihre Augen funkelten erzürnt – so, wie Mark sie am sexysten fand. Er hob die Hände mit den Handflächen nach oben, um sie zu beschwichtigen. »Ich denke darüber nach. Ernsthaft. Mehr kann ich dir so auf die Schnelle nicht versprechen.«

»Von wegen auf die Schnelle!«, schnaubte sie. »Du tust ja gerade so, als ob ich dich damit aus heiterem Himmel überfallen hätte!«

Mark zuckte die Achseln, auch wenn er wusste, dass diese Geste sie wütend machte. Für ihn war es quasi aus heiterem Himmel gewesen. Sicher, sie hatte schon früher immer wieder angedeutet, dass sie auch mal eine Familie gründen wollte. Aber irgendwie war in diesem Zusammenhang nie die Rede davon gewesen, dass er deshalb seinen Job bei den Feldjägern aufgeben sollte. Und das, wo er einer der Glücklichen war, der es nach Überwindung zahlloser Hürden zum Berufssoldaten geschafft hatte. Außerdem war er gerade erst 34 geworden. Da war doch noch massenhaft Zeit! Er mied ihren Blick.

»Und komm mir bloß nicht damit, dass das alles jetzt nicht mehr gefährlich ist, bloß weil der ISAF-Einsatz in Afghanistan beendet ist!«, schimpfte sie. »Da ist immer noch Syrien!«

Manchmal war sie ihm unheimlich. Genau dieses Argument hatte er nämlich anführen wollen. Die neue Mission »Resolute Support« beinhaltete schließlich keinen Kampfauftrag mehr, sondern war nur dafür gedacht, die afghanischen Führungskräfte zu beraten und zu unterstützen. Außerdem war noch nicht einmal ansatzweise klar, ob Mark in absehbarer Zeit wieder ins Camp Marmal bei Masar-e-Sharif ausrücken musste. Am liebsten hätte er sie in diesem Moment gefragt, warum sie sich überhaupt mit ihm eingelassen hatte. Immerhin war es nie ein Geheimnis gewesen, dass er Soldat war. Hatte sie ihn nicht sogar in Uniform kennengelernt? Allerdings war er klug genug, die Frage zu schlucken, da er sicher war, damit in noch rauere Gewässer zu segeln. Daher seufzte er resigniert und wandte das an, was sich bei Auseinandersetzungen mit ihr als brauchbare Entschärfungstaktik bewährt hatte. Er trat auf sie zu, zog sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Du weißt, dass ich dich liebe«, murmelte er. Augenblicklich spürte er, wie sich ihre Versteifung ein wenig löste. »Wenn ich dir versprochen habe, darüber nachzudenken, dann tue ich das auch.«

Einige Sekunden lang wartete er umsonst auf eine Reaktion. Dann schlang auch sie ihre Arme um ihn und schmiegte die Wange an seine Brust. »Wir beide – du und ich – das ist wunderschön«, murmelte sie. »Aber ich will mehr. Das kannst du doch verstehen?«

Mark war froh, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Denn leider war ihm im Augenblick überhaupt nicht danach, eine Familie zu gründen und seine Karriere aufzugeben, um in einer der spießigen Firmen der Umgebung als Was-auch-immer zu arbeiten! Er liebte seinen Job! Und egal, wie aufreibend die Zeit im Einsatz jedes Mal war, liebte er auch diesen Teil seiner Arbeit! Dass er dabei ums Leben kommen konnte, war für ihn eben ganz einfach Berufsrisiko. Man dachte doch nicht immer daran, was alles passieren konnte! Jeder Polizist, jeder Feuerwehrmann ging in seinen Augen ein mindestens ebenso hohes Risiko ein wie er. Aber davon wollte Julia natürlich nichts wissen. Für sie waren Kinder und die Bundeswehr nicht vereinbar, da konnte die Verteidigungsministerin noch so sehr für ein familienfreundliches Umfeld werben. Ein Soldat zog in den Krieg. Basta. Das war für sie alles, was zählte. Mark drückte ihr einen Kuss aufs Haar und löste sich von ihr. »Ich muss los«, sagte er.

Julia wischte sich verstohlen über die Augen. »Ich auch. Wir gehen heute mit den Kindern in den Wald, da müssen wir noch einiges vorbereiten.«

Mark griff nach seinem Rucksack, der neben einem großen Elefantenfußbaum auf dem Boden stand, und verließ wenig später das Haus. Die Sonne strahlte bereits seit über einer Stunde aus einem makellos blauen Himmel auf das Heidenheimer Schloss hinab, das vor Mark aufragte. Vögel zwitscherten, Bienen summten um den verblühenden Flieder im Nachbargarten, und die Autos waren mit einer gelben Pollenschicht bedeckt. Das Grün der Bäume wirkte noch frisch und saftig, und der Duft von Kastanienkerzen stieg ihm in die Nase. Hätte die Auseinandersetzung mit Julia seiner Laune nicht einen Dämpfer versetzt, hätte ihn all die frühsommerliche Pracht in Hochstimmung versetzt. So allerdings betätigte er mürrisch den Türöffner seines VW Passat und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. »Verdammter Mist!«, schimpfte er, bevor er den Wagen anließ. Was sollte er ihr bloß antworten? Er rangierte das Auto geschickt aus der engen Parklücke vor seinem Haus und zuckelte die Einbahnstraße entlang, bis er die Hauptstraße erreichte. Dort wandte er sich nach rechts und fuhr in Richtung B19. Da die Angestellten der Firmen, die das Stadtbild prägten, Frühaufsteher waren, herrschte bereits reger Berufsverkehr, obwohl die Uhr in Marks Armaturenbrett gerade mal 6:10 anzeigte. In Gedanken versunken passierte er Maschinenhallen, Verwaltungsgebäude und ein riesiges Zementwerk und fuhr schließlich kurz hinter Herbrechtingen auf die A7 Richtung Ulm auf. Was, wenn er Julias Forderung einfach ignorierte und hoffte, dass sie das ganze Thema irgendwann vergaß? Er klappte die Sonnenblende herunter und schüttelte über sich selbst den Kopf. »Das geht ganz sicher in die Hose«, murmelte er. Was diese Dinge anging, hatte seine Verlobte das Gedächtnis eines Elefanten. Außerdem würde sie die Sache bestimmt mit ihren Kolleginnen besprechen – allesamt Grundschullehrerinnen – und ihren Rat einholen. Was dabei herauskam, wollte Mark sich lieber gar nicht erst vorstellen. Er wischte das Problem beiseite und schaltete das Radio ein. Die »Morning Show« von SWR3 würde ihn auf andere Gedanken bringen. Als er eine knappe halbe Stunde später den Kreisverkehr vor Ulm erreichte, von dem aus er nach rechts in Richtung »Weststadt/Universität/Kliniken/Eselsberg« abbog, waren Julia und ihre Forderungen tatsächlich nicht mehr ganz so präsent. Er warf einen Blick auf die Uhr. 6:45. Noch genug Zeit, um die Wilhelmsburg Kaserne zu erreichen und pünktlich um sieben auf dem Parkplatz vor dem Dienstgebäude der Feldjäger anzutreten.

Bei der Einfahrt zur Kaserne angekommen, grüßte er den Wachmann, hielt seine Karte an den Kartenleser und gab eine Zahl in das Pinpad ein. Daraufhin öffnete sich die rot-weiße Schranke. Die Parkplätze vor dem Gebäude waren bereits alle belegt, weshalb er seinen Passat ein wenig abseits abstellte. Im Laufschritt joggte er zum Feldjägerdienstkommando der 7. Kompanie des Feldjägerregiments 3, einem flachen Backsteingebäude mit wenig Charme. Er trampelte die Metallstufen zum Eingang hinauf und hämmerte auch hier einen Code ins Pinpad. Drinnen grüßte er seinen Chef, der gerade aus seinem Büro kam, und rannte die Treppen hinauf, je zwei Stufen auf einmal nehmend. Kameraden einen guten Morgen wünschend, trabte er zu seinem eigenen Büro, vorbei an der Einsatzleitung, dem Dienstkommando, den Aufenthalts- und Waschräumen und den Toiletten. In seinem Büro angekommen, pfefferte er den Rucksack auf das Sofa neben der Tür und tauschte das rote Barett gegen die praktischere Feldmütze aus. Dann reihte er sich in den Strom der Kameraden ein. Wenig später trat die gesamte Kompanie in Formation vor dem Gebäude an, um sich beim Anführer der Truppe, dem Hauptmann, zum Morgenappell zu melden. Nachdem dieser kurz den Tagesablauf erläutert und einige offizielle Maßnahmen durchgeführt hatte, traten alle wieder ab, um ihren normalen Dienst zu beginnen.

»Ich komme gleich«, ließ Mark seinen Chef wissen. »Muss nur noch ein paar Akten holen.« Jeden Morgen traf sich die Führungscrew der Feldjäger im Büro des Hauptmanns, um anstehende Aufgaben zu besprechen.

Der Hauptmann, ein kräftig gebauter Enddreißiger, nickte und zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. »Lass dir Zeit, ich rauche erst noch eine«, sagte er. »Bin heute noch gar nicht dazu gekommen.«

Mark grinste, weil er wusste, dass sich der Kompanieführer das Laster eigentlich abgewöhnen wollte. »Die Pflaster helfen wohl nicht?«, frotzelte er.

»Noch so ein Witz, und wir gehen zusammen joggen«, drohte der Hauptmann.

»Das will ich sehen«, mischte sich der Spieß der Kompanie ein. Die gelbe Kordel um seinen rechten Oberarm leuchtete im Sonnenlicht. »Da würde ich sogar Wetten annehmen.«

»Geh lieber nach der Kaffeemaschine gucken, Mama«, zog Mark ihn auf. Vor einigen Monaten hatten er und die anderen Zugführer dem Spieß ein Autoschild mit dem Aufdruck »mama« geschenkt, und seitdem wurde er den Spitznamen nicht mehr los. Hinter vorgehaltener Hand nannten ihn inzwischen selbst die Frischlinge so, weil er sich tatsächlich beinahe mütterlich um alle Sorgen, Probleme und Ängste der jungen Soldaten kümmerte.

»Ich bin versucht, euch irgendwann mal ein Abführmittel in den Kaffee zu mischen«, brummte der Spieß. Allerdings verrieten seine lachenden Augen, dass er es nicht ernst meinte.

Mark ließ die beiden stehen und begab sich zurück in sein Büro. Dort fuhr er seinen Computer hoch, checkte kurz seine Mails und suchte die Akten zusammen, die er für die Morgenbesprechung brauchte. Dann holte er sich seine Waffe, eine Walther P8, aus dem Spind im Dienstkommando und machte sich auf den Weg zurück ins Erdgeschoss. Im Büro des Spießes warteten bereits die anderen drei Zugführer, von denen einer ein mächtiges Veilchen zur Schau trug.

»Wo hast du dir das denn eingefangen?«, wollte Mark wissen.

Der Angesprochene sah ihn entnervt an. »Vielleicht sollte ich mir ein Schild umhängen«, brummte er, »mit der Aufschrift: Habe mich beim Boxen von einem Fliegengewicht austricksen lassen.« Er verzog das Gesicht.

»Ehrlich?«, fragte Mark.

»Ja, ehrlich. Wenn ihr eine Tochter habt, versucht nie, ihr Boxen beizubringen. Die Mädels sind gnadenlos.«

Die anderen lachten.

»Schluss mit lustig«, unterbrach sie der Chef, als er, eine Rauchfahne hinter sich herziehend, den Raum betrat. Er ging an den Kühlschrank, um sich ein Mineralwasser zu holen, bevor er in das angrenzende Büro voranging. Dort suchte sich jeder einen Stuhl, dann eröffnete der Hauptmann die Besprechung. Nachdem einige wichtige Details in Bezug auf einen Besuch vom BMVg – dem Bundesministerium für Verteidigung – und einige Fragen das Personalmanagement betreffend geklärt worden waren, wandte der Chef sich an Mark. »Für dich habe ich auch eine Aufgabe«, informierte er ihn. Er blätterte einen Stapel Papier durch und zog eine ausgedruckte Email hervor. »Wir haben einen EA«, sagte er.

Mark verkniff sich ein Stöhnen. Ein »eigenmächtig Abwesender« war nicht gerade das, was er sich für diesen Tag vorgestellt hatte. Vermutlich wieder irgendein junger Heißsporn, der sich aus Liebeskummer betrunken und irgendwo verbarrikadiert hatte. Oder ein kranker Single, der vergessen hatte, seinem Vorgesetzten Bescheid zu sagen, dass er mit Fieber im Bett lag. »Seit wann fehlt er denn?«, fragte er mit wenig Begeisterung.

»Seit letzten Montag«, war die Antwort des Hauptmanns. »Du weißt ja, wie es ist. Drei Tage warten, dann geht die Meldung nach Hannover, und die haben es vorhin an uns gemailt.«

»Hast du mir die Mail schon weitergeleitet?«, fragte Mark, weil er nichts Derartiges in seinem Posteingang gefunden hatte.

»Mache ich gleich«, erwiderte sein Chef. Er sah kurz in den Ausdruck. »Sanitätshauptfeldwebel Tim Baumann«, las er vor. »Am Montag nicht zum Dienst erschienen, seitdem abgängig.« Er blätterte ein paar Seiten vor. »Anscheinend hat der Oberfeldarzt angedeutet, dass es um einen BTM-Missbrauch gehen könnte«, fuhr er fort. »Alles sehr vage.«

Mark stieß einen Pfiff durch die Zähne aus. Betäubungsmittel? Vielleicht war der Auftrag doch nicht ganz so routinemäßig, wie er befürchtet hatte!

Kapitel 3

Ulm, 25. Mai 2016

Nachdem der Hauptmann die Besprechung beendet hatte, ging Mark zurück in sein Büro. Dort legte er eine neue Akte für den Fall an, machte einen stichwortartigen Plan, wie er vorgehen wollte, und setzte sich schließlich an den Computer, um mit der Basisrecherche zu Tim Baumann zu beginnen. Aus den Informationen, welche die Dienststelle des Pflegers an das Kommando Feldjäger der Bundeswehr in Hannover geschickt hatte, ging hervor, dass der Mann ledig war. Er hatte keine Kinder, und seine Eltern waren vor Jahren beim Absturz einer Privatmaschine ums Leben gekommen. Dort brauchte er also nicht nachzufragen. Da es keine Möglichkeit gab, Baumanns Personalakte einzusehen, um weitere Details zu erfahren, waren Marks nächste Anlaufstelle die sozialen Netzwerke. Er startete bei Facebook, Twitter, studiVZ, stayfriends, Google+ und diversen anderen Plattformen eine Suche mit Tim Baumanns »Real Name« und wühlte sich durch die Einträge. Zu seiner Erleichterung war der Vermisste kein Netzjunkie und besaß lediglich einen Facebook und einen Twitter Account, die allerdings beide alles andere als aktuell waren. Der letzte öffentlich zugängliche Eintrag in seiner Facebook Chronik stammte vom 1. Januar, als der Gesuchte offenbar auf einer Party in Berlin gewesen war. Weiter unten in der Chronik – vor etwa eineinhalb Jahren – tauchte hin und wieder eine Freundin auf. Doch diese war weder bei der Silvesterparty mit dabei noch auf anderen Bildern, die Baumann beim Grillen oder Feiern mit Freunden zeigten. Mark kratzte sich am Kinn. Der Kerl sah völlig normal aus, eher unauffällig mit seinen hellbraunen Haaren, den grau-grünen Augen und dem durchschnittlichen Wuchs. Fit konnte man ihn nicht gerade nennen. Allerdings deutete auch nichts darauf hin, dass er Drogen nahm oder einem ungesunden Hobby frönte. Er war einfach nur vollkommen durchschnittlich. Mark lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und starrte das Foto von der Silvesterfeier an. Der Mann war 32 Jahre alt, seit etwas mehr als einem Jahr Berufssoldat und, wie Mark selbst, mehrfach in Afghanistan im Einsatz gewesen. Warum sollte jemand wie er das Risiko einer eigenmächtigen Abwesenheit auf sich nehmen? Immerhin war eine EA nicht nur eine Wehrstraftat nach §15 des Wehrstrafgesetzbuches, auf die eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren stand, sondern auch eine zivil verfolgbare Straftat. Wer setzte denn seine gesamte Karriere mit so etwas aufs Spiel? Mark nagte an seiner Oberlippe. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass der Grund für Abwesenheiten oft im privaten Bereich zu suchen war. Doch meistens waren es keine Berufssoldaten, die er und seine Kollegen zurück in die Kaserne schaffen mussten.

»Ratzfatz, alles futsch«, sagte er in den leeren Raum. Er schob die Computermaus von sich und sah aus dem Fenster. Winzige Staubkörnchen tanzten im Sonnenlicht, das durch einen kleinen Spalt in der blauen Jalousie hereinfiel. Bevor er es verhindern konnte, war plötzlich seine Verlobte wieder in seinem Kopf. War Baumann vielleicht mit einer ähnlichen Situation konfrontiert gewesen und hatte deshalb durchgedreht? Er schüttelte den Gedanken ab und suchte in Baumanns Akte nach seinem Wohnort. »Metzgergasse«, murmelte er. »Nicht schlampig!« Wie er sich diese Wohngegend bei seinem Sold leisten konnte, war Mark zwar schleierhaft. Doch das allein reichte noch nicht aus, um den Mann in seinen Augen schuldig erscheinen zu lassen. Er beschloss, dem Polizeipräsidium am Münsterplatz später einen Besuch abzustatten. Vielleicht lag etwas gegen Baumann vor, das Licht in die Angelegenheit bringen konnte. Nachdem er dort kurz angerufen und das Formular für ein Amtshilfeersuchen ausgedruckt und ausgefüllt hatte, packte er alles Wichtige in seine Akte zu Tim Baumann, tauschte die Feldmütze wieder gegen sein rotes Barett und meldete sich beim Diensthabenden im Feldjägerdienstkommando ab.

»Hat einer von euch Müller gesehen?«, fragte er.

Die zwei Männer im Raum verneinten.

Mark trat auf den Flur hinaus. »Müller!«, brüllte er.

Es dauerte einen Augenblick, bis der Feldwebel den Kopf aus dem Waschraum steckte. »Ja?«

»Wir haben einen EA«, ließ Mark ihn wissen. »Ich warte bei den Bussen auf dich.« Bevor der Kamerad etwas antworten konnte, kehrte er ihm den Rücken und machte einen kurzen Abstecher in den Pausenraum. Dort mopste er sich ein paar Gummibärchen und verließ kauend das Gebäude. Draußen war es inzwischen so warm, dass er schon nach wenigen Schritten anfing, in seinem Feldanzug zu schwitzen. Wenn die Temperaturen weiter so kletterten, würde es ein ziemlich heißer Tag werden. Er steuerte auf den Parkplatz neben dem Wachhäuschen zu und öffnete alle Türen eines olivfarbenen VW-Busses. So konnte es wenigstens ein paar Minuten durchlüften. Als der Feldwebel kurz darauf aus dem Gebäude kam, ließ Mark den Motor an. Er erläuterte in wenigen Worten, nach wem sie suchten, dann sagte er: »Wir schauen zuerst kurz bei ihm zu Hause vorbei. Vielleicht wissen die Nachbarn was.«

»Mhm.« Sein Beifahrer machte ein grimmiges Gesicht. Er war einer der typischen immer mürrischen Personenschützer, die den Eindruck vermittelten, niemals zu lachen. Seit er vor einem halben Jahr den Ermittlerlehrgang absolviert hatte, war er zwar ein bisschen gesprächiger geworden. Aber auf Zivilisten wirkte er immer noch verschreckend. Dazu trug sicher auch seine imposante Größe von zwei Metern bei, mit der er Mark um fünf Zentimeter überragte.

Mark grinste. Zusammen gaben sie sicher ein beeindruckendes Gespann ab. Wenn ihr Auftreten die Nachbarn nicht kooperationsbereit machte, würde er einen Besen fressen! Eine Uniform allein sorgte schon dafür, dass sich Zungen lösten und selbst verschlossene Menschen Vertrauen fassten. Aber eine gewisse physische Präsenz schadete auch nichts. Deshalb bevorzugte er für den ersten Besuch bei den Familien, Bekannten, Verwandten oder Nachbarn eines Abgängigen immer jemanden wie Müller. Erst wenn sich herausstellte, dass mehr Feingefühl erforderlich war, griff er auf eine der weiblichen Kolleginnen zurück.