RONALD M. HAHN

 

 

Auf dem großen Strom

 

 

 

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

Auf dem großen Strom 

Beschreibung des tragischen Schicksals eines verhinderten Stammvaters 

Zusammenbruch 

Der letzte Verteidiger 

Solange es nicht gegen die Demokratie gerichtet ist 

Irgendwas geht hier vor, aber Sie wissen nicht, was es ist, nicht wahr, Mr. Jones? 

Die knochenharten Kerle von der sausenden Sternenpatrouille im Einsatz gegen Rollo Ratz, den Meister der Maske  

Alternativwelt 1818 (mit Thomas Ziegler) 

Der rostende Dschungel 

 

Selbstauskunft 

Biographisches 

 

Quellenangaben 

 

Das Buch

 

Dieser Band versammelt rabenschwarze Zukunftsgeschichten sowie zwerchfellerschütternde Persiflagen auf die Science Fiction. Die Titelstory wurde als beste SF-Kurzgeschichte 1980 mit dem Kurd Lasswitz-Preis ausgezeichnet.

Ronald M. Hahn ist einer der besten Kenner der internationalen SF-Szene und gilt als einer der herausragendsten deutschen Autoren dieses Genres. Vor allem seine Kurzgeschichten zeichnen sich durch ihren manchmal scharfen und beißenden Spott aus, mit dem sie sich - durch SF-typische Elemente verfremdet - mit herrschenden Missständen auseinandersetzen.

Der Autor

 

 

Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948.

Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.

Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.

Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).

Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis - dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction - Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).

Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie - als Übersetzer - der Dune-Zyklus von Frank Herbert.

Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal. 

  Auf dem großen Strom

 

Robinson ruderte das Kanu allein. Er war ein großer, narbenbedeckter Mann in der Blüte seiner Jahre, einsneunzig groß, fünfundachtzig Kilo schwer und mit Muskeln ausgestattet, die ein Paddel stundenlang, ohne zu ermüden, ins Wasser tauchen konnten. Sein nackter Oberkörper war von einem dünnen Schweißfilm bedeckt, und seine Haut hatte - nachdem sie tagelang der Sonnenstrahlung ausgesetzt gewesen war einen bronzenen Farbton angenommen. Der mächtige Strom, auf dem er sich befand, war ihm fremd und dennoch vertraut. Das gleiche galt für die riesengroße, purpurrote Sonne am Himmel - und die drei grün schimmernden Monde.

Robinson war mit einem ledernen Lendenschurz bekleidet. Eine Ausrüstung besaß er nicht. Er erinnerte sich vage, dass er vorher einen Anzug aus einem eng anliegenden Plastikmaterial getragen hatte. Aber das war Vergangenheit. Die Schwärze des Vakuums war einer vegetationstrotzenden Umgebung gewichen, in der es warm und angenehm war. Er schüttelte sich, als er an die schwarze Leere dachte und Männer wie kleine Silberfische durch das Nichts fallen sah.

Er wandte seine Aufmerksamkeit dem rechten Ufer zu. Seltsame, farbenprächtige Bäume und Gewächse zogen an ihm vorbei. Kletterpflanzen mit hellroten Blüten beherrschten das Bild. Libellen von Handtellergröße schwirrten wie kleine Helikopter über den Wasserpflanzen dahin, die den Ufergürtel hinauf wuchsen. Direkt vor seinem den Strom durchpflügenden Kanu sprang ein jadefarbener Fisch aus dem quirlenden Wasser, machte einen Salto und tauchte wieder unter. Eine Kette schlanker, kreischender Vögel mit Flachschnäbeln überquerte den Fluss von rechts nach links.

Robinson hielt den Blick nach vorn gerichtet. Der Strom war blau und klar. Wie tief er war, blieb Robinson verborgen, aber der Größe der walähnlichen, blauschwarzen Giganten nach zu urteilen, die gelegentlich mit peitschendem Schwanz den Wellenspiegel durchbrachen, konnte er nicht seicht sein. Das linke Ufer war achthundert Meter von Robinson entfernt. Was die Vegetation anbelangte, sah es dort nicht anders aus als auf der rechten Seite. Anfangs hatte Robinson sich gefragt, ob es einen besonderen Grund dafür gab, dass er sich rechts hielt. Möglicherweise lag es daran, dass jeder Mensch, der sich an einer Begrenzung entlang bewegte, einem Instinkt folgte, der ihn auf die rechte Seite zwang.

Wie lange er sich schon auf dem großen Strom befand, wusste Robinson nicht. Die Zeit schien stillzustehen, denn die rote Sonne ging niemals unter - und die drei Monde schienen bei Tag. Der Himmel war türkisblau und sternenlos. Es gab keinerlei Anzeichen von Zivilisation.

 

Delta - Tango - Echo“, sagte Farrar. Robinson drehte sich nach ihm um. Die Energieströme, die seine Taster knistern ließen, beunruhigten ihn. Farrar schien sie nicht wahrzunehmen, denn er hielt mit seinen lächerlich großen Händen das Mikrofon umklammert und wiederholte mit blutstauender Monotonie immer die gleichen Worte. Sikorsky schien größere Schwierigkeiten mit den Geräten zu haben, als er zuzugeben bereit war. Seine kleine, blasse Zunge leckte aufgeregt über seine Lippen. Er hatte den Helm nach hinten geklappt, weil sein Anzug nicht richtig funktionierte. Robinson kniff die Augen zusammen und las die Skalen ab. Wenn es ihnen nicht gelang... 

 

Das Wetter war angenehm und die Luft kühl, aber warm genug, ihn nicht frösteln zu lassen. Robinson tauchte das Paddel in die Gischt. Das Kanu jagte mit der Geschwindigkeit eines Pfeils voran. Der große Strom trug es dahin wie eine Nussschale, die sich auf dem Weg in den Mahlstrom befand. Die Strömung war stark, und die Geräusche, die das große Wasser erzeugte, glichen dem ständigen Summen eines Wespenschwarmes. Robinson fühlte sich frei und glücklich, entspannter als je zuvor in seinem Leben. Er verspürte weder Hunger noch Durst, und die Kraft seiner Muskeln schien nie zu erlahmen.

Irgendwo steuerte er das Kanu an Land, ließ es durch die seerosenartigen Ufergewächse treiben und glitt nach rechts über die Bordwand. Das Wasser war warm. Er packte die Bugspitze und zog das Kanu ans Ufer. Seine nackten Füße berührten abgerundetes Kieselgestein. Das Gras war lang, dicht und grün. Robinson stieß einen zufriedenen Seufzer aus und setzte sich hin. Sein Blick wanderte über den großen Strom, während das Rauschen in seinen Ohren leise Echos hervorrief. Es war sonderbar, dass er bis jetzt auf keinen anderen gestoßen war. Die Welt war zu groß, als dass sie unbewohnt sein konnte. Er fragte sich, weshalb er überhaupt an Land gegangen war. Um seine Kräfte zu regenerieren? Kaum. Er fühlte sich so stark und ausdauernd wie zuvor - und das war verwunderlich. Es passte irgendwie nicht. Sein Unterbewusstsein sagte ihm, dass es nur natürlich sei, dass Menschen hin und wieder Ruhepausen machten, um zu neuen Kräften zu kommen.

Er legte sich auf den Rücken und starrte den Himmel an. Die Libellen kümmerten sich nicht um ihn. Eine mit durchsichtigen Schwingen versehene Eidechse bewegte sich tollpatschig an ihm vorbei, fuhr die gespaltene Zunge aus, musterte ihn.

Robinson seufzte erneut, starrte auf das Wasser und kehrte schließlich zu seinem Kanu zurück. Er musste weiter, weiter. Der große Strom lockte, zog ihn unerbittlich an.

 

...sich aus dem Griff des Methanriesen zu befreien, sah es übel für sie aus. Die Hitze nahm ständig zu. Robinson sah die Schweißperlen auf Farrars Stirn, sah, wie er sich mit einer verzweifelten Geste über das Mikrofon beugte und unbeherrscht zu schreien anfing. Sikorskys Lippen bewegten sich, ohne dass er etwas zu hören bekam, und der Druck auf den Ohren ließ ihn unentwegt schlucken. Die anderen waren zu weit weg, als dass sie hätten eingreifen können. Robinson wusste das; er machte sich nichts vor. Der erste, den es treffen würde, würde Sikorsky sein, der inzwischen alle Pflichten hatte fahren lassen und mit der Fahrigkeit eines Menschen, den die Panik völlig ergriffen hatte, an den Verschlüssen seines Helms hantierte...

 

Es war seltsam, dass er weder Hunger noch Durst verspürte. Menschen mussten von Zeit zu Zeit essen und trinken. Robinson war sicher, noch vor einiger Zeit eine Mahlzeit zu sich genommen zu haben. Er erinnerte sich an eine silberne Tube. Ihre Aufschrift hatte er vergessen. Er hatte einen kleinen Plastikdeckel abgeschraubt, die Öffnung an den Mund geführt und auf das Tubenende gedrückt. Brathähnchen, das war es. In nahezu flüssiger Form. Er erinnerte sich an einen schlanken Mann mit buschigen Augenbrauen, der vor einer zirpenden Anlage saß und mit zitternden Fingern Tastaturen bediente.

Verrückt.

Was sollte diese Impression? Das Leben auf dem großen Strom war herrlich. Es war warm und sonnig, der Tag hatte kein Ende und keinen Anfang.

Robinson schwang das Paddel, leckte das von der aufgepeitschten Gischt aufgewirbelte Salz von den Lippen und sah geradeaus. Der große Strom dehnte sich vor ihm wie ein blaues, an den Horizont heranreichendes Band. Ein Gefühl der Macht durchströmte seine Glieder. Vorwärts, vorwärts riefen seine Sinne. Du bist dem Ziel schon nahe, bald hast du es erreicht!

Nur... Robinson hielt mitten in der Bewegung inne. Das Rauschen des Wassers schwoll in seinen Ohren zu einem brausenden Orkan an. Was war sein Ziel?

Die Unterbrechung hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Robinson verlagerte das Gewicht seines Körpers, ehe sich das Kanu zu weit nach links neigte und Wasser fing. Vor ihm ragte eine Insel aus dem Strom. Er blinzelte. Ohne nachzudenken steuerte er das Kanu nach Lee. Die Insel unterschied sich, was ihren Bewuchs anging, weder vom rechten noch vom linken Ufer, und es dauerte eine ganze Weile, ehe Robinson von der Neugier gepackt wurde und auf sie zuhielt.

Der Strom schien in der näheren Umgebung des Eilands seichter zu sein als anderswo, denn er hatte nicht die geringsten Schwierigkeiten, an der sich sanft erhebenden Felsenküste anzulegen.

Robinson sprang ins Wasser, packte die Bordwand des Kanus mit beiden Händen und zog es an Land. Ein lederbeschwingter hässlicher Vogel ohne Gefieder und mit dem Aussehen eines Pteranodonten flog krächzend auf, segelte über das Dickicht hinweg und verschwand zwischen den Baumwipfeln.

Robinson sicherte das Boot und sah sich um. Die Insel mochte etwa hundert Meter breit sein; ihre Länge war nicht abzuschätzen. Die Vegetation war ihm ebenso fremd wie alles andere, das er bisher gesehen hatte. Dennoch war sie schön. Die Grashalme, über die er schritt, wucherten einen halben Meter hoch. Dort wo der Grasteppich dünner war, war der Boden von Moos bewachsen.

Der Dschungel dämpfte das Rauschen des Wassers ein wenig, aber nicht allzu viel.

 

Irgendetwas hatte das Raumschiff aufgeschlitzt wie eine Konservendose. Robinson sah, wie das Vakuum Farrar ergriff und hinausschleuderte. Sein Plasthelm krachte gegen die gezackte, klaffende Umrandung des Lecks und barst in tausend Stücke, die langsam, wie im Zeitlupentempo, auseinander trieben. Lichter blinkten. Farrars Schrei endete in einem würgenden Röcheln. Robinson fühlte sich hochgehoben, aus dem Sitz gerissen, sah in einem entsetzlichen, viel zu langen Augenblick die hervorquellenden Augen Sikorskys, und dann zog ihn die Dunstwolke mit der Schnelligkeit eines Wirbelsturms entweichenden Sauerstoffs in die Leere hinaus.

Er fiel und fiel und fiel.

Und schrie.

 

Die Insel war - wie auch die beiden Ufer des großen Stroms unbewohnt, wenn man die überdimensionalen Insekten und ein paar träge in der Sonne liegende Reptilien außer Acht ließ. Dennoch fühlte Robinson sich, nachdem er sie umrundet und seinen Streifzug durch den Dschungel beendet hatte, zufrieden und - irgendwie gesättigt. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand er an ihrer äußersten, flussabwärts weisenden Spitze und ließ den Blick seiner Augen über die wogenden Wellen schweifen. Rechts von ihm durchbrach eine Herde rötlich glitzernder Fische den Wasserspiegel, legte mehrere hundert Meter durch die Luft zurück und tauchte dann, die spitzen Schnauzen gesenkt, wieder unter.

Bis zum Horizont war der große Strom leer. Diese Insel war die einzige, die Robinson bisher gefunden und mit dem Stolz des Entdeckers erforscht hatte. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass ihre Existenz ihm etwas zu sagen versuchte, ihm einen Wink geben wollte. Er fühlte sich heimisch auf der Insel, obwohl sie ihm auf den ersten Blick ebenso wenig zu bieten schien wie die Uferstreifen. Es war komisch, absolut unverständlich.

Robinson warf einen Blick auf die rote Sonne, winkte ihr zu und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Erfühlte sich plötzlich unsäglich froh, als stünde ihm eine Begegnung bevor, die sein bisheriges Dasein radikal ändern und seine Existenz in völlig neuem Licht erscheinen lassen würde. Es war ein

unbestimmtes Gefühl, aber er konnte sich ihm nicht entziehen. Er musste weiter, das wusste er jetzt; die Insel hatte die Aufgabe, ihn von seinem Weg abzubringen, ihn aufzuhalten. Sie symbolisierte die letzte Möglichkeit des Anhaltens und Umkehrens. Wenn er sie verließ und weiterruderte, würde es keine andere mehr geben.

Das Kanu lag noch immer zwischen den wuchernden Bodenpflanzen des Inselgestades, und als Robinson es sah, atmete er unbewusst auf. Es war natürlich Unsinn, aber... während der letzten Meter seines schnellen Laufs hatte er plötzlich den Eindruck gehabt, es könne nicht mehr dort sein. Als er es ins Wasser zog und Anstalten machte, sich über den Rand hinweg an Bord zu schwingen, wurde der Tag zur Nacht.

Robinson fiel zurück. Ein mörderischer Schmerz lähmte seine Glieder und ließ ihn in die Unendlichkeit sinken.

 

...buchstäblich in letzter Sekunde...“ 

...hätte niemals geglaubt...“ 

...unglaublich zäher Bursche...“ 

...alles, was wir können...“ 

 

Stimmen durch eine Wand aus Watte. Gemurmel, das im Geheul des Sturms kaum zu verstehen war. Die Worte: chiffriert, kodiert, verschlüsselt. Huschende weiße Flecke. Der Schmerz war unfühlbar geworden, aber es nur ein Wall aus Betäubungsmitteln, der ihn von den Nervenzentren abhielt. Das Klicken von Metall gegen Glas. Frauenstimmen, Engelsmusik.

 

Kriegen wir ihn durch?“ 

Sicher.“  

Aber...“ 

Er kann immer noch... ein Raumschiff fliegen. Unsere Kybernetiker sind weit genug, um sein Gehirn mit den Steuerungsmechanismen eines Fernraumers zu verbinden. Wir tun das nicht zum ersten Mal. Männer wie er kommen vom Raum nicht los. Er wird weitermachen.“ 

 

Menschen auf dem Prüfstand. Nadeln pumpten Flüssigkeiten in seine Venen. Ein plötzlicher Adrenalinstoß machte ihn hellwach. Die schwarze Leere kehrte zurück, umklammerte ihn. Robinson wollte schreien, aber seine Stimmbänder funktionierten nicht. Farrar... Sikorsky...

Er besaß mindestens noch ein Auge, denn als er alleine war und sich umsah, erschien die Realität ihm, als betrachte er sie durch einen Zerrspiegel. Er war von einem Dutzend monoton summender Apparate umgeben, die unzählige dünne, ihn am Leben erhaltende Schläuche in seinen Leib gesenkt hatten. Man gab sich alle Mühe. Für unsere Jungs ist nichts zu schade. Ihre Ausbildung hat den Steuerzahler eine Menge Geld gekostet.

Robinson dachte eine Sekunde lang an die kilometerlangen, nur aus Gestängen, Ladebunkern und einer Steuerkanzel bestehenden Fernraumer, die zwischen den Randwelten den Kontakt aufrechterhielten, und glaubte sich erbrechen zu müssen. „Männer wie er kommen vom Raum nicht los. Er wird weitermachen. Er kann immer noch ein Raumschiff fliegen.“

Robinson konnte nichts mehr erschrecken. Bei Katastrophen wie jener, die er erlebt hatte, gab es in der Regel keine Überlebenden. Jedenfalls keine solchen, für die sich das Leben noch lohnte. Er sah an sich herab und stellte trotz der verzerrten Sicht, die das verbliebene Auge ihm bot, fest, dass sein Körper kurz unter dem Herzen endete.

Ein Gurgeln drang über seine Lippen. Mit aller Anstrengung, zu der er fähig war, streckte er den rechten Arm aus und näherte ihn - ohne den Kopf zur Seite zu drehen - den Schläuchen, die sich aus den Maschinen schlängelten und irgendwo unter dem Laken endeten. Er erreichte sie nicht. Als er den Kopf wandte, liefen salzige Schweißtropfen von der Stirn herab in sein rechtes Auge.

Die Tatsache, dass sich sein rechter Arm nicht dort befand, wo er sich hätte befinden müssen, schockierte Robinson. Zum ersten Mal schüttelte ihn eine wilde Angst. Er wagte nicht, den anderen auszuprobieren, aus Furcht, ihm könnte eine ähnliche Offenbarung nicht erspart bleiben. Er hätte es nie für möglich gehalten, welche Kraftanstrengung es bedeutete, ohne Hilfe von Armen und Beinen den Kopf und den Oberkörper zu heben.

Aber er gab nicht auf.

Er kämpfte einen stummen, verbissenen Kampf und musste das Auge wegen der allzu großen Schweißabsonderung der Stirn schließen.

Dennoch gelang es ihm, ein halbes Dutzend der ihn mit Nährlösungen versorgenden Plastikschläuche mit den Zähnen zu packen und herauszureißen.

 

Robinson ruderte das Kanu allein. Er war ein großer, narbenbedeckter Mann in der Blüte seiner Jahre, einsneunzig groß, fünfundachtzig Kilo schwer und mit Muskeln ausgestattet, die ein Paddel stundenlang ohne zu ermüden ins Wasser tauchen konnten. Er erinnerte sich an eine kleine Insel, die er vor kurzem verlassen hatte und die in ihm den Eindruck hervorgerufen hatte, er könne sich auf ihr heimisch fühlen.

Aber der große Strom lockte ihn, zog ihn an mit magnetischer Kraft. Das Rauschen der Wassermassen nahm jetzt von Minute zu Minute an Intensität zu, und Robinson wusste plötzlich, dass er seinem Ziel näher kam: dem Großen Wasserfall, der das kleine Kanu packen, über die Gischt hinausschleudern und ihn dort absetzen würde, wo er endlich seinen Frieden fand.

 

Copyright © 1981 by Ronald M. Hahn

 

  Beschreibung des tragischen Schicksals eines verhinderten    Stammvaters

 

 

Als die triefäugigen, hohlwangigen und zahnlosen Burschen, die große Pappschilder mit Parolen wie

 

DIE BANKEN KRANKEN

WIR FORDERN DIE TODESSTRAFE FÜR TIERQUÄLER

ICH BIN KLEIN, MEIN HERZ IST REIN

SUCHE DOPPELZIMMER

BIBEL-LESER WISSEN MEHR

und

KEINE MACHT FÜR NIEMAND

 

durch die Straßen trugen, immer zahlreicher und das Fernsehprogramm immer schlechter wurde, wusste der nicht unvermögende, gottesfürchtig erzogene und geniale Privatstatistiker Roderich von Greifenklau, dass das Ende der Welt mit Riesenschritten näher rückte. Sogar im Supermarkt an der Ecke mehrten sich mit jedem Tag die Anzeichen weltpolitischer Konfusion: Die Illustrierte Klempnerzeitung und das Macker Magazin stellten das Erscheinen ein, die Zahnpastapreise kletterten ins Astronomische, die Brauereien produzierten keine Pfandflaschen mehr, und die Wundertüten enthielten statt hochglanzkolorierter Fußballbilder nur noch angetrocknetes Popcorn und Grußkarten mit Texten wie „Wir laden Sie zum Schweineessen ein. Kommen Sie, da sind Sie unter Ihresgleichen.“ 

Frustriert über den rapiden Abstieg, den die Welt zusehends nahm, klaubte Herr von Greifenklau seine diversen Aktienpakete zusammen, verscherbelte sie an eine Großbank, kündigte seine Sparbücher und beauftragte ein neufundländisches Spezialunternehmen mit dem Bau eines atombombensicheren Bunkers.

Mag auch das Erdenrund zugrunde gehen“, sagte Herr von Greifenklau am Frühstückstisch zu sich selbst, „aber ohne mich! Ich, Roderich von Greifenklau, bin anders als andere Menschen! Und wenn irgendwann der Tag kommt, an dem auf diesem Planeten ein neues und besseres Menschengeschlecht heranwächst, werde ich derjenige sein, der es begründet. Ich, Roderich von Greifenklau, will der Stammvater einer neuen, edleren Rasse werden und dafür Sorge tragen, dass sie ihr Leben nicht mit heiterem Beruferaten und politischen Quengeleien vergeudet. Die neue Rasse wird aus kultivierten Einzelindividuen bestehen - und jeder, der aus ihr hervorgeht, soll ein perfekter Privatstatistiker sein!“ 

Nachdem die neufundländischen Ingenieure den Bau des atombombensicheren Bunkers abgeschlossen hatten, machte Herr von Greifenklau sich an die zweite Phase seines Meisterplans. Da der neu zu begründenden Menschenrasse mit einem Stammvater allein nicht gedient war, musste eine entsprechende Mutter her. Privatstatistikerinnen waren allerdings ziemlich dünn gesät, deswegen sah Herr von Greifenklau sich nach einem geeigneten Medium um, das ihm dabei helfen konnte, seine Pläne einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Da das ZDF und Radio Luxemburg seine detaillierten Schreiben jedoch mit konsequenter Boshaftigkeit ignorierten und das Deutschland-Magazin darauf bestand, er solle doch, bitteschön, zuerst einmal das Medium abonnieren, dessen er sich bedienen wolle, suchte Herr von Greifenklau an einem nebligen Novemberabend mit hochgeschlagenem Mantelkragen und einer tief in die Stirn gezogenen Baskenmütze Pauls Sex-Shop auf, in dessen Schaufenster zwischen angeblich muskelentspannenden Massagestäben und aufblasbaren Gespielinnen auch diverse Zeitschriften lagen, die offenbar dazu bestimmt waren, einsamen Menschen zu Kontakten mit dem anderen Geschlecht zu verhelfen.

Herr von Greifenklau hatte diese Magazine schon des Öfteren mit einer Mischung aus Abscheu und Interesse beobachtet. Da er wusste (schließlich hatte er aus rein statistischen Gründen mehrere Fachaufsätze über die Herstellung pornografischer Druckschriften lesen müssen), dass es Menschen gibt, deren Sexualleben keinerlei Hemmungen unterworfen ist, hoffte er, in einer dieser reich bebilderten Zeitschriften eine potentielle Interessentin für seinen Plan zu finden. Natürlich stand für ihn von vornherein fest, dass die in Frage kommende Person über einen guten Leumund verfügen musste; ein Flittchen war kaum dazu geeignet, Stammmutter eines neuen und kultivierten Menschengeschlechts zu werden.

Als Herr von Greifenklau Pauls Sex-Shop betrat, traf ihn zunächst einmal ein mittelschwerer Schock, denn das, was ihm da auf buntem Kunstdruckpapier von den verschiedenen Regalwänden entgegen gähnte, hatte nur in den seltensten Fällen Ähnlichkeit mit einem menschlichen Mund.

Paul Platt, der Inhaber von Pauls Sex-Shop, ein gesäßlastiger Endvierziger mit dicken Brillengläsern und einer leuchtenden Halbglatze, stand hinter der Ladentheke und musterte den neuen Kunden mit der branchenüblichen Mischung aus Geldgier und misstrauen.

Wer hier was klaut“, sagte er zur Begrüßung, „kriegt von mir eigenhändig die Backen voll. dasselbe gilt für den, der nur hier rumgafft. Hab schließlich keine Wartehalle. Habense irgendwelche speziellen Wünsche? Sado? Maso? Gummi? Leder?“ 

Herr von Greifenklau, der ob dieser geschäftsmäßigen Bedrohung in seinem übergroßen Trenchcoat noch kleiner wurde, ließ verhalten seinen Blick über die auf den bunten Druckwerken wogenden Fleischmassen wandern und sagte schüchtern: „Ich bin Privatstatistiker und aus rein wissenschaftlichen Motiven hier.“

Klar, Mann, klar“, sagte Paul Platt und kratzte sich an seinem Schwabbelbauch. „Für Leute wie Sie betreib ich den Laden ja schließlich auch. Die meisten, die hier reinkommen, betreiben irgendwelche wissenschaftlichen Studien. Glaubense etwa, richtige Sittenstrolche hätten den Mut, hier was zu kaufen? Dazu sind die doch viel zu feige.“ 

Auf diese subtile Art mit Mut versehen, reckte Herr von Greifenklau das Haupt und sagte: „Ich hätte gern ein Kontaktmagazin.“

Offen gestanden“, sagte Paul Platt, „würde ich Ihnen lieber mit einer Telefonnummer aushelfen. Sehen Sie, die meisten Anzeigen in den heutigen Kontaktmagazinen sind sowieso getürkt. So ein Blatt kostet zehn Mark. Ich verdien' daran vier. Wenn ich Ihnen die gewisse Telefonnummer geben würde und es käme zwischen Ihnen und der Dame zu einem Abschluss, würden Sie einen Hunderter blechen und ich kriegte 'ne Provision von dreißig.“ 

Da Herr von Greifenklau allerdings nicht im Traum. daran dachte, zur Profitmaximierung eines Freizeitkupplers beizutragen, schaltete er auf stur und wiederholte: „Ich hätte aber trotzdem gern ein Kontaktmagazin.“

Da haben Sie's, in Gottes Namen“, sagte Paul Platt und legte Herrn von Greifenklau die neueste Ausgabe von Straps & Stiefel unter die Nase. Das Titelbild zeigte zwei mit eisernen Nasenringen versehene, schmalbrüstige junge Männer, die auf allen Vieren auf einem zerschlissenen Teppich knieten, während die beiden peitschenbewehrten vollbusigen Walküren, die auf ihren Rücken saßen, Anstalten machten, sich gegenseitig in die Zunge zu beißen. 

Herr von Greifenklau, dem aufgrund der Sittsamkeit, zu der man ihn erzogen hatte, beinahe die Augen aus dem Kopfe fielen, machte verlegen „Hm, hm, hmmm“, legte die verlangten zehn Mark geschwind auf den Tresen, rollte das schlüpfrige Blatt zusammen und eilte hinaus.

Auf dem Weg zu seinem Haus begegneten ihm ganze Völkerscharen mit Papptafeln, auf denen zu lesen war

 

DAS ENDE IST NAH

LEB JETZT, ZAHL SPÄTER

DER OFEN IST AUS

LIEBER TOT ALS ROT

ES MUSS ETWAS GESCHEHEN!

 

Im trauten Heim angekommen, legte Herr von Greifenklau sich auf das Sofa und fing an, die Anzeigen zu studieren. Die meisten Inserenten, das fiel ihm sofort auf, schienen Herren zu sein. Es gab auch eine ganze Reihe von Ehepaaren, die einen „dritten Mann“ suchten, aber das kam für den Stammvater einer neuen Rasse natürlich nicht in Frage, denn es galt zu verhindern, dass die nachfolgenden Generationen dereinst von Stammvätern sprachen statt von „Dem Einen Mann, Aus Dessen Lenden Die Heilige Saat Gesprossen War.“

Etwas obszön kamen Herrn von Greifenklau schließlich auch die mit den Inseraten abgedruckten Fotografien vor, die merkwürdig unscharf waren und meist immer die gleichen menschlichen Körperzonen wiedergaben. Kaum einer der Kontaktsuchenden hatte den Anzeigenakquisiteuren sein Porträt zur Verfügung gestellt. Dies allerdings, fand Herr von Greifenklau, konnte nur für die Inserenten sprechen. dass sie von der Ablichtung ihres Konterfeis nichts hielten, konnte nur als Hinweis darauf gedeutet werden, dass sie sich ihr natürliches Schamgefühl bewahrt hatten.

Was die Anzeigentexte anbetraf, so. schien man sich in den aufgeschlossenen und toleranten Kreisen allerdings einer Geheimsprache zu bedienen.

Was, zum Beispiel, war eine ungeh. g., NS- und tierl., auf S/M spez. Dom., die auch Stereo nicht ausschloss?

Nachdem Herr von Greifenklau das Magazin mehrere Male von vorn nach hinten durchgeblättert hatte, kreuzte er sich neunzehn unbebilderte, aber vielversprechende Anzeigen an, setzte sich an seinen Sekretär, verfasste neunzehn gleich lautende Schreiben, steckte sie in gewöhnliche Briefumschläge und schickte sie an die Adresse des Verlages, der Straps & Stiefel herausgab. Nachdem er die Briefe zur Post getragen hatte, kehrte er in sein Heim zurück, setzte sich ans Fenster, trank ein Tässchen Kamillentee, betrachtete die über die Straße wankenden Schilderträger, die diesmal

 

BROT FÜR DIE WELT

DIE KUH HAT 'N ARM AB

KILROY IS HERE

und

YNGVI IS 'NE LAUS

 

verkündeten und wartete darauf, dass sich die angeschriebenen Damen zwecks Gründung eines neuen Menschengeschlechtes mit ihm in Verbindung setzten.

Die ersten sechs Antwortschreiben, die der Briefträger Herrn von Greifenklau vierzehn Tage später mit einem wissenden Augenzwinkern ins Haus brachte, entpuppten sich allerdings als ziemlich unbefriedigend. Zwei enthielten Geldforderungen in nicht unbeträchtlicher Höhe und waren offensichtlich von Damen geschrieben worden, die den Ernst der Lage unterschätzten; einer enthielt das Foto einer schiefzahnigen, schielenden Endfünfzigerin, deren Haupthaar zu schön war, um echt zu sein; der vierte forderte ihn auf, am nächsten Freitag auf einer „Bumsparty“ zu erscheinen, auf der man allerlei „Ringelpiez mit Anfassen“ veranstalten wollte; der fünfte war scheinbar ein Irrläufer, denn in ihm wurde Herrn von Greifenklau unverständlicherweise die Möglichkeit eines Erwerbs „garantiert getragener“ Damenunterwäsche in Aussicht gestellt, und im sechsten fand sich lediglich ein Zettel mit den Worten: „Solche Ferkeleien mache ich nicht mit.“

Kann man es Herrn von Greifenklau verdenken, dass er unter diesen Umständen ein leichtes Gefühl der Vergrätztheit entwickelte?

Während die Straße unterhalb seines Fensters sich immer mehr mit Menschen füllte, die Schilder mit Aufschriften wie

 

JEDER POPEL FÄHRT 'N OPEL

NUN TUT DOCH ENDLICH WAS

DER OSTEN IST ROT

und

LECK MICH

 

umher trugen, wartete Herr von Greifenklau mit Hilfe eines Magenbitters auf den nächsten Tag.

Der nächste Tag brachte weitere vier Briefe. Der erste bot ihm ein „karantiert totsicheres Rolett-Sistem“ an. Der zweite forderte ihn - ungeachtet der Tatsache, dass er dazu bereits eingeladen worden war - auf, am nächsten Freitag auf einer „Bumsparty“ zu erscheinen, auf der man allerlei „Ringelpiez mit Anfassen“ veranstalten wolle. Der dritte enthielt das Foto eines maskenbewehrten, schmerbäuchigen Mannes, der - wie er schrieb - „äußerst stark an mistischem Treiben aller Art“ interessiert war und Herrn von Greifenklau allen Ernstes aufforderte, an seiner nächsten Teufelsmesse teilzunehmen. Der vierte Brief schlug schließlich dem Fass den Boden aus, denn er stammte aus der Feder eines freiberuflich tätigen Evangelisten, der unter falschem Namen über Kontaktmagazine Sünder zu missionieren versuchte und Herrn von Greifenklau händeringend bat, von der Gründung eines neuen Menschengeschlechts Abstand zu nehmen, da Unternehmungen dieser Art einzig und allein dem Allmächtigen vorbehalten seien.

Während die Papptafeln drei Tage später

 

BALD PASSIERT'S

SUCHE IMMER NOCH EIN DOPPELZIMMER

GOLDFISCH ABZUGEBEN

und

ES LEBEN DIE EISBERGE

 

schrien, schlitzte Herr von Greifenklau erwartungsvoll die nächste Briefsendung auf. Das erste Schreiben stammte (und das fand Herr von Greifenklau äußerst merkwürdig) von einem Mann, der ihm anbot, bei seiner Ehefrau zu nächtigen, da er selbst mehr an seiner Gullideckelsammlung interessiert sei; das zweite kam von einem Versandhaus, das ihm eine Buch mit dem Titel „Wie man heiße Girls anmacht“ zum Kauf anbot. Der dritte Brief schließlich enthielt nur einen gefalteten Zettel mit der Aufschrift „Lustmolch, dreckerter!“

Herr von Greifenklau war nahe daran, sich nach einem anderen Medium für seine Pläne umzusehen. Die Ignoranz, die ihm aus all diesen Briefen entgegenschlug, war frustrierend. Waren diese angeblich weltoffenen und toleranten Menschen denn blind? War niemand unter ihnen, der die unaufhaltsam näher rückende Katastrophe ebenfalls sah? Hatte er nicht jeder einzelnen Dame in wohl formulierten Worten erklärt, auf was es ihm ankam? Er sah sich dazu veranlasst, den Kopf zu schütteln.

Während unter seinem Fenster ein paar Leute Papptafeln mit Aufschriften wie

 

DAS GANZE UNIVERSUM IST VÖLLIG WAHNSINNIG

HASSELBLATT ZUM INTENDANTEN GEWÄHLT

NIEMAND DA, DER 'N DOPPELZIMMER FÜR MICH HAT?

und

5 PAAR BAUMWOLLSOCKEN DM 9,98

 

spazieren trugen, öffnete Herr von Greifenklau mit einem resignativen Schnaufer den letzten Umschlag, der wundervoll nach Lavendel duftete. Der darin liegende Brief war mit giftgrüner Tinte geschrieben und hatte folgenden Text:

 

Grüß Gott, mein Süßer, ich habe Deine Nachricht erhalten und möchte Dir mitteilen, dass ich Deinem Projekt aufrichtiges Interesse entgegenbringe. Als langjährige Science Fiction-Leserin bin ich natürlich mir allen anstehenden Zukunftsproblemen bestens vertraut und kann mir daher sehr gut vorstellen, wie Dir angesichts der chaotischen Weltlage momentan zumute ist. Auch ich zweifle nicht daran, dass die Welt auf dem besten Wege ist, in einen Abgrund zu stürzen. Deine Idee, auf den Ruinen der alten Kultur eine neue erblühen zu lassen und die von dir ergriffene Initiative - damit meine ich die bereits fertig gestellte Bunkeranlage - zeugen von eminenter Weitsicht! Wenn Du daran interessiert bist, meine nähere Bekanntschaft zu machen, schlage ich vor, dass wir uns alsbald in Deinem Bunker treffen, wo wir alles weitere besprechen können. Dies sollte allerdings recht bald geschehen, denn unter meinem Fenster laufen seit kurzem einige sehr merkwürdige Menschen mit Papptafeln herum, auf denen unter anderem auch NOCH 63 TAGE BIS 1984 steht.

 

Mit vorzüglicher Hochachtung

Gundel Gösebrink

 

P.S. Ich hoffe, Du hast daran gedacht, sämtliche in Deinem Besitz befindlichen Gegenstände von kulturellem Wert in Dein kleines Geheimversteck zu bringen. (Wir wollen die neue Menschenrasse doch nicht GANZ ohne das geistige Erbe der Vergangenheit aufwachsen lassen.)

 

Der Edelmut, den diese Zeilen ausstrahlten, rührten Herrn von Greifenklau so sehr, dass ihm beinahe die Tränen kamen und er auf der Stelle vergaß, dass die Anrede, mit der die fremde Dame ihn bedacht hatte, mit dem Stil des restlichen Briefes nicht so recht korrespondierte. Wie klug und weise sie doch war! An seine Kunstsammlung hatte er tatsächlich nicht gedacht. Er beschloss sofort, seine vier van Goghs und die beiden Tizians zu verpacken, die noch in seinem kleinen Salon hingen. Natürlich auch die chinesische Vase aus der Zeit der Ping-Dynastie. Auch der alte Familienschmuck musste mit, denn schließlich sollten die kommenden Generationen nicht darüber im Unklaren gelassen werden, wie die alten Meister gearbeitet hatten.

Dem Brief Gundel Gösebrinks lag ein 9 x 13 Zentimeter großes Farbfoto bei, und als Herr von Greifenklau dieses seinen etwas kurzsichtigen Augen näherte, stockte ihm der Atem. Mit offenem Mund und hervorquellenden Augen starrte er auf das Abbild einer hoch gewachsenen Blondine mit lockiger Löwenmähne, feuerrot geschminkten Lippen, perlweißen Zähnen, ausladenden Hüften, vollen Brüsten, prallen Schenkeln, rosigen Wangen und einer modernen Sonnenbrille. Gundel Gösebrink saß - nein, sie lag fast - in einem mächtigen Sessel, hatte das linke Bein in lässiger Pose über die Armlehne geschwungen, und ihr Kinn ruhte auf den Fingern ihrer leicht angewinkelten linken Hand. Sie hatte den Mund leicht geöffnet, schien ihn, Herrn Roderich von Greifenklau, direkt anzusehen und bestand von den Zehen bis zu den Haarwurzeln aus einer einzigen Lockung.