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Rudolf Simek

Mittelerde

Tolkien und die
germanische Mythologie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Trolle und Zwerge allenthalben, ein verfluchter Ring und ein zerbrochenes Schwert, gute Zauberer und gefährliche Drachen: Tolkiens Werke, vor allem der Hobbit und der Herr der Ringe und die Vorgeschichte dazu im Silmarillion, sind voller Elemente und Motive, die aus der nordgermanischen Mythologie stammen. Dieser Band geht den wichtigsten Namen, Stoffen und Motiven nach, die Tolkien der altskandinavischen Sagenwelt und Mythologie, den Eddas und Sagas des isländischen Mittelalters entnommen und in seiner neugeschaffenen Welt von Mittelerde verwendet hat. Simek wendet sich auch an jüngere Leser, an die Filmfans, die gerne mehr über die Bedeutung der einzelnen Figuren erfahren möchten und all diejenigen, die einen Führer durch die mythologische Welt Tolkiens suchen. Genaue Quellennachweise und ein ausführliches Register machen das Buch zum nützlichen Nachschlagewerk.

Über den Autor

Rudolf Simek ist Professor für mittelalterliche deutsche und skandinavische Literatur an der Universität Bonn. In der Reihe C.H.Beck Wissen liegt von ihm vor: Die Wikinger (42005); Götter und Kulte der Germanen (2004).

Inhalt

Einleitung

1. J. R. R. Tolkien: Der Mittelalterforscher als Romanautor

Tolkiens Leben und wissenschaftlicher Werdegang

Der Romanautor

Tolkien und die altnordische Literatur

Die Lieder der Edda und die Prosa-Edda

Altisländische Sagas

Die Dänische Geschichte des Saxo Grammaticus

2. Geographie und geographische Namen von Mittelerde

Kosmographie und Kartographie

Tolkiens Welt: Mittelerde (Middle-earth)

Jenseitige Gefilde

Wüsten und Einöden (Waste lands, Wastes)

Berge und Wälder

Wasser und Sümpfe

Landschaften und Landesteile

3. Personennamen skandinavischer Herkunft

Zwerge in der Edda und bei Tolkien

Die Könige der Rohirrim und ihre Vorfahren

Die Hobbitfamilien

Weitere vom Altnordischen beeinflußte Namen

4. Odins Erscheinungsformen

Gandalf und Odin

Saruman und Odin

Sauron und Odin

Manwë und Odin

5. Naturmythologische Elemente

Wer ist Tom Bombadil?

Ents und Entfrauen

Beorn, der Gestaltwandler

6. Die freundlichen Mächte der niederen Mythologie

Hobbits

Zwerge (dwarves)

Elben (elves)

Wasa (Woses)

7. Die bedrohlichen Mächte der niederen Mythologie

Orks (orcs)

Kobolde, «Bilwiß» (goblins)

Uruk-hai

Trolle (trolls)

Riesen (giants)

Balrogs

8. Mythische Tiere, Fabeltiere und tierische Monster

Drache und Drachenhort

Adler

Wölfe und Wargs

Werwölfe (werewolves)

Oliphanten (oliphaunts)

9. Runenschriften

Die Varianten des Futhark

Tolkiens kreativer Umgang mit Runen

Zwergenrunen und Mondrunen

Cirth und Angerthas

Symbol- und Zauberrunen

Die Runeninschriften im Hobbit und im Lord of the Rings

10. Motive aus der germanischen Mythologie und Heldensage

Der Eine Ring

Der König im Berg

Das Schattenheer

Das zerbrochene Schwert

Die Verehrung der Götter ohne Tempel

Die Zahl Neun

Wiedergänger, «Grabunholde» (barrow-wights)

Der Eärendil-Mythos

Herrscherhochsitze, «Throne» (High Seats)

Anmerkungen

Literaturhinweise

Verwendete Schriften J. R. R. Tolkiens

Verwendete deutsche Übersetzungen

Tolkiens wissenschaftliche Veröffentlichungen

Sekundärliteratur zu Tolkiens Werk und seinen Wurzeln

Texte und Übersetzungen zur germanischen Mythologie

Sekundärliteratur zur germanischen Mythologie und Religion

Weitere verwendete Literatur

Register

 

 

Für Koloman, Ben und Rosie – und natürlich Dennis!

Einleitung

Das vorliegende Buch möchte zeigen, wieviel im Werk J. R. R. Tolkiens der skandinavischen, englischen und sogar deutschen Literatur des Mittelalters und der vorchristlichen germanischen Mythologie entnommen und literarisch verwertet worden ist. Anlaß war die Tatsache, daß ich als Altnordist, der auch begeisterter Leser von The Hobbit und The Lord of the Rings ist, meine Kinder immer wieder auf die Zusammenhänge zwischen Tolkiens Romanen und meiner eigenen Arbeit zur vorchristlichen germanischen Religion und zur mittelalterlichen skandinavischen Literatur aufmerksam gemacht habe. Vielleicht auch, um sich diese dauernden Hinweise zu ersparen, haben sie vorgeschlagen, daß ich daraus doch ein Buch machen solle – dieses Buch wendet sich daher auch ganz bewußt an jüngere Leser.

Es ist keinesfalls meine Absicht, einen Wegweiser durch Tolkiens gesamtes Werk zu geben oder die angesprochenen Figuren und Motive innerhalb der Tolkienschen Mythologie zu erklären; dafür sei auf einschlägige Nachschlagewerke und Companions verwiesen.[1]

Tolkien hat für seine Werke, von denen ich also in erster Linie The Hobbit und The Lord of the Rings, aber auch The Silmarillion herangezogen habe, natürlich die unterschiedlichsten Quellen benutzt. Dennoch darf nicht vergessen werden, daß er als Altanglist, Altskandinavist und ganz allgemein als Philologe einen breiten Wissenshintergrund hatte, der besonders die germanischen und keltischen Sprachen, Literaturen und Mythologien umfaßte. Zwar sind sein Corpus an Namen und einige von den Urbewohnern von Mittelerde benutzte Sprachen vorwiegend durch das Keltische geprägt, aber gerade im Hinblick auf den Sagenschatz und die Mythologie sind die germanischen Quellen wichtiger als die keltischen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussehen mag. Von den Hobbits, Zwergen und Elben, die er – wenn auch stark verändert – den frühmittelalterlichen germanischen Vorstellungen entlehnt hat, bis hin zum Hauptthema des Rings im The Lord of the Rings sind die wesentlichen Elemente im Werk Tolkiens den germanischen Literaturen und dabei besonders dem altskandinavischen, weniger dem altenglischen Fundus an Stoffen und Motiven entnommen.

Man könnte also den Hobbit, The Lord of the Rings und das Silmarillion Stück für Stück nach den Vorlagen und Vorbildern durchforsten, was aber wohl ein wenig eintönig wäre und auch die Ideen- und Vorstellungsnetze innerhalb von Tolkiens Werk zu stark zerreißen würde. Es sollen daher bestimmte Themenbereiche – wie etwa das Personen- und Ortsnamenmaterial, die verschiedenen Wesen der niederen Mythologie oder die Rolle Odins – systematisch untersucht werden. Dies geschieht natürlich exemplarisch, eine Analyse aller von Tolkien verwendeten Motive und Stoffe würde den Umfang seines Werks sicher noch übersteigen.

Ein Register zu den hier behandelten Namen und Begriffen soll die Spurensuche erleichtern. Die Zitate aus Tolkiens Romanen sind durchwegs auf Englisch und Deutsch gehalten, da die deutschen Übersetzungen nicht immer ganz geglückt sind – vor allem was Namen anbelangt – und damit mitunter viel von Tolkiens Sprache verlorengeht. Kurze Zitate aus Tolkiens Briefen oder Essays werden meist nur auf Deutsch wiedergegeben (in diesem Fall stammen die Übersetzungen von mir), nur ganz kurze Phrasen oder Zitate, wo es mir um den ursprünglichen Wortlaut ging, sind auf Englisch belassen. Zitate aus mittelalterlichen altnordischen und altenglischen Texten dagegen sind durchwegs ins Deutsche übersetzt.

Wenn vieles aus Tolkiens Werk in diesem Büchlein keine Erwähnung findet, dann einerseits wegen der Beschränkung des Umfangs, andererseits, weil eben nur deutliche Anklänge germanischer Stoffe, Motive oder Namen aufgenommen wurden – natürlich gibt es noch eine Menge zu entdecken.

Was ist nun Germanische Mythologie? Im allerweitesten Sinn ist es die Gesamtheit des geistigen Überbaus in Form von Sagen, Legenden und Heldendichtungen, die für die germanischen Stämme des ersten Jahrtausends nach Christus bekannt ist. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts war man überwiegend der Ansicht, daß sich die Germanen «bis zur Einführung des Christentums das ursprüngliche, einheitliche Gepräge ihrer Kultur ungestört bewahrt haben»[2], aber heute gilt dies nicht mehr. Es läßt sich nicht nachweisen, daß diese germanischen Stämme zwischen Schwarzem Meer und Island, zwischen Schweden und Nordafrika überhaupt so etwas wie einen gemeinsamen Vorrat an Erzählungen und Vorstellungen besaßen, obwohl einzelne religiöse und heroische Sagenkreise recht weite Verbreitung hatten.

Tolkien hatte jedoch zu seiner Studienzeit vor etwa 90 Jahren eine ganz andere Grundlage in Bezug auf das Germanentum als wir heute. Das gilt nicht nur für den wissenschaftlichen Forschungsstand im Bereich religionswissenschaftlicher, philologischer, archäologischer Untersuchungen zur germanischen Mythologie, sondern auch für den mentalen Bereich: Für uns heute ist der Mißbrauch, den das Germanentum in Deutschland (und anderswo!) während des sog. Dritten Reichs erlebt hat, nicht mehr wegzudenken. Wir müssen daher wissenschaftshistorisch, ja geradezu wissenschaftsarchäologisch vorgehen, um uns Tolkiens Gedankenwelt und seinem Zugang zu denselben oder ähnlichen Quellen, wie wir sie teilweise ja heute noch benutzen, anzunähern.

Sowohl die Archäologie als neuerdings auch die Literaturwissenschaft haben zeigen können, daß uns die Quellen deswegen ein so uneinheitliches, nur schwer zu homogenisierendes Bild geben, weil die germanische Religion regional, sozial und chronologisch außerordentlich stark differenziert war, so daß wir eigentlich eher von «germanischen Religionen» sprechen müßten. Die Quellen müssen daher heute ganz anders und viel kritischer verwendet werden, als man das damals, bald nach der erstmaligen Herausgabe vieler literarischer mittelalterlicher Texte tun konnte. Nicht zuletzt aus diesem Grund versuche ich immer, mich in der Darstellung der heidnischgermanischen Religion nicht in erster Linie auf die literarischen Zeugnisse des isländischen Hochmittelalters mit ihrer gefälligen, aber durchwegs freien dichterischen Gestaltung angeblich heidnischer Mythologie zu stützen, sondern so weit wie auf dem letzten Forschungsstand möglich auf die primären Quellen für die heidnische Religiosität der Germanen zurückzugreifen.

Es zeigt sich aber, daß Tolkien der Mythologie im engeren Sinn, also der Götterdichtung oder den Vorstellungen über Religion, gar nicht so viel verdankt. Einerseits hat er in erster Linie bei der sogenannten niederen Mythologie Anleihen genommen, also bei Gestalten des Volksglaubens wie Trollen, Zwergen und Riesen, Drachen und Werwölfen. Andererseits galt sein Interesse offenbar viel stärker den Heldenliedern und den Sagas des mittelalterlichen Skandinavien, und dabei besonders dem Stoffkreis um Sigurd, die Nibelungen und die Völsungen: Dies ist, kurz gesagt, die Geschichte vom Geschlecht der Völsungen, dem Sigurd (dt. Siegfried) entstammt. Er läßt das zerbrochene Schwert seines Vaters Sigmund neu schmieden und gelangt in den Besitz des vom Drachen Fáfnir bewachten Nibelungenschatzes. Sigurds Werbung um die Burgundenprinzessin Kriemhild führt letztendlich zu seiner Ermordung und schließlich zum Untergang der burgundischen Königsfamilie am Hofe des Hunnenkönig Attilas – letzteres ein wohl teilweise historisches Ereignis der frühen Völkerwanderungszeit. Tolkien interessierte an diesem Stoff vor allem der erste Teil, den er aber ausschließlich nach nordischen Fassungen, nicht etwa nach dem mittelhochdeutschen Nibelungenlied verwertete. Natürlich ist The Lord of the Rings keine Neufassung dieses Stoffes, aber es zeigt sich, daß wichtige Motive dieser Geschichte von Tolkien aufgegriffen und neu gestaltet wurden.

Mein Dank für Hilfe bei der Entstehung dieses Büchleins gilt allen Hörern meiner Vorlesung im WS 2004/05, die sich rege für dieses Thema interessiert haben und mich auf viele Details hingewiesen haben, besonders aber Thomas Fornet-Ponse, der mir mit reichen Literaturhinweisen und anregenden Diskussionen weitergeholfen hat, sowie Petra Rehder für ihre intensive Redaktionsbetreuung.

 

Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen von Tolkiens Werken

(vgl. dazu die ausführlichen Literaturangaben am Schluß des Buches):

HOB

The Hobbit.

KHOB

Der kleine Hobbit. Übersetzt von Walter Scherf.

LOTR

The Lord of the Rings

LOTR I

The Fellowship of the Ring: being the first part of The Lord of the Rings.

LOTR II

The Two Towers: being the second part of The Lord of the Rings.

LOTR III

The Return of the King: being the third part of the Lord of the Rings.

APX

Appendix to LOTR I, II, III

HDR

Der Herr der Ringe. Übersetzt von Margaret Carroux.

HDR I

Die Gefährten.

HDR II

Die Zwei Türme.

HDR III

Die Rückkehr des Königs.

ANH

Der Herr der Ringe. Anhänge und Register. Übersetzt von Wolfgang Krege.

SILM

The Silmarillion.

DSILM

Das Silmarillion. Übersetzt von Wolfgang Krege.

LTRS

The Letters of J. R. R. Tolkien.

MONST

The Monsters and the Critics and Other Essays.

NOM

Nomenclature of The Lord of the Rings.

1. KAPITEL

J. R. R. Tolkien: Der Mittelalterforscher als Romanautor

Tolkiens Leben und wissenschaftlicher Werdegang

John Ronald Reuel Tolkien (3.1.1892–2.9.1973) wurde 1892 in Bloemfontein, Südafrika, geboren. Sein Vater starb sehr früh, und seine Mutter zog daraufhin wieder zurück nach England. Der kleine Ronald verbrachte seine früheste Kindheit auf dem Land, in einem kleinen Ort namens Sarehole Mill, seine Schulzeit dann in Birmingham. Daß seine Mutter im Jahr 1900 trotz des Widerstands der ganzen Familie zum Katholizismus konvertierte, sollte seine Kindheits- und Jugendjahre in Birmingham stark beeinflussen. Er war erst zwölf, als die Mutter an Diabetes starb, und von da an wurden er und sein Bruder Hilary von dem katholischen Geistlichen Francis Morgan erzogen. Er schickte Ronald auf die King Edward’s School, zwischenzeitlich auch auf die katholische St. Phillip’s Grammar School. Schließlich finanzierte er auch sein Studium in Oxford. Tolkien studierte am Exeter College zunächst klassische Sprachen, dann aber bald englische Philologie. Er blieb sein ganzes Leben lang ein gläubiger Katholik, und seine Werke sind nicht zuletzt auch von christlicher Symbolik geprägt.

Die beiden unterschiedlichen Erfahrungen – zunächst die Jahre auf dem Land, in der lieblichen Hügellandschaft der englischen Midlands, dann die Schulzeit in der rußigen, von der Schwerindustrie lebenden Großstadt – spiegeln sich später in Tolkiens Werken: in seiner Darstellung des Shire, des «Auenlandes», im HOB und im LOTR einerseits und in Sarumans pseudo-industriellem Isengard andererseits. Die Beschreibungen des Shire sind liebevoll, wenn auch ironisch:

At first they had passed through hobbit-lands, a wide respectable country inhabited by decent folk, with good roads, an inn or two, and now and then a dwarf or a farmer ambling by on business. (HOB 34)

Ein ausgedehnter Landstrich mußte durchquert werden, der von einem achtbaren Volk bewohnt wurde, von Menschen, Hobbits, Elben und was weiß ich von wem sonst noch. Die Wege waren gut, es gab auch ein paar Gasthäuser und hin und wieder traf man einen Zwerg, einen Kesselflicker oder einen Bauern, die ihren Geschäften nachgingen. (KHOB 56)

Es ist wohl nicht zufällig, daß gerade Kinder darin eine wichtige Rolle spielen, da Tolkien hier auf seine eigene Kindheit Bezug nimmt:

Altogether 1420 in the Shire was a marvellous year. Not only was there wonderful sunshine and delicious rain, in due times and perfect measure, but there seemed something more: an air of richness and growth, and a gleam of a beauty beyond that of mortal summers that flicker and pass upon this Middle-earth. All the children born or begotten in that year, and there were many, were fair to see and strong, and most of them had a rich golden hair that had before been rare among hobbits. (LOTR III 303)

1420 war überhaupt ein wunderbares Jahr im Auenland. Es gab nicht nur herrlichen Sonnenschein und köstlichen Regen, jeweils zur rechten Zeit und in genau der richtigen Menge, sondern es schien noch etwas mehr zu sein: ein Hauch von Fülle und Fruchtbarkeit und ein Schimmer von Schönheit über das Maß sterblicher Sommer hinaus, wie sie über dieser Mittelerde aufflackern und vergehen. Alle in jenem Jahr geborenen oder empfangenen Kinder, und es waren viele, waren schön anzusehen und kräftig, und die meisten von ihnen hatten blondes Haar, was vorher unter Hobbits selten gewesen war. (HDR III 343)

Dazu paßt auch, daß das Shire nicht nur mit Kindern gesegnet ist, sondern auch reichliche Frucht und Ernte gibt, eine recht stereotype Form der Beschreibung paradiesischer Zustände:

The fruit was so plentiful that young hobbits very nearly bathed in strawberries and cream; and later they sat on the lawns under the plum-trees and ate, until they had made piles of stones like small pyramids or the heaped skulls of a conqueror, and then moved on. And no one was ill, and everyone was pleased, except those who had to mow the grass. (LOTR III 303)

Früchte gab es so reichlich, daß junge Hobbits fast in Erdbeeren und Schlagsahne badeten; und später saßen sie unter den Pflaumenbäumen auf der Wiese und futterten, bis sie Berge von Steinen wie kleine Pyramiden oder von einem Sieger angehäufte Schädel aufgeschichtet hatten, und dann zogen sie zum nächsten Baum. Und niemand war krank, und alle waren froh, außer jenen, die das Gras mähen mußten. (HDR III 343)

Isengard dagegen wird in einer Weise als von der Umwelt zerstörte Landschaft präsentiert, daß die Beschreibung auch auf die englischen Industriestädte am Ende des 19. Jahrhunderts zutreffen könnte:

Once it had been green and filled with avenues, and groves of fruitful trees, watered by streams that flowed from the mountains to a lake. But no green thing grew there in the latter days of Saruman. The roads were paved with stone-flags, dark and hard; and beside their borders instead of trees there marched long lines of pillars, some of marble, some of copper and of iron, joined by heavy chains.

Many houses there were, chambers, halls, and passages, cut and tunnelled back into the walls upon their inner side, so that all the open circle was overlooked by countless windows and dark doors. (LOTR II 160)

Einst war es grün gewesen und von baumbestandenen Straßen durchzogen und voller Haine früchtereicher Bäume, bewässert von Bächen, die vom Gebirge herab in einen See flossen. Aber nichts Grünes wuchs dort in Sarumans letzten Tagen. Die Wege waren mit Steinplatten gepflastert, dunkel und hart; und an ihren Rändern zogen sich statt der Bäume lange Reihen von Säulen hin, manche aus Marmor, manche aus Kupfer und Eisen, verbunden durch schwere Ketten.

Viele Häuser gab es, Unterkünfte, Hallen und Durchgänge, die auf der inneren Seite in die Wälle hineingehauen worden waren und wieder hinausführten, so daß der offene Kreis von zahllosen Fenstern und dunklen Türen überblickt wurde. (HDR II 180f.)

Es folgt die drastische Beschreibung der unterirdisch eingepferchten Arbeiter und Krieger, dann der Wölfe in Höhlen und der vielen Bergwerksschächte und -stollen.

Their upper ends were covered by low mounds and domes of stone, so that in the moonlight the Ring of Isengard looked like a graveyard of unquiet dead. For the ground trembled. The shafts ran down by many slopes and spiral stairs to caverns far under; there Saruman had treasuries, store-houses, armouries, smithies, and great furnaces. Iron wheels revolved there endlessly, and hammers thudded. At night plumes of vapour steamed from the vents, lit from beneath with red light, or blue, or venomous green. (LOTR II 160)

Ihre oberen Enden waren mit niedrigen Hügeln und Kuppeln aus Stein bedeckt, so daß der Ring von Isengart im Mondschein wie ein Friedhof von unruhigen Toten aussah. Denn der Boden zitterte. Die Schächte führten über viele schräge Stollen und Wendeltreppen hinunter in tiefe Verliese; dort hatte Saruman Schätze, Warenlager, Waffenkammern, Schmieden und große Schmelzöfen. Eiserne Räder drehten sich dort ununterbrochen, und Hämmer dröhnten. Des Nachts strömten Dampfwolken aus den Schloten, auf die von unten rotes oder blaues oder giftgrünes Licht fiel. (HDR II 180f.)

Es wird berichtet, daß Tolkien sich schon als 16jähriger mit der altnordischen Sprache und Literatur befaßte, etwa mit der Völsunga saga. Blutrünstige und grausame Stellen finden sich darin genug, aber es ist zu vermuten, daß der Jugendliche die Fassung des Völsungen-/Nibelungenstoffes im mittelhochdeutschen Nibelungenlied noch nicht kannte und daher von einer Stelle wie der folgenden sehr beeindruckt war:

Darauf wurden beide, Gunnar und Högni, in Fesseln gelegt. Da sagte König Atli zu König Gunnar, er sollte gestehen, wo das Gold sei, wenn er sein Leben geschenkt haben wolle. Der antwortete: «Dafür muß ich zuerst das blutige Herz meines Bruders Högni sehen.»

Da ergriffen sie den Knecht wieder, schnitten ihm das Herz heraus und brachten es dem König Gunnar. Der sprach darauf: «Das Herz von Hjalli dem Feigen kann man hier sehen; es ist nicht wie das Herz von Högni dem Kühnen, denn es zittert jetzt sehr, aber es zitterte doppelt so stark, als er es noch in der Brust hatte.»

Da gingen sie auf Befehl König Atlis zu Högni und schnitten ihm das Herz heraus. Sein Mut war aber so groß, daß er lachte, während er diese Qual erlitt, und alle wunderten sich über seine Tapferkeit, und daran hat man sich seitdem immer erinnert. Sie zeigten Gunnar das Herz von Högni. Er sprach: «Hier kann man nun das Herz von Högni dem Kühnen sehen, denn es ist nicht wie das Herz von Hjalli dem Feigen, denn es bewegt sich jetzt kaum, und noch weniger, während er es in der Brust hatte. Du, Atli, wirst Dein Leben lassen, wie wir jetzt unser Leben lassen, und ich weiß jetzt allein, wo das Gold ist, und Högni kann es dir nicht mehr sagen […] der Rhein mag nun das Gold behalten, bevor es die Hunnen in die Hände bekommen.» (Ü.: R. S.)

Die Faszination durch die mittelalterliche Mythologie hielt an. Als Tolkien 1910 zum Studieren nach Oxford ging, soll der 18jährige seine Kommilitonen mit Passagen aus der Völsunga saga unterhalten haben.[3] (darüber noch mehr im 2. KAPITEL)

Noch bevor Tolkien sein Studium abschließen konnte, brach der Erste Weltkrieg aus, und Tolkien rückte 1915 zu den Lancashire Fusiliers, einem Infanterieregiment, ein, mit dem er 1916 die Schützengrabenkämpfe erlebte. Kurz vorher heiratete er die um drei Jahre ältere Waise Edith Bratt. Sie hatten sich schon 1908 kennengelernt, sich 1913 verlobt, und Edith war 1914 unter widrigsten Umständen zum Katholizismus konvertiert. Die beiden hatten drei Söhne und eine Tochter zusammen und waren bis zu Ediths Tod 1971 verheiratet. Tolkien kehrte aus dem Krieg schon nach einem halben Jahr nach England zurück und begann bei diversen Lazarettaufenthalten, während derer er ein Fünftagefieber auskurierte, erstmals mit dem Schreiben von märchenartigen Geschichten mit stark mythologischem Einschlag. Nach dem Krieg und seinem Studienabschluß arbeitete Tolkien als Assistent am größten englischen Wörterbuchprojekt, dem Oxford English Dictionary, und ab 1920 trat er eine Stelle als Reader (d.h. Dozent) in English Language an der Universität Leeds an. Schon im Alter von 33 Jahren, 1925, konnte er aber als Professor für Anglo-Saxon Studies nach Oxford zurückkehren, und zwar ans Pembroke College. Im Jahre 1945 wechselte er als Merton Professor of English Language and Literature ans Merton College der Universität Oxford, wo er bis zu seiner Emeritierung 1959 blieb. 1967 zogen die Tolkiens schließlich ins Küstenstädtchen Bournemouth und wohnten dort bis zu Ediths Tod 1971. Danach zog Tolkien wieder nach Oxford zurück; er starb dort am 2. September 1973 im Alter von 81 Jahren.

Auf dem Grabstein des Ehepaars Tolkien findet sich eine Anspielung auf Beren and Lúthien aus dem SILM. Lúthien, die elbische Tochter von König Thingol und der Maia Melion, hatte Beren zuliebe ihre Unsterblichkeit aufgegeben – vielleicht eine Anspielung auf Ediths Verzicht auf eine künstlerische Karriere als Tänzerin oder Pianistin.[4]

Der Romanautor

Bekannt und berühmt geworden ist Tolkien aber nicht als Sprach- und Literaturwissenschaftler, auch wenn seine Ausgaben und Schriften (s. LITERATORHINWEISE) noch heute von einem nicht nur phantasievollen, sondern auch akribisch genauen Wissenschaftler zeugen.

Tolkien war sein ganzes akademisches Leben lang in literarische Zirkel eingebunden, die er wesentlich mitprägte oder gar gründete. Schon in Leeds hatte er Freundschaft mit E. V. Gordon geschlossen, einem Altskandinavisten, der im englischen Sprachraum bis heute durch sein immer noch benutztes Altnordisch-Lehrbuch An Introduction to Old Norse bekannt ist. Mit ihm hatte Tolkien den literarischen Viking Club gegründet. In Oxford schloß Tolkien ab 1926 Bekanntschaft, später Freundschaft mit C. S. Lewis (1898–1963), dem Autor von Fantasy-Romanen für Jugendliche, die zunächst viel bekannter als die Tolkiens waren. Dazu zählen The Lion, the Witch and the Wardrobe und die Serie um Prince Caspian (zusammen als Chronicles of Narnia bekannt) sowie seine sog. Space-Trilogy (bestehend aus Out of the Silent Planet, 1938, Perelandra, 1943 und That Hideous Strength, 1945). Auch Lewis gehörte zu einem Kreis von Dons, also englischen Universitätsprofessoren, die sich Inklings (etwa: «Tintenkleckser») nannten, da sie im Gegensatz zu anderen Kollegen literarisch tätig waren. Außerdem gründete Tolkien den Kreis der Coalbiters («Kohlenbeißer»), die sich mehrfach pro Trimester zur gemeinsamen Sagalektüre trafen.[5]

Tolkien hatte, wie schon erwähnt, bereits im Lazarett während des Ersten Weltkriegs begonnen, pseudomythologische Texte zu verfassen. Diese wurden zwar erst posthum 1983 und 1984 als The Book of Lost Tales 1 bzw. 2 veröffentlicht, sie können aber durchwegs als frühe Teile der Mythologie des SILM gesehen werden. Nach der Geburt seiner Kinder (1917, 1920, 1924 und 1929) begann Tolkien wie viele Eltern, auch kleine Geschichten für sie zu verfassen. Erhalten sind davon neben etlichen Gedichten The Father Christmas Letters (veröffentlicht erst 1973). Das Buch ist eine nette Variation auf das Thema, daß in England vor Weihnachten die Kinder ihren Wunschzettel als «Letter to Father Christmas» an den Weihnachtsmann verschicken. Ab 1930 begann Tolkien einen längeren Text für seine Kinder zu schreiben, der 1931 als HOB Gestalt annahm. Er wurde aber erst 1937 publiziert, angeblich auf Drängen von Freunden, zu denen sicherlich die Inklings zählten. Das zeigt auch die Qualitäten dieses Romans: Er mußte dem mündlichen Vortrag vor zwei sehr unterschiedlichen Zuhörergruppen standhalten: vor seinen Kindern einerseits (sie waren zur Abfassungszeit zwischen zwei und vierzehn Jahre alt), vor den akademischen Literaten der Inklings, denen er den Roman abschnittsweise an den gemeinsamen Abenden vorlas, andererseits.

HOB wurde ein großer literarischer Erfolg und kann als die Meisterleistung von J. R. R. Tolkien gelten, die mit den späteren Werken nicht mehr übertroffen werden konnte. Es ist sowohl ein Kinderbuch, das sich an die Gesetze der einfachen literarischen und sprachlichen Formen und Strukturen hält, als auch ein Schritt auf dem Weg zur Erschaffung des Tolkienschen Kosmos.

Der Verlag George Allen and Unwin war natürlich mit dem Publikumserfolg des HOB äußerst zufrieden und drängte immer wieder auf einen weiteren Roman mit Hobbits, aber Tolkien ließ sich nicht drängen. Er bastelte allerdings weiterhin mit unterschiedlicher Intensität an der Kosmologie und Geschichte hinter der Welt der Hobbits, wobei er schon auf die Lost Tales und andere Vorarbeiten seit dem Ersten Weltkrieg zurückblicken konnte. Es dauerte aber bis 1949, bis auch nur eine Rohfassung von LOTR fertiggestellt war, dann nochmals fünf Jahre bis zum Erscheinen der ersten beiden Bände und noch ein weiteres Jahr bis zum vollständigen Erscheinen 1955.

Wenn man die Entstehungszeit von 1939 bis 1949 betrachtet, so ist es nicht verwunderlich, daß der permanente Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, der besonders in England häufig allzu schematisch als Kampf zwischen Gut und Böse angesehen wurde, als Kulisse des LOTR erschien. Tolkien selbst beunruhigte dies, da er den LOTR nicht als Allegorie verstanden wissen wollte. Dieses Jahrzehnt dürfte trotz längerer Pausen im wesentlichen der Arbeit am LOTR gewidmet gewesen sein, was sich auch daran ablesen läßt, daß Tolkiens akademische Publikationen selbst unter Berücksichtigung der Kriegszeit eher gering an Zahl blieben. In diesen Jahren produzierte Tolkien neben der schließlich von ihm akzeptierten Textfassung auch viele Texte, die – wenn auch inzwischen veröffentlicht – eigentlich nicht für die Publikation bestimmt waren. Sie widersprechen der Handlung im LOTR und der Vorgeschichte im SILM wiederholt, da sie vom Autor verworfene Vorstufen dazu darstellen. Der lange Entstehungsprozeß des LOTR, das Verwerfen verschiedener Textfassungen und das Neuverfassen vieler Passagen, wurde von den Inklings begleitet, in besonderem Maße von C. S. Lewis. Dieser wurde zu Tolkiens engstem Freund in der Literatengruppe, obwohl die beiden die Bücher des jeweils anderen nicht sonderlich mochten. Lewis erwähnt in Briefen schon ab November 1939, daß Tolkien Kapitel des «neuen Hobbit», wie er ihn damals offenbar nannte, vorgelesen habe, und sein Bruder W. H. Lewis, ein anderer Inkling, erwähnt das Vorlesen von Kapiteln daraus auch noch für das Jahr 1946.[6]

LOTR hatte keinen schnellen Erfolg als Buch; dazu ist er wohl auch zu umfangreich, zu wortreich, zu unübersichtlich und ingesamt nicht so ein perfekt und kompakt konstruierter Roman wie HOB. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis der Roman im Laufe der späten 60er Jahre und frühen 70er Jahre vor allem unter Studenten immer beliebter wurde und dann Kult-Status bekam. In Deutschland wurden Tolkiens Bücher noch deutlich später bekannt; die Übersetzung des HOB war erst 1957, die von LOTR erst 1969 und 1970 erschienen. Die Verfilmung als Dreiteiler ab 2000 machte dann LOTR plötzlich in einer breiten Öffentlichkeit populär; ein regelrechter Tolkien-Boom begann, der sämtliche modernen Kommunikationsmedien und selbst die Spielzeugindustrie mit einbezog.

Von Tolkiens Kindern war es von Anfang an sein jüngster Sohn Christopher, der nicht nur in die Fußstapfen seines Vaters trat – er wurde Altnordist und Altanglist an der Universität Oxford und bekam eine Stelle bei Tolkiens Nachfolger E. O. G. Turville-Petre –, sondern auch die Herausgabe der späten Werke wesentlich mitbestimmte. Ohne Christopher Tolkien sind die nachgelassenen Schriften und wohl auch schon das SILM undenkbar. Es ist amüsant, seine Ausgabe von The Saga of King Heidrek the Wise anzusehen, mit der er 1960 promovierte, weil sie mit ähnlich vielen Anhängen und Glossaren zu Geschichte, Kulturgeschichte und Überlieferung versehen ist wie die Romane seines Vaters, dabei aber durchaus wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.

Die Literaturwissenschaft hat sich mitunter schwer mit J. R. R. Tolkiens Werk getan, eben weil es so stark auf mittelalterlichen und mythologischen Quellen beruht und sich daher die Frage stellt, ob die Romane nicht doch nur eine Collage aus älteren Quellen sind, nur neu arrangiert. Eine nähere Untersuchung wie die vorliegende zeigt aber, wie frei Tolkien trotz seiner vielen Anleihen bei den alten Texten mit seinem «Rohstoff», den mittelalterlichen Stoffen, Motiven, Figuren, Themen und selbst Strukturen umgegangen ist, um doch etwas völlig Neues zu schaffen. Davon abgesehen hat die ganze europäische mittelalterliche Literatur vor den großen Artuszyklen des Spätmittelalters kein ähnlich umfangreiches Epos aufzuweisen, weder in Vers noch in Prosa. Tolkien hat somit aus der keltischen und germanischen Literatur und Mythologie ein eigenständiges mythologisches Epos geschaffen, das entgegen seinen eigenen Aussagen in On Fairy-stories viel mehr mit mittelalterlichen Heldenepen und mythologischen Erzählungen zu tun hat als mit Volksmärchen. Sein Ziel war es aber, eine Art englische Nationalmythologie zu schaffen, «a mythology for England».

Tolkien und die altnordische Literatur

Es wurde schon erwähnt, daß der 18jährige Tolkien an der Universität Oxford sich und seine Freunde durch das Vorlesen von blutrünstigen Episoden aus der Völsunga saga unterhalten haben soll, wobei er Zitate aus dem Original vorgetragen habe. Allerdings lag die Saga damals schon in mehreren Übersetzungen vor. Die von William Morris (1834–1896) war in England weit verbreitet[7] und hatte schon mehrere Auflagen erlebt. Tolkien mußte also nicht unbedingt auf das Original zurückgreifen, das allerdings bereits zu seiner Zeit in acht verschiedenen Ausgaben vorlag.

Welchen Einfluß diese frühe Lektüre altnordischer Texte auf Tolkien hatte, zeigt sich an folgendem Textausschnitt. Er erinnert sowohl an die Stelle vom Tode Théodens auf den Pelennor Fields, wobei Éowyns Schwert zerbricht (LOTR III 116–118), als auch an die Rolle des zerbrochenen Schwerts Narsil, das als Aragorns Schwert Andúril neues Leben gewinnt (LOTR I 290; darüber mehr im 10. KAPITEI).

König Lyngvi machte sich nun zum Königshof auf und gedachte dort die Königstochter zu ergreifen, aber das gelang ihm nicht, denn er fand weder Frau noch Schätze. Er durchzog nun das Land und teilte es unter seine Leute auf. Er dachte nun, daß er alle aus dem Völsungengeschlecht erschlagen habe und von ihnen fortan nichts mehr zu befürchten habe.

Hjördis ging nun in der Nacht nach der Schlacht auf das Feld der Gefallenen und kam dorthin, wo König Sigmund lag, und fragte ihn, ob er zu heilen sei. Er aber antwortete: «Viele überleben, obwohl wenig Hoffnung besteht, aber mein Glück hat mich verlassen, so daß ich mich nicht heilen lassen will. Odin will nicht, daß ich das Schwert ziehe, nachdem es nun zerbrochen ist. Ich habe Schlachten geschlagen, solange es sein Wille war.»

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Titelblatt der Völsunga saga in der von Tolkien verwendeten Ausgabe

Sie sprach: «Es schiene mir sehr dringend, daß Du geheilt wirst und meinen Vater rächst.» Der König sagte: «Das ist einem Anderen bestimmt. Du bist mit einem Knaben schwanger: zieh ihn gut und vorsichtig auf, und dieser Knabe wird der erste und vornehmste unseres Geschlechts sein. Paß auch gut auf die Teile des Schwerts auf: Daraus wird ein gutes Schwert gemacht werden, es soll Gram heißen, und unser Sohn wird es tragen und damit viele Großtaten vollbringen, obwohl er nicht alt werden wird. Sein Name wird bekannt sein, solange die Welt besteht. Laß es nun dabei, aber ich werde von den Wunden erschöpft und will nun unsere vorangegangenen Verwandten treffen.» Hjördis saß nun bei ihm, bis er starb, und da brach der Tag an. (Völsunga saga, Kap. 13)[8]

Mittelalterliche Texte und Autoren, die in Tolkiens Werk von Bedeutung sind:

 

Barðar saga Snæfallsáss («Saga von Barðar, dem Asen des Snæfell-Gletschers»): Isländersaga, die unter Trollen und Riesen spielt; um 1350

Beowulf: altenglisches Heldenepos über dänische Helden der Völkerwanderungszeit, verfaßt wohl im 8. Jh.

Chaucer, Geoffrey (ca. 1340–1400): Canterbury Tales. Sammlung von mittelenglischen Erzählungen im Rahmen einer Wallfahrt

Codex Regius: wichtigste Handschrift der Edda

Cynewulf (8. Jh.?): Crist. Fragmentarisches angelsächsisches Gedicht über Christus, das mit einer Weltuntergangsschilderung schließt

Edda: altnordische Sammlung anonymer Götter- und Heldenlieder, nach 1270 im sog. Codex Regius aufgeschrieben

Eiriks saga víðförla («Saga vom weitgereisten Eirik»), kurze altnordische Saga über die angebliche Jenseitsreise eines Norwegers, verfaßt im 14. Jh.

Fagrskinna («Schöne Handschrift»), Handschrift mit altnordischen Sagas über die norwegischen Könige

Gísla saga Súrssonar («Saga von Gisli Sursson»): isländische Saga über einen Isländer, der wegen der Familienehre mehrere Totschläge begeht und dafür geächtet wird; Mitte des 13. Jh. verfaßt

Grettis saga («Saga vom starken Grettir»), umfangreiche altnordische Saga über einen sagenhaften isländischen Bauernsohn des 10. Jh., der als stärkster Mann Islands bezeichnet wurde; geschrieben nach 1300

Gunnlaugs saga ormstungu («Saga von Gunnlaug Schlangenzunge»): Saga über einen scharfzüngigen isländischen Skalden, die teilweise am norwegischen Königshof des 10. Jh. spielt; wohl 1270–80 entstanden

Heiðreks saga konungs («Saga von König Heiðrek») oder auch Hervarar saga ok Heiðreks kunungs («Die Saga von Hervör und König Heiðrek»): altnordische Vorzeitsaga, die alte Heldenlieder enthält, aber erst im 13. Jh. verfaßt wurde; die wissenschaftliche Ausgabe stammt von Chr. Tolkien

Hrolfs saga kraka («Saga von Hrolf kraki»): Fornaldarsaga über einen sagenhaften dänischen König, die erst im 14. oder 15. Jh. entstand

Nibelungenlied: mittelhochdeutsches höfisches Heldenepos über die Sagen von Sigfried, Brünhild und die Nibelungen, um 1200 verfaßt. Abweichende Fassungen dieser Stoffe finden sich auch in den Heldenliedern der Edda

Orendel: Mittelhochdeutsches Versgedicht, um 1190 verfaßt, das den Hl. Rock von Trier und seine Herkunft zum Inhalt hat

Örvar-Odds saga («Saga vom Pfeile-Odd»): altnordische Saga über einen Helden der mythischen Vorzeit, der drei Leben hat; 13. Jh.

Saxo Grammaticus († 1216): Gesta Danorum («Geschichte der Dänen»), lateinische Geschichte Dänemarks in Prosa von den mythischen Anfängen bis 1202; Anfang des 13. Jh. verfaßt

Sir Gawain And The Green Knight: anonymes mittelenglisches Versepos aus dem Stoffkreis um König Artus, geschrieben wohl bald nach 1375

Snorri Sturluson (1178/1179–1241): Edda (auch Snorra-Edda oder Prosa-Edda), ein altnordisches Handbuch für Dichter, das auch viele mythologische Informationen enthält, um 1220 verfaßt; Heimskringla, die Geschichte der norwegischen Könige von dem mythischen Anfängen bis 1177, um 1230 verfaßt; wahrscheinlich auch von S.S. ist Egils saga Skalla-Grímssonar («Saga von Egill Skalla-Grimsson»), ausführliche isländische Saga über den isländischen Skalden und Wikinger Egill, der im 10. Jh. wirklich lebte

The Ruin: altenglisches elegisches Gedicht über die römischen Ruinen in England, aufgezeichnet im 11. Jh., vielleicht schon im 8. Jh. verfaßt

The Wanderer: altenglisches Gedicht über das Schicksal eines «Erdwanderers»; im späten 10. Jh. aufgezeichnet

Víga-Glúms saga («Saga vom Kämpfer Glúmr»): Saga über einen sagenhaften Isländer des 10. Jh., wohl Mitte des 13. Jh. verfaßt

Völsunga saga («Saga von den Völsungen»): umfangreiche altnordische Saga über die Geschlechter der Völsungen und Nibelungen, beruhend auf den Heldenliedern der Lieder-Edda, nach 1250 verfaßt

Völuspá («Vorhersagung der Seherin»): altnordisches mythologisches Gedicht und wichtigstes Lied der Edda; Entstehungszeit unbekannt

Alle Wissenschafter sind bis zu einem gewissen Grad vom Stand der Forschung zur Zeit ihres Studiums und ihrer ersten Forscherjahre geprägt, auch wenn sie sich dann weiterentwickeln. Da Tolkien OBOTR