Über Luiza Sauma

Foto: Guilherme Heurich

Luiza Sauma, geboren in Rio de Janeiro, wuchs in London auf und arbeitete viele Jahre für die Independent on Sunday. Sie studierte Creative & Life Writing am Goldsmiths College in London, wurde 2014 mit dem Pat Kavanagh Award ausgezeichnet und stand auf der Shortlist für den Commonwealth Short Story Prize. Luana ist ihr erster Roman.

Lieber André,

vor ein paar Wochen habe ich zum ersten Mal im Internet nach Dir gesucht. Es war kinderleicht, Dich zu finden. Zwar gibt es viele André Cabrals auf der Welt, aber nicht in Londres. Ich habe ein Foto von Dir gesehen. Du siehst noch genauso aus wie früher – nur alt. Ich bin auch alt, leider. Ich habe Deine Büroadresse und Deine E-Mail-Adresse gefunden, aber nach so vielen Jahren erschien mir eine E-Mail unpassend – zu direkt. Deshalb schreibe ich Dir einen Brief.

Denkst Du manchmal an uns? Vermutlich nicht, aber das solltest Du.

Ich weiß, dass Du schon seit vielen Jahren in Londres lebst und Arzt bist. Wie könnte es auch anders sein. Du hast zwei Töchter, nicht wahr? Das hat mir Dein Vater vor seinem Tod erzählt. Zwei inglesinhas, wer hätte das gedacht? Bestimmt ist es kalt bei Euch.

Ich war noch nie in Europa. Ich habe noch nicht einmal Brasilien verlassen, aber das ist schon in Ordnung – ich hatte nie damit gerechnet. Und ich kann wirklich nicht klagen. Wenn man bedenkt, wo ich lebe. Es ist wunderschön hier und sicher. Die Kinder wachsen vollkommen frei auf, wie Indianer. Und wo man auch hingeht, riecht man den Urwald. Im

Eines Tages werde ich nach Europa reisen: Paris, Londres, Irland, Deutschland. Meine Tochter Iracema wäre begeistert. (Sie studiert auch Medizin. Lustig, oder?) Dort zieht es mich hin: an Orte, an denen es kalt ist, weil mir noch nie kalt war. Wir werden sehen. Wobei die wenigen Gringos, die hierherkommen, mir versichern, es sei die lange Reise nicht wert; ihnen ist Brasilien lieber. Unser Land verführt sie, macht sie verrückt. Sie wissen nicht, wie es wirklich ist.

Ich werde Dir wieder schreiben. Ich habe Dir eine Menge zu erzählen. Ich werde Dich warten lassen, so wie Du uns hast warten lassen.

Luana

Das war der erste Brief. Ich erzählte niemandem davon. Nicht einmal meiner Frau Esther. Das Papier roch holzig, feucht, leicht tropisch. Die Vergangenheit besitzt einen bestimmten Geruch, nicht wahr? Für mich riecht sie nach Brasilien. Ich hielt mir den Brief vors Gesicht, atmete ein und spürte, wie die Jahre dahinschmolzen. Mit einem Mal war ich wieder siebzehn, noch ein Junge. Seit fast dreißig Jahren hatte ich Luana nicht mehr gesehen. Auf dem Umschlag stand kein Absender.

Ich las den Brief auf der Arbeit, zwischen zwei Patientengesprächen, las ihn noch einige weitere Male und steckte ihn in die Tasche meiner Anzugjacke. Dort blieb er für einige Wochen. Manchmal griff ich danach, schob die Hand in die Tasche, berührte die Kanten des Briefes und spürte, wie meine Haut taub wurde. Ich wollte im Internet nach ihr suchen, konnte mich aber nicht an ihren Nachnamen erinnern – hatte ich ihn vielleicht nie

Wäre Mamãe nicht gestorben, wäre das alles nicht passiert. Ich würde immer noch in Rio de Janeiro leben, wäre mit einer Brasilianerin aus gutem Hause verheiratet, würde in unserer alten Wohnung mit Blick auf den Strand wohnen. Meine Frau und ich würden unsere Kinder auf die gleiche Weise erziehen lassen, wie wir erzogen worden waren – von liebevollen schwarzen Frauen, die in einem kleinen Zimmer hinter der Küche schliefen. Dinnerpartys in Ipanema, Leblon und Copacabana, Wochenendausflüge nach Teresópolis und Búzios und Urlaubsreisen nach Europa, wo wir davon träumen würden, dort zu leben.

Stattdessen wohne ich allein in einer Zweizimmerwohnung auf der Albion Road in Stoke Newington, London. Esther wohnt immer noch in unserem Haus auf der Winston Road, zwei Minuten zu Fuß entfernt – in dem Haus, das wir nach unserer Hochzeit gekauft haben, vor zwanzig Jahren, als die Gegend noch verhältnismäßig erschwinglich war. Ihre Familie ist von Grund auf anders als meine – englisch und jüdisch, Letzteres zumindest halbwegs, wie sie zu sagen pflegt. Wir haben zwei Töchter, Beatriz und Hannah. Beatriz ist nach Mamãe benannt. Ich nenne sie Bia; alle anderen rufen sie Bee. Es gäbe sie nicht, wäre Mamãe nicht gestorben. Jeden Tag gehe ich in die Praxis, kehre nach Hause zurück, esse allein zu Abend. Mein Leben ist klein und überschaubar. Mein Schlafzimmer geht zur Straße hinaus, und im Schlaf höre ich die Autos. Unglaublich, was ich für

Mamãe starb im Januar 1985 bei einem Autounfall auf der Straße, in der ich aufgewachsen bin. Alles, was danach passierte, war zweitrangig. Die Militärdiktatur endete in jenem Jahr, aber ich kann mich nicht erinnern, was ich darüber dachte. Mamãe war tot. Was war da noch wichtig? Papai kehrte in seine Schönheitsklinik zurück. Mein Bruder Thiago und ich gingen wieder zur Schule. Die Leute bemerkten anerkennend, wie gut wir mit der Situation zurechtkämen. Doch das taten wir nicht. Ihre Abwesenheit war so unterschwellig und doch beharrlich präsent wie Tinnitus. Unsere Wohnung wirkte leer, obwohl wir zu fünft darin wohnten. Manchmal meinte ich zu hören, wie sie mit ihrer fröhlichen, rauen Stimme nach unseren Dienstmädchen rief: »Rita! Luana!«, oder ich nahm aus den Augenwinkeln ein Aufblitzen von Rosa und Orange wahr. Sie hatte leuchtende Farben geliebt. Sie hatte immer gelächelt. Nachts hörte ich, wie Thiago, der damals sechs Jahre alt war, in seinem Zimmer weinte, während Rita ihn in den Schlaf sang. Weinen war etwas für Frauen und Kinder, also weinte ich nicht. Ich sah mich nicht mehr als Kind. Ich war ein Mann ohne Mutter. Mein siebzehnter Geburtstag verstrich beinahe unbemerkt.

Das letzte Mal war ich zu Papais Beerdigung nach Brasilien gereist – an meinem vierzigsten Geburtstag hatte er einen Herzinfarkt erlitten. Wir sagten die Feier ab und flogen nach Rio, die ganze Familie. Und ich fragte mich, ob er das mit Absicht getan hatte, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich war eine ganze Weile nicht da gewesen. Das liegt inzwischen sechs Jahre zurück.

In meinen Träumen von Brasilien ist alles übertrieben. Die Blätter sind übertrieben grün und das Meer übertrieben blau. Ich hatte einen Traum, in dem es regnete und der Himmel grau war. Ich war in Badeshorts am Strand von Ipanema und spürte die Regentropfen auf mir. Ich wusste, dass ich zu den Cagarras-Inseln schwimmen musste, zu der unbewohnten Inselgruppe, die vom Ufer aus zu sehen ist. Ich watete ins Wasser und schwamm auf die Inseln zu, schwamm mit geöffneten Augen durch das Salzwasser. Ich ging an Land, streckte mich auf den Felsen aus und spürte meine Haut in der Sonne brutzeln wie Speck in der Pfanne.

Der Traum von den Cagarras-Inseln hat keine besondere Bedeutung. Ich habe ihn nur zwei Mal geträumt. Wichtiger ist der Traum, der von Luana handelt, Ritas Tochter. Noch bevor sie mir zu schreiben begann, hatte ich bereits mindestens einmal pro Woche von ihr geträumt. Es war zum Verrücktwerden. In meinem Traum schwimmen wir im Fluss, im Amazonas, und versuchen, ans andere Ufer zu gelangen. Ein unmögliches Unterfangen, weil der Fluss viel zu breit ist. Ich bin wieder siebzehn

Diesen Traum hatte ich zum ersten Mal vor eineinhalb Jahren, letzten Juli, nach der Feier anlässlich meines fünfundvierzigsten Geburtstags. Ich hatte meinen Geburtstag nicht feiern wollen, doch Esther bestand darauf. Sie hatte schon immer ein Händchen für Partys, genau wie Mamãe. Sie schrieb die Gästeliste, organisierte das brasilianische Catering – salgadinhos, churrasco, Caipirinhas – und buchte die Band, die in unserem Wohnzimmer brasilianische Lieder spielte. Die Musiker, zwei Männer und eine Frau, trafen eine Stunde vor den Gästen ein und brachten ihre Instrumente und Verstärker mit. Esther war im oberen Stock und machte sich fertig, also nahm ich die Musiker in Empfang und schlüpfte in meine Rolle als Brasilianer unter anderen Brasilianern. Ich war aus der Übung, und es kostete mich gewisse Mühe. Wir lachten und scherzten, beklagten uns über das Wetter und redeten darüber, wo wir herkamen. Sie waren beeindruckt, dass ich schon so lange hier war und die britische Staatsbürgerschaft besaß. Ich erzählte ihnen, dass ich bei meiner Ankunft in den achtziger Jahren kaum einem anderen Brasilianer auf der Straße begegnet war – nicht einmal Touristen.

»Und jetzt nehmen wir ganz Londres ein!«, rief die Musikerin.

Carolina, so hieß sie. Ich sah sie an, sie lächelte, und es traf mich wie ein Schlag: Sie sah Luana ungemein ähnlich. Carolinas Augen waren zwar braun, nicht grün, und sie trug die Haare zu langen Zöpfen geflochten statt zu einem Dutt zusammengebun

Luana. Unsere empregada, unser Dienstmädchen. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht. Okay, das ist nicht wahr. Natürlich dachte ich an sie – wie könnte ich auch nicht? –, aber immer nur flüchtig. Ihr Gesicht war eines von Hunderten, die ich jeden beliebigen Tag im Geist vor mir sah: Exfreundinnen, verstorbene Verwandte, lang aus den Augen verlorene Freunde, Patienten und Kollegen – doch ich versuchte, meinen Erinnerungen an Luana und an das, was zwischen uns vorgefallen war, nicht zu lange nachzuhängen. Als ich Esther kennenlernte, verbannte ich diese Erinnerungen in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses.

»Wo sollen wir die Sachen aufbauen?«, unterbrach einer der Musiker meine Gedanken.

An jenem Abend trug Esther ein glänzendes marineblaues Kleid, ihr dunkles lockiges Haar war hochgesteckt, ihr Körper schmal und anmutig; auf High Heels ging sie von Gruppe zu Gruppe, um sicherzugehen, dass sich alle amüsierten. Nachdem die Feier einige Stunden in Gang war, alle begrüßt und verköstigt worden waren, fühlte ich mich angenehm betrunken. Ich verbrachte den Großteil des Abends in der Küche, in sicherer Entfernung von der Band, von Luanas Doppelgängerin, aber ich hörte immer noch ihre samtige Stimme, während sie alte Lieder von Tom Jobim sang. Esthers Freundin Nina zerrte mich zurück ins Wohnzimmer und rief: »Hör auf, dich zu verstecken, André!« Ich

»Wo warst du?«, fragte mich Esther, als ich mit einem leeren Glas in der Hand zurückkehrte.

»Nur ein bisschen frische Luft schnappen.«

Ich nahm eine Flasche Prosecco vom Tisch und füllte mein Glas auf. Sie rümpfte die Nase.

»Hast du geraucht?«

»Nur eine Einzige.«

»Aber du hast doch gesagt, du würdest aufhören.«

Neben uns auf der provisorischen Tanzfläche tanzten unsere Töchter und sangen zu »A Minha Menina« von Os Mutantes mit, das die Band gerade spielte. Carolina rasselte mit einem Egg Shaker und sang die Backing Vocals, doch ich hielt den Blick auf die Mädchen gerichtet. Sie sprachen kein Portugiesisch, kannten aber die Texte einiger Lieder – sie waren mit Mamães alten Schallplatten aufgewachsen. Hannah war fünfzehn und Beatriz fast achtzehn, kein Kind mehr. Sie besaß große Ähnlichkeit mit meiner Mutter, ihrer Namensvetterin, hatte ihr lebhaftes Lachen und die gleichen langen, schlanken Gliedmaßen. Hannah trug eine Brille mit dicken Gläsern, so wie ich in ihrem Alter, ansonsten war sie eine Feldman durch und durch, von der hellen Haut bis zu ihrer neugierigen, eigensinnigen Wesensart.

»Sieh sie dir an, Esther«, sagte ich. »Unsere Mädchen.«

Hannah rückte sich die Brille auf der Nase zurecht und winkte uns zu. Esther lachte, strahlte übers ganze Gesicht. Ich legte ihr den Arm um die Schultern, und sie drehte sich zu mir, um mich zu küssen. Alles würde gut werden. Der Abend würde zu Ende gehen, die Sängerin würde nach Hause gehen, und Luana würde

Doch am nächsten Morgen erwachte ich schweißgebadet und mit trockenem Mund aus meinem Traum, Luanas Gesicht vor Augen. Ihr Gesicht, nicht Carolinas. Wir waren im Amazonas geschwommen, genau wie früher als Teenager. Esther lag mit dem Rücken zu mir, in einem weißen Trägertop, ihre Haut zart und blass. Ich streichelte ihren Arm, und sie gab ein wohliges Geräusch von sich.

»Guten Morgen, querida«, sagte ich.

Sie drehte sich zu mir um, die Augen noch geschlossen, die Schminke verschmiert, ein zartes Lächeln um die Lippen. Ihre dunklen Locken lagen offen auf dem Kissen ausgebreitet. Ja, damals war das Leben besser.

»Wie geht’s deinem Kopf?«, fragte ich.

»Ganz gut. Und deinem?«

Luana entstammte einer anderen Zeit, einem anderen Ort, weit entfernt von London im Jahr 2013. Besser aufgehoben in meinen Träumen.

»Seltsamerweise fühle ich mich ganz gut«, sagte ich. »Vielleicht ändert sich das, wenn ich aufstehe.«

»Och nein, müssen wir denn wirklich aufstehen?«

Wir waren bis zwei Uhr morgens wach geblieben, nachdem die Band schon lange gegangen war und die Mädchen sich schlafen gelegt hatten. Ein paar Freunde waren noch geblieben (um ehrlich zu sein, waren es eher Esthers Freunde als meine), wir hatten Whisky getrunken, Zigaretten geraucht und irgendwann auch einen Joint. Worüber hatten wir uns bloß die ganze Zeit unterhalten? Ich wusste es nicht mehr, konnte mich nur noch daran erinnern, dass viel gelacht wurde. Ich hatte mir nichts

»Hübsch siehst du aus«, flüsterte ich, versuchte, die Erinnerungen wieder in ihr Verlies zu verbannen.

Doch sie prasselten weiter auf mich ein. Ich erinnerte mich an einen anderen Geburtstag: meinen achtzehnten in Rio, an die Party, die ich mit Hilfe von Rita und Luana in unserer Wohnung gefeiert hatte.

»Hmm, das glaube ich kaum«, sagte Esther, die Augen einen Spalt weit geöffnet.

Luana im Fluss. Luana, die uns das Essen serviert, tagein, tagaus. Luana nach meiner Party. Luana, die lacht wie ein Kind. Sie war noch ein Kind, so wie ich auch.

Esther legte einen Arm um mich und drückte ihre Lippen auf meine. Nun hatte sie die Augen geöffnet.

»Komm her«, sagte sie, »bevor die Kinder aufwachen.«

Ich schob meine Hand unter ihr Trägertop. Wir liebten uns schnell, wussten genau, was der andere mochte, doch alle paar Sekunden driftete ich gedanklich ab. Zu jener Geburtstagsparty vor siebenundzwanzig Jahren. Esther bog den Rücken durch, die Beine hinter meinem Rücken verschränkt. Schließlich kehrte ich zurück, gehörte für ein oder zwei Minuten ganz der Gegenwart.

Doch es war nicht von Dauer. Sie hat mich dieses Jahr im Juni verlassen. Jetzt ist Dezember.

Einen richtigen Winter gibt es in Rio de Janeiro nicht, doch im Juli lässt die Hitze ein wenig nach, und die Luftfeuchtigkeit weicht einer vorsichtigen Kühle. Zweiundzwanzig Grad Celsius: Das war unsere Atempause. Im Juli 1985 schien gleichzeitig mit den Temperaturen auch unsere Trauer erträglicher zu werden. Seit Mamães Unfall waren sechs Monate vergangen. Beim Essen sprachen wir wieder mehr miteinander. Papai stellte alltägliche Fragen, beispielsweise: »Wie war’s in der Schule?«, und erzählte uns Anekdoten von seiner Arbeit: unscheinbare Mädchen, die sich in Schönheiten verwandeln ließen, ein Herzstillstand auf dem OP-Tisch, eine Brustwarze, die während einer Brustverkleinerung verlorenging und im Mülleimer wiedergefunden wurde – Letzteres brachte uns zum Lachen. Thiago weinte nicht mehr jeden Abend, seine Tränen waren einer dumpfen Akzeptanz gewichen. Papai fing wieder an, über den Amazonas zu sprechen.

Er hatte uns schon immer Belém zeigen wollen, die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war. Eine Rückkehr zu unseren Wurzeln, ins Amazonasgebiet, in den Bundesstaat Pará – so verkaufte er es uns. Während meiner Kindheit hatte er die Stadt zwei- oder dreimal besucht, immer allein. Ein Familienausflug dorthin war nicht infrage gekommen, solange Mamãe noch lebte; allein bei der Erwähnung des Wortes »Pará« hatte sie ange

»Es ist alles organisiert«, verkündete er im August beim sonntäglichen Mittagessen. »Ich nehme mir einen Monat frei, und wir verbringen Weihnachten in Pará.«

Er schob sich einen Löffel feijoada in den Mund, sah uns lächelnd an und wartete auf unsere Reaktion. Der Dampf des Essens ließ seine Brillengläser beschlagen.

»Pará?«, sagte Thiago. »Was ist das?«

»Dort komme ich her, was bedeutet, dass auch ihr daher kommt.«

»Und was ist mit Vovô und Vovó?«, fragte ich.

Wir verbrachten Weihnachten für gewöhnlich mit Mamães Eltern in deren Landhaus in Teresópolis, ein bis zwei Stunden von der Stadt entfernt. Selbst im Sommer war es dort kühl und ruhig – das genaue Gegenteil von Rio. Papai kam meist für einen oder zwei Tage zu Besuch, dann fuhr er zurück, um zu arbeiten.

»Teresópolis? Wir sprechen hier vom Amazonas, nicht von einem Bergdorf.«

»Und was machen wir da?«, fragte ich.

»Verwandte besuchen«, sagte er und verzog leicht das Gesicht – mein Vater mischte sich ebenso ungern unter andere Menschen wie ich. »Durch die Stadt schlendern, gutes Essen genießen, im Fluss schwimmen. Es gibt sogar eine Insel in dem Fluss, Marajó – wir könnten hinfahren. Ich war das letzte Mal als kleiner Junge dort. Das wird ein richtiges Abenteuer.«

»Ich will aber zu Vovô und Vovó«, sagte Thiago.

»Sie wissen bereits Bescheid«, sagte Papa, »und ich habe die Flugtickets schon gebucht.«

Meine Großmutter erholte sich gerade von einem Facelifting. Ihre Trauer hatte sie altern lassen. Papai hatte die Operation selbst durchgeführt. Als wir Vovó eine Woche zuvor besucht hatten, war sie ganz aus dem Häuschen gewesen – vermutlich mit Medikamenten vollgepumpt –, und ihr Gesicht war grotesk geschwollen. Als ich sie sah, verstand ich, warum Papai immer zu Mamãe gesagt hatte, dass sie nichts an sich machen lassen sollte – nicht bevor sie alt war und es nötig hatte.

»Sie hielt es für eine gute Idee, dass wir ein wenig Zeit miteinander verbringen«, sagte Papai. »Nur wir drei, die Cabral-Männer.«

Ich fragte mich, was sie wirklich dachte. Es würde ihr erstes Weihnachtsfest ohne ihr jüngstes Kind werden, meine Mutter. Da wollte sie doch sicherlich den Rest der Familie um sich haben?

»Luana kommt auch mit«, sagte Papai.

»Klasse«, sagte Thiago, »dann bin ich dabei.«

»Und was ist mit dir, André?«

»Klar, das wird bestimmt lustig«, sagte ich, gab mein Bestes, um ihn zufriedenzustellen.

*

Mir graute davor. Ich war es nicht gewohnt, Zeit mit Papai zu verbringen. Bevor Mamãe starb, war er nie da gewesen – immer im OP, wo er Nasen in Form hämmerte, Brüste mit Silikon auspolsterte und Gesichter straffte. Wenn ich mich dagegen an Mamãe erinnere, habe ich sie immer zu Hause vor Augen: wie sie mit den Dienstmädchen sprach, mit uns zu Mittag aß, wie ihr Schmuck beim Essen klimperte. Wie sie ihre langen schwarzen Haare über die Schulter warf, wenn sie uns küsste, wie sie

Belém ist das portugiesische Wort für »Bethlehem«. Die längst verstorbenen Entdecker müssen der Stadt ihren Namen verliehen haben, als sie noch in vollem Glanz erstrahlte, Hoffnung versprühte. 1985 glänzte die Stadt nur noch mit unzähligen Schlaglöchern, vom Moos grün verfärbten Kolonialbauten, sintflutartigen Regenfällen und siedender Sonne. Die Menschen waren kleiner und dunkler als Rio, hatten so kleine Augen wie Papai und ich. (Thiago sah Mamãe ähnlicher: feingliedrig und hellhäutig.) Innerhalb weniger Sekunden hatte man seine frische Kleidung durchgeschwitzt. Wir wohnten in einem Kolonialbau mit rissiger blassgelber Fassade, die Fensterläden vor den hohen Fenstern waren geschlossen. Es befand sich in der Nähe des Río Pará – ein südlicher Nebenfluss des Amazonas, der in den Atlantik mündet. Das Haus gehörte Papais Cousin Eduardo, der nach Miami gezogen war. Es war halb leer geräumt, bereit für den Verkauf, und die Klimaanlage war kaputt.

»Der schläft noch.«

Die Sonne flackerte durch die geschlossenen Fensterläden. Ich konnte kaum das Essen auf meinem Teller erkennen. Meine Brille rutschte mir die verschwitzte Nase hinunter. Papais Brille rutschte ebenfalls.

»Können wir das Licht anmachen?«, fragte ich.

»Nein. Dafür ist es zu heiß!«

Luana trug einen Teller mit geschnittenem Obst herein. Sie hatte ihre lockigen Haare hochgesteckt und war lässig gekleidet, mit knielangen Shorts und einem T-Shirt. Nicht wie Rita, die stets eine gestärkte weiße Uniform trug. Selbst in der Düsternis erkannte ich einen dünnen Schweißfilm auf Luanas Stirn. Ich hatte angefangen, sie wahrzunehmen, nachdem ich sie jahrelang kaum zur Kenntnis genommen hatte. Der ungewohnte Schwung ihrer Taille, ihre grünen Augen, ihre Haut in der Farbe von doce de leite – auf einmal wohnte ein bildhübsches Mädchen bei uns, als wäre Ritas schmächtige, schweigsame Tochter ausgetauscht worden. Als Kinder hatten wir manchmal wie Freunde miteinander gespielt. Ich habe immer noch ein Foto, auf dem uns Rita auf unserem Balkon in Rio auf dem Schoß hat, ein Kleinkind auf jedem Knie, Fifi – damals noch ein junges Kätzchen – zu unseren Füßen. Auf der Rückseite steht in der geschwungenen Handschrift meiner Mutter: André, Luana, Rita e Filha, abril 1971. Seitdem ist die Distanz zwischen uns immer größer geworden. Ein stillschweigendes Übereinkommen, dass wir nicht gleich

»Was meinst du, Luana?«, fragte ich. »Ist es zu heiß, um das Licht anzumachen?«

Sie stellte den Teller in der Mitte des Tischs ab, lächelte auf ihre geheimnisvolle neue Weise, mit geschlossenen Lippen, und sagte: »Was immer doutor Matheus wünscht.«

Papai warf mir einen selbstgefälligen Blick zu und wischte sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn. Sie verließ das Esszimmer und ging zurück in die Küche.

Meine Beziehung zu Rita war unkomplizierter: Ich liebte sie vorbehaltlos. Sie war dunkel und stämmig, kräftig wie ein Baum und sprach mit nordöstlichem Akzent, der im Laufe der Jahre verblasst war. Beschämenderweise weiß ich nicht mehr, aus welchem Bundesstaat sie kam, weil sie nie darüber gesprochen hat. Rita lächelte nur selten, aber ihr Gesicht drückte selbst unbewegt mehr Güte und Wärme aus als jedes andere, das ich je gesehen habe. Sie hatte mich gewickelt, mich gebadet und mir an sieben Tagen die Woche das Essen gekocht, nur an zwei Sonntagen im Monat hatte sie frei. Sie war meine schwarze Mama, meine babá. Wenn überhaupt, war ich eifersüchtig auf Luana, weil Rita immer ihre Mutter sein würde und nicht meine.

Doch zurück zu dem heißen Haus in Belém.

»Warum wohnen wir nicht in einem Hotel?«, fragte ich Papai.

»Hör auf mit dem Blödsinn. Mir ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen.« Er stand auf und wedelte mit seinem Hemd, um sich Luft zuzufächeln. »Ich mache einen Rundgang durchs bairro. Willst du mitkommen?« Ich schüttelte den Kopf. »Was hast du stattdessen vor?«

»Ich werde anfangen, für das vestibular zu lernen«, log ich.

»Gute Idee«, sagte er. »Hast du Lust, später Fußball zu gucken?«

»Wer spielt?«

»Wer spielt?«, fragte er in gespielter Verzweiflung. »Jesus Cristo! Wessen Sohn bist du?«

 

Es war zu heiß, um rauszugehen und Belém zu erkunden. Ich verbrachte den Tag im Haus, fächelte mir Luft zu, klebte an den Möbeln fest und machte die Fenster auf, um die dicke Luft hereinzulassen, wodurch es noch unerträglicher wurde. Ich las die ersten paar Seiten von Jorge Amados Gabriela wie Zimt und Nelken, das ich in einem Bücherregal fand, doch jedes Mal, wenn ich mich auf die gedruckten Wörter konzentrierte, begann mein Kopf zu pochen und mir fielen die Augen zu. Ich gab auf, lag wie benommen mit Thiago auf dem Sofa herum und sah fern. Gerade lief eine alte Folge von Tom & Jerry. Tom war gerade dabei, mit Schrubber und Eimer sein Haus zu putzen, während Jerry auf alle erdenklichen Arten versuchte, sein Werk zunichtezumachen: Er leerte Aschenbecher auf dem Boden aus, jonglierte mit Eiern und warf mit Pasteten um sich.

»Seltsam, dass man nie die Menschen sieht, oder?«, sagte ich.

»Manchmal sieht man die Beine von Toms Besitzerin.«

»Das ist nicht seine Besitzerin. Sie ist die empregada.«

»Sie ist schwarz«, sagte ich.

Den Rest sahen wir uns schweigend an. Als das Dienstmädchen nach Hause zurückkam, hatte Jerry das Haus von oben bis unten mit Kohle angefüllt. Doch das Dienstmädchen gab Tom die Schuld und bewarf ihn mit der Kohle.

Thiago sagte: »Dann wohnen Rita und Luana also nicht bei uns, weil sie es wollen?«

»Sie wollen schon, aber wir bezahlen sie dafür. Wer will schon umsonst kochen und putzen?«

»Ich dachte, sie mögen uns einfach.«

»Das tun sie auch.«

Luana betrat das Zimmer, schien uns aber nicht gehört zu haben. Sie arbeitete trotz der Hitze. Ich nehme an, sie hatte keine andere Wahl. Sie wischte den Boden im Fernsehzimmer um Thiago und mich herum, während wir reglos wie Faultiere auf dem Sofa lagen. Nur wenige Monate zuvor war sie noch zur Schule gegangen. Jetzt war sie bloß eine empregada.

»Komm her, Lua, guck mit uns Fernsehen«, sagte Thiago.

Er war der Einzige, der sie Lua nannte. Auch Rita tat es, wenn sie allein waren – ich erinnere mich, es gehört zu haben. Ich hätte zu gern diesen Kosenamen benutzt, aber es war Thiagos Name für sie, nicht meiner. Er bedeutet »Mond«.

Sie blickte von ihrem Schrubber auf.

»Ich arbeite. Vielleicht später.«

»Später müssen wir unsere Familie besuchen«, maulte Thiago.

»Das wird doch sicher nett«, sagte sie.

Draußen fing es an zu regnen, es klang, als würden Nägel in den Boden gehämmert.

»Nein, ich will bloß fernsehen.«

»Es regnet in Strömen«, sagte ich. »Und die Luft da draußen ist nicht besonders frisch. In Rio haben wir wenigstens eine Klimaanlage.«

»Ihr gewöhnt euch schon noch dran.«

Ich verlagerte meine Position auf dem Sofa ein wenig und spürte, wie mir der Schweiß herunterrann. Besser, ich bewegte mich gar nicht.

In Belém kühlte es nachts kaum ab. Papai musterte uns von oben bis unten, in unseren Shorts und T-Shirts, und drohte uns an, dass wir uns ebenfalls schick machen müssten. Er trug eine beige Leinenhose, dazu ein weißes Hemd und schwitzte schon jetzt.

»Ach, was soll’s. Wenn meine Familie euch für favelados hält, meinetwegen.«

Wir waren bei seiner Cousine Camila zum Abendessen eingeladen. Papai hatte sie seit acht Jahren nicht gesehen. Er wirkte nervös. Nicht bloß verschwitzt, sondern auch fahrig. Partys waren Mamães Domäne – nicht seine. Es hatte aufgehört zu regnen, aber das Wasser strömte immer noch in die Gullis. Wir stiegen in Eduardos Auto, das er zurückgelassen hatte: ich auf den Beifahrersitz und mein Bruder auf die Rückbank.

»Mach die Klimaanlage an, André«, flüsterte Thiago, während er sich zu mir vorbeugte.

Ich warf Papai einen Blick zu, und er sagte: »In Ordnung.«

Als die kalte Luft auszuströmen begann, stöhnten wir alle genüsslich auf, sogar Papai.

»Wann sind wir da?«, fragte Thiago.

»Es wird ein Weilchen dauern. Sie sind vor ein paar Jahren aus der Stadt rausgezogen.«

Die Straßen waren gesäumt von Leuten, die Kokosnüsse, Popcorn und Süßigkeiten verkauften oder bloß auf dem Gehweg herumlagen und um Wechselgeld bettelten. Papai wies uns auf Sehenswürdigkeiten hin, wie die Ver-o-Peso-Markthalle und das große rosafarbene Teatro da Paz. Welche Art Aufführungen dort wohl stattfanden? Die Menschen in den Straßen sahen nicht wie die typischen Theaterbesucher aus. Einige Meilen außerhalb der Stadt passierten wir das Tor zu einer abgeriegelten Wohnanlage, nachdem Papai einem Wachmann mit Pistolenhalfter an der Hüfte seinen Namen genannt hatte. Es wirkte wie ein Urlaubsresort: säuberlich getrimmte Rasenflächen, die sanft geschwungenen Hügel eines Golfplatzes, Pferde, die im Dunkeln wieherten. Ich blickte zu Papai hinüber, um zu sehen, was er von diesem eigenartigen Ort hielt, aber er sagte nichts. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht erkennen. Nach ein, zwei Minuten hielt er den Kopf aus dem Fenster und wandte sich an einen anderen Wachmann, der am Straßenrand unter einer Laterne stand:

»Entschuldigung«, sagte Papai, »wo ist Nummer einundzwanzig?«

Er sprach mit gemächlichem, freundlichem Akzent, der dem meines Vaters ähnelte, aber ausgeprägter war.

Am Ende einer Auffahrt entdeckten wir das Haus: eine moderne, mit Flutlicht angestrahlte Villa, die wie das Haus eines Filmstars aussah. Der Vorgarten war makellos. Palmen reckten sich in exakt gleichen Abständen dem schwarzen Himmel entgegen. Wir parkten auf der Auffahrt zwischen etlichen anderen Autos und gingen zur Haustür. Überall um uns herum summten Insekten. Eine empregada, schwarz-weiß gekleidet wie ein französisches Zimmermädchen, öffnete uns die Tür, wurde aber rasch von einer hageren Blondine beiseitegeschoben, die ein rosa Kleid und weiße Diamanten trug. Ihre Haut sah aus wie poliertes Leder. In einer Hand hielt sie eine Zigarette, in der anderen einen Drink.

»Matheus!«, kreischte sie.

»Camila!«, rief Papai, bemüht, ihre Aufregung nachzuahmen.

Aus dem Haus waren Musik und Stimmen zu hören. Wir hatten gedacht, wir wären bloß zum Abendessen eingeladen worden, aber es klang eher nach einer Party.

»Matheus!«, rief sie erneut. »Nach all den Jahren.«

»Jungs, das ist meine Cousine Camila. Wir sind in Belém in derselben Straße aufgewachsen.«

»Dann seid ihr also André und Thiago?«, sagte sie und blickte vom einen zum anderen, offenbar unsicher, wer wer war. Mit starrem Lächeln traten wir vor und küssten sie auf beide Wangen.

»Ich bin André, und das ist Thiago.«

»Aber natürlich, das weiß ich doch! Meu Deus, was für hüb

Sie hielt meinen Bruder fest und kniff ihn in die Wangen, während ihr eine Zigarette aus dem Mundwinkel hing. Ich stellte mir vor, wie ich danach griff und einen kurzen Zug nahm. Bei dem Gedanken musste ich laut lachen. Camilas Lächeln gefror, als hätte ich sie ausgelacht, aber sie fuhr mit ihrer Farce von der glücklichen Familie fort. Sie ergriff Papais Arm und geleitete ihn ins Haus. Thiago rieb sich die Wangen. Wie ein sanfter Luftzug schloss die empregada die Tür hinter uns.

Wir kannten so gut wie niemanden, der in einem richtigen Haus wohnte. In Rios wohlhabendem Strandbezirk Zona Sul waren die meisten Häuser noch vor meiner Geburt abgerissen worden, um Platz für Hochhäuser zu schaffen. Ein Haus wie Camilas hatte ich noch nie gesehen. Alles glänzte, war weiß und nagelneu, abgesehen von diversen volkstümlichen Gemälden von Fischern und Dorffrauen in goldenen Bilderrahmen.

»Was für ein schönes Haus«, sagte Papai.

»Deutlich besser als das in Belém,

Papai nickte.

»Ja, es ist viel geräumiger.«

»Und draußen ist auch alles weitläufiger, die Mädchen können reiten, Tennis spielen, es gibt Restaurants – alles, was das Herz begehrt.«

»Verlasst ihr die Wohnsiedlung überhaupt noch?«

»Ab und zu. Und Carlos muss immer noch nach Belém zur Arbeit pendeln, der arme Kerl.«

»Carlos ist Camilas Mann«, raunte Papai Thiago und mir zu.

Wenige Sekunden später tauchte er auf: ein Hüne von Mann, ebenso lang wie breit, mit weißem Haar, dröhnender Stimme und einem Händedruck, der uns fast die Schulter auskugelte. Thiago

»Ihr armen Kleinen«, sagte sie mit Tränen in den Augen.

»Verfluchte Lkw-Fahrer«, kommentierte Carlos. »Ich habe ja schon immer gesagt, die cariocas fahren wie die letzten Arschlöcher.«

»Carlos!«, rief Camila und zog ihn am Arm.

»Ist doch wahr!«

»Du warst in Rio?«, fragte ich.

Carlos verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Es waren immer nur Kurztrips«, sagte Camila. Ihr Kiefer verkrampfte sich. Sie sah Papai an. »Ich dachte, du wärst vielleicht nicht da?«

»Gut möglich«, sagte Papai, den Blick auf eine empregada gerichtet, die mit einem Tablett voller Getränke vorbeikam. Sie bemerkte ihn, blieb stehen, und er nahm sich einen Caipirinha. »Danke.«

Damit war die Unterhaltung beendet. Camila ergriff wieder Papais Arm und führte ihn ins Esszimmer.

Man stellte uns Papais Cousins und Cousinen, Großcousins und Großcousinen, älteren Großtanten und Großonkeln vor, die sich alle zu freuen schienen, uns zu sehen, und deren Namen ich sofort wieder vergaß. Es waren über zwanzig Leute dort, deutlich mehr, als Papai erwartet hatte. Thiago und ich wurden an den Kindertisch gesetzt, zu Camilas und Carlos’ Töchtern Alice und

»Sie ist sehr alt«, sagte er. »Steinalt. Mindestens dreißig Jahre.«

»Ooh«, staunten die Mädchen wie aus einem Mund.

Fifi war vierzehn.

»Ich liebe Katzen«, sagte Alice, die Ältere von beiden. »Wir haben einen Hund, aber ich möchte auch eine Katze haben. Papai sagt, Pará ist kein guter Ort für Katzen. Er sagt, sie läuft in den Dschungel und wird dort von einer Schlange gefressen.«

»Oder einen Affen«, sagte Regina. »Ich will einen Affen haben.«

»Willst du unseren Hund sehen? Wir haben einen Pudel.«

Die drei huschten in die Küche, um den Hund zu suchen, und ich blieb zurück und fragte mich, warum ich mit meinen siebzehn Jahren immer noch am Kindertisch sitzen musste. Es gab sonst niemanden in meinem Alter. Am ehesten noch eine hübsche schwangere Frau um die zwanzig mit olivfarbener Haut; sie war mit einem von Papais Cousins verheiratet. Als sich die Leute von ihren Stühlen erhoben, befragte sie mich kurz zu meinen Studienplänen, ein glückstrunkenes, mütterliches Lächeln auf dem Gesicht.

Die Erwachsenen zogen sich ins Wohnzimmer zurück. Ich folgte ihnen und hockte mich auf den Rand eines Sofas, trank meine Cola und versagte beim Small Talk. Glücklicherweise

»Sie plant alles schon seit Wochen«, sagte Carlos.

»Wirklich sehr aufmerksam«, sagte Papai.

»Für meinen liebsten Cousin nur das Beste«, sagte Camila.

Liebsten Cousin? Sie hatte ihn nicht einmal angerufen, als sie in Rio gewesen war.

Ich ging zurück ins Esszimmer, auf der Suche nach Alkohol. Die empregadas hatten den Tisch noch nicht abgeräumt. Ich entdeckte ein Glas Bier, halb voll und verlockend.

»Möchtest du eins?«, fragte mich eine empregada, die hinter mir stand.

Sie war mittleren Alters, hatte ein hartes, dunkles Gesicht und sprach mit dem gleichen weichen, langgezogenen Akzent wie der Wachmann.

»Du bist ein großer Junge – es ist bestimmt in Ordnung.«

»Okay«, sagte ich, »vielleicht ein Glas.«

Sie ging in die Küche und kehrte eine Minute später mit einem frischen, eiskalten Glas Bier zurück.

»Bitte sehr.«

»Danke.«

Ich hörte, wie die Kinder in der Küche mit den Dienstmädchen

Ich fragte mich, was Luana gerade machte, allein in dem Haus in Belém. Wahrscheinlich sah sie fern, die nackten braunen Beine auf dem Sofa ausgestreckt, und genoss ein paar friedliche Stunden.

Meine Arme und Beine fühlten sich taub an, das Bier entfaltete seine Wirkung. Ich ging durch die Hintertür in den Garten und zog mich in eine dunkle Ecke zurück. Setzte mich auf den perfekt gestutzten Rasen. Lehnte den Kopf an den Holzzaun und lauschte dem durchdringenden Zirpen der Grillen. Trank das Bier aus und wollte noch eins. Dachte an Mamãe. Mit geschlossenen Augen konnte ich sie inmitten der Gäste fast hören. Ihr kehliges Lachen.

»Was machst du hier, André – versteckst du dich?«, würde sie fragen, während sie durch den Garten auf mich zukam, sich durch die langen dunklen Haare fuhr und heimlich eine Zigarette ansteckte. »Sag deinem Vater nicht, dass ich rauche.«

»Kann ich auch eine haben?«

»Meinetwegen. Oh, was bin ich für eine schlechte Mutter!«

Sie hätte nach schwerem, blumigem französischen Parfüm gerochen. Damals fand ich diesen Geruch abscheulich, doch jetzt durchschnupperte ich hoffnungsvoll die Luft. Mit siebzehn glaubt man immer noch an eine Art Magie. Doch als ich die Augen öffnete, roch ich nichts außer Gras und Luft und hörte das

Nach Camilas Party schienen Papais Falten noch tiefer geworden zu sein. Vielleicht war ihm wieder eingefallen, warum er Belém damals verlassen hatte. Oder vielleicht war er auch einfach die Hitze leid. Das erzählte er uns zumindest ein paar Tage später – es sei zu heiß, um in der Stadt zu bleiben. Er kündigte an, dass wir Weihnachten auf der Insel Marajó im Amazonasdelta verbringen würden, wo er als Kind Urlaub gemacht hatte.

»Meine Großmutter kam aus Marajó – wusstet ihr das?«

»Ja, Pai, du hast es uns schon hundert Mal erzählt«, sagte ich. »Wo werden wir wohnen?«

»Das wird eine Überraschung.«