The Cover Image

Andreas Maier

Sanssouci

Roman

Suhrkamp

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



www.suhrkamp.de

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73820-7

Dort schrien die einen dies, die anderen das; denn in der Versammlung herrschte ein großes Durcheinander, und die meisten wußten gar nicht, weshalb man überhaupt zusammengekommen war.

Apostelgeschichte 19, 32

Erstes Buch

I

Die Beerdigungsgesellschaft

Für Anni Schmidt war der westdeutsche Regisseur ein sehr angenehmer Nachbar gewesen. Sie erzählte Dinge, die den Umsitzenden im Nibelungenhof, besonders den Babelsbergern, doch ziemlich spießig erschienen. Man musterte die Frau unverhohlen. Anni Schmidt trug ihr schwarzes Trauerkostüm, das sie vor zehn Jahren in der Gutenbergstraße in Potsdam anläßlich der Beerdigung ihres Gatten gekauft hatte, und ein schwarzes Hütchen mit Feder. Die Babelsberger trugen meistens nicht einmal Schwarz, sondern Jeansjacken oder die abgetragenen Sakkos, die sie auch sonst das ganze Jahr über trugen. Man saß im hinteren Raum der Wirtschaft.

Die Frau erzählte, daß sie den westdeutschen Regisseur, also Max Hornung, vollständig Maximilian Alexander Hornung, öfter im Garten getroffen habe, am gemeinsamen Gartenzaun, denn er habe sich intensiv um seinen Garten gekümmert. Garten, sagte einer der Babelsberger und starrte sie mit offenem Mund an. Sie: Ja, Garten. Rosen hatte er, und was für schöne! Er hat ja sogar das Unkraut gemocht und immer gesagt, liebe Frau Schmidt, Sie mögen das Unkraut nennen, aber findet die Distel die Distel nicht ebenso schön wie eine Rose eine Rose? Einmal bin ich ihm auf dem Kapellenberg begegnet, also, da waren Blumen, wissen Sie, die habe ich noch nie gesehen, obgleich ich da seit sechzig Jahren hingehe. So jemand liebt die Natur, wer so viel sieht!

Es gab im Nibelungenhof Schnaps, Kaffee, belegte Brötchenhälften (Käse, Bierwust, Räucherschinken), später wurden Würstchen und Steaks vom Rost gereicht. Frau Schmidt aber bestellte einen Schwarzwaldbecher. Es war Frau Schmidts erste Reise … ins Ausland, hatte sie ihrer Kusine vor einigen Tagen am Telefon gesagt, sie meinte natürlich: in den Westen, nämlich nach Frankfurt am Main. Und obgleich der Grund für die Reise eine Beerdigung war, hatte sie sich dennoch fest vorgenommen, die Reise auch ein wenig zu genießen. Sie war am Vortag angekommen und hatte sich ein Hotelzimmer in Bahnhofsnähe genommen, Hotel Elvira, Weserstraße. Als sie auf dem Weg zum Hotel an den blau und rot beleuchteten Schaufenstern mit den Auslagen von Dr. Müller, Beate Uhse und World of Sex etcetera vorbeikam, begriff sie, daß sie mitten ins Frankfurter Pornoviertel geraten war … Den Abend verbrachte sie vorsichtshalber im Hotelzimmer. Es verdroß sie nicht; am nächsten Morgen machte sie einen kurzen Gang an den Main, um ihre Verdauung in Gang zu bringen, und nachdem also gewisse Dinge erledigt waren, die erledigt werden mußten, bevor sie das Hotel verlassen konnte, fuhr sie zum Frankfurter Hauptfriedhof. Es war ein wunderbarer Sommertag, in den frühen Morgenstunden hatten die Amseln ein Konzert sondergleichen angestimmt. Die Trauergesellschaft versammelte sich um neun Uhr morgens, zu einer Zeit, zu der, wie einige dem Verstorbenen Nahestehende anmerkten, der Verblichene sicherlich noch geschlafen hätte … Es gab ein kleines Requiem, von einem katholischen Priester unter Mithilfe eines russisch-orthodoxen Mönchs gehalten, dann überführte man den Sarg zum Grab und versenkte ihn elektrisch. Obwohl Anni Schmidt Hornung sehr gern gehabt hatte (mehr, als sie irgendwem gegenüber zugab; er war in den letzten zwei Jahren fast ein wenig das Glück ihrer alten Tage gewesen) und obwohl sie demzufolge also wirklich Trauer empfand um diesen netten jungen Mann, war es für sie dennoch sehr interessant und schön auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Hornung wurde an einem der seitlich vom Pavillon der Brandbestattungsgesellschaft abzweigenden Stichwege beerdigt. Frau Schmidt betrachtete die Gräber, teilweise waren sie sehr alt … liegende Figuren in langen Gewändern, ernste Gesichter, Maßwerk auf den Seiten der Sarkophage … eine Figur hatte ein Hündchen aus Stein zu ihren Füßen. Vor Jahrhunderten mußte der Verstorbene dieses Hündchen sehr geliebt haben. Natürlich dachte die gebürtige Potsdamerin hier an die Hunde des alten Fritz in Sanssouci. Überhaupt dieser herrliche Tag, und diese riesigen alten Bäume!

Wie gesagt hatte sie Hornung sehr gemocht. Das hatte sich aber erst mit der Zeit so ergeben. Zunächst war sie diesem fremden Westler gegenüber, der ihr in den Zeitungen so prominent angekündigt worden war, ziemlich mißtrauisch gewesen. Aber Hornung war ein ruhiger Nachbar, zurückhaltend und dennoch sehr freundlich. Sie hatte gemerkt, daß er sie ebenfalls mochte. Manchmal tranken sie sogar gemeinsam Kaffee in seiner Gartenlaube. Ihre Gespräche, fand sie, waren immer ganz besondere. Sie sprachen manchmal von Reisen, manchmal von Büchern, über Politik, über Potsdam im allgemeinen, die Wiedervereinigung. Sie sprachen nie über: Fernsehsendungen vom Vortag, Artikel in der Märkischen Allgemeinen oder den Potsdamer Neuesten Nachrichten. Frau Schmidt war nicht klatschsüchtig, und Herr Hornung war es in wohltuender Weise auch nicht. Er hatte nicht einmal einen Fernseher, und das, obgleich er für das Fernsehen arbeitete und diese Serie gemacht hatte: Oststadt! Kurzum, sie stand Hornung nah genug, um von seinem Tod betroffen zu sein, aber dennoch war sie nun hier in der fremden Umgebung des Nibelungenhofs ein wenig ausgelassen und bestellte also einen Schwarzwaldbecher. Sie aß den Schwarzwaldbecher mit großem Appetit, und anschließend trank sie einen Schnaps. Immer wieder blickte sie freundlich zu ihren Tischnachbarn und führte die eine oder andere Konversation. Zwei Plätze weiter saß eine Mutter mit einem Kind von vielleicht drei Jahren. Frau Schmidt lächelte das Kind an und schob ihm eine Platte mit Wurstbrötchen hin, weil sie dachte, das Kind wolle noch etwas essen. Das hätte sie besser nicht getan. Die Mutter, eine junge Frau, ihrer Aussprache nach ebenfalls Potsdamerin, rief sofort, sie sei wohl wahnsinnig! Zu ihrem Nachbarn: Lars, die Frau schiebt Jesus totes Tier hin, einfach so. Der Nachbar wandte sich zu Frau Schmidt und sagte: Wir essen so etwas nicht. Frau Schmidt: Das kann ich doch nicht wissen …

Jetzt erschienen auch der Pfarrer und der russisch-orthodoxe Mönch in der Gastwirtschaft. Nach der Beerdigung waren sie zunächst noch in der Kapelle beschäftigt gewesen. Beide waren in ein Gespräch vertieft und setzten sich an die Mitte der Tafel, wo für sie freigehalten worden war. Der Mönch hatte einen längeren, dünnen Kinnbart, trug eine Art Filzkappe und einen braunen Rock. Er sprach sehr gut Deutsch, in gewisser Weise besser als sein Kollege, aber mit Akzent und ziemlich langsam. Der Mönch hatte Deutsch studiert, als er noch in Rußland gelebt hatte. Vor drei Jahren war er zum ersten Mal nach Deutschland gekommen. Seine Sprache war wie eine Konserve aus vergangenen Zeiten. Er sprach sensationelle Hypotaxen, die aber nicht immer aufgingen. Er erzählte dem deutschen Kollegen gerade, wie er den Verstorbenen kennengelernt habe. Ich kam, sagte er, als ich mit meinen Eltern, welche ursprünglich aus der Ukraine stammten, dann aber in Blagowestschensk lebten, kurz gesagt, als ich mit ihnen übersiedelte, kam ich in einen Ort namens Bad Nauheim, wo es, wie Sie wahrscheinlich nicht wissen, Herr Pfarrer, ein dezentrales Übergangslager für uns gab. Nun, wir lebten dort zuerst einfach so in diesem Lager, und ich hatte noch zuvor in Blagowestschensk einen deutschen Universitätskollegen (ich arbeitete dort an der Universität) kennengelernt, er hieß … aber der Name tut nichts zur Sache, Sie kennen ihn nicht. Kurz gesagt, ich lebte also ein Jahr lang bereits in Bad Nauheim, da erfuhr ich erst, daß justament dieser Universitätskollege aus genau dieser Stadt stamme, gerade Urlaub mit seiner russischen Familie mache und bei uns in Bad Nauheim seine Hochzeit nachfeiere. Sie hatten in Blagowestschensk geheiratet, feierten aber in Deutschland ein zweites Mal, wegen der Familie meines Universitätskollegen. Ich war überrascht, erfreut und ging zu dieser Hochzeit, damals war ich noch kein Mönch, das heißt, ich war noch kein Aspirant. Auf dieser Hochzeit begegnete ich Maximilian zum ersten Mal. Wir sprachen allerdings nur kurz, nur allgemein. Zwei Tage später begegneten wir uns im Schwimmbad, ich ging damals nämlich oft ins Schwimmbad, ich lebte im Grunde wie ein Pensionär in dieser Stadt, es gab ja keine Arbeit, mein Universitätsdiplom wurde in Deutschland nicht anerkannt. Aber was erzähle ich? Sagen Sie, Herr Pfarrer, woher kannten Sie Maximilian? Der Pfarrer: Aber wie kommen Sie denn darauf, daß ich ihn gekannt habe? Nein, ich kannte ihn gar nicht. Wissen Sie, wen man hier so alles beerdigt … Wieso hat er denn in Potsdam gewohnt? Wissen Sie das? Er war doch, glaube ich, Frankfurter, oder nicht? …

Überall im hinteren Raum des Nibelungenhofs wurden solche Gespräche geführt, wobei selbstverständlich die unterschiedlichsten Dinge erzählt wurden. Frau Anni Schmidt zum Beispiel hatte bislang überhaupt nicht gewußt, daß Hornung verheiratet gewesen war. Sie wurde gerade von der Frau mit dem dreijährigen Kind darüber aufgeklärt. Das Kind schaute seine Mutter begeistert an, aber immer, wenn es von jemand anderem angesprochen wurde, bekam es einen völlig leeren Blick. Wenn man ein Würstchen hinhielt, wurde der Blick noch viel leerer und das Kind sofort vollkommen ruhig, es wirkte wie abwesend. Das Kind war so lange völlig bewegungslos (es blickte dabei ein wenig nach oben), wie man das Würstchen hinhielt. Was jeweils folgte, war ein Wutanfall der Mutter. Meistens tuschelte sie mit ihrem Gefährten und blickte dabei in die Runde. Die Frau mochte sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt sein, hatte ein schönes Gesicht, langes schwarzes Haar, große blaue Augen und blasse Haut. Sie und ihr Gefährte hatten Frau Schmidt nach dem Hinhalten der Wurstbrötchenplatte ganz zu Beginn des Trauerschmauses nicht mehr beachtet. Später aber rief die Frau zu Anni Schmidt, wie sie denn darauf komme, Hornung sei unverheiratet gewesen. Frau Schmidt: Er trug doch keinen Ring. Er hat auch nie etwas erzählt. Die Frau: Natürlich war er verheiratet. Aber man kann nicht sagen, daß seine Ehe besonders glücklich gewesen wäre. (Sie lachte.) Allerdings hat er sich nicht scheiden lassen. Auf solche bürgerlichen Dinge gab er nichts. Nicht wahr, Lars, sagte sie zu ihrem Freund, warum soll man sich scheiden lassen, man kann ja auch verwitwen! … Frau Schmidt wollte nun aber doch wissen, mit wem Hornung verheiratet gewesen sei. Sie wisse zwar, daß er einen Sohn habe, der so um die siebzehn sei, aber wer die Mutter sei, wisse sie nicht. Die Frau mit den großen blauen Augen reagierte darauf nicht weiter, sagte nur kurz zu ihrem Freund, es sei ja völliger Unsinn, was die da rede, und wandte sich ab. Nach einer Weile rief sie aber doch zu Frau Schmidt: Mit mir war er verheiratet. Wir haben vor drei Jahren geheiratet. Wir haben aber nicht zusammengelebt. Frau Schmidt: Und wann haben Sie sich scheiden lassen? Sie: Gar nicht, habe ich doch gesagt. Jetzt bin ich verwitwet. Sehen Sie, bis vor einer Woche war ich offiziell seine Frau, jetzt bin ich offiziell seine Witwe. (Sie lachte.) Frau Schmidt: Dann ist sein Sohn also gar nicht Ihr Sohn? Sie: Von welchem Sohn reden Sie denn dauernd? Hornung habe keinen Sohn gehabt. Das wisse sie genau. (Mit Blick auf Jesus:) Sie kenne Hornungs Verhältnisse zufälligerweise sehr gut. Frau Schmidt: Jetzt verwirren Sie mich aber völlig. Die andere, zu ihrem Begleiter: Rede mit mir, Lars, ich kann diese alte Tante nicht mehr ertragen, hast du eigentlich gesehen, daß da hinten jemand raucht? Ich bin schwanger, tu was! Hier kann nicht geraucht werden!

Später wurde es sogar ein wenig laut, denn am Tisch war, den beiden Geistlichen gegenüber, ein Paar aus Babelsberg in Streit geraten. Beide stammten aus dem Filmteam, mit dem Maximilian Hornung zusammengearbeitet hatte. Die Frau lobte Hornungs Arbeit sehr, aber der Mann, ein Kameramann, sagte, das sei alles völlige Scheiße, Westscheiße, habe mit ihnen nichts zu tun. Hornung habe von ihnen keine Ahnung gehabt. Nur deshalb habe seine Serie so eingeschlagen. Die Umsitzenden wurden in den Streit hineingezogen, es ging eine Weile um West und Ost, um Westvorstellungen und Ostvorstellungen, der Kameramann behauptete, Hornung habe die Ostdeutschen zum Schluß nur noch als Ausländer bezeichnet und gesagt, die Vereinigung sei erst dann vollzogen, wenn alle, die in der DDR gelebt hätten, endgültig ausgestorben seien. Die Mutter von Jesus rief herüber, Hornung (sie nannte ihn immer nur beim Nachnamen) sei ein ganz typischer Fall gewesen. Ein Mensch, der der Meinung gewesen sei, er habe Anrecht auf alles. Mit so einer Besitzermentalität. Der russische Mönch hörte diesem Streitgespräch mit gerunzelter Stirn zu, blickte aber freundlich in die Runde, als könne er allein durch seinen sanften Blick eine bessere und harmonischere Stimmung am Tisch erzeugen. Das war aber nicht möglich. Wieso tragen Sie denn diese Filzkappe, rief die Mutter von Jesus. Schwitzen Sie nicht? Es ist doch Sommer, da müssen Sie doch schwitzen! Wie heißen Sie denn? Ich heiße Merle. Ich bin seine Frau. Der Mönch erwiderte, er heiße Alexej. Sie: Sagen Sie mal, finden Sie das eigentlich richtig, hier so Ihre Religion zur Schau zu stellen? Wir interessieren uns dafür nicht besonders, verstehen Sie das? Mir ist es völlig egal, was Sie machen, aber Sie müssen es nicht demonstrieren, oder? Alexej lächelte sanft und sagte, es sei das Gebot seines Ordens, der Bruderschaft des heiligen Hiob von Potschajew, diese Kopfbedeckung zu tragen, er ziehe sie auch im Kloster nicht ab. Er sei übrigens noch in der Probezeit. Sie: Wo sind Sie denn im Kloster? Er, nach wie vor ganz freundlich: Das Kloster ist in München. Wir beschäftigen uns mit Buchdruckerei. Jaja, rief sie, bleiben Sie nur immer schön freundlich, das ist ja auch am ungefährlichsten … Frau Schmidt folgte diesem eigenartigen Gespräch mit leerem Gesichtsausdruck, ähnlich dem von Jesus, wenn er auf den Anblick von Fleisch reagierte. Ihr war unbegreiflich, wie diese junge Frau so mit einem Mönch reden konnte. Es überstieg ihre Fassungskraft …

Später kam es noch zu einer merkwürdigen Szene. Gegen zwei Uhr, als schon einige der Trauergäste gegangen waren, betrat ein junger Mann den Raum, oder besser gesagt, ein Junge. Er mochte sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein, hatte längeres, blondes Haar, eine auffällig sandfarbene Haut und sehr große braune Augen. Der Junge war unordentlich gekleidet und wirkte abgemagert. Alle schauten ihn an, als er in der Tür zum Gastraum erschien. Kurz darauf widmeten sie sich jedoch wieder ihren Gesprächen. Der Junge hielt sich am Rand, setzte sich auf einen etwas abseits stehenden Stuhl und musterte die Runde. Nach einer Weile stand er wieder auf und setzte sich in Alexejs Nähe. Er kannte den russischen Mönch zwar nicht, aber vielleicht machte Alexej einen vertrauenswürdigen Eindruck auf ihn. Die anderen hatten sich, wie gesagt, wieder ihren Gesprächen gewidmet, dennoch schauten einige der Babelsberger unverhohlen zu dem Jungen hinüber. Das ist, flüsterte Anni Schmidt der Frau mit Namen Merle zu, der Sohn von Herrn Hornung. Er heißt Arnold. Merle: Das ist doch kein Sohn von Hornung! Der sieht ihm ja nicht mal ähnlich! Einer aus dem Filmteam stand jetzt auf, ging zu Arnold und setzte sich neben ihn, wobei er vertraut tat. Wie kommst du denn hierher, fragte er. Bist du allein nach Frankfurt gefahren? Arnold schwieg. Ein anderer aus dem Filmteam rief, das sei ja alles unglaublich. Jetzt komme der auch noch zur Beerdigung! Hat er am Ende noch seine Schwester dabei? Nein, rief Arnold plötzlich laut, meine Schwester ist nicht dabei. Und nimm dieses Wort nicht in den Mund, du Arschloch, sag nie mehr seine Schwester! Sie geht euch überhaupt nichts an! In dem Augenblick öffnete sich allerdings erneut die Tür zum Clubraum, und ein Mädchen kam herein, das ebenfalls diese eigentümlich sandfarbene Haut und die gleichen Augen wie der Junge hatte, nur daß ihre Haare länger waren und fast bis zur Taille reichten. Sie trug ein schwarzes Spaghettitop und einen kurzen schwarzen Rock, der ihre Knie frei ließ. Das ist doch ganz unerhört, rief der Mann von eben. Heike, daß du dich unterstehst, hier auch noch zu erscheinen! Man sollte euch dem Jugendamt abliefern, das sollte man. Arnold rief: Dann versuch es doch! Du altes Schwein, fick doch deine Frau, los, fick sie, aber du fickst sie nicht, du kannst nur wichsen, du Fettsack. Der Mann stand auf und lief um den Tisch herum, um Arnold zu ohrfeigen, aber Alexej stellte sich vor den Jungen. Sie naiver russischer Pope, sagte Arnold. Lassen Sie ihn mich schlagen, los, lassen Sie ihn! Nur die Eskalation zeigt die Wahrheit, und ich will die Eskalation, ich will sie unbedingt! Der Mann blieb stehen, schüttelte den Kopf, murmelte etwas vor sich hin und rief schließlich, das habe alles nichts mit Max zu tun, nichts, Max sei alldem nur aufgesessen, sie hätten ein teuflisches Spiel mit ihm getrieben. Ach ja, wir? rief Arnold. Dann ging der Mann zu seinem Platz zurück und besprach sich mit seinen Kollegen, woraufhin ein Teil der Babelsberger den Raum verließ. Heike hatte die ganze Zeit unbeteiligt am Rand gestanden und unter sich geblickt, jetzt setzte sie sich wortlos neben ihren Bruder und Alexej. Nach dieser Szene kehrte wieder Ruhe ein. Die beiden Geschwister tranken Bier und aßen eine Unmenge von Wurst- und Käsebrötchen, offenbar hatten sie großen Hunger. Auch das Mädchen machte einen verwahrlosten Eindruck. Die ganze Trauergesellschaft hatte diese Szene mitbekommen, aber die Potsdamer und Babelsberger winkten bloß ab und sagten, man solle darauf nichts geben, das hätten sie schon zu oft erlebt. Wo die beiden auftauchten, gebe es nichts als Unfrieden. Damit ging man wieder zur Tagesordnung über.

Gegen drei Uhr löste sich die Trauerversammlung auf. Frau Schmidt fuhr zum Bahnhof, um den nächsten Zug nach Berlin zu nehmen, die Babelsberger stiegen in ihre Autos, Merle fuhr bei ihnen mit, die anderen strebten nach verschiedenen Seiten davon. Alexej, der deutsche Pfarrer und Merles Freund liefen eine Weile die Eckenheimer Landstraße hinunter. Der Freund war nun gesprächiger als vorher und stellte sich als Lars Berlow vor. Der Pfarrer fragte, welchen Bezug er zu dem Verstorbenen gehabt habe. Einen nur sehr fernen, sagte Berlow. Seine Freundin sei zwar mit Hornung verheiratet gewesen, aber er sei ihm nur zweimal begegnet. Hornung sei ihm stets irgendwie desinteressiert erschienen. Seine Freundin sei jemand, der wirklich sehr polarisieren und die Menschen angreifen könne, aber Hornung sei darauf nie eingegangen. Das habe vermutlich daran gelegen, daß er so indifferent gewesen sei. Merle sei ihm völlig egal gewesen. Übrigens sei Merle unter Menschen sonst immer eher still und zurückhaltend. So wie eben habe er sie noch nie erlebt. Der Tod habe sie doch merklich aus dem Konzept gebracht. Morgen gehe sie zu einer Rechtsanwältin, vielleicht komme daher die Aufregung. Alexej fragte, in welcher Hinsicht seine Freundin die Menschen angreife. Er: In verschiedener Hinsicht. Sie ist sehr gegen das Autofahren, sie ist sehr gegen diese riesigen Nahrungsmittelkonzerne heutzutage, vor allem seit Jesus. Es ist für sie unvorstellbar, daß Menschen Fleisch essen. Solche Dinge. Sie ist da sehr ungewöhnlich. Ihrem Mann war das egal. Ihm war offenbar alles egal. Ich weiß überhaupt nicht, warum die beiden geheiratet haben. Das ist mir ein absolutes Rätsel. Eigentlich nenne ich ihn gar nicht »ihren Mann«. Ich nenne ihn immer nur Max Hornung. Der Pfarrer: Und die anderen am Tisch? Diese Potsdamer oder Babelsberger, es waren ja mindestens ein Dutzend Leute, wovon haben die eigentlich geredet, als die beiden Jugendlichen erschienen? Berlow: Er habe keine Ahnung. Er komme nicht aus Potsdam, er wohne in Braunschweig. Merle sei übrigens aufgefallen, daß der Nachlaßverwalter nicht dagewesen sei, ein alter Freund Hornungs. Es gebe ja dieses Haus in Potsdam, und da müßte einiges vorhanden sein. Dieser Freund heiße Mai, wie die Jahreszeit. Merle kenne ihn irgendwoher.

Alexej erinnerte sich, diesem Mai einmal begegnet zu sein. Er erinnerte sich aber nur an den Namen.

Sie gingen bis Höhe Glauburgstraße, dann trennten sie sich. Der Pfarrer wohnte in der Nähe, Berlow stieg in die U-Bahn, und Alexej lief weiter. Er war nachdenklich und verwirrt. Einige Leute, die er auf der Beerdigung erlebt hatte, paßten überhaupt nicht zu Max. Vor allem war ihm die Rolle der beiden Jugendlichen unklar. Er hatte noch nie von ihnen gehört. Konnte es tatsächlich sein, daß Max einen siebzehnjährigen Sohn hatte? Beziehungsweise eine ebensolche Tochter? Das schien ihm völlig unmöglich. Und wie war diese Aggressivität unter den Leuten aus Ostdeutschland zu erklären? Wer waren überhaupt all diese Leute? Zu viele Fragen schossen durch Alexejs Kopf. Er lief die Eckenheimer Landstraße weiter, überquerte vorsichtig eine Kreuzung (seit er im Kloster lebte, war er im Straßenverkehr etwas unsicher geworden), blieb vor einem Antiquariat stehen und betrachtete im Schaufenster nachdenklich eine alte Weltkarte. Dann sah er Arnold und Heike auf der anderen Straßenseite. Beide standen da und beobachteten ihn. Offenbar hatten sie ihn verfolgt. Sie musterten ihn mit unverhohlenem Interesse und hielten sich an der Hand. Arnold flüsterte seiner Schwester etwas ins Ohr, worauf sie in eine Seitenstraße verschwand. Dann kam Arnold über die Straße gelaufen. Herr Alexej, rief er ihm entgegen, warten Sie auf mich? Stehen Sie deshalb da? Ich begleite Sie ein Stück, wenn Sie wollen. Alexej sagte, er habe nicht gewartet. Er sei gedankenverloren gewesen und habe die Auslagen betrachtet. Arnold sah ins Schaufenster. Sie mögen alte Weltkarten? fragte er. Alexej schüttelte den Kopf. Er habe, wie gesagt, nur gedankenverloren in das Schaufenster geblickt. Ich weiß, sagte Arnold. Wir haben Sie beobachtet. Wir sind Ihnen nämlich nachgelaufen. Haben Sie meine Schwester gesehen? Ja, sagte Alexej, natürlich habe ich deine Schwester gesehen. Ich habe sie vorhin im hinteren Raum der Wirtschaft gesehen, und eben hier habe ich sie auch gesehen. Und, fragte Arnold plötzlich mit einem frechen und herablassenden Gesichtsausdruck, was hat sie an? Alexej sagte, er verstehe die Frage nicht. Was meine er? Er: Was sie anhat, was sie trägt. Ich will wissen, was sie trägt! Alexej dachte nach und erinnerte sich nicht an Heikes Kleidung. Arnold: Und ihre Haare? Was hat sie für Haare, wie sind sie geschnitten? Alexej antwortete, sie habe blonde Haare, sehr lang. Arnold: Sie trägt ein schwarzes Oberteil, schulterfrei, und einen schwarzen Rock, kaum bis zu den Knien. Hier, bis dahin, verstehen Sie? Und Flipflops. Jeder trägt heute Flipflops, ich nicht, sehen Sie, ich nicht! Arnold trug völlig ausgetretene Sandalen, die er im selben Augenblick auszog und, von plötzlicher Wut gepackt, in einen Garten schleuderte. Ich hasse diese Flipflops, rief er. Sonst ist sie im Juli immer barfuß gelaufen. Alexej schaute ihn fragend an. Nach einer Weile bekam der Junge wieder einen friedlicheren Gesichtsausdruck. Waren Sie einmal in Potsdam, fragte er. Was sind Sie überhaupt, sind Sie ganzer Russe oder halb und halb oder so ein Aussiedler oder was? Max hat viel von Ihnen erzählt, aber es ist mir nie ganz klargeworden, was Sie eigentlich für einer sind. Alexej: Warum redest du so? Was ich für einer bin, das ist eine herablassende Wendung. Warum sagst du das? Übrigens war ich noch nie in Potsdam. Ich kenne nicht viele Städte in Deutschland. Arnold wechselte nun plötzlich zum Du. Ich finde dich lustig, sagte er. Als ich vorhin in diese Scheißkneipe reinging, dachte ich, mal gucken, ob dieser Mönch Alexej da ist und man ihn auf Anhieb erkennen kann. Und du bist ja wirklich ein total echter Mönch! Ziehst du diese Kappe nie ab? Alexej verneinte. Übrigens sei er das heute schon mehrfach gefragt worden. Arnold wurde nachdenklich und schaute eine Weile vor sich hin. Dann: Weißt du, warum sie es fragen? Warum alle nach deiner Kappe fragen? Weil du dich von ihnen unterscheidest. Allein durch deine Kleidung. Weil dein Mönchsein für sie ausdrückt, daß du dich für etwas Besseres hältst. Du machst dich arm und unterwirfst dich Regeln, eigentlich das Gegenteil von Hochmut, aber gerade das ertragen sie nicht. Sie wollen nämlich, daß alles gleich ist. Sie können nicht ertragen, wenn sich jemand von ihnen unterscheidet. Letzten Endes wollen sie alles, was anders ist, ausmerzen …

Alexej schaute den Jungen an. Er wußte nicht, ob das Phrasen waren, die der Junge irgendwo aufgeschnappt hatte, oder ob Arnold sich das alles selbst ausdachte. Alexej sagte, in der Selbsterniedrigung liege eine große Gefahr, vielleicht die größte. Sie ist von der Selbstüberhebung nur ganz schwer zu unterscheiden. Aber es ist nicht ein und dasselbe. Ja, rief Arnold, ja, es ist nicht ein und dasselbe, aber sie glauben es einem ja nicht. Sie glauben es einem nicht! Er stampfte mit den nackten Füßen auf die Straße. Alexej entgegnete, man solle vielleicht nicht so sehr darauf achten, was andere über einen dächten. Auch darin liege eine Gefahr. Arnold, wieder ruhiger: Ja, ich weiß. Du bist echt ein kurioser Pfaffe. Du paßt zu Max. Er hat dich regelrecht geliebt. Es hat ihn nur gestört, daß man mit dir nicht trinken kann. Du bist zu asketisch für ihn gewesen. Alexej mußte nun unwillkürlich lachen. Dieser Arnold hatte Max Hornung wirklich gut gekannt. Wo gehst du hin? fragte er den Jungen. Sollen wir ein Stück zusammen gehen? Und wohin ist denn deine Schwester eben verschwunden? Er: Wo meine Schwester ist, ist egal. Ich habe auch nicht viel Zeit. Wir treffen hier gleich einen Freund. Am Abend, sehen wir uns diesen Abend, oder gehst du gleich wieder in dein Kloster? Wo ist denn dein Kloster? Ich weiß gar nicht, wie man sich so ein Kloster vorzustellen hat. Alexej sagte, sein Kloster sei in München. Er fahre heute zu seiner Mutter, die in der Nähe von Frankfurt wohne, und werde morgen nach München zurückreisen. Am Abend werde auch sein Bruder bei der Mutter sein, er habe ihn seit des Vaters Tod nicht gesehen. Arnold: Wann ist denn dein Vater gestorben? Sein Vater, antwortete Alexej, sei vor sieben Monaten gestorben, im Dezember, zwei Tage vor Weihnachten nach hiesiger Rechnung. Arnold: War er alt? Er war nicht jung, sagte Alexej, er war vierundfünfzig und sehr krank. Alexej fragte nun, was denn sein, Arnolds, Vater mache, und seine Mutter? Ob sie gemeinsam in Potsdam lebten? Arnold wirkte plötzlich angewidert und sagte, er habe wirklich keine Zeit jetzt, er müsse nach Heike schauen. Sie sei dahinten in der Straße, er habe sie viel zu lange warten lassen. Sie seien auch gar nicht mit einem Freund verabredet, das habe er bloß erfunden. Alexej ging nicht weiter darauf ein, sondern gab Arnold seine Telefonnummer. Irgendwie fühlte er sich für diesen Jungen verantwortlich. Vielleicht mußte man ihm helfen. Da er allerdings nichts über ihn wußte, konnte er auch nicht einschätzen, was der Junge erzählte. Für Alexej war sehr seltsam, was er heute erlebte.

Der Mönch aus der Bruderschaft des heiligen Hiob fuhr daraufhin nach Wölfersheim, einem kleinen Ort in der Wetterau, etwa fünfzig Kilometer von Frankfurt entfernt. Seine Mutter lebte dort seit einem halben Jahr. Alexej nahm die Bahn nach Friedberg und wartete bis fünf Uhr auf einen Bus. Eine halbe Stunde später stieg er in Wölfersheim aus und durchquerte den Ort. Er lief durch Gassen, die aus lauter Fachwerkhäusern bestanden, überquerte ein großes Tankstellengelände, kam an einer heruntergekommenen Turnhalle vorbei und gelangte in eine Straße mit meist dreigeschossigen Häusern aus den sechziger Jahren. In einem dieser Häuser wohnte seine Mutter Irina.

Seine Mutter war seit dem Tod ihres Mannes allein und fuhr jeden Abend nach Friedberg ins städtische Krankenhaus, um zu putzen. Dort war sie mittels einer lokalen Personalvermittlung beschäftigt, man nannte das indirekte Anstellung, Alexej hatte die rechtliche Konstruktion nie verstanden. Sie war kompliziert, wie überhaupt vieles in Deutschland für Alexej kompliziert war. So war zum Beispiel sein Studienabschluß nicht anerkannt worden, obwohl er in Rußland schon jahrelang als Deutschlehrer an der Universität gearbeitet hatte. Als er mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen war, mußte er noch einmal anfangen zu studieren, mit dreißig Jahren, was er als Demütigung empfand, obgleich die deutschen Studenten um ihn herum teilweise genauso alt waren wie er. Ihn hatte dieses Studium gequält, es war ihm zu wenig schulmäßig und zu wenig diszipliniert erschienen, eigentlich lernte man nichts, ganz anders als in Rußland, man redete nur immerfort über das Lernen. Auf diese Weise wollte Alexej nicht seine Zeit vertun. Dann ging sein Vater nach Rußland zurück. Er hatte in Deutschland nie eine Arbeit gefunden und stand dem Land inzwischen sehr kritisch gegenüber. Alexej kehrte mit ihm zurück, weil er den Vater nicht allein lassen wollte.

Sie gingen in ihr altes Dorf Kubain, in dem Alexej als Kind gelebt hatte. Nach einigen Schwierigkeiten mit den dortigen Behörden nahm Alexej eine Stelle an einer Schule für elternlose Kinder an, und gemeinsam mit dem Vater bewirtschaftete er den Garten und das kleine Stück Land, das sie dort besaßen. Dann jedoch wurde der Vater krank, verlor seine Stimme und konnte nur noch flüstern. In Begleitung seines Sohnes fuhr er in die Kreisstadt und ließ sich untersuchen. Wenige Tage später war Alexejs Vater wieder zurück in Bad Nauheim. Die Diagnose im russischen Krankenhaus hatte Kehlkopfkrebs gelautet. Alexej war nun in einer verzwickten Lage, denn er wollte das Häuschen in Kubain nicht aufgeben und die kleine Landwirtschaft, auf die er in den letzten Monaten so viel Mühe verwandt hatte, nicht erneut brachliegen lassen. Vor allem fühlte er sich der Schule gegenüber verpflichtet, nicht nur der Schüler wegen, die er sehr liebte, sondern auch in Hinsicht auf die anderen Lehrer und den Direktor. Er wäre sich fahnenflüchtig vorgekommen, wenn er wieder fortgegangen wäre. Der Vater war ja nicht allein, er hatte die Mutter und den anderen Bruder. Außerdem war sich Alexej immer mehr über die Probleme klargeworden, die auch er mit Deutschland hatte. Er war bereits während seines ersten Aufenthalts in Bad Nauheim ein glühender Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche gewesen und hatte sich schon damals an die Fastenanweisungen im Jahreskalender gehalten. Damit hatte er kurz vor seiner Abreise aus Rußland begonnen. Wann immer er konnte, hatte er Gottesdienste aufgesucht, wofür er nicht selten bis Darmstadt oder Wiesbaden gefahren war. Im Bad Homburger Erzpriester Dimitrij hatte er einen Mentor gefunden, der ein eingefleischter Nationalist war und die Idee Rußlands als wahrer Kirche Gottes vertrat. Auch Alexej entwickelte eine immer nationalistischere Rußlandidee und sah gewisse Verhältnisse in seinem Heimatland, die andere kritisierten, bald mit einem eigenen Blick. In der Armut der Menschen auf dem russischen Land steckte für ihn eine Wahrheit. Den Konsum und die Schnelligkeit, mit der alles in Deutschland vonstatten ging, hielt er, mit einem Wort, für gottlos. Außerhalb der Kirche war Max Hornung der einzige, mit dem Alexej über seine Ansichten sprechen konnte. Alexej wußte, daß die anderen Deutschen seine religiösen Bestrebungen entweder für lächerlich oder für gefährlich hielten. Kurzum, Alexej fand im Leben auf dem russischen Land eine größere Wahrheit und eine größere Gottesnähe als im Leben hierzulande. In Kubain füllte er Öl in seine Lampen, aß Gemüse aus dem Garten, schlachtete seine Hühner, und alles das ohne Geld und ohne jede soziale Absicherung. Niemand in dem Dorf hatte eine soziale Absicherung, und Alexej vermißte sie auch nicht. In Deutschland waren ihm zu viele Menschen auf einem Fleck, man sprach fast nie über die Familie, dafür unterhielt man sich über Fernsehen oder Politik und dergleichen. Politik hatte aber nichts mit Wahrheit zu tun, sondern mit Steuern, Straßen, Konsum, Wirtschaft. Die Menschen in Deutschland dachten an ihre Steuern, ihre Abgaben, ihre Bezüge, ihre Urlaubsreisen, vor allem dachten sie an ihre Autos, aber die meisten hatten nicht einmal Gemüse im Garten, niemand durfte einem anderen das Dach reparieren (man nannte es Schwarzarbeit), und von allem war Geld die Grundlage. Auf dem russischen Land dagegen funktionierte das Leben fast ohne Geld. Rußland ist ein Wald, und Deutschland ist ein Park, das hatte Alexej Max bei ihrer ersten Begegnung im Schwimmbad kurz nach der Hochzeit gesagt. Im Wald ist es gefährlich, aber man braucht dort kein Geld, im Park dagegen kostet alles Eintritt. Alexej unterstrich den Begriff »Wald« damals durch ein eigentümliches Beispiel. Er sagte: Wenn du in Rußland mit einem Mädchen zusammen bist, zum Beispiel gehst du mit ihr spazieren, dann mußt du bereit sein, sie zu verteidigen, hiermit. Und er wies auf seine Fäuste.

Sein Vater hatte in Deutschland die meiste Zeit nur ferngeschaut. Der größte Augenblick für ihn war die Befreiung der Geiseln aus dem Moskauer Dubrowka-Theater (26. 10. 2002). Die gesamte Familie hatte sich über die Darstellung der Befreiung im westlichen Fernsehen aufgeregt. Sie waren stolz auf diese Befreiung. Sie waren Russen und stolz auf ihr Land, aber aus irgendwelchen Gründen weckte das bei den Deutschen Spott und teilweise Verachtung. Sein Vater hielt die Deutschen für ein fleißiges Volk, aber für lächerlich und rückgratlos. Für Alexej waren die Deutschen in erster Linie gottlos, womit er weniger die einzelnen Menschen als vielmehr das ganze Land, oder besser gesagt, die Gesellschaft, die Kultur meinte (er dachte hierbei eher in nationalen Begriffen). Als es dem Vater in Deutschland immer schlechter ging, verließ Alexej sein Dorf und fuhr nach Bad Nauheim zurück. Monatelang hatte er wie ein Einsiedler gelebt, jetzt saß er zwei Tage lang unter achtzig Menschen in einem Bus nach Frankfurt am Main. Er hatte sich inzwischen ein Bärtchen wachsen lassen und war ziemlich abgemagert, weniger durch die anstrengende Arbeit auf dem Feld als vielmehr durch das strenge Fasten. Nach seiner Rückkehr war er verzweifelt. Wieder an die Universität gehen wollte er keinesfalls. Er plante allen Ernstes, einen Gabelstaplerführerschein zu machen, um von der Firma, bei der seine Mutter beschäftigt war, in einem Warenlager eingesetzt zu werden. Der Vater wurde operiert, hatte nun keinen Kehlkopf mehr und konnte gar nicht mehr sprechen. Sein Zimmer mußte ständig mit einem Apparat feucht gehalten werden, die Wunde am Hals quälte ihn, zudem wurde er immer ungeduldiger.

Alexej machte zu der Zeit einige Reisen. Manchmal war er eine Woche weg, manchmal länger. Wohin er fuhr, sagte er niemandem. Die Familie war inzwischen in eine kleinere Wohnung umgezogen, mit Blick auf ein riesiges, neugebautes Einkaufszentrum, dessen bunte Leuchtreklamen bis nachts in die Fenster der Familie hineinleuchteten. Tagsüber war ein ständiger Verkehr auf dem riesigen Parkplatz. Da konnten sie die Deutschen studieren. Den Markt betraten sie nie, sie kauften in einem kleinen russischen Laden namens »Matröschka« im Untergeschoß eines nahegelegenen Hochhauses ein, das seit zwei, drei Jahren nahezu ausschließlich von Russen bewohnt war … Eines Tages, Alexej war wieder verreist, rief er bei seiner Mutter in Bad Nauheim an und sagte: Mutter, ich bin in München, schon seit einer Weile, bitte mach dir keine Sorgen, ja? Er blieb drei Wochen aus und rief auch nicht mehr an. Dann stand er eines Tages in seiner Kutte mitsamt der Kappe und einem länger gewordenen Bärtchen vor der Tür. Denen, die Alexej gut kannten, schien einerseits völlig verrückt, was er nun getan hatte, andererseits konnten sie sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Alexej nach seinem Eintritt ins Kloster plötzlich mehr in sich ruhte. Es schien ihnen so, als sei Alexej vorher verpuppt gewesen, ohne daß es irgendwer begriffen hätte. Jetzt war er geschlüpft. Man brachte ihm sofort eine fast ehrfürchtige Hochachtung entgegen, gegen die er sich aber höflich zu wehren wußte. Einiges hatte sich bei ihm wirklich schnell verändert. Er hatte bald nach seinem Eintritt ins Kloster begriffen, daß viel Unglück und Falschheit in die Welt kommt durch Unmäßigkeit im Reden. Er sah im Reden eine ähnliche Verlockung wie im Trinken oder in der geschlechtlichen Liebe. Also hielt er sich beim Reden zurück und erlegte sich Enthaltsamkeit auf, wodurch er auf seine Umwelt außerhalb des Klosters zwar nicht schweigsam, aber doch zurückhaltend, unaufdringlich und manchmal geradezu weise wirkte. Alles, was er sagte, war plötzlich einfach und hatte Hand und Fuß. Ansonsten schwieg er und hörte um so mehr zu. Als Zuhörer war er verständnisvoll, aber bisweilen zeigte sein Gesicht Mitleid, wenn die anderen zuviel redeten und sich deshalb ständig verwirrten. Er begriff, daß die meisten Menschen überhaupt nicht wußten, warum sie auf der Welt waren. Sie hatten keine klare Idee und spürten keine Wahrheit in sich. Er selbst hatte nun drei Leitlinien: erstens sich an die Regeln des Klosters zu halten, zweitens streng enthaltsam zu leben und drittens, das war der gefährlichste Punkt, sich für den Geringsten von allen zu erachten. In nichts steckte so sehr die Gefahr der Hybris. Das hatte auch Arnold klar erkannt.

Alexej verbrachte den späten Nachmittag mit seinem Bruder Roman, seiner Mutter und einer Freundin der Mutter bei Tee, Gebäck und Trockenobst. Seine beiden Neffen spielten zwischen den Stühlen und wunderten sich über die seltsame Kleidung des Onkels. Gegen Abend ging er mit Roman am Wölfersheimer See spazieren. Sie liefen zu einer Stelle, an der Alexej einmal mit Max und Freunden aus Blagowestschensk gegrillt hatte. Das war zu der Zeit gewesen, als er noch keine Kutte getragen hatte. Alexej blieb dort nachdenklich stehen und betrachtete die Sonne, die bald untergehen würde. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es war Arnold.

Die Engel

Als Arnold Meurer den Mönch verlassen hatte, ging er zu dem mit seiner Schwester verabredeten Treffpunkt. Sie hatten ausgemacht, daß Heike in eine Straße hineinlaufen sollte, etwa hundert Meter weit, auf jeden Fall außer Sichtweite, um dort zu warten. Auf dem Straßenschild stand Zeißelstraße. Heike war nicht da. Arnold begann herumzulaufen. Es ärgerte ihn nicht, daß er Heike nicht fand, diese Regung wäre ihm völlig fremd gewesen. Er wäre an ihrer Stelle auch nicht stehengeblieben, um zu warten. Heike und er waren sich in solchen Sachen sehr ähnlich. Nach einer halben Stunde fand er Heike ganz von selbst. Erst holte er sich an einer Trinkhalle Bier, dann überquerte er eine kleine Grünanlage, lief durch die Straße oberhalb der Zeißelstraße, ging in eine Wirtschaft und gelangte schließlich zur Glauburgstraße. Arnold erinnerte sich daran, daß sich hier der Mönch von den beiden anderen, dem deutschen Priester und dem Freund Merle Johanssons, getrennt hatte. Heike bewegte sich immer eher rückwärts als vorwärts. Also lief er die Straße entlang, kam zur Stalburg und fand dort seine Schwester. Sie hatte an einem Klapptisch vor der Wirtschaft Platz genommen, neben ihr saß ein Mann Mitte Zwanzig. Heike und der Mann unterhielten sich sehr angeregt. Arnold bewunderte seine Schwester, sie hatte ein auffälliges Talent, den Leuten nach dem Mund zu reden, und schaffte es auch in diesem Augenblick ohne weiteres, dem Mann an ihrem Tisch zu suggerieren, sie habe absolut Ahnung von der Sache, über die sie gerade sprachen, und daß diese Sache sie zudem überaus begeistere. So ein Gesprächsverhalten konnte natürlich nur dann funktionieren, wenn dem anderen ganz egal war, was geredet wurde, weil es für ihn um etwas komplett anderes ging. Und in der Tat, der Mann interessierte sich ausschließlich dafür, wie Heike ihre Beine hielt oder ob sie sich vornüberbeugte und er vielleicht unter dem schwarzen Spaghettitop ihre Brüste sehen könnte. Und er schaute ihr natürlich auf die Lippen, denn Heike hatte eine perfekte Art, ihre Lippen zu schürzen, das machte alle Männer wahnsinnig, ausnahmslos alle. Augenscheinlich hatte Heike dem Mann bereits völlig den Kopf verdreht. Sie hob ihre Augenbrauen, schlug immer wieder die Beine übereinander oder spreizte sie unter ihrem kurzen Rock wie bei einer Lockerungsübung, der Mann wußte nicht, wo er noch hinschauen sollte. Arnold setzte sich zu den beiden, ließ sich und Heike einen Becherovka bringen, hörte aber nicht zu, sondern versank in Gedanken und betrachtete den Mann, mit dem Heike sprach. Er trug längere Koteletten und eine Brille mit schwarzem Rand. Bestimmt ein Student. Oder eben mit seinem Studium fertig. Er sah nicht unangenehm aus. Was er wohl für Vorlieben hatte? Nach einer Weile begann Arnold dem Gespräch zuzuhören und stellte fest, daß es nichtssagend war. Der Mann redete völlig normal, wie alle, über ganz beliebige Dinge. Arnold spürte Widerwillen und eine grenzenlose Überlegenheit in sich aufsteigen, aber er biß sich auf die Lippen und sagte sich: Wenn er wüßte, daß sie unter ihrem Rock gar nichts trägt, würde er vermutlich auf der Stelle durchdrehen.

Irgendwann entschuldigte sich der Mann für einen Moment, ging in die Wirtschaft hinein, und Heike und Arnold standen auf und verließen den Gastgarten, ohne zu bezahlen. Arnold machte seiner Schwester Vorwürfe, daß sie solchen Leuten immer erlaube, sich an ihren Tisch zu setzen. Heike entgegnete trotzig, nicht er habe sich zu ihr an den Tisch gesetzt, sondern sie sich zu ihm.

Später liefen sie die Friedberger Landstraße hinunter, kamen am Friedberger Platz vorbei, die Straße war jetzt sehr breit und das Trottoir eng, aber das bemerkten sie nicht, beide waren in Gedanken versunken und hielten sich an der Hand. Weiter unten betraten sie den chinesischen Garten, liefen immer noch wortlos über die Wege, den kleinen Bach entlang, einmal um die Pagode herum, dann nahmen sie von ihrem letzten Geld ein Taxi und fuhren zum Hauptbahnhof. In der Bahnhofshalle klauten sie zwei kleine Fläschchen Sekt und stiegen in den nächsten ICE Richtung Berlin. Im Zug setzten sich die beiden Geschwister in den Gang, obgleich der Zug nur halb voll war. Heike rauchte. Sie wurde darauf hingewiesen, daß Rauchen hier verboten sei, also machte sie ihre Zigarette vorsichtig aus und zündete sie sofort wieder an, als sie allein waren. Als sie die Sektfläschchen ausgetrunken hatten, beschlossen sie, ins Bordbistro zu gehen und weiterzutrinken. Im Bordbistro fiel ihnen allerdings ein, daß man bei Bestellung gleich zahlen mußte. Also gingen sie lieber ins Restaurant und bestellten dort zwei Portionsflaschen Weißwein. Der Kellner wollte die Annahme der Bestellung zunächst verweigern, weil die beiden ihm zu jung erschienen, aber Heike lächelte ihn an und beugte sich ein wenig vor, in den Blickwinkel des Kellners, was diesen augenscheinlich überzeugte, so daß er den Wein brachte.