Inhaltsverzeichnis

Kater Leo will fliegen lernen

Sandra Rehschuh

Ein Sonnenstrahl – oder eine Staubflocke? – kitzelt meine Nase.

Mach es gut, Leo.

Tatsächlich!

Das ist sie also, die von mir so lang vermisste Freiheit.

Die Nacht neigt sich endlich ihrem Ende zu

»Hier ist sie.«

Die Tür steht offen.

Mittlerweile hat sich das Bild, das uns tagtäglich vor dem Fenster präsentiert wird, geändert.

Es schneit.

»Ich kann fliegen! Schau, Leo! Schau!«

Nur einen Wimpernschlag später sitzen wir beide wieder unter dem Weihnachtsbaum.

Wie ich befürchtet hatte, gleicht die Küche noch immer einem Schlachtfeld.

Eine Schneewehe bremst unseren Aufprall.

Wir laufen los, hintereinander, im Gänsemarsch, also auf einem richtigen Weg.

Meine Schwalbe hat sich wieder beruhigt.

»Worauf warten wir denn?

Es ist dunkel, und es riecht nicht schön.

Wir sind wieder am Fenster angelangt.

»Was machen wir denn jetzt?

Schon bald taucht ein breites schwarzes Band vor uns auf.

Ich kann es nicht glauben.

»Das seid ihr ja!«

Die Gäste sind da.

Es hat an diesem Heiligen Abend keinen Gänsebraten gegeben.

Wo bin ich denn jetzt wieder gelandet?

Aus dem Verlagsprogramm



Sandra Rehschuh

Kater Leo will fliegen lernen

Illustriert von Corinna Arauner


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KATER LEO WILL FLIEGEN LERNEN

Sandra Rehschuh


Impressum

Neuauflage


Copyright © 2016 Axiomy Verlag

Bielatalstraße 14, 01824 Königstein


Umschlaggestaltung und Illustrationen: © at Corinna Arauner

Satz: at Axiomy Verlag

Lektorat: Susanne Jauss


www.axiomy-verlag.de


printed in Germany


ISBN Print: 978-3-945618-79-0

ISBN eBook (epub): 978-3-945618-80-6

ISBN eBook (pdf): 978-3-945618-81-3


Urheberrechtlich geschütztes Material

Ein Sonnenstrahl – oder eine Staubflocke? – kitzelt meine Nase. Ich muss niesen. Träge hebe ich meinen Kopf und betrachte mit nur einem Auge die Welt um mich herum. Es ist Vormittag, würde ich schätzen. Die Sonne steht nicht mehr so hoch am Himmel, wie sie es noch vor einigen Wochen getan hat. Ihre Strahlen wärmen auch nicht mehr so richtig. Es ist Herbst.

Vor dem Fenster haben sich Vögel versammelt und bringen dort ein letztes Ständchen, bevor sie sich verabschieden. Sie werden davonziehen, wie jeden Herbst.

Es stimmt mich traurig, dass ich ihren lieblichen Gesang so lange nicht mehr hören werde. Aber mittlerweile weiß ich, dass sie wiederkommen werden. Nach dem kalten Winter, im Frühjahr, wenn die Sonne wieder wärmt.

Schwerfällig erhebe ich mich aus meinem Körbchen. Meine feinen, aber spitzen Krallen hinterlassen bei jedem Schritt ein Klacken auf dem Parkett. Vorsichtig geduckt nähere ich mich dem Fenster. Ich möchte sie nicht verscheuchen. Hinter der Gardine finde ich meinen Platz. Von hier aus kann ich sie gut beobachten. Immer muss ich mich vor ihnen verstecken.

Warum haben diese Piepmätze Angst vor mir? Vor mir braucht doch keiner Angst zu haben! In den sechs Jahren, seit ich auf dieser Welt bin, habe ich noch nie ein anderes Tier gefressen. Und ich könnte es mir auch nicht vorstellen.

Da ziehe ich doch lieber das Fressen vor, das mein Frauchen mir jeden Tag in den Napf füllt. Dort sind wenigstens keine Federn mehr dran! Und keine harten Knochen, an denen ich mir die Zähne ausbeißen könnte.

Eine dieser sonderbaren Kreaturen landet direkt vor meiner Nase. Sie kann mich nicht sehen, denn zwischen uns ist noch immer eine Glasscheibe und dieser Fetzen Stoff, den mein Frauchen Gardine nennt.

Mit schief gelegtem Kopf betrachtete ich das kastanienrote Gesicht, in dem zwei winzige schwarze Augen neugierig nach Futter suchen. Nicht mehr lange, dann werden sie fündig, wenn nach dem ersten Frost reichlich Körnchen auf dem Fensterbrett liegen. Die Armen. Später im Winter können sie nicht mehr jagen. Dann ist alles im Schnee verschwunden.

Ja, auch diese Luftakrobaten können jagen! Dafür habe sie diesen spitzen Schnabel. Mäuse erwischen sie damit wahrscheinlich nicht. Aber eine Maus wäre denen bestimmt auch viel zu groß.

Im Sommer, da haben sie die Mücken gefangen. Und Fliegen! Normalerweise jage ich die immer, wenn die sich in die Wohnung hinein verirren. Das wäre ja noch schöner, mich von deren Gesumme nerven zu lassen. Oder gar in die Nase stechen zu lassen. Das hat nämlich eine mal gewagt. Und schwupps – da war sie in meinem Mund. Geschmeckt hat sie nicht. Na ja, eigentlich kann ich das auch nicht behaupten. Schließlich habe ich sie im Ganzen hinuntergeschluckt.

Nach draußen darf ich nicht. Leider. Mein Frauchen hat viel zu sehr Angst um mich, weil ich doch von einem Auto überfahren werden könnte! Seit wir in die Stadt gezogen sind, habe ich Stubenarrest. Ich komme mir vor wie im Gefängnis. Dabei habe ich doch gar nichts getan. Ich war immer brav. Ja, ich bin ein braver Leo.

Mir bleibt also nichts weiter übrig, als stundenlang vor dem Fenster zu sitzen und hinauszuschauen.

Im Frühling habe ich den Schnee schmelzen gesehen und zugeschaut, wie die ersten Blumen ihre Hälse hinausstrecken, um die Sonne zu begrüßen. Im Sommer die schweren Gewitter, bei deren Krach ich mich unter dem Sofa versteckt habe. Und dann kam der Herbst. Langsam haben die Blätter sich verfärbt und begannen eines Tages abzufallen. Immer mehr Grün verschwand. Rot und braun, das sind die Farben, die diese Jahreszeit beherrschen. Und schwarz – wie die Trauer. Die Trauer, die jetzt an meinem Herzen nagt.

Ich werde wieder allein sein. Den ganzen Winter. Dann kann ich den Gesprächen der Vögel nicht mehr lauschen, die mir stets zugetragen haben, was in der Welt geschieht. Auch wenn sie es nicht gewusst haben, dass sie mir das erzählen! Denken die Federtiere doch, wir Katzen würden eine ganz andere Sprache sprechen! Aber dieser Irrtum ist ja nicht nur den Vögeln vorbehalten. Nein, auch die Menschen denken so. Dabei verstehe ich doch jedes Wort, das sie mir sagen. Sie könnten mich verstehen, wenn sie es wollten. Aber die Menschen hören manchmal nicht zu.

Mein Blick schweift in die Ferne. Wie es dort wohl sein wird? Ich meine, dort, wo die Vögel hinfliegen. Scheint dort die Sonne? Ist dort das ganze Jahr über Sommer? Ach, so gerne möchte ich mit ihnen gehen! Ob meine kleinen Pfoten das schaffen würden?

Die Schwalbe segelt davon, schraubt sich immer höher, dreht eine Runde um den Baum, in dem sich ihre Angehörigen versammelt haben, und lässt sich neben ihnen nieder. Nein, so schnell werde ich wohl niemals sein.

»Na, schaust du wieder den Vögeln hinterher? Sie sammeln sich und werden bald wegfliegen.« Mein Frauchen. Sanft streichelt sie mir über den Kopf. »Ach, muss das herrlich sein, fliegen zu können!«, stellt sie lachend fest und öffnet mir das Fenster.

Fliegen. Ja, das muss wunderbar sein. Aber ich kann es nicht. Mir sind keine Flügel gewachsen. Leider.

Ich blicke nach unten. Wir leben weit oben, in der dritten Etage. Ich kann nicht herausstürzen und meine Freiheit genießen. Keinen weiten Sprung unternehmen, um zu testen, ob ich nicht vielleicht doch fliegen kann. Der Baum steht nicht weit weg. Zehn oder fünfzehn Katzenlängen, nicht mehr. Aber doch unerreichbar. Wäre doch nicht dieser tiefe Abgrund dazwischen!

»Was überlegst du denn?«

Was soll ich denn schon überlegen? Wie ich da hinüberkomme. Wie ich mit ihnen mitfliegen kann! Darum drehen sich meine Gedanken!

Sie kann es nicht verstehen. Sie ist keine Gefangene und nicht immer eingesperrt in diesen vier Wänden. Sie gibt mir alles, ja. Fressen, einen warmen Schlafplatz, ihre Liebe. Aber das ist nicht das, was ich brauche. Ich brauche die Freiheit! Ich bin ein Kater, keine Rassekatze, die man irgendwo einsperren kann. Nein, ich bin ein Hauskater, ein Kater, der dazu geschaffen ist, Mäuse zu fangen. Und wenn das schon nicht möglich ist, weil es in diesem Haus keine Mäuse gibt, dann soll sie mich doch wenigstens hinauslassen. Ich möchte durch die Straßen laufen, ein Feld suchen und mit dem herabfallenden Laub spielen. Kann sie das denn nicht verstehen?

Sie will das Fenster schließen. »Komm, Leo. Komm rein. Es wird kalt.«

Na und? Ich habe ein Fell. Mir ist nicht kalt. Mir wird auch nicht kalt werden. Versprochen.

Sie drückt gegen den Rahmen. »Jetzt komm schon«, drängt sie. »Ich habe keine Zeit mehr. Ich muss zur Arbeit, dir dein Futter verdienen. Oder willst du heute Abend hungern?«

Ich habe keinen Hunger mehr. Von mir aus braucht es auch nie wieder etwas zu fressen geben. Es ist mir egal.

Ich lasse den Schwanz hängen und springe von der Fensterbank herunter. Heute Abend werden meine Freunde nicht mehr da sein. Ihr

»Wit-Wit« fehlt mir jetzt schon.

Sie kommen erst im Frühjahr zurück. Das ist eine lange Zeit. Viel zu lang für ein Katerleben.


***


»Mach es gut, Leo. Bis heute Abend. Und stelle mir keinen Unsinn an, ja?« Mein Frauchen lacht und öffnet die Türe.

Ich mache keinen Blödsinn. Niemals! Ich helfe ihr.

Zum Beispiel weiß ich ganz genau, wann sie vorhat, die Blumen umzutopfen. Dann arbeite ich schon vor. Fein säuberlich räume ich die Töpfe von den Fensterbänken, grabe die Pflanzen aus und fange an, die alte Erde in die Küche zu tragen. Na gut, eigentlich trage ich sie überallhin. Hauptsache, sie ist raus aus dem Topf.

Aber heute nicht. Heute wird es anders werden, denn ich habe meinen Entschluss gefasst. Ich bin ein Kater und muss hinaus, kann mich nicht einsperren lassen. Ich weiß, der Winter steht vor der Tür. Eine kalte Zeit. Und deswegen habe ich noch einen zweiten Entschluss gefasst. Ich werde mit den Vögeln reisen. Ich, Leo, der stolze Kater, werde das Fliegen lernen!

Mach es gut, mein liebes Menschenmädchen. Wir werden uns wiedersehen. Spätestens im nächsten Frühjahr. Das verspreche ich. Mach dir bitte keine Sorgen um mich, mir wird es gut gehen. Sie werden es mir zeigen. Ja, meine lieben Schwalben weisen mir den Weg.

Ihre Stirn legt sich in Falten, als ich mich ducke und meine Muskeln zum alles entscheidenden Sprung anspanne. Scharf fixiere ich das Treppenhaus an. Nur wenige Schritte, dann bin ich frei.

Ein letztes Zögern. Was ist, wenn mich die Schwalben nicht bei sich haben wollen? Wenn ich das Fliegen nicht lerne?

Hastig schüttele ich den Kopf. Dazu ist es zu spät. Die Freiheit ruft nach meinem Katerherz.

»Leo, was hast du vor?«, höre ich mein Frauchen noch rufen, und schon laufe ich zwischen ihren Beinen hindurch.

Kälte ummantelt mich im Treppenhaus. Hier riecht es seltsam. Nach anderen Menschen, nach frisch gewaschener Wäsche. Und nach der Straße.

»Leo! Leo! Leo!«

Ich drehe mich nicht um. Sollte ich mein Frauchen noch einmal sehen, würde ich wohl doch wieder zurückgehen. Das befürchte ich zumindest. Ich habe sie lieb, aber sie kann mich nicht verstehen. Sie wird weinen. Das kann ich nicht ertragen. Ich bin doch der Mann im Haus und muss sie trösten, wenn sie traurig ist. Also schaue ich lieber nicht zurück und kann so auch nicht sehen, ob ihr Tränen über die Wangen kullern.

Ein alter Mann öffnet gerade die Tür. Perfekt. Er sieht mich nicht, weil er zu sehr mit seinen Taschen beschäftigt ist. Der Spalt wird enger. Die Zeit drängt. Noch einmal mobilisiere ich all meine Kraft, lege sie in einen letzten Sprung – und bin draußen.

***


Tatsächlich! Ich bin draußen. Einen Moment lang schaue ich mich um. Wie oft habe ich aus dem Fenster dieses Stück Straße gesehen? Ein schmales Stück Asphalt, auf dem an beiden Seiten die lärmenden Autos stehen und sich ausruhen. Auch Bäume gibt es hier. Ein Baum, ein paar Schritte weiter der nächste. So geht es weiter, so weit ich sehen kann.

Ich wende mich von ihnen ab. Die winzige Rasenfläche vor dem Haus erweckt meine Aufmerksamkeit. Wie lange wünsche ich mir schon, dass meine Pfoten sie berühren! Dass ich mich in der Hecke verstecken kann, die das Grundstück

von der Straße abtrennt. Und jetzt stehe ich hier und spüre das hart gewordene Leben unter meinen Tatzen.

Es ist kalt, Spätherbst. Bald wird es schneien, ich rieche es. Bis dahin muss ich weg sein. Dort, wo die Schwalben sind, ist mein Ziel. Mein Herz jubelt. Ich höre es klopfen – nein, es donnert!

Unruhig wende ich mich nach links. Irgendwo dort soll es ein verlassenes Grundstück geben. Mit Bäumen und Sträuchern und einem eingestürzten Haus, in dem meine Freunde brüten. Vielleicht finde ich dort des Rätsels Lösung, wie sie es schaffen, zu fliegen.