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Kat Hönow

Abgrund Berlin

Sempers letzter Fall - Thriller





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Rausch

„Es war der freie Fall, das Adrenalin, das mir den Boden unter den Füßen wegriss. Es veränderte alles, mein ganzes Leben und ich wusste im gleichen Moment, dass nie wieder etwas so sein würde, wie zuvor. Es war der Moment, wo ich die Reißleine zog und der Fallschirm sich über uns öffnete. Der Druck, der uns mit einem heftigen Ruck wieder hinaufzog, der Mia jauchzen ließ und mich an die Grenzen meines Verstandes brachte, das war der Augenblick, der alles veränderte. Ihre Wärme, ihre Nähe zu mir und ihr Glück, das sie in diesen Sekunden empfunden hatte, das war es, was alles aus dem Ruder laufen ließ.

Jetzt sitze ich hier und denke darüber nach, wie das alles passieren konnte. Wie ich das wieder gut machen könnte was ich durch meinen Egoismus zerstört habe und komme zu dem Schluss, dass ich alles, was mir je etwas bedeutete, für immer verloren habe. Es gibt keinen Weg zurück. Nie mehr.

Nicht für mich.“

 

Ben Semper – JVA Berlin Moabit

 

Drei Monate zuvor

 

Ben

 

Das Flattern des Fallschirms übertönte alles, doch ich hörte nur ihr Lachen. Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Es war, als würden wir für diesen Moment nicht zu dieser Welt gehören.

Die Gurte, die Helme und das Gewicht, welches ich auf meinen Schultern spürte, das uns beide trug, das alles wirkte surreal und wirkte unecht.

Schwerelos! Als wäre Raum und Zeit nicht mehr vorhanden und ich wünschte, es hätte nie aufgehört.

Mias Stimme riss mich jedoch noch rechtzeitig zurück in die Realität. Gerade so schaffte ich es, meine Füße anzuheben, damit wir über den Boden gleiten konnten und als wir dann endlich zum Stehen kamen, spürte ich ihren Herzschlag genau so heftig wie meinen eigenen. Ich war regelrecht außer Atem. Unfähig irgendetwas zu sagen oder mich zu bewegen.

Endlose Sekunden saßen wir so da, auf dieser Wiese, bis ich es schaffte, die Gurte und Karabiner zu lösen, die uns miteinander verbanden. Als Mia sich von mir löste und aufstand, hinterließ sie eine Leere in mir, die beinahe körperlich wehtat.

»Ben, das war der Wahnsinn. Danke ... Danke, danke, danke, dass du mit mir gesprungen bist«,

jubelte sie und warf sich in meine Arme, wobei sie mich umriss und mit ihren Armen umschlang. Instinktiv legte auch ich meine Arme um ihren Rücken, hielt sie fest an mich gedrückt, so wie in der Luft auch schon. Es fühlte sich so gut an, dass ich sie nie wieder hergeben wollte und genau das erschreckte mich. Ich spürte ein heftiges Ziehen in meiner Leistengegend, ließ sie erschrocken los, als hätte ich mich an ihr verbrannt.

Bevor ich zu Wort kam, sprang Mia auf und winkte aufgeregt in die Richtung, aus der Marlon, ihr Freund, auf uns zugelaufen kam. Ich setzte mich hin, zog eilig den Fallschirm an mich heran, um zu verbergen, was der Hormonrausch bei mir anrichtete. Mia hatte Gott sei Dank nichts davon mitbekommen. Sie sprang ihrem Marlon - einen waschechten Justin Biber-Verschnitt - um den Hals, als wüsste sie nicht wohin mit ihren Emotionen.

Ohne mich weiter zu beachten, gingen sie voran und ich ging hinter ihnen her, mit dem Fallschirm, den ich zu einem großen Knäul geformt, vor mir hertrug. In meinen Gedanken hing ich dem nach, was soeben geschehen war. Ich spürte immer noch das Pulsieren in meinem Schritt und hatte Schwierigkeiten, meine Erregung zu verbergen, weshalb ich langsamer lief, als die beiden.

Ich musste hier weg. Vor allem musste ich weg von Mia. Ich brauchte dringend eine kalte Dusche und Ruhe um mich herum. Bei Gott, sie war gerade erst siebzehn Jahre alt geworden und ich kannte sie schon ihr ganzes Leben lang. Nicht im Traum wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass irgendwann mehr zwischen uns...

Das ging nicht. Auf keinen Fall!

Unser Altersunterschied betrug zwanzig Jahre, aber damit nicht genug. Ich wollte auf keinen Fall die Freundschaft zwischen ihrem Vater und mir zerstören. Wir kannten uns schon von der Polizeischule, gingen damals gemeinsam zur Kripo.

Ich habe Mias ganzes Leben miterlebt, ihre Taufe, ihre Einschulung, den Verlust ihrer Mutter Claudia und ihren ersten Liebeskummer…

»Ben?«

Erschrocken sah ich zu Mia, die ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne abschirmte. Aus ihrem geflochtenen Zopf lösten sich dunkle Strähnen, die jetzt lose im Wind umherflatterten. Ich war so vertieft meinen Gedanken nachgehangen, dass ich nicht gemerkt hatte, wie ich stehen geblieben war.

Mia stand, zusammen mit Marlon und dem Sprunglehrer Thomas Berger, an dessen offenen Jeep, etwa fünfzig Meter von mir entfernt. Marlons Arm hing locker um ihren Nacken und sie hielt seine Hand in ihrer.

Mein Magen zog sich bei diesem Anblick zusammen. Wut kochte in mir hoch, als ich sah, wie die Zwei verliebt miteinander turtelten. Mia bekam diesen Sprung von Marlon zum Geburtstag geschenkt, doch Gregor war nur damit einverstanden, wenn ich an seiner Stelle mit Mia flog.

Schnell atmete ich tief durch, raffte den Fallschirm vor mir zusammen und ging weiter auf den Jeep zu, in dem beide schon auf der Rückbank saßen.

Berger befreite mich erst einmal von den Gurten und verstaute den Fallschirm im Ladebereich des Landrovers. Da die beiden die Rückbank besetzten, setzte ich mich auf den Beifahrersitz.

Durch den Rückspiegel beobachtete ich sie. Ich versuchte herauszufinden, was da zwischen uns passierte, während wir über unwegsames Gelände, zurück zum Flugplatz nach Friedersdorf fuhren.

»Ben?«, sprach Mia mich wieder an.

Erstaunt blickte ich sie an und erst dann registrierte ich, dass wir schon am offenen Hangar des Flugplatzes angekommen waren. In ihren Augen erkannte ich Besorgnis.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

Ihre haselnussbraunen Augen sahen forschend zu mir auf. Ich wich ihnen aus, sah zu Marlon, der an seinem Moped auf Mia zu warten schien.

»Ja, natürlich ist alles okay.« Es fiel mir schwer zu lächeln, doch ich schaffte es irgendwie, auch wenn es sich unecht anfühlte.

»Aber du hast kein einziges Wort gesagt, seit wir gelandet sind.«

Das war ihr also aufgefallen? Ihre Finger spielten nervös mit dem Kettenanhänger, den ich ihr zu ihrem 14. Geburtstag geschenkt hatte. Ein kleiner Engel, der sie beschützen sollte. Die Flügel des Engels funkelten, wie Millionen kleiner Diamanten. Unwillkürlich dachte ich an ihre Augen, die genauso strahlten, als ich ihr den Anhänger schenkte.

»Nein, mach dir keinen Kopf. Ich bin wahrscheinlich immer noch mit dem Kopf über den Wolken.« Und das war noch nicht einmal gelogen.

»Okay! ... Also, wir fahren dann.«

»Macht das und fahrt bitte vorsichtig mit diesem Ding.« Ich deutete auf das Moped.

Mia beugte sich zu mir und drückte ihre Lippen auf meine Wange. Das tat sie eigentlich immer, wenn wir uns begrüßten oder verabschiedeten, doch dieses Mal fühlte es sich anders an.

»Danke für den Sprung. Es war wirklich toll!« Rief Mia noch, breit grinsend zum Abschied und stieg hinter Marlon auf dessen Moped, wo sie sich den Helm aufsetzte. Ich hob meine Hand zum Abschied und sah ihnen hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Erst dann atmete ich tief durch und fuhr mit meinen Händen über meine kurz geschorenen Haare.

So eine verdammte Scheiße! Mir ging nicht aus dem Kopf, wie so etwas möglich war. Von einem Moment zum nächsten sah ich Mia mit ganz anderen Augen. Ich sah ganz plötzlich Dinge an ihr, die mir vorher nie aufgefallen waren, die mir bis zu diesen Morgen völlig egal gewesen waren.

Ihr Lachen, der Duft ihrer warmen Haut ... der Klang ihrer Stimme, diese intensive Farbe ihrer Augen und die mittlerweile perfekten Rundungen ihrer Weiblichkeit.

Ebenso wie ihre Mutter war Mia kein Klappergestell. Alles saß an den richtigen Stellen, ohne zu viel zu wirken. Sie selber empfand sich leider nicht so, weshalb sie in regelmäßigen Abständen Sport machte. Dabei hatte sie das überhaupt nicht nötig. Ich schüttelte den Kopf, um mich von den Gedanken an Mia zu befreien und stieg in meinen Wagen. Doch schon auf dem Weg nach Hause merkte ich, dass ich kaum in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen.

An der Haustür angekommen, konnte ich die Erregung kaum noch aushalten, warf sie zu und stürmte Richtung Bad, um zu duschen. Auf dem Weg durch das Wohnzimmer, zum hinteren Flur, zog ich mich aus, um sofort unter die Dusche zu können. Die Idee, dass ich mir die schmutzigen Gedanken wegwaschen konnte, war allerdings völlig irrsinnig. Das totale Gegenteil passierte.

Jetzt, wo ich endlich vollkommen für mich war, prasselte all das auf mich ein, was ich die ganze Zeit versuchte zu unterdrücken. Dieser ganze Gefühlscocktail und Mias Gesicht, welches ich jedes Mal vor mir sah, wenn ich die Augen schloss, ließen mich keuchend mein mittlerweile schmerzendes Glied in die Hand nehmen.

In meinen Gedanken war ich wieder bei dem Sprung, oben über den Wolken, wo ich sie so nahe spürte wie nie zuvor. Wo der Duft ihrer Haare mich um den Verstand brachte und ich ihren Herzschlag in mich aufsog, bis es in meinen Leisten pulsierte. Sie vertraute mir ihr Leben an und ich wollte nichts anderes, als sie spüren. In ihr sein. Jetzt!

Nach Atem ringend, trieb ich auf einer Welle der Gier, auf den Abgrund zu. Mit geschlossenen Augen, um Mia nicht zu verlieren. Doch dieses Mal lebte ich es aus, tat gedanklich alles, was ich mir bis zu diesem Moment verboten hatte, bis ich keuchend auf die Knie sank.

Erschöpft saß ich auf dem Boden unter dem Wasserstrahl, der endlos auf mich einprasselte. Der Druck war weg, aber nicht Mias Gesicht. Ich wusste nicht wie ich damit umgehen sollte. Ob das wieder vorbei ging, wenn ich Mia einfach aus dem Weg ging? Vielleicht sollte ich meine Besuche im Hause Gerber erst einmal vermeiden, um gar nicht erst mit ihr zusammen zu treffen? Das schien mir ein guter Plan zu sein. Zumindest vorerst. Ich war mir sicher, dass dieser ganze Spuk ein Ende fand, wenn ich ihr nur lange genug aus dem Weg ging.

Ich hatte ja keine Ahnung, wie sehr ich mich täuschte.

 

Mia

 

Ben verhielt sich anders als sonst. Mir war das gleich nach der Landung aufgefallen, als ich mich überglücklich auf ihn warf. Er hatte meine Umarmung zwar erwidert, doch danach war alles irgendwie verkrampft zwischen uns. Vielleicht empfand ich es auch nur so, weil die Glücksgefühle immer noch in mir sprudelten, wie eine Quelle, die einfach nicht versiegen wollte? Ben sagte kaum ein Wort, auf dem Weg zurück zum Flugplatz. Er wirkte so abwesend. Vielleicht lag das an diesem unbeschreiblichen Rausch, den wir da oben, viertausend Meter über den Boden, erlebten?

Wir saßen erst am Rand der Flugzeugtür. Mir wurde irgendwie ganz anders, als ich zur Erde sah. Der Motor der Cessna brummte unter uns so sehr, dass ich nicht auseinanderhalten konnte, ob ich zitterte oder ob es von den Vibrationen kam. Dann wirkte auch noch alles so winzig klein unter uns. So weit entfernt. So unwirklich.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, mein Adrenalinspiegel befand sich wahrscheinlich noch mal 4000 Meter über uns. Ich konnte kaum noch richtig durchatmen, denn mir wurde fast schwindelig bei dem Gedanken, gleich in diese unendliche Tiefe zu stürzen. Der Wind peitsche mir so sehr ins Gesicht, dass es fast wehtat.

Doch Ben lachte nur laut, legte seine Arme um mich, um mir die Angst zu nehmen. Ich wusste, er sprang nicht zum ersten Mal und ich vertraute ihm einhundert Prozent. Er hielt mich ganz fest und fragte, ob ich bereit wäre. War ich das? Wollte ich das wirklich?

Ja! Ich habe so lange auf die Erlaubnis von meinem Vater warten müssen. Also nickte ich, breit grinsend.

»Atme tief durch Mia und genieße es«, rief er, dicht an meinem Ohr. Dann stieß er uns, mit seinen Füßen von den Kufen ab.

Wir fielen, stürzten und taumelten kurz.

Im ersten Moment versuchte ich nach Luft zu schnappen, weil ich das Gefühl hatte, dass der Druck den ganzen Sauerstoff aus meinen Lungen presste und geriet deshalb kurz in Panik, aber schon im nächsten Moment, war da dieses unglaubliche klare Gefühl, das durch jede Zelle meines Körpers schoss.

So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt. Es war der Wahnsinn, so unglaublich befreiend.

Zufriedenheit breitete sich in mir aus und ich wollte nicht, dass es jemals endete. Alles war so endlos und ich fühlte mich so frei, wie nie zuvor in meinem Leben.

Freiheit! Das wirkte am stärksten auf mich ein, während Ben mich fest in seinen Armen hielt.

Ich war ihm so dankbar, konnte mich immer auf ihn verlassen. Nur ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich diesen Sprung überhaupt machen durfte. Hätte er meinem Vater nicht versprochen, mitzukommen, hätte der mir das niemals erlaubt. Dabei wünschte ich mir diesen Sprung schon so lange. Schon um einen Weg zu finden, meiner Mutter nahe zu sein. Es verging kein Tag, an dem ich sie nicht vermisste, auch wenn mein Vater und Ben sich die größte Mühe gaben, die Lücke zu füllen. Sie waren halt Männer und dazu auch noch welche, die mit Mädchenkram nicht viel anfangen konnten.

Obwohl das auf Ben nicht ganz zutraf. Er war in vielen Dingen, sehr viel einfühlsamer als mein Vater.

In der Zeit nach Mamas Tod, wurde er für uns zu einem Anker. Für die erste Zeit, zog er bei uns ein, übernahm Mamas Aufgaben, zu denen wir emotional nicht in der Lage waren. Er hatte dafür gesorgt, dass ich in meiner Trauer nicht völlig den Kopf und den Bezug zu meinem Vater verlor, der meinte, mit allem alleine umgehen zu müssen und alles von mir fernzuhalten.

Dabei wollte ich meine Trauer nur mit ihm teilen. Damals fühlte ich mich einsamer, als je zuvor.

Doch Ben riss das Ruder wieder herum. Er ließ nicht zu, dass wir daran kaputtgingen und begann damit, neue Strukturen in unser Leben zu bringen.

Ohne ihn wäre diese Familie, die nur noch aus meinem Vater und mir bestand, zerbrochen. Er sorgte dafür, dass ich meinen Rhythmus nicht verlor, dass ich wieder zur Schule ging und machte mit mir Hausaufgaben, so wie es Mama auch immer machte. Er kochte, putzte, ging einkaufen. Er ließ mich reden, über alles, auch über Mama und dem, was mit ihr passiert war.

Das konnte ich in Paps Gegenwart nicht. Auch ohne Verwandtschaftsgrad, wurde Ben dadurch zu meinem Lebensmittelpunkt. Ihm vertraute ich alles an, konnte mit ihm immer über alles reden und er las in mir, wie in einem Buch. Jedoch spürte ich dieses Mal, dass ihn etwas bedrückte.

Mich beschäftigte das den ganzen Abend, so dass Marlon irgendwann genervt nach Hause fuhr, weil mit mir nichts anzufangen war. Er mochte Ben nicht und seine Eifersucht machte mich total verrückt.

Süß fand ich es trotzdem irgendwie.

Ich überlegte, ob ich Ben anrufen, oder noch einmal kurz bei ihm vorbeischauen sollte. Ich musste ja nur die Straße runter und dann links, aber dann sah ich auf die Uhr und entschied mich dagegen.

Sie zeigte bereits Mitternacht an, also schrieb ich Marlon noch eine kleine Liebesbotschaft über WhatsApp und ging dann ins Bett. Als ich die Augen schloss, schwebte ich wieder über den Wolken.

Ich atmete Freiheit und genoss den freien Fall.

Verkatert

 

Ben

 

Völlig verkatert und verspätet betrat ich das Büro, in dem Gregor schon fleißig an seinem Computer saß.

»Hast du die Nacht durchgemacht?«, fragte er verärgert und sah mir, über den Rand seiner Lesebrille dabei zu, wie ich mich umständlich aus meiner Strickjacke befreite. Ich musste echt scheiße aussehen, denn sein strenger Blick wich der reinsten Besorgnis.

»Ich konnte nicht schlafen«, gab ich zu und das war nicht einmal gelogen. Die halbe Nacht saß ich in meinem Arbeitszimmer auf dem Boden und wälzte alte Fotoalben. Dabei trank ich fast eine ganze Flasche Wodka, den ich nun in Form einer ausgewachsenen Migräne, zu spüren bekam.

Vor mir sah ich den Bildschirm, auf dem das Logo des Bundeskriminalamts von einer Ecke in die nächste wanderte.

»Wir haben einen neuen Fall. In einer halben Stunde geht’s zur Besprechung«, riss mich Gregor aus meinem gedanklichen Halbschlaf.

Na toll und das in meinem Zustand?

Schwerfällig erhob ich mich, um mir einen Kaffee zu nehmen. Zu unserem Glück, nannten wir eine kleine Kaffeemaschine unser Eigen, an der wir uns jederzeit bedienen konnten. Das hatte allerdings auch den Nachteil, dass sämtliche Kollegen laufend hereinplatzten, um sich ebenfalls daran zu bereichern.

»Worum geht’s?«

»Ein verschwundenes Mädchen, 15 Jahre alt. Sie ist seit 48 Stunden abgängig.«

Gregor schob die frische Akte zu mir rüber, damit ich mich einlesen konnte. Schon auf dem Weg zum Schreibtisch, trank ich ein paar kräftige Schlucke meines Kaffees, um einigermaßen aufnahmefähig zu werden. Noch während ich den Waffengurt aus meiner abschließbaren Schublade holte und ihn mir umlegte, klappte ich den grauen Hefter auf.

Auf dem Bild war ein junges Mädchen zu sehen. Dunkle lange Haare, warme braune Augen und ein schüchternes Lächeln sagten mir, aus Erfahrung heraus, dass dieses Mädchen keinen Grund hatte, von Zuhause fortzulaufen. Die Aussagen ihrer Eltern und Freunde, bestätigten meinen ersten Eindruck von ihr. Kassandra Wieland war eine Einserschülerin. Sie war unter ihren Mitschülern, wie auch den Lehrern an ihrer Schule, sehr beliebt und hegte alles andere, als den Drang sich rumzutreiben. Sie war sportlich, joggte viel und - laut Aussage ihrer Eltern - am liebsten abends, auf dem nahegelegenen Mauerweg. Dabei trug sie immer einen kleinen Taschenalarm bei sich, der zerstört neben dem Weg gefunden wurde. Der Stift steckte noch soweit im Gerät, dass der Alarm nicht ausgelöst werden konnte.

Ein Foto zeigte den Fundort und den Auffinde-Zustand des Geräts. Ein weiteres Foto zeigte einen Spritzendeckel, der unweit davon entfernt gelegen hatte. Die beiden Gegenstände ließen natürlich vermuten, dass Kassandra einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sein musste.

»Das ist ganz in unserer Nähe«, machte ich Gregor aufmerksam.

»Hm-hm! Am Mauerweg. Da gab es letzte Woche schon eine Anzeige gegen Unbekannt, wegen eines Übergriffs. Hoffentlich haben wir es nicht mit einem Serientäter zu tun«, mutmaßte Gregor.

»Das fehlt uns gerade noch.«

Müde rieb ich mir übers Gesicht und stürzte den Rest meines Kaffees hinunter, als er auch schon aufstand und alles für die Besprechung zusammensuchte.

 

Im Besprechungszimmer redeten alle wild durcheinander und hielten sich an ihren Kaffeebechern fest, während wir auf Max Freikamp, unseren Dienststellenleiter warteten. Wie immer, saßen wir alle an einem großen, ovalen Tisch, der einzig den Zweck erfüllte, sich nicht aus den Augen zu verlieren. Ich durfte mir von dem einen oder anderen einen blöden Kommentar anhören, wie durchzecht ich aussah, aber das ließ ich gekonnt von mir abprallen. Es musste niemand wissen, dass ich mich genauso fühlte, wie ich augenscheinlich wirkte. Tatsächlich hätte ich fast zum Hörer gegriffen und mich krankgemeldet. Jedoch ist das in den letzten zehn Jahren so gut wie nie vorgekommen und hätte wahrscheinlich mehr Fragen aufgeworfen, als mir selber lieb gewesen wäre.

Die Gespräche verstummten, als Max Freikamp den Raum betrat. Gefolgt von seiner Sekretärin Eva Schmitt, die einen ganzen Stapel Ermittlungsunterlagen vor sich her trug und von uns allen nur Schmittchen genannt wurde.

Sie gehörte noch zu den älteren Modellen, die noch wert auf echte Polizeiarbeit legte und nicht viel von moderner, hilfreicher Elektronik hielt. Ich glaube, sie besaß noch nicht einmal ein Handy. Ich mochte sie sehr, so wie alle anderen sie auch mochten, denn sie war für jeden von uns die gute Seele in diesem Bürokomplex.

Freikamp räusperte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Ich wünschte, die Woche würde etwas gediegener beginnen, allerdings hält sich das Verbrechen nicht an unsere Befindlichkeiten«, leitete er die Besprechung ein und ließ Schmittchen die Unterlagen verteilen. Es handelte sich um eine Zusammenfassung der bisherigen Ermittlungsergebnisse, mit Bildern von Kassandra, den gefundenen Gegenständen und der Laufstrecke in Vogelperspektive. Darauf waren die Fundorte der Gegenstände markiert, woraus sich ein ungefährer Tatort ermitteln ließ. Auch die zum Fall passende Anzeige von letzter Woche, wurde in die Ermittlung mit hineingenommen, da die Möglichkeit bestand, dass es Zusammenhänge gab. Dieser Angriff ereignete sich jedoch etwa 200 Meter weiter weg und war ebenfalls auf dem Foto mit einem Kreis markiert.

»Kassandra Wieland, 15 Jahre alt, ca. 1,65 groß und 60 Kilogramm schwer. Ihre Eltern meldeten das Mädchen vorgestern Abend als vermisst, weil sie vom Joggen nicht nach Hause kam.«

»Hat man schon versucht Ihr Handy zu orten? Die meisten Jugendlichen hören darüber Musik und tragen es deshalb aus Gewohnheit bei sich«, warf Gregor ein. Er wusste das von Mia, die ebenfalls beim Sport Musik hörte. Als hätten wir zur gleichen Zeit denselben Gedanken, sahen wir uns an. Ich sah Besorgnis in seinen Augen, doch dafür war jetzt keine Zeit. Mia war schließlich in Sicherheit und die Ähnlichkeit der Mädchen, war bestimmt rein zufälliger Natur.

»Ja, das wurde alles schon vom Kollegen Manteuffel, aus der technischen Abteilung gecheckt. Das letzte Signal kam allerdings, als sie auf dem Weg nach Hause hätte sein müssen. Seitdem ist absolute Funkstille.«

Max Freikamp nahm seinen Kugelschreiber aus dem Revers seines Sakkos und deutete mit dem integrierten Laserpointer auf das Foto des Mauerwegs, welches mittels eines Laptops auf einer Elektronischen Tafel zu sehen war.

»Hier sehen wir die Route, die sie gelaufen ist. Im Normalfall startete Kassandra immer an den Blohmgärten, die nur ein paar hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt sind. Dann bog sie auf den Mauerweg ab, bis zum Ende an der Arcostraße. Von dort aus ging es dann denselben Weg wieder zurück. Ihr Taschenalarm wurde hier gefunden. Sie kam wohl nicht mehr dazu, ihn auszulösen.«

Freikamp zeigte die mit einem Kreuz versehene Stelle auf der Karte. Sie befand sich, von der Wolziger Zeile aus, auf der rechten Seite und nach Lage des Gerätes bedeutete das, dass Kassandra bereits auf dem Rückweg gewesen war, als sie überfallen wurde.

»Semper und Gerber, Sie schauen sich den Tatort an. Die Spurensicherung ist vor Ort und hat alles großräumig abgesperrt. Danach nehmen Sie sich Kassandras privates Umfeld vor, sprechen mit ihren Eltern, Freunden und wen es da sonst noch gibt. Manteuffel, sie untersuchen Kassandras Laptop. Das müsste bereits eingetroffen sein und alle anderen recherchieren nach Fällen, die Ähnlichkeiten zu diesem aufweisen. Ich habe das Gefühl, als würde der das nicht zum ersten Mal machen.«

Freikamps Verdacht deckte sich mit meinem. Das Vorgehen wirkte viel zu glatt und organisiert. Die Gruppe löste sich langsam auf und wir machten uns auf den Weg in unser Büro, um unsere Jacken zu holen. Gregor schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Wo genau, konnte ich nur erahnen, aber ich hatte einen Verdacht.

»Wenn Du dich dann besser fühlst und Mia damit einverstanden ist, nehme ich sie die nächste Zeit mit zum Sport«, schlug ich vor und brach in diesen Moment das Versprechen, mich für die nächste Zeit von ihr fernzuhalten.

»Dafür wäre ich dir sehr dankbar. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass ausgerechnet auf dieser Strecke ein Irrer unterwegs ist. Im Grunde ist es schon fast ein Wunder, dass es bisher nicht Mia getroffen hat.«

 

Der Zugang zum Mauerweg war von der Wolziger Zeile aus mit polizeilichen Absperrbändern für den normalen Fußgängerfluss gesperrt worden. Einige Anwohner und vereinzelte Reporter standen neugierig davor, denn die Entführung eines jungen Mädchens löste in dieser Gegend den reinsten Flächenbrand aus. Natürlich gab es auch in Lichtenrade Diebstähle, Einbrüche und auch Überfälle, doch diese Art von Verbrechen, passierte hier in der Regel nicht.

Gregor und ich gingen den Weg bis zur Kreuzung, an der eine große Besuchertafel in die verschiedensten Richtungen wies und auf das strickte Rauchverbot, wie auch auf den Erhalt des Naturschutzgebietes hinwies.

Ein uniformierter Kollege führte uns zu den Fundstellen, die mit kleinen, nummerierten Schildern und langen Fähnchen abgesteckt waren, denn überall befanden sich Büsche und große Sträucher, die alles ziemlich unübersichtlich machten.

Ich ging den Weg etwas weiter entlang, hockte mich hin und sah unter Sträucher, die direkt am Weg wuchsen. Hier und da flüchtete eine kleine Eidechse, die sich am Wegesrand sonnte. Doch was war das?

Etwas Glänzendes, erregte meine Aufmerksamkeit. Es lag tief unter einem dichten Busch, dessen Zweige ich erst einmal anheben musste, um darunter etwas zu erkennen. Es war auch nur ein kleiner Moment, in dem es von der Sonne reflektiert wurde.

Ich selbst musste mich auf den Bauch liegend, ziemlich langmachen, um es mit den Fingerspitzen zu ertasten und es heraus zu ziehen.

»Hast du was gefunden?« Gregor trat neben mich, hockte sich hin um zu schauen, wonach ich hangelte. Mit der Spitze meines Mittelfingers erreichte ich den Gegenstand endlich, zog ihn vorsichtig in meine Richtung, damit er mir nicht wieder entglitt.

»Verdammt!«, zischte ich, als ein schmerzhaftes Brennen durch meine Hand fuhr.

Ich hatte mich an etwas Scharfkantigem geschnitten. Als ich den Gegenstand endlich in der Hand hielt, wusste ich sofort worum es sich dabei handelte.

»Ein Handy ...«

Tatsächlich! Es war ein Smartphone, dessen Display zersplittert war. Das Rückteil, wie auch der Akku fehlten und lagen wahrscheinlich noch irgendwo in der Nähe, unter diesem Busch. Um das Gerät vollständig heraus zu bekommen, musste ich erst einmal die Kabel der Kopfhörer aus den Zweigen entwirren.

Gregor reichte mir eine kleine Tüte und rief jemanden von der Spurensicherung zu uns herüber. Praktischer Weise hatte dieser Typ, auf dessen weißem Overall Spurensicherung stand, eine kleine Harke dabei, die ich mir sofort geben ließ, um den fehlenden Rest des Handys unter dem Gestrüpp hervor zu ziehen. Sichern und Eintüten musste es allerdings der Kollege in Weiß, denn die Schnittwunde an meinem Finger blutete stärker als Anfangs gedacht.

»Sie sollten in diese Richtung noch einmal alles durchkämmen, auch wenn ich nicht glaube, dass Sie noch mehr finden werden. Kassandra Wieland hatte nicht wirklich viel bei sich, als sie hier lang kam.«

Ich klopfte meine Sachen sauber, als ich neben Gregor stand und dabei laut überlegte, wie ich mir das Szenario vorstellte.

»Kassandra hörte ihn wahrscheinlich gar nicht kommen. Ich denke, dass er sie genau hier überraschte, als sie vielleicht das Handy vor sich hielt. Er schlug es ihr aus der Hand, überwältige sie und zog sie mit sich, bis zu dieser Stelle da vorne, wo er Ihr das Alarmgerät entriss. Er warf es zu Boden, trat drauf und injizierte dem Mädchen ein Betäubungsmittel.«

Wir waren den Weg zurück zur Kreuzung gegangen. Ich sah mich um, um eventuelle Rückschlüsse darauf zu bekommen, in welche Richtung der Täter das Mädchen verschleppt haben könnte. Das einzig Logische war, dass er seinen Wagen am Eingang zum Mauerweg parkte, dort wo jetzt unser Wagen stand. Doch es blieb auch noch der Weg, der nach Großbeeren, an den Feldern vorbeiführte. Der endete in einem Wald- und Wiesenweg, der kaum richtig abgesperrt war. Gregor schien meine Gedanken zu lesen, denn er ging genau in diese Richtung und sah sich den Weg genau an.

»Wenn wir Pech haben, ist er von hier gekommen. Um diese Zeit sind hier selten Leute unterwegs und in Richtung Großbeeren, kann er mit ihr überall hin verschwunden sein.«

»Das glaube ich nicht, Gregor. Ich denke eher, dass er seinen Wagen am Eingang, an der Straße geparkt und sich dann auf die Lauer gelegt hat. Schon wegen der Nähe zum Tatort. Fraglich ist nur, ob er auf Kassandra gewartet hat oder ob es ihm egal war, wer sein Opfer wird.«

Gregor sah sich kopfschüttelnd, nach allen Seiten um.

»Wir sollten uns vielleicht noch einmal mit der ersten Anzeige beschäftigen und mit der Geschädigten sprechen.«

Meine Kopfschmerzen kehrten zurück. Ich brauchte unbedingt eine Schmerztablette.

»Ich sage Schmittchen, dass sie sie für morgen früh ins Büro beordern soll. Ich rufe sie gleich an.«

Ich zog mein Diensthandy aus der Hosentasche und wählte die Nummer zu Freikamps Anschluss.

 

»Denkst du dasselbe wie ich?«, fragte Gregor, als wir mit begrenzter Geschwindigkeit am Tennisplatz des TSV-Lichtenrade vorbeifuhren, auf dem das Mädchen, laut ihrer Eltern, früher regelmäßig trainierte. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine kleine Parkanlage. Der ehemalige Hohenzollernplatz, der erst vor ein paar Jahren, den klangvollen Namen Hermione – von – Preuschen–Platz erhielt, in dessen Seitenstraße ich wohnte. Dort saßen, wie eigentlich immer, Leute auf den Bänken und sahen den spielenden zu, oder sie beschäftigten sich mit ihren Hunden.

Gregor stoppte den Wagen.

»Vielleicht sollten wir die Eltern durchleuchten. Der Vater ist Arzt in der Psychiatrie und kommt bestimmt öfter mit zwielichtigen Gestalten zusammen. Ihre Mutter scheint den Luxus, den er ihr bietet sehr zu brauchen.«

Gregor strich sich mit den Fingerspitzen die Locken aus dem Gesicht. Er konnte machen was er wollte, sie lagen immer kreuz und quer, als wäre er gerade erst aufgestanden.

»Wir müssen mit dem anderen Opfer sprechen. Vielleicht ergibt sich dann irgendein Zusammenhang«, sagte er kopfschüttelnd und startete den Wagen erneut.

»Er scheint seine Opfer gezielt auszusuchen, hat anscheinend gewisse Vorlieben, denn die Ähnlichkeit der beiden Mädchen ist tatsächlich verblüffend«, murmelte Gregor mit vollem Mund. Ich hatte keinen Appetit und nuckelte deshalb an meinem Mineralwasser. Mir dröhnte immer noch der Kopf und meine Konzentration ließ langsam nach, glich nur noch einer verschwommenen Wahrnehmung.

Jetzt fiel mir auch wieder ein, warum ich das machte.

Das war verrückt, aber ich redete sogar mit ihnen - mit den vielen Mias an meiner Wand.

Ich musste wirklich sturzbetrunken gewesen sein.

Erschrocken sah ich auf. Gregor stand neben dem Tisch, hatte seine Jacke wieder an und schien auf mich zu warten.

Schnell erhob ich mich und zückte meine Brieftasche.

Die frische Luft tat mir gut. Ich atmete ein paar Male tief durch und folgte dann Gregor, der schon am Wagen auf mich wartete.

So, kannte ich mich selber nicht.