Im Labyrinth

Im Labyrinth

Ein Neil Hockaday–Roman | #2

Thomas Adcock

Übersetzt von Jürgen Bürger

Umschlagillustration von Nikolaus Heidelbach

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Über den Autor

Bücher von Thomas Adcock

Für meinen Bruder Dale

Es hat keinen Sinn, die Menschheit zu kritisieren. Wie alle Schöpfungen überlebt sie ihre Kritiker. Von Interesse ist hier nur der Versuch, sie zu verstehen oder wenigstens wertzuschätzen. Vielleicht ist Coney Island das Menschlichste, was Gott je erschuf – oder dem Teufel erlaubte zu erschaffen.

RICHARD LE GALLIENNE, 1905

Prolog

Breite Tore, einst voller hölzerner Rampen und angsterfüllter Schreie, nun versiegelt mit Zement und Hohlblocksteinen; zehn massige Stockwerke, die Fenster mit Blech verschlossen; und hoch oben an den alten Backsteinwänden große Terrakottabüsten von Schweinen, Lämmern und Stieren mit Nasenringen. Und alles bedeckt unter einer grauen Rußschicht von den ständig aufsteigenden Abgasen des Verkehrs im Lincoln Tunnel.

Vor dem Kalksteinfundament der Rückwand stand eine stählerne Mülltonne. An ihr schob ich mich vorbei, um den Eingang zu finden, einen kleinen, dreieckigen Spalt, in die morsche Ziegelwand gebrochen. Ich beugte mich vor, richtete den Taschenlampenstrahl hinein und schreckte eine Ratte auf. Dann zog ich die Schultern hoch, atmete aus und zwängte mich in das schwarze Innere.

In tiefer Finsternis wartete ich darauf, dass sich meine Augen und Ohren an die Dunkelheit gewöhnten.

Nun konnte ich verhallende Echos hören. Und verstohlenes Scharren von den Innenwänden, an denen es von Ungeziefer wimmelte. Ich zog meine große Kanone aus dem Schulterhalfter, die .44er Charter Arms Bulldog. Ich hielt sie in der rechten Hand. Mit der Linken ließ ich den Lichtstrahl über meine unmittelbare Umgebung streichen.

Ich war in einen breiten Korridor unter einer Eisentreppe gelangt. Hinter der Treppe, weiter den Korridor hinunter, befand sich eine Reihe hoher Aussparungen in den Wänden von der Größe breiter Türen. Vor Jahren mussten dort einmal Fahrstühle gewesen sein.

Dem Treppengeländer folgend richtete ich die Taschenlampe nach oben und scheuchte Fledermäuse auf, die sich kopfüber an ein asbestverkleidetes Rohr klammerten. In irren Schleifen und Spiralen stürzten sich die Tiere durch die unangenehm feuchte Luft. Ich schützte meinen Kopf und bewegte mich weiter und die Treppe hinauf.

Kurz vor dem ersten Absatz gab eine verrostete Stufe nach. Mein Bein versank in einem Loch, und Schmerz durchzuckte mein Knie. Von nun an prüfte ich sorgfältig jeden Tritt, bevor ich mein Gewicht auf den jeweiligen Fuß verlagerte. Und ich hielt mich ganz am Rand der Stufen, dicht an der Wand, so wie sich ein Einbrecher durch einen unbekannten Raum schleicht.

Im dritten Stock roch es intensiv nach Katzen – nach Katern, die ihr Territorium mit Urin markiert hatten. Jeder, der hier lebte, wusste, dass er sich Katzen halten musste, um die Zahl der Nager zu begrenzen.

Ich stieg eine weitere Etage nach oben, dorthin, wo der Katzengeruch am intensivsten war. Dann bewegte ich mich weiter zur Nordseite des Gebäudes einen Gang hinunter, wo sich vermutlich früher Büros befunden hatten, in denen Menschen ihrer Arbeit nachgingen. Jetzt war es hier nur noch leer und still; alle Türen fehlten, bis auf eine.

Die einzige noch vorhandene Tür war geschlossen. Darauf stand:

Zuhause ist dort

wo der Hass ist

Ich klopfte an. Keine Reaktion. Ich trat gegen die Tür, und sie schwang träge auf.

In dem großen Raum hinter der Tür befanden sich mindestens ein Dutzend Katzen – Rücken wurden gekrümmt, gelbgrüne Augen weit aufgerissen, Zähne gefletscht. Es gab kehliges Fauchen und Knurren.

Dann bohrte sich etwas Kaltes und Hartes in meinen Nacken.

Dazu ein raues Flüstern: »Halt deinen Rosenkranz fest und verabschiede dich!«

Kapitel 1

»Bist’n Bulle, stimmt’s?«

Die Stimme hatte einen komischen Unterton. Komisch und tragisch. Aus reiner Höflichkeit ignorierte ich den ersten Eindruck und sagte mir, das ist einfach nur ein Typ im Park, der neugierig ist, ob er mich richtig eingeschätzt hat.

Er war klein und mondgesichtig, irgendwas über sechzig und hatte ungefähr zehn Kilo Übergewicht. Seine Augen waren braun und wurden von den dicken Gläsern der runden Nickelbrille vergrößert. Sein blasses, rosafarbenes Gesicht wirkte betont ausdruckslos, der Ziegenbart an seinem Kinn war eine Mischung aus Rot und Grau. Er trug eine formlose Twillhose, abgetragene Wildlederschuhe, über einem verblassten Jeanshemd ein Sakko aus einem Secondhandladen und ein marineblaues Wollbarett auf dem, wie ich vermutete, kahlen Kopf.

Trotz der kühlen Aprilluft schwitzte er. Schweiß rann ihm in zwei dünnen Linien von irgendwo unterm Barett heraus, an den Ohren hinunter und dann den Unterkiefer entlang, bis die Tropfen in seinem Bart verschwanden.

Als ich eine Viertelstunde zuvor mit meiner Times, einem Brötchen und einem Kaffee aus dem Deli in den Park gekommen war, hatte ich diesen Burschen beiläufig registriert, und auch, dass nur wir beide an einem Vormittag mitten in der Woche in dem kleinen Park waren. Ich hatte meine eigenen Sorgen. Er hatte ganz sicher seine.

Ich hatte mich auf eine der beiden letzten intakten Bänke des Parks gesetzt. Es war die Bank in der Sonne. Er saß bereits auf der zweiten Bank auf der anderen Seite eines mit zerbrochenen Ziegeln und Glas übersäten Fußweges im schwachen Schatten von Großstadtbäumen, die gerade neue Blätter bekamen. Ich bemerkte, dass er eines dieser Revolverblätter auf den Knien ausgebreitet hatte, wie man sie in Supermärkten findet.

Gelegentlich warf ich einen flüchtigen Blick in seine Richtung, wenn ich eine Seite umblätterte oder einen Schluck Kaffee trank, und erwischte ihn, wie er mich anstarrte und nicht die Zeitung auf seinem Schoß.

Jetzt stand er nahe genug vor mir, dass ich seinen rasselnden Atem hören konnte. Da war er, neugierig auf eine komische Art. Eigentlich ganz und gar nicht komisch.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr: halb elf. Außerdem sah ich die fetten Buchstaben der Schlagzeile auf der ersten Seite seines Revolverblattes: Elvis-Statue auf Mars gefunden. Ich sagte mir, okay, hier haben wir also einen typischen Vertreter des Viertels, der in aller Unschuld etwas frische Luft schnappen will, na und?

Schließlich antwortete ich ihm mit einer Gegenfrage: »Woher wissen Sie, dass ich ein Cop bin?«

Er drehte sich jemandem zu, der neben ihm stand. Nur dass da natürlich niemand war. »Hör dir den an. Der fragt doch tatsächlich, ›Woher wissen Sie’s?‹ Kann man so was fassen?«, sagte er zu Niemandem.

Zu mir sagte er dann: »Freund, wenn du willst, können wir zum Strand runtergehen, und falls dort ein Cop ist, dann zeig ich ihn dir. Kinderleicht. Auch wenn er eine von den Badehosen mit kleinen Segelbooten auf dem Hintern anhätte, könnte ich ihn noch als Cop ausmachen unter all den anderen, die mit halbnacktem Arsch im Sand liegen. Wie das kommt? Weil’s ’ne Tatsache ist, dass ich eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe hab, deswegen, okay?«

»Okay.«

Er lächelte. »Hah! Wenn du jetzt deine Visage sehen könntest, dann würdest du genau wie ich merken, dass in riesigen Buchstaben Cop drauf geschrieben steht.«

»Wieso?«

»Also, erstens würdest du sehen, dass du mich anstarrst wie ein Bussard hoch oben am Himmel, der unten im Schnee nach Blutspuren sucht. So, wie du mich im Moment anglotzt, musst du entweder ein blödes Kind oder ein Cop sein. Und es fällt mir ehrlich gesagt schwer, mir vorzustellen, dass du je niedlich genug warst, um ein kleiner Junge gewesen zu sein.«

»Ich verstehe …«

»Da ist noch was, das mir sagt, du bist ein Cop. Du hörst aufmerksam zu. Ein Cop, der hört jedem zu, auch wenn’s nur ein brabbelnder Säufer oder ein vollgepumpter Junkie oder ein bekloppter Jesus-Freak ist.«

»Wir sollen zuhören.«

»Ich sag ja auch nicht, dass du’s nicht tun sollst. Ich sag nur, das ist es, was ich beobachtet hab, okay?«

»Okay.«

»Außerdem seh ich’s an deinen Händen, dass du ein Cop bist.«

»An meinen Händen?«

»Versteh das bitte nicht falsch, Freund, aber sogar jemand, der nicht meine Beobachtungsgabe besitzt, kann sehen, dass du zur Henkelmann-Sorte gehörst. Allerdings hast du keine Schwielen an den Fingern, was meiner Erfahrung nach wieder bedeutet, du bist ein Cop, denn Cops sind Typen, die’s zur Polizei zieht, weil sie nämlich genau wie du meistens zur Henkelmann-Sorte gehören, die allerdings keine körperliche Arbeit tun wollen. Na, hab ich recht, oder was?«

»Vielleicht«, sagte ich. Zu recht, dachte ich. Ich sagte: »Dann ist es also kein Problem für dich, jeden Cop in der Stadt zu erkennen?«

»Ist ein ziemlicher Klacks, ja. Abgesehen von euren Lady-Cops. Bei denen ist’s was schwieriger, weil sie Frauen sind. Aber wenn ich genug Zeit hab, erkenn ich die meistens auch.«

»Ich verstehe …«

»Natürlich verstehst du. Wie ich schon sagte, ich besitz eine große Gabe. Außerdem hab ich dich beobachtet, falls du’s nicht bemerkt hast …«

Mich beobachtet? »Nein, das wusste ich nicht.«

»Tja, jetzt weißt du’s.« Er zuckte mit den Achseln.

»Jedenfalls hab ich dich sofort als Cop erkannt. Und jetzt sagst du mir, dass ich recht hatte. Stimmt doch, oder nicht?«

Er wartete meine Antwort nicht ab. Stattdessen drehte er sich zu Niemand um und sagte: »Hundert Pro hab ich recht.«

Dann faltete er das Revolverblatt zusammen. Er stopfte die Zeitung in die Seitentasche seines Secondhand-Sakkos, ein cremefarbenes Leinending, das zu seiner Zeit durchaus schick gewesen sein mochte. Aus der anderen Tasche fischte er ein Lackpapier-Päckchen mit dünnen Zigarren, steckte sich eine zwischen die Lippen und bot mir auch eine an. Wir zündeten sie an, und dann beobachteten wir beide den Verkehr auf der Tenth Avenue, der nach Norden rollte. Ungefähr eine Minute sagte keiner von uns ein Wort. Er hing seinen Gedanken nach, ich meinen.

In einer sonst meist lauten und aufdringlichen Stadt stellte dieser komische alte Kauz, der mit mir und mit Niemandem redete, einen echten Frühlingsboten dar. An den meisten anderen Orten sieht man im April plötzlich Frauen in Kitteln, die Wäsche in den wunderbar frischen Wind raushängen, und Rotkehlchen, die fette Würmer aus dem feuchten Gras und dem duftenden Matsch ausgraben. In New York kann man sicher sein, dass der Winter vorbei ist, wenn auf den Schulhöfen Mädchen Seil springen, wenn jeder dritte Typ mit Anzug eine gelbe Krawatte trägt, wenn Menschentrauben mit ängstlichen, blassen Gesichtern in Midtown Manhattan herumlaufen und ihnen Straßenpläne aus den Gesäßtaschen wachsen, und schließlich, wenn die Parks die Rückkehr alter Käuze erleben, die nach einem langen und einsamen Winter im Haus wieder auf den Bänken sitzen und auf jemanden warten, mit dem sie reden können. Es ist Frühling, wenn sie Fremden – ja sogar wildfremden Cops – ihre beunruhigenden Lebensgeschichten erzählen und das, worüber sie den ganzen Winter gegrübelt haben …

»Tja, und dann hab ich mich gefragt«, sagte er und stieß beißenden blauen Qualm aus, »ob du dich immer so anziehst, oder wenn nicht, ob heute dein freier Tag ist, oder was?«

»Beides, könnte man sagen.«

Ich trug eine Hose mit Löchern an den Knien und zehn Jahre alten Farbflecken, dazu ein grünes T-Shirt von einer Ungeziefervernichtungs-Firma aus Hoboken mit einer toten Küchenschabe auf der Brust, eine Popeline-Jacke, deren Kragen und Manschetten praktisch nicht mehr existierten, eine Yankees-Baseballkappe und schwarze, knöchelhohe P-F Flyer-Turnschuhe, die ich ungefähr schon seit dem letzten Miss-Rheingolds-Kalender besitze.

»Oh, ich hab’s«, sagte er. »Du bist ein Ziviler. So was wie ein Undercover-Agent, hä? Ich mag Detektivgeschichten. Vielleicht hab ich in der Zeitung schon mal von dir gelesen?«

»Ganz sicher nicht in der Zeitung, die in Ihrer Jackentasche steckt«, erwiderte ich.

Er stieß Niemand einen Ellbogen in die Rippen und meinte: »He, hier haben wir mal einen Officer mit Sinn für Humor, was? Das gefällt mir bei einem Cop. Wenn Cops lächeln können, ist die Stadt gleich weniger nervös. Stimmt’s nicht? Hundert Pro hab ich recht.«

Dann zu mir: »Tja, Freund, ich les alle möglichen Zeitungen. Von deiner New York Times bis zu dem Käseblatt in meiner Tasche, das im Übrigen, das kann ich dir sagen, sehr oft auch nicht seltsamer ist als manche Geschichten, die sie in deiner feinen Presse bringen. Das liegt daran, dass heutzutage so ziemlich jeder verkommen ist, wie ich bemerkt hab.«

Er hielt mir seine weiche, rosa Hand hin und fügte mit einem freundlichen Lächeln hinzu: »Jedenfalls, freut mich, dich endlich kennengelernt zu haben.«

Wir schüttelten uns die Hand, und er sagte: »Ich wette, du weißt nicht, wer ich bin.«

Ich antwortete, die Wette hätte er gewonnen.

»Also, keine Angst, ist nicht deine Schuld, dass du mich nicht kennst«, sagte er. »Ich hab in diesem Leben keine großen Spuren hinterlassen.«

Er nahm einen letzten Zug von der Zigarre und warf sie dann auf den Weg, wo sie schließlich ausbrennen würde. Ich dachte daran, ihm zu sagen, dass ich viele Menschen auf der Welt hatte verenden sehen, die genauso beiläufig zu Boden geworfen worden waren wie gerade seine Zigarre. Doch ich behielt meine Gedanken für mich, wollte mich auf seine konzentrieren, was, wie er bereits sehr richtig bemerkt hatte, offenkundig in der Natur eines Cops lag.

Er setzte sich neben mich auf die Bank, zog ein Taschentuch aus der Jacke und wischte den Schweiß von seiner Vollglatze, nachdem er das Barett abgenommen hatte. Ich wusste, dass er kahl war! Er fragte: »Willst du wissen, wie ich heiß?«

Ich zuckte zustimmend mit den Achseln.

»Jeder, der mich kennt oder meint, mich zu kennen, nennt mich Picasso. Willst du wissen, warum?«

Natürlich antwortete ich: »Weil Sie ein Maler sind?«

Genau die Antwort, die er erwartet hatte, und deshalb lächelte er mich schon spöttisch an, noch während die Worte dummerweise über meine Lippen kamen. Woraufhin er sich zu Niemand umdrehte, der sich vermutlich ebenfalls zu uns auf die Bank gesetzt hatte, und sagte: »Hör dir den an. Er sagt: Weil Sie Maler sind? Kannst du’s fassen?«

Er setzte das Barett wieder auf und verstaute das feuchte Taschentuch. Dann steckte er sich eine weitere dünne Zigarre an, diesmal ohne mir eine anzubieten. Er saß stumm da, paffte und starrte zur Avenue hinüber. Dann sagte er: »Komm mit. Dann erfährst du was über mich und die Welt der Kunst.«

Wir erhoben uns, und ich ließ meine Times, das nur halb gegessene Brötchen und den größten Teil des Kaffees auf der Bank zurück. Wir gingen zur Bushaltestelle an der Straße. Er deutete auf die andere Straßenseite. »Siehst du da drüben im Schaufenster der Bodega das Schild Heute im Angebot: Schweinefleisch zwei neunzehn das Pfund, und dazu ein Bild von einem großen, fetten Schwein, das aussieht, als hätt’s eine Scheißangst?«

Ich sagte, ich sähe es.

»Tja, da hast du einen echten Picasso vor dir. Wette, du wusstest nicht, dass sich Picasso auch mit Schaufenstermalerei beschäftigt hat, häh?« Darüber musste er lachen. Dieses Lachen war eines der traurigsten und hässlichsten, das ich je gehört habe.

»Ich bemal die Schaufenster von dem Puertoricaner da drüben regelmäßig«, erklärte er. »Statt Geld gibt er mir dafür diese guten Zigarren hier, Wein, der überhaupt nicht gut ist, und Sandwiches. Und das sind heute im Wesentlichen meine künstlerischen Kicks als Maler.

Weißt du, ich wünschte, du würdest irgendwann mal rübergehen, bevor das neue Sonderangebot der Woche angekündigt wird – damit du dir aus der Nähe ansehen kannst, wie ich die nackte Angst des zum Tode verurteilten Schweins eingefangen hab. Wie ich schon sagte, das Studium des Wesentlichen der Dinge ist mein ein und alles. Weißt du, genau wie ich zum Beispiel auch dich all die Monate über studiert hab -«

Verkehrslärm schnitt ihm das Wort ab. Picasso hörte auf zu reden und starrte durch die vorbeifahrenden Autos und Lastwagen und Taxen auf das Schaufenster der Bodega. Dort fuhr gerade ein Mercury-Cabrio mit Nummernschilder aus Jersey vorbei, vollbesetzt mit ausgelassenen, lärmenden Mädchen, die offensichtlich die Schule schwänzten, nur um ein paar schlecht gekleideten Typen an einer Bushaltestelle zuzuwinken – eine Lieblingsbeschäftigung von Jugendlichen aus Jersey.

Ich sah Picasso an, der immer noch seine Interpretation des zum Tode verdammten Schweins anstarrte, und ich sagte mir: Vergiss jetzt das abgedrehte Zeug; du hast tausend andere Dinge zu tun; es ist der erste Tag deines wohlverdienten Urlaubs; du hast vor kurzem erst eine gewisse Ruby Flagg kennengelernt, sie ist hinreißend, und es ist Frühling.

Doch als könnte ich nicht genug bekommen, wartete ich im Gegenteil darauf, dass der Verkehr wieder nachließ, um noch mehr über ihn zu erfahren. »Womit verdienen Sie sich Ihre Brötchen?«

»Ich arbeite so wenig wie möglich, weil ich mich für meine Kunst schone!« Ein weiteres bösartiges Lachen. »Zu meinem Glück bin ich ein einfallsreicher alter Bastard und komm zurecht.«

»Wie?«

»Manchmal sammel ich Flaschen und Dosen und kassier das Pfand. Manchmal verteil ich Handzettel für das Horny Poodle, diesen Oben-ohne-Schuppen drüben auf der Seventh Avenue. Mal dies, mal das. Du weißt ja selbst, wie’s in dieser feinen Dienstleistungsgesellschaft so läuft.«

»Wohnen Sie hier irgendwo in der Nähe?«

Er gestikulierte, umfasste damit einen großen Teil des Viertels. »Hier irgendwo, da irgendwo. Du weißt schon.«

»Wie steht’s mit medizinischer Versorgung?«

Wieder grinste er spöttisch. »Und was meinst du damit genau? Ob ich reif bin fürs Sabberheim? Die Leute nennen mich Picasso, also denkst du, ich müsst mal mein Hirn untersuchen lassen, oder was?«

»Was ich meine ist …«

»Ach, spar dir das! Ich sag dir: Heute wird man nur aus einem wesentlichen Grund in die Klapse geschickt, und zwar, weil man was Übles gemacht hat, das nicht einfach nur bekloppt, sondern himmelschreiend bekloppt ist – falls du den Unterschied verstehst. Und dann, eines schönen Tages …«

Er brach ab, holte tief und rasselnd Luft. Dann fuhr er fort. »Eines schönen Tages setzen sie dich dann urplötzlich wieder auf die Straße und wünschen dir alles Gute. Das ist das Einzige, was sie noch tun können, nachdem sie am Ende zugeben müssen, dass sie keine Antworten, sondern nur Fragen haben. Die Straßen sind voll von uns. Oder sehe ich das falsch?«

»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte ich. Als die nächste Woge lärmender Autos vorbei war, fragte ich: »Wieso haben Sie mich beschattet? Und warum erzählen Sie mir das alles überhaupt?«

Zu Niemand meinte er: »Jetzt will er wissen, ›Warum?‹ Der Kerl hat vielleicht das letzte mitfühlende Herz in einer alten, gottverdammt herzlosen Stadt, häh? Kannst du’s fassen?«

Er schaute die Avenue runter. Der M-11er Bus stand vor der roten Ampel an der Forty-Second Street. In wenigen Minuten würde er an der Haltestelle am Park sein. Picasso wühlte in seinen Hosentaschen nach Münzen.

Dann drehte er sich zu mir. »Du weißt doch, was mildernde Umstände sind, stimmt’s oder hab ich recht?«

Ich nickte.

»Natürlich weißt du’s. Du bist ja ein Cop. Also, vielleicht wollt ich einfach nur, dass jemand von mir und meinen mildernden Umständen erfährt. Die sogar ein Bekloppter hat. Und ich bin ein echter, klassischer Bekloppter, weil ich ungefähr seit der zweiten Amtszeit vom alten Ike immer mal wieder im Bellevue gewesen bin, alles klar?«

»Klar.«

»Aber das Bellevue, weißt du, das bringt mir nichts. Die Ärzte da sind schon in Ordnung und alles, aber trotzdem sind es nur unwissende Ärzte, die bestenfalls zwei Seiten einer Geschichte sehen können. Echte Geschichten mit echten Menschen haben erheblich mehr als nur zwei Seiten, ist dir das schon mal aufgefallen?«

»Mir ist aufgefallen, dass echte Geschichten voller mildernder Umstände sind«, sagte ich.

Er lächelte und sagte »Jaaa«, weil ihm meine Bemerkung gefiel. Zur Abwechslung war es ein freundliches Lächeln. Dann wurde er hektisch und zählte Münzen in seine Hand, gerade genug für den Busfahrschein. Der M-11er war jetzt nur noch einen Block entfernt.

»Weil’s dich interessiert«, sagte er, »werd ich dir verraten, dass ich früher mal ein total normaler Durchschnittstyp mit Frau und Kind war. Aber als Ehemann und Papa war ich ein Versager. Die Familie war auch nicht viel besser. Die Frau wurde schlampig, das Kind wurde fromm.

Ach, zum Teufel! Familienleben und Friede, Freude, Eierkuchen, das ist einfach nicht mein Ding. Als mir das klargeworden ist, hab ich mich auf den Weg nach New York gemacht. Denn genau hier gehören wir überzähligen Socken hin. Gewissermaßen bin ich weggelaufen, um mich dem großen Zirkus anzuschließen.«

Worüber er lachen musste. Es war einer seiner freudlosen Beller. »Tja, das hat was!« sagte er. »Der Zirkus!«

»Hatten Sie je Gelegenheit zu malen, was Sie malen wollten? Ich meine, haben Sie je ernsthaft gemalt?«

Zu Niemand sagte er: »Ho, ho, hab ich gemalt oder hab ich gemalt? Ernsthaft oder ernsthaft? Und, warum hab ich gemalt, was ich gemalt hab?«

Zu mir sagte er: »Ernsthafte Bilder? Die hängen tonnenweise überall in der Stadt. Hier und da eben, genau wie ich; nicht so, dass sie jeder bemerkt, wieder genau wie ich. Was auch der Grund ist, wieso es ein so gottverdammt guter Witz ist, dass man mich Picasso nennt, häh?«

Er fügte hinzu: »Freund, rat doch mal, wo gerade jetzt eins von meinen Bildern hängt?«

»Wo denn?«

»In einer Bar, in der du Stammgast bist …«

Ächzend hielt der Bus vor uns, wodurch er mir die letzte Chance nahm, Picasso zu fragen, seit wann er mich schon beobachtete. Und warum.

Picasso stieg ein.

Dann – unmittelbar, bevor sich die Falttür hinter ihm schloss, bevor er in den hinteren Teil des Busses ging, sich setzte und mich durch das breite Heckfenster auslachte und auslachte, wie ich da auf der Tenth Avenue stand und ihm wie ein blöder Cop nachstarrte – sagte er:

»Tja – und weil’s dich so furchtbar interessiert – vielleicht willst du ja wissen, dass mir all die Warums meines verpfuschten Lebens zum Hals raushängen. Weswegen ich an einem Plan arbeite, einem Plan, um jeden zu töten, der mich so tief hat fallen lassen, wie du ja selbst gesehen hast …«

Kapitel 2

In der Stadt, die ich manchmal liebe und manchmal hasse, bin ich schon x-mal mit Fäusten, Flaschen, Knüppeln, Metallrohren und verschiedenen anderen stumpfen Gegenständen angegriffen worden. Außerdem hat man mich bespuckt, mit Steinen beworfen und auf mich geschossen (immer mit Kugeln, bis auf das eine Mal, als ich erfolglos einen Straftäter durch den Central Park verfolgte, der Bogen und einen Köcher Pfeile hatte). Und dann gibt es natürlich noch Leute wie »Picasso«, von deren Mordgelüsten ich nichts hören wollte.

Solche Dinge hängen mit Manhattan zusammen, ob man nun Cop ist oder nicht. Ich bin natürlich einer.

Ich bin Detective Neil Hockaday, und ich trage die goldene Marke des New York City Police Department, das mich der Street Crimes Unit-Manhattan zugewiesen hat – sehr treffend auch bekannt als SCUM Patrol, der Abschaum-Spähtrupp.

Für die meisten bin ich einfach Hock. Jeden Tag bin ich auf den Straßen unterwegs und sehe aus wie ein ganz normaler Stadtstreicher. Sie würden wahrscheinlich weder Grund noch Verlangen spüren, in meine Richtung zu schauen.

Sollten Sie es dennoch tun, sehen Sie in mir vielleicht einen Mann, der nach zahllosen Zusammenstößen mit den unschöneren Aspekten des Lebens trauriger, aber auch weiser geworden ist. Zumindest sehe ich mich selbst so; zumindest versuche ich immer, die einzig klare Tatsache im Auge zu behalten, die es in einer Stadt wie der, in der ich lebe, gibt: New York, wo jeder meutert und niemand desertiert.

Die klare Tatsache ist, dass meine Stadt eine Brutstätte für Verrückte ist. An jedem Tag eines jeden Jahres kommen vielleicht tausend angehende Verrückte in die Stadt. Jeder einzelne von ihnen ist felsenfest davon überzeugt, sein Eldorado gefunden zu haben und schon sehr bald nach den Sternen greifen zu können. Der eine oder andere von ihnen wird recht behalten oder einfach Glück haben. Dank solch wahnwitziger Chancen wissen wir, dass New York nicht Kansas ist.

Ich weiß, ich weiß.

Ich kenne auch die anderen – diejenigen, die herausfinden müssen, dass Reisen nicht zwangsläufig den Horizont erweitern und New York nur wenige liebevolle Umarmungen für seine Zuwanderer übrig hat.

Manche werden nach Hause zurückkehren und das Beste daraus machen. Manche richten sich ihr Leben in New York so ein, dass es dem früheren Leben in Kansas bemerkenswert ähnlich ist.

Manche werden bösartig. Ihr Leben wird so rau und spröde wie zerfurchter Beton. Dann werden sie schließlich zur dunklen, unsichtbaren Essenz Eldorados – abstürzende Männer, die Zuflucht finden in irren Schatten – und landen im Zuständigkeitsbereich der SCUM Patrol.

Wir können nur herzlich wenig tun, um uns vor den Gefahren zu schützen, die abstürzende Männer darstellen. Ist es nicht so?

Und ich bin nur ein kleiner Cop, hineingeboren in die Welt, in der ich lebe und arbeite. Wie alle anderen hier lasse ich mich manchmal überzeugen, dass das Leben in New York ein ständiger Kampf darum ist, eines natürlichen Todes zu sterben.

Da stand ich also an diesem Tag im April und starrte sprachlos der Nickelbrille, dem rot-grauen Ziegenbart und dem wippenden Barett im Rückfenster eines schwindenden Busses nach. Ich sagte mir, okay, vergiss nicht, Kumpel: Du bist ein freier Mensch und nicht verpflichtet, dich da einzumischen. Außerdem – es ist nichts passiert.

Stimmt doch, oder?

Jetzt wollte ich nicht länger nachdenken, dachte ich. Dafür wäre auch morgen noch Zeit genug, und morgen würde schon sehr bald sein. Jetzt wollte ich einen Drink.

Ich hatte es noch nie näher betrachtet, obwohl es schon immer da gewesen ist. Schon merkwürdig, dass ich das Ding bislang kaum registriert hatte. Nun, vielleicht lag es daran, weil es so unauffällig und in einer Kneipe so normal war. Aber jetzt, nachdem sich Picasso in meinem Kopf festgesetzt hatte, studierte ich, was nur seine Arbeit sein konnte. Hoch an der Wand hinter der Mahagoni-Theke mit den Messingbeschlägen im vorderen Teil von Angelo's Ebb Tide hatte es nun schon so lange gehangen; ein Ölbild von Angelo Cifelli, dem Besitzer, und einem einsamen Gast, der auf einem Barhocker saß.

Der Gast auf diesem Bild ist eine Frau in einem flotten grünen Kleid. Vor ihr eine Kaffeetasse. Sie trägt einen Hut, wie ihn Frauen früher trugen. Ihre Beine sind elegant übereinandergeschlagen, und sie sagt etwas zu dem breiten, runden Rücken des Barkeepers. Der wiederum Angelo ist, in seiner schwarzen Seidenweste, dem weißen Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hat, dem schwarzen Haarkranz und dem unverwechselbaren Profil seiner gewaltigen römischen Nase. Er beugt sich gerade vor und spült Gläser in einem Becken mit heißem Wasser.

Als ich immer noch ein wenig benommen von meiner jüngsten, etwas beunruhigenden Begegnung im Park das Ebb Tide betrat, betrachtete ich nicht nur das Gemälde an der Wand, sondern auch die fast identische reale Szene, die sich mir bot.

Eine Frau in einem dunkelgrünen Kleid trank Kaffee und plauderte mit Angelo, der Gläser spülte. Sie trug einen Hut mit einer Feder. Die Sonne fiel durch die Jalousien und spielte sanft auf ihrem Gesicht. Von der Tür aus wirkte sie beinahe jung und schön und temperamentvoll; sie schien Angelo eine Geschichte aus einer Zeit zu erzählen, als sie noch jung und schön und temperamentvoll gewesen war.

Sie hätte sicherlich weitererzählt, doch als Angelo mich bemerkte, begrüßte er mich sofort laut und überschwänglich. Die Frau hörte auf zu reden, drehte sich zu mir um und lächelte.

Ich setzte mich auf einen Barhocker an die Theke. Natürlich musterte ich sie – sie und ihren Zwilling auf dem Gemälde. Ins Ebb Tide war ich mit dem festen Vorsatz gekommen, nur ein Bier – ein Molson – zu trinken, da es noch nicht mal Mittag war. Nachdem jetzt aber alles noch mehr aus dem Gleichgewicht gekommen war, sagte ich Angelo leicht betreten, dass ich gern das Übliche hätte. Und das ist ein Johnnie Walker Red Label, gefolgt von einem Molson.

»Mach dir deswegen keine Gedanken«, meinte Angelo. »Du hast schon früher angefangen als jetzt.« Er brachte meine Bestellung, und dann – wie ein freundlicher Barkeeper es eben macht – sagte er zu seinen beiden einzigen Gästen: »Hock, Celia. Celia, Hock.«

Ich entschuldigte mich bei Celia, weil ich ihre Geschichte unterbrochen hatte. Schnell erklärte Angelo: »Du musst wissen, dass Hock ein Cop ist, aber er ist schon in Ordnung.«

Celia sagte nichts. Die kleine Feder seitlich an ihrem Hut begann glücklich zu zittern, dann legte sie den Kopf zurück und lachte. Von Whisky und Zigaretten hatte sie eine raue Stimme, und aus der Nähe war das Licht auf ihrem Gesicht auch nicht mehr schmeichelnd. Ich bemerkte eine neue Packung Chesterfield in ihrer offenen Handtasche, die neben der Tasse auf der Theke lag. Ferner fiel mir auf, dass nicht Kaffee, sondern Milch in der Tasse war.

Zu Angelo sagte sie: »Ach, keine Angst, Baby. Du weißt doch, dass ich schon ungefähr hundert Jahre nicht mehr aktiv bin, lange genug jedenfalls, dass man mir nichts mehr anhaben kann.« Dann drehte sie sich zu mir. »Wissen Sie, Officer Hock, ich bin nur hier, um meinen alten Freund Angelo zu besuchen. Und jetzt plaudern wir über die gute alte Zeit, als ich mir auf unehrliche Weise meinen Lebensunterhalt verdient habe, und darüber, dass es ein Verbrechen ist, was mir seit damals widerfahren ist.«

Ich lächelte und schwieg.

Sie schlug die Beine übereinander und erwiderte das Lächeln, und es war nicht schwer zu erkennen, dass sie mal jung und hübsch gewesen war. Sie riss die Packung Chesterfield auf, und Angelo gab ihr Feuer. Sie rauchte, während ich von ihren hellbraunen Augen aufmerksam gemustert wurde. Genau wie der Hut mit der zarten Feder war ihr grünes Kleid aus einem weichen, nachgiebigen Material. Dem Ensemble gelang es, Celias härter werdende Kanten zu glätten.

Ich fragte, ob ich sie zu einer weiteren Tasse Milch einladen dürfe.

Sie lehnte ab. Erklärend sagte sie mit tonloser Stimme: »Magengeschwüre. Gegen fünf bring ich die Milch aber mit Scotch etwas in Schwung. Wie ich zu meinem Arzt gesagt habe: Magengeschwüre als Krankheit sind abhängig von der Tageszeit.«

»Kauft der Arzt Ihnen das ab?«

»Er sagt zu mir: Celia, wenn Sie das glauben, warum lassen Sie dann die Milch nicht gleich ganz sein, trinken von morgens bis abends Ihren Stoff, versauen Ihre Innereien endgültig und bringen’s hinter sich?’«

»Unter gewissen Umständen ist das vielleicht gar kein so schlechter Rat. Ich meine, darauf zu warten, dass irgendein gnädig gestimmter Gott einen auf natürliche Weise erlöst, ist doch ungerecht wie nur was«, meinte Angelo.

Er widmete sich wieder seinen Gläsern. Ich fragte Celia: »Sie haben vorhin etwas von einem Verbrechen gesagt?«

»Oh, das. Wollen Sie es wirklich hören?«

»Klar«, sagte ich. Und von irgendwo hörte ich ein komisches Echo … »Ein Cop hört jedem zu

»Eines verregneten Tages steht da dieser kleine Mann vor meiner Tür. Er trägt einen billigen Cordanzug, hat eine tragbare Addiermaschine in der Hand und sagt, er komme vom Finanzamt. Ich rufe sofort meinen Anwalt an. Trotz all dem vielen Geld, das der Bursche durch mich verdient, sagt mein Anwalt doch tatsächlich, dass mir gar nichts anderes übrigbleibt, als den kleinen Mann reinzulassen – der eigentlich gar nicht so unheimlich aussieht. Wie sich dann aber herausstellt, würde der Kerl sogar seine eigenen Kinder fressen.«

»Tja«, sagte ich, »so sind die nun mal.«

»Wem sagen Sie das!« In Celias Stimme lag ein trauriger Unterton. Sie wandte den Blick von mir und starrte in den Spiegel hinter der Theke.

Ich bestellte mir noch einen Red und ein Molson. Angelo brachte es und stellte eine frische Tasse Milch vor Celia. Celia beachtete ihn nicht weiter. Sie drückte ihre Chesterfield aus, steckte sich sofort eine neue an und starrte weiter auf ihr Spiegelbild.

Dann sah auch ich ihr Gesicht im Spiegel an. Und sah die Tränen, die das Make-up auf ihren Wangen auflösten, sah, dass ihr Gesicht allmählich einem Kuchen ähnelte, der im Regen stehengelassen worden ist.

Celia wühlte in der Handtasche, fand ihr Schminktäschchen und beschäftigte sich konzentriert damit. Niemand sagte ein Wort. Die einzigen Geräusche kamen von Angelo, der mit seinen Gläsern klirrte, und von weiter hinten im Lokal, wo Kellner die Tische eindeckten.

Allmählich begann sich das Ebb Tide mit der ersten Welle der Mittagsgäste zu füllen. Einige Leute aus dem Viertel kamen auf dem Weg zu den Tischen an der Theke vorbei – der Besitzer meines Lieblings-Deli mit einer Frau, die nicht die seine war; der Inhaber meiner Reinigung, einige Friseure aus dem Three Aces Salon auf der anderen Straßenseite.

Wieder schaute ich zu Picassos Bild auf, erinnerte mich daran, dass ich mich danach erkundigen wollte. Doch jetzt war Angelo am anderen Ende der Theke mit Gästen beschäftigt, und Celia schminkte sich die Augen nach, also rutschte ich vom Barhocker und ging zu Angelo. »Ich komme später noch mal vorbei.«

»Okay«, erwiderte Angelo. »Tu dir selbst einen Gefallen und komm erst nach sieben, okay? Zwischen fünf und sieben hängt hier die unangenehme Sorte Gäste rum.«

»Welche unangenehme Sorte Gäste meinst du?«

»Die Sorte, die tagsüber Software vertreibt und Firmen aufkauft und abends wieder zwölfjährig sein will.«

Also sagte ich, dass ich die Happy Hour ausfallen lassen würde. Zu der Feder an Celias Hut sagte ich: »Vielleicht sehen wir uns noch mal. Und das mit Ihren Schwierigkeiten tut mir aufrichtig leid …«

»Ja, bis dann«, sagte sie. Aber sie schaute nicht auf.

Auf dem Heimweg vom Ebb Tide machte ich ein paar Erledigungen. In meiner chinesischen Wäscherei holte ich Hemden ab, denn es gibt einige Gelegenheiten in meinem Leben, an denen ich etwas mit Stärke darin und einer Krawatte darüber trage. Ich besorgte mir eine neue Times, da ich die erste im Park gelassen hatte. In meinem Spirituosengeschäft stellte ich für einen Perrier-Jouët in der Blümchen-Flasche einen Scheck aus, weil ich in einem Viertel wie dem meinen nicht viel Bargeld mit mir herumschleppe. In der Hoffnung, dass sich meine heutige Verabredung zum Abendessen mit Ruby Flagg zu einem Nachtisch und so weiter in meiner Wohnung ausdehnen ließ, wollte ich etwas Nettes auf Eis haben.

Als ich nach Hause kam, hörte ich Jazz auf WBGO-FM, während ich in meiner Wohnung herumwirbelte, damit es hier und da etwas besser aussah. Das tat es meistens nicht. Ich aß ein Sandwich. Das und die Hausarbeit machten mich schläfrig, also streckte ich mich auf der Couch vor dem Wohnzimmerfenster aus und schlief mit einem Staubtuch in der Hand ein.

Ich war eine ganze Weile weg. Ich wachte auf, weil ich aufs Klo musste, dann döste ich noch ein bisschen auf der Couch, fest davon überzeugt, dass es erheblich sinnvoller war, meine Energie für einen Schönheitsschlaf zu verwenden, als weiter versuchen zu wollen, meine arme alte Wohnung in Ordnung zu bringen.

Irgendwann gegen fünf, als die Zwölfjährigen gerade ins Ebb Tide einflogen, veranstalteten draußen die Autofahrer mit Ziel Jersey ein Mordsspektakel. Auf dem Weg zum Lincoln Tunnel hupten sie sich dumm und dusselig.

Dann der Anruf und Angelos Bitte, sofort zu kommen.

Das war so gegen halb sechs.

Ich rannte den ganzen Weg zum Ebb Tide, sechs Blocks von meiner Wohnung auf der Ecke West Forty-Third Street und Tenth Avenue.