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Der Ort ist prachtvoll, die Stimmung aufgeräumt: Renommierte Dante-Gelehrte aus aller Herren Länder tagen im altehrwürdigen Saal der Villa Malta auf dem römischen Aventin, mit Blick auf den Petersdom. Im Mittelpunkt steht die Göttliche Komödie, Dantes realismusgetränkter Einblick in die Welt nach dem Tod. Einer der eifrig Debattierenden ist Gottlieb Elsheimer, Frankfurter Romanist und nach eigener Einschätzung eher ein Kandidat fürs Fegefeuer als fürs Paradies. Bei aller Leidenschaft für den Forschungsgegenstand scheint ihm das zunehmend ausgelassene Verhalten der Kollegen seltsamer und seltsamer. Als die Kirchenglocken das Pfingstfest einläuten, bahnt sich ein Ereignis unbegreiflicher Art an.

 Leichtfüßig und wortgewaltig spaziert die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff mit uns durch Hölle und Himmel. Die Hauptrollen in ihrem neuen Roman spielen die größte Komödie der Weltliteratur, das Seelenheil von vierunddreißig Dante-Forschern und ein anrührender Erzähler, so sehr um Bodenhaftung bemüht, daß ihm ein Wort wie »Wunder« nicht leicht über die Lippen kommt.

 Sibylle Lewitscharoff, geboren 1954 in Stuttgart, lebt in Berlin. Für ihr Werk wurde sie u. ‌a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis, dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Kleist-Preis sowie 2013 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. 2013/14 verbrachte sie ein Jahr als Stipendiatin in der Villa Massimo in Rom, danach war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

 

Zuletzt erschienen:

Blumenberg. Roman, 2011

Vom Guten, Wahren und Schönen. Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen (es 2649)

Pong redivivus (IB 1383)

Killmousky. Roman, 2014

 

 

Sibylle Lewitscharoff

Das Pfingstwunder

Roman

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagabbildung: Friedrich Meckseper, Collage Pfingstwunder, 1984, unter Verwendung eines Details aus einem Gemälde von El Greco, © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-74768-1

www.suhrkamp.de

Das Pfingstwunder

 

Gewidmet

Marinus Stark,

dem tapferen Jenseitsberater

I

Nein. In meinen Kindertagen ja, seither nein. Dieses Nein will betont sein, denn es bedeutet etwas, es bedeutet sogar viel. In meinen Kindertagen war ich fromm, faltete die Händchen beim Zubettgehen, wie meine Mutter es von mir wollte, und hängte die Kleider ordentlich über die Stuhllehne, weil Jesus nachts kam und schaute, ob alles in schöner Ordnung am rechten Platz lag. Dann, in der Pubertät, setzte der große Kritikschub ein, und mit der Frömmigkeit war's mit einem Mal vorbei.

Ist es etwa gerecht, daß an so vielen Orten der Welt die Menschen auf übelste Weise verrecken, daß sie verhungern, vergast, erschossen, erschlagen, aufgeschlitzt oder gefoltert werden bis zum Wahnsinn, daß sie ohne ärztliche Hilfe den schlimmsten Krankheiten ausgeliefert sind? Und Gott schaut einfach zu? Von Seinem Eingreifen ist jedenfalls nichts bekannt. Und eine mehr als vage Hoffnung auf ein Paradies, in dem alle Schmerzen abgetan sind und die gereinigten Seelen sich des ewigen Lebens erfreuen – kann ein erwachsener Mensch, der seine Tassen im Schrank hat, das wirklich ernst nehmen? Einen derart verzweifelt naiven Trostwunsch?

Meine Kinderseele war immer gerecht gewesen, und das Gerechtigkeitsgefühl, der Zorn über die katastrophalen Zustände in den armen Ländern der Welt, hat mich nie verlassen. Allerdings ist in meinem späteren Erwachsenenleben der Zorn einer schlappen Mutlosigkeit gewichen. Der Schnarchsack da oben senkt auch bloß die Lider. Nein, ich ändere die Welt nicht, wie ich in einer grandiosen Aufwallung der Selbstüberschätzung geglaubt hatte. Als edlen, uneigennützigen Kommunisten sah ich mich, als einen Superhelden der Armen und Geschlagenen, der ihnen durchaus nicht nur mit Geld und guten Worten zur Seite stand, sondern mit der Kalaschnikow im Arm, die ihre Peiniger Mores lehrte. Überflüssig zu erwähnen, daß ich von meinen häuslichen Brot- und Fleischmessern abgesehen nie Waffen in der Hand hatte, und mit diesen Messern habe ich bloß friedliche Brotscheiben abgeschnitten und Fettstücke vom Steak getrennt, sonst nichts. Friedlich nach außen, im Inneren sieht's kriegerisch aus, selbstzerfleischend. Obwohl ich inzwischen zweiundsechzig Jahre alt bin und eigentlich ziemlich abgebrüht sein müßte. Was vor wenigen Tagen in Rom geschah, hat jedoch alles über den Haufen geworfen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Als hätte eine fremde Person meine Körperhülle gekapert und in ihr Platz genommen.

In meinen tumultreichen Pubertätsjahren, schwankend zwischen Hochgefühlen, die weit über das hinauszielten, was meinen Fähigkeiten zuzutrauen war – siehe Kalaschnikow –, und einem morosen Kleinmut, der mich tagelang als pickelbesäten düsteren Burschen durch die Gegend schleichen ließ, wußte ich natürlich nicht, wie es um mich stand, was meine Person im Innersten zusammenhielt und was davon nach außen hin vielleicht wirken mochte. Ich wußte rein gar nichts über mich, nur daß ich in meinen Tagträumen der tapfere Retter war und ziemlich groß geraten bin, wovon schon meine Schuhe Zeugnis ablegen, denn ich trage Größe 46. Einmal hat man mir gesagt, meine Augen seien kornblumenblau.

Heute lagert die Kalaschnikow in einer Spinnwebkammer mottenzerfressener Träume, und das Wissen über mich selbst ist wieder auf einige ziemlich unerhebliche Fakten zusammengeschrumpft. No sports lautet meine einzige Devise, frei nach Churchill, den ich verehre. Jetzt ist alles anders. Was davor geschah, wer ich davor gewesen sein mag, hat keine Bedeutung mehr. Der bisherige Gang meines Lebens erscheint mir so fade und unbedeutend, als hätte ich nie wirklich existiert.

Natürlich kenne ich meinen Namen, weiß, daß ich den Beruf eines Universitätsprofessors ausübe, der es als Dante-Gelehrter zu einigem Ansehen gebracht hat, allerdings innerhalb einer sehr überschaubaren Gemeinde. Ich weiß auch, wo ich wohne, und ich kann mich erinnern, daß ich sechs Jahre verheiratet gewesen bin, Jahre, auf die ich mit gemischten Gefühlen zurückblicke. Aufgewachsen in Stuttgart-Sillenbuch, ansässig in Frankfurt, verheiratet von 1982 bis 1988, geschieden, keine Kinder, so der Status, wie er in meinen staatsbürgerlichen Urkunden ausgewiesen ist. Gottlieb heiße ich, ein Name, der mir immer etwas peinlich war. In meiner Generation gibt es ihn selten. Auf der Schulbank wäre ich lieber als Max oder Hans oder Peter gehockt. Gottlieb hieß mein Großvater väterlicherseits, der im Krieg in Rußland verschollen ist. Ich sollte als mein eigener Großvater wieder aufleben, was mir schon als Kind unheimlich vorkam, weil auf diesem Großvater ein seltsamer Schatten lag.

All das ist jetzt unwichtig, das Unterste hat sich zuoberst gekehrt. Vorher – Nachher, das verbindet sich nicht mehr. Vorher führte ich das Leben eines Professors, der sich einbilden durfte, seine Studenten würden ihn verehren und erheblich jüngere Frauen sich für ihn interessieren. Vorher war mein Denken geprägt von einem modernen zeitgenössischen Realismus, down to earth, mit allenfalls im Schlaf winzigen Traumaufflügen in eine andere Sphäre.

Jetzt nicht mehr. Der Kongreß hat alles verändert. Bis in die Haarwurzeln hinein fühle ich mich als ein anderer, mir fremd gewordener Mensch. Vorher war ich nicht ganz so dünn, wie ich es inzwischen bin. Jetzt schlottern Hemd und Hose um meinen knochigen Leib. Wäre ich ein armer Landarbeiter, müßte ich mir die Hose mit einem Strick um den nicht vorhandenen Bauch binden. Noch etwas: ursprünglich waren meine Haare schwarz, ich habe das kräftige Haar der Mutter geerbt. Inzwischen ist mindestens die Hälfte davon grau, mag sein, daß der noch immer recht stattliche Schopf mit einer gewissen Plötzlichkeit ergraute – als eine der vielen Folgen des Vorkommnisses, auf das ich nach und nach zu sprechen kommen werde.

Vorkommnis, das Wort nimmt sich sonderbar aus, besonders in seiner genitivischen Form, aber ich wähle diesen nüchternen, aus dem bürokratischen Vokabelreservoir entlehnten Begriff mit Absicht. Doch wozu? Zu wem um Gottes willen spreche ich hier? Zu einem Leser? Lächerlich! Warum sollte ich irgend jemanden in diese Geschichte einweihen? Wozu sollte ich ihn ohne Vorbereitung, die ihn darauf einstimmen könnte, was geschah und wie es geschah, mit dem einzig passenden Begriff Wunder konfrontieren und ihn damit lesend über die Kante schubsen oder vielmehr vor die Alternative stellen, das Buch entweder sofort zuzuschlagen oder meinen Aufzeichnungen mit allzu treuen Hundeaugen Satz für Satz zu folgen?

Buch, Buch, Buch – wie albern! Ohnehin habe ich gar nicht die Kraft, alles in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Ich glühe inwendig und bin zugleich völlig ausgelaugt, eine schlechte Voraussetzung, um etwas Gescheites zu Papier zu bringen.

Wunder, das paßt auch nicht zu meiner Haltung in politischen und religiösen Angelegenheiten. Aus der Kirche bin ich zwar nicht ausgetreten, trotz meiner Abkehr von Gott und Jesus in der Pubertät – vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht weil ich das soziale Engagement meiner Kirche gutheiße. Aber in meinem Erwachsenenleben habe ich nur zweimal einen Gottesdienst besucht, anläßlich einer Taufe, das andere Mal, als Bekannte von mir kirchlich heirateten. Dann noch drei kirchliche Beerdigungen. Das war's. Ein Verächter der Bibel bin ich allerdings nicht. Im Gegenteil. In einer wissenschaftlich distanzierten Weise halte ich große Stücke auf das Buch der Bücher, was von einem Dante-Kenner auch nicht anders zu erwarten ist.

Wunder in seinem radikal emphatischen Sinn nehme ich ungern in den Mund. Es ist mir zu groß. Wenn ich Wunder sage, komme ich mir verloren vor. Ich bin zu ängstlich, zu sehr um Bodenhaftung bemüht, als daß mir so ein epiphanisches Entfaltungs- oder, abschätzig gesagt: Blähwort mir nichts, dir nichts über die Lippen käme. Vielleicht fühle ich mich nicht würdig genug, es überhaupt in den Mund zu nehmen. Vielleicht hat es für mich einen albern prunkenden Beigeschmack, wer weiß.

Vorkommnis also. Ein Vorkommnis übrigens, das – nimmt man die Tage hinzu, bevor es sich in seiner Blüte zeigte – ziemlich unspektakulär begann, jedenfalls nicht mit einem Paukenschlag oder einer sonstigen Bemerklichkeit, über die sich einer von uns hätte den Kopf zerbrechen müssen. Bemerklich war höchstens die Tatsache, daß sich alles in Rom zutrug und nicht in Florenz oder Ravenna, wo es aus gutem Grund auch hätte beginnen können.

Rom, natürlich Rom. Die Hauptstadt des christlichen Weltreichs. Das glanzvolle Rom. Das verkommene Rom. Das in den Augen Dantes durch unwürdige Päpste herabgesunkene Rom, das die Einheit Italiens verhinderte. Dennoch sind die Herrschaftswelten von Papst und Kaiser hier verbunden, damit ist Rom die vom Irdischen ins Jenseitige weisende Stadt, sei sie nun verderbt oder erstrahlend im Glanz. Und nicht zuletzt ist es das mythische Rom des Vergil. Haben sich die Strebungen unseres Unbewußten vielleicht nach Rom gesehnt, damit geschehen konnte, was geschah? Damit wir in Hörweite der Glocken des Petersdoms tagten, die zu uns herüber- und zugleich hinauftönten in höhere Sphären?

Unsere Geschichte, meine Geschichte, meine Not, sie beginnt in Rom, oder vielmehr – man möge mir die etwas aufgebockte, in andere Sphären zielende Wortwahl verzeihen – sie begab sich zu Rom, nicht irgendwann, nicht irgendwie, sondern zu Pfingsten im Jahre 2013. Präziser gesagt: in dem Moment, da die Glocken des Petersdoms einsetzten, um das Pfingstfest einzuläuten. Was auf dem Aventin geschah, ist so irrsinnig, daß es mein Hirn bewimmelt. Ich denke pausenlos daran, wofern ich nicht wie ein Scheintoter ins Bett falle und für einige Zeit alles vergesse. Wozu ich das aufschreibe? Keine Ahnung. Ich sollte es in mir begraben, kann es aber nicht.

Es begann also mit Glockengeläut. Ziemlich laut, als würden wir während unseres Kongresses alle geweckt, oder besser gesagt: erweckt. Vielleicht ist das Getön nur in der Erinnerung so laut. In der Erinnerung schallen die Glocken bis zu mir nach Frankfurt herüber. Aber ich greife vor, eine alte Unart von mir, die ich nicht ablegen kann. In Florenz oder Ravenna hätten wir eigentlich tagen sollen, da Dante in diesen Städten gelebt hat, in Florenz wurde er geboren, in Ravenna lebte er eine Zeitlang nach seiner Vertreibung. In der Vorbereitung des Kongresses zur Divina Commedia wurde durchaus heftig darüber debattiert, welchen Ort wir wählen sollten. Ich gehörte zu den fünf Teilnehmern, die das Ganze organisierten, und ich entschied mich für Rom. Die Abstimmung fiel drei zu zwei aus, drei Stimmen für Rom, zwei für Ravenna.

Nicht von ungefähr, denn die Divina Commedia widmet sich auch der Frage nach der Beschaffenheit des himmlischen Jerusalem, und da Rom immerhin der wichtigste Ort der katholischen Christenheit ist, der elektrisierende Strahlen über die ganze Erde sendet, ohne daß es ihm je gelungen wäre, Jerusalem seiner Bedeutung zu berauben, der es aber doch vermochte, sich usurpatorisch als hochmögender Gegenort zu Jerusalem festzusetzen, votierten wir drei Rom-Anhänger eben für Rom.

In Italien zu tagen und nicht etwa doch in Jerusalem bot sich natürlich an, weil die Commedia nun mal auf italienisch geschrieben ist, ja, dieses ungeheure Buch so etwas wie das Gründungsdokument der italienischen Sprache als verschrifteter Hochsprache überhaupt darstellt. Trotzdem bleibt Jerusalem das Kraft- und Organisationszentrum des Ganzen, ein wesentlicher Konstruktionspunkt. Der Einstieg zur Hölle liegt in der Nähe von Florenz, in schräg führenden Schleifen und Kehren geht es hinab bis zum untersten Punkt des Höllenkraters, der exakt unter Jerusalem liegt, und von da aus klettern die Pilger wieder empor zur anderen Seite der Erde, zur südlichen Hemisphäre, wo aus dem dortigen Weltmeer der Läuterungsberg in imposanter Größe aufragt. Die Wirkstätte Jesu, der Tiefpunkt der Hölle und das Purgatorium, sie befinden sich auf einer Achse des Heils. Rom hat damit im Grunde wenig zu schaffen.

Mit den Kollegen, die an der Vorbereitung beteiligt waren, kam ich gut aus. Luigi Bevilacqua und mich verbindet eine langjährige Freundschaft. Wir könnten Brüder sein. Luigi, der kleine Agile, Gottlieb, der große Tolpatschige. Eva Melzer ist eine alte Bekannte von mir (so leichthin hätte ich das vor kurzem noch formuliert), ja, mehr als das, wir waren sogar mal fast zwei Jahre zusammen, von ihrer witzig vorgeschobenen Unterlippe, ihrem zarten Körper, den tiefdunklen Augen war ich damals regelrecht vexiert, aber das ist lange, wirklich sehr lange her, und nichts Verstimmendes oder Heikles, keinerlei unschöne Reste, die einen unbeschwerten Umgang zwischen uns stören könnten, sind davon zurückgeblieben. Keine Herzensbredouillen, wie Thomas Mann gesagt hätte. Those were the days, my friend, der Spruch fiel öfter zwischen uns und erweckte jedesmal Heiterkeit, vielleicht auch so etwas wie zarte Melancholie. Eva hat damals eine gewisse Verfeinerung der Liebe bei mir bewirkt, sie hat leider nicht lange vorgehalten, denn als ich meine spätere Frau kennenlernte, fiel ich in die alten Muster zurück.

Nun ja, jetzt kann es diesen leichten, beschwingten Umgang zwischen Eva und mir ohnehin nicht mehr geben. Ich vermisse sie, sehr sogar. Meine Eva ist gescheit. Mit ihr würde ich nur zu gern darüber sprechen, was geschehen ist. Vor allem würde ich gern wissen, wie es ihr jetzt geht, wo immer sie auch sein mag. Vielleicht fliegt sie in substanzloser Schönheit dahin, in einer Sphäre, in die ich ihr nicht folgen kann. Auf jeden Fall hat sie in meiner erinnernden Seele einen teils starken, dann wieder sich verwischenden Abdruck hinterlassen, und ich frage mich: wie kann etwas, das seiner eigentlichen Substanz verlustig ging, so übermächtig sein?

Wahrscheinlich wird sie von dort aus keine Verbindung mehr zu mir aufnehmen können. Daß Verbindungen zwischen einer anderen Welt und der realen, die uns umgibt, existieren, darauf wurde ich mit Gewalt gestoßen, aber die Gewißheit darüber ist inzwischen wackelig geworden. Ob ich in einen psychischen Extremzustand geraten bin, der mich Dinge hat hören und sehen lassen, die es nie und nimmer geben kann? Bin ich ein Schizo, der sein Kopfgetreibe ernster nimmt als Heidegger sein nichtendes Nichts? Vielleicht komme ich langsam dahin, daß ich mir einbilde, mein Nervenanhang sei unnatürlich gereizt, weil höhere Mächte sich daran zu schaffen machen. Da wäre ich nicht der erste. Dem Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber wurde es zur Qual, in seine Nerven hineinhorchen zu müssen, um herauszufinden, wer sich in sie eingeschlichen hatte.

Trotz des geistigen Aufschwunggeschäfts, das ich als Dante-Kenner betreibe, war ich immer ein knochenharter Realist. Mit vorrückendem Alter hat sich etwas verschoben. Das Fakten!-Fakten!-Fakten!-Geschrei kommt mir inzwischen dümmer vor als die religiöse Haltung der Menschen, die an ein Leben nach dem Tod glauben. Vielleicht war es mit dem Realismus nie so weit her, wie ich dachte, und eine Abteilung meines Hirns grübelte immer schon im geheimen darüber nach, was es sonst noch geben könnte.

Doch so langsam gewinnt die Realität ihre zwingende Massivität wieder zurück. Aber wo um Gottes willen sind dann die sechsunddreißig Menschen geblieben, dreiunddreißig Wissenschaftler und drei Leute vom Personal, die sich vor meinen Augen aufgemacht haben in Richtung – wasweißich?

Dante kann man übrigens auch als einen Realisten bezeichnen. Zu seiner Zeit hat man ihn wohl so gesehen, heute ist das nicht mehr der Fall. Trotzdem. Der Mann verschafft uns einen realismusgetränkten Einblick in die Welt nach dem Tod, da ist kein Zögern und kein Mutmaßen im Spiel. Mit allen fünf Sinnen werden Steine, Pflanzen, Tiere, Lichterscheinungen, Menschen, mythologische Figuren, zusammengesetzte Wesen als habhaft vorhanden oder als immaterielle Substanz aufgerufen, die das Auge erkennt. Es handelt sich um einen göttlich durchblendeten Realismus, in dem alles in einem neuen Licht erscheint, sei's verzerrt oder schönheitstrunken.

Der Glaube schraubt sich in die Poesie hinein und reißt sie zu sich empor – in schwindelerregende Höhe, Gott und dem Ihn umfliegenden Kranz der Engel entgegen, ein Anblick, den das Auge kaum aushält, zumindest nicht das Auge, das noch in einem lebendigen Menschen wohnt. Zum Zeitpunkt, da Dante seine Reise durch die drei Reiche der Totenwelt antritt, ist er keineswegs in einen Scheinkörper verwandelt. Nimmt man seine Commedia wörtlich, geht der Dichter als diesseitiger Mensch aus einer übermächtigen Erfahrung hervor, fällt zurück auf die Erde, denkt und fühlt und regt dort wieder Arme und Beine, wie es jemand tut, der noch nicht im Sarg liegt.

II

Ums Verschwinden geht es in meinen Notizen, jedoch nicht um ein vorübergehendes. Keiner von denen, die sich davongemacht haben, ist mit allerhand erstaunlichen Erfahrungen im Gepäck zurückgekehrt. Obendrein soll hier von einem sonderbaren Stimmengeschnatter die Rede sein, das in einem geordneten Bericht schwer unterzubringen ist, obwohl sein Nachhall in Versatzstücken ohrwurmhaft durch mein Gedächtnis zieht.

All das sperrt sich gegen die Logik. Daß unsere Dantisti, darunter einige Freunde von mir, bis heute nicht wiederaufgetaucht sind, ist Realität, sogar eine polizeilich erwiesene. Es gab kein Busunglück, bei dem sie in einen Abgrund hätten gestürzt sein können, und gewiß haben sie in Rom kein Flugzeug bestiegen, um an einen exotischen Ort zu gelangen, das alles wurde gründlich recherchiert. Sechsunddreißig Menschen sollten mitten in Rom Opfer einer Entführung geworden sein? Mehr als unwahrscheinlich, zumal von Lösegeldforderungen nichts bekannt geworden ist. Natürlich weiß ich es besser, weiß, wer wann wie sich aufgemacht hat und in welcher Reihenfolge. Weiß, in welchem Zustand sich die ganze Bande urplötzlich befand, wie verzückt, erweckt, pneumatisch gehoben sie alle herumsprangen und auf die Tische stiegen – nur an den genauen Wortlaut dessen, was da aus vielen Mündern quoll, kann ich mich nur noch teilweise erinnern.

Mit Dante kopfunterst kopfoberst hinein ins Ungeheuerliche. Das ist passiert. Und ich grübele natürlich nicht nur über das Geschehen nach, sondern frage mich, warum die Commedia als Sprungbrett für all das diente. Ist in ihr vorgezeichnet, was mit uns geschehen sollte? Muß man sie ganz anders lesen, als Dante-Kenner es für gewöhnlich tun? Komme ich womöglich selbst in diesem außerordentlichen Gedichtreigen vor und habe es nur noch nicht entdeckt? Vielleicht hilft es doch, wenn ich alles aufschreibe, was ich über den Kongreß noch im Gedächtnis habe, hilft, wenn ich die Commedia auf mögliche Fingerzeige hin durchkämme, die wenigstens ansatzweise so etwas bieten wie eine Erklärung für das Unerklärliche. Das paßt auch zu unserem Kongreß: auf dem Aventin haben wir zumindest anfangs die Commedia Canto für Canto durchgenommen. Ich sollte versuchen, mich genau zu erinnern, was vor dem Tumult geschah. Möglicherweise zeigt sich dann ein Faden, dem ich nur folgen muß, vielleicht wüßte ich dann, weshalb ich diese schwere Bürde trage, die mich zur Verzweiflung treibt.

Aber das geht nun schon wieder drunter und drüber. Noch sind wir bei der Vorbereitung des Kongresses. Daran beteiligt war neben Eva und Luigi auch Bengt Liljedahl aus Schweden, der an der Universität von Padua unterrichtet oder vielmehr unterrichtet hat. Die Fünfte im Bunde war eine italienische Kollegin, die ich vorher nicht kannte, Fiammetta Bartoli aus Rom. Sie hat sich äußerst geschickt um alle ortsbezüglichen Organisationsfragen gekümmert, wofür wir ihr dankbar waren, denn darin waren wir anderen alle Nieten. Natürlich kannte sich Fiammetta in Rom bestens aus. Sie hat es doch tatsächlich fertiggebracht, uns einen der schönsten Versammlungsorte von ganz Italien zu besorgen, und zwar ohne daß uns exorbitante Kosten entstanden wären – wir tagten auf dem Aventin, im großen Saal der Malteser, gleichsam luftig schwebend über der Stadt Rom, mit Blick auf den Petersdom. Fiammetta, diese energische kleine Person, hat das geschafft, weil eine römische Tante von ihr jahrzehntelang großzügig für die Malteser gespendet hat, daher der enge Kontakt und das Wohlwollen des Ordens.

Schwatzschwatz, ich rede hier so betulich vor mich hin, ein bißchen wie ein Provinzreporter, der ins Schwafeln kommt. Dabei hat sich mein inneres Verhältnis zu den Turbulenzen, in die ich geraten bin, in keiner Weise beruhigt. Ich bin nervös, hin und wieder sehr entspannt, fast zwangsentspannt, als wäre ich unter die Fuchtel eines Gurus geraten, der mir Atem- und Meditationsübungen anbefohlen hat, damit ich die Nervosität besser ertragen kann, die mich schubweise befällt. Früher stand ich fest auf beiden Beinen, jetzt wird mein linkes Bein regelmäßig von einem Zittern befallen, was mir sehr unangenehm ist. Ich trachte es zu verbergen, habe das Gefühl, daß sich das Bein verselbständigt, als würde es sich nach dem Ort aufmachen wollen, an dem meine Kollegen inzwischen sind, während das rechte wie eingefroren auf der Stelle verharrt. Sie lassen mich leiden, weil ich unfähig war, angemessen zu reagieren, und geben mir zu verstehen: du bist ein Feigling, warst immer einer und wirst immer einer sein. Ein Feigling, der im entscheidenden Moment versagt hat.

Vorher. Nachher. Noch etwas Komisches. Vorher hatten mich etliche Allergien im Griff. Haselnüsse, Walnüsse, Zitrusfrüchte, Erdbeeren, diverse Pollen. Die Liste ist lang, und sie wurde im Lauf der Jahre immer länger. Inzwischen kann ich essen, was ich will, keinerlei Symptome mehr. Beschwerden wie weggeblasen. Das besagt an sich noch nichts, aber für mich ist es trotzdem ein Beweis. Es zeigt mir, daß sich bei mir auch körperlich etwas verändert hat, und zwar grundlegend.

Jetzt fällt mir die Äthiopierin wieder ein. Eine hochgewachsene, geradezu rasend schöne Frau, die freundlich zwar, aber zugleich mit majestätischem Stolz ihre niederen Kellnerdienste versah. Unberührbar, ein Wesen von einem anderen Stern. Sie war bestimmt der Traum der meisten Männer in unserer Gemeinschaft, aber keiner von ihnen hätte es gewagt, sich ihr zu nähern. Einmal habe ich mit ihr gesprochen, vermutlich lauter Unsinn. Wirr faselte ich daher vor Entzücken.

In einem Moment bildete ich mir sogar ein, ich könne einen Blick in ihr Leben werfen, sah die stockdunkle Wohnung im Erdgeschoß mit der verrotteten Kochnische, in der sie mit zwei anderen Äthiopierinnen hauste, in der Nähe von San Tommaso Apostolo all' Infernetto in Lazio, sah, wie sie sich in dem winzigen Bad mit dem zerbrochenen Spiegel zurechtmachte, um als glanzvolle Erscheinung auf die Straße und aus der Armut zu treten. Erhobenen Hauptes. Es ist mir ein Rätsel, wie sie es schaffte, die lange, ruckelnde Fahrt im vollgepackten Bus zu überstehen, ohne schweißgebadet bei uns auf dem Aventin zu erscheinen. Ihren Namen weiß ich leider nicht, aber sie verfolgt mich regelrecht, ihre weiche, wohlklingende Stimme bekomme ich nicht aus dem Ohr, mit welcher sie verzückt und zugleich erhaben zu sprechen begann. Mühelos setzte sich ihre Stimme über alle hinweg, die da sonst im Raum redeten. Und diese Stimme trug uns in schwindelerregende Höhen empor.

Oder war's nur ein lärmender Braus, der uns fortgerissen hat? Sind meine Ohren übergeschnappt? Waren sie erfüllt von Lauten, die nicht wirklich gesprochen, gesungen, gelallt wurden? Hochgezwirbelte Laute, wohlige Brummlaute, Spitzikatos, helles Gejauchz? Hat einzig und allein mein entzündetes Hirn dies aufgetummelte Zeug evoziert, aber in der Wirklichkeit blieb alles so, wie es im wirklichen Leben eben ist, mal eng, mal fad, mal heiter, mal klug, aber trotz geistiger Probierflüge brav klebend an dem, was man Realität nennt?

Ein Stuhl ist ein Stuhl, ein Tisch ein Tisch, ein Dante-Forscher ein Dante-Forscher, der in keine anderen geistigen Geschäfte verwickelt ist als diejenigen seines Fachs, sei er nun groß, klein, dick, dünn, alt, jung, tumb oder gescheit, Mann oder Frau.

Aber so simpel ist es nicht. Eine Tatsache bleibt. Sie ist ganz und gar real, wie mir von der italienischen und auch der deutschen Polizei bestätigt wurde. Die Verhöre, denen ich unterzogen wurde – oder Gespräche, wie sie es freundlicherweise nannten – in dem muffig engen Büro des Commissariato Castro Pretorio in der Via Toscana, die habe ich mir ganz bestimmt nicht eingebildet. Dochdoch, der Vice Questore Fausto Papetti war freundlich, überaus freundlich sogar. Ein glatzköpfiger Mann mit sanfter Stimme und guten Manieren. Er behandelte mich wie einen Schwachsinnigen, mit dem man äußerst vorsichtig umgehen muß, weil er jederzeit ausflippen könnte.

Sechsunddreißig Personen verschwunden, auf einen Schlag! Die Zeitungen haben ausgiebig davon berichtet, fast in jeden Winkel der Erde wurde die Nachricht getragen. Wir reden hier ja nicht über ein Bürgerkriegsgebiet, in dem die Leute in Massen sterben, gefoltert oder verschleppt werden. Wir sprechen vom zivilen Rom im Jahre 2013, sprechen vom Aventinischen Hügel, einem der annehmlichsten Orte der Welt. Und nicht zuletzt ist hier zumindest an der Oberfläche von etwas eher Fadem die Rede, das man mit Gewaltverbrechen schwerlich in Verbindung bringen kann, nämlich von einem Forschungskongreß.

Ich bin aufgeregt und zugleich schlapp, muß unterbrechen. Ein gewaltiges Schlafbedürfnis sucht mich heim, oft mehrmals am Tag. Das Unerklärliche, das über mich gekommen ist, erschöpft mich so sehr, daß ich kaum mehr imstande bin, meinen Beruf auszuüben. Nur im Schlaf beruhigt sich mein zitterndes Bein. Wer weiß, vielleicht gleite ich im Schlummer zu meinen Kollegen hinüber, die ich jetzt so sehr vermisse, weil ich die Chance meines Lebens verpaßt habe, bei ihnen zu sein und mit ihnen etwas zu erleben, wofür die Worte fehlen. Heimlich, leise, auf den leichten Sohlen des Schlafs gelange ich zu ihnen, ja, ich bin mir sicher, daß im Traum der Kontakt gelingt. Nur ist es leider nicht möglich, etwas davon ins wache Leben zu überführen. Das konnte ich noch nie. Ob ich träume, wovon ich träume, keine Ahnung – die Nachtbeute des Schlafs in den Morgen hinüberzuretten ist mir nicht gegeben. Ich muß gähnen, muß den Bericht an dieser Stelle unterbrechen, um mich ins Bett zu legen, obwohl, das sei ordnungshalber noch vermerkt, meine Reverso 11 Uhr 37 des Vormittags anzeigt. Ich habe sie vor zwei Tagen beim Juwelier Pletzsch in Frankfurt reparieren lassen, jetzt funktioniert sie wieder tadellos.

Der Korrektheit wegen: inzwischen ist es 14 Uhr 57, übrigens ein Freitag. Eigentlich müßte ich heute bei den Romanisten zwei Seminare abhalten, das eine hätte schon vor einer halben Stunde beginnen müssen, nein, nicht über Dante, sondern über Guido Cavalcanti, einen Zeitgenossen Dantes, das andere um 17 Uhr über Baldassare Castiglione und dessen Entourage. Aber ich bin krank geschrieben, heute gehe ich sicher nicht aus dem Haus. Mir ist noch ziemlich schleierhaft, wie ich vor meine Studenten treten soll, als wäre nichts geschehen. Vom Verschwinden der Italianisten in Rom haben sie bestimmt erfahren. Sie sind zwar zu höflich und zu schüchtern, um sich direkt danach zu erkundigen, aber ihren Blicken würde ich entnehmen, daß sie sich fragen, ob ihr Professor übergeschnappt ist und die Tage gezählt sind, bis man ihn in die Psychiatrie einweist.

Ich war immer ein Umstandskrämer, meine Aufsätze sind zu lang geraten, mit allen Schriften Dantes und mit anderen italienischen Autoren zu dessen Zeit habe ich mich ausgiebig befaßt. Mein großes Dantebuch, das die bisherigen deutschen Übersetzungen der Commedia durchkämmt und dabei ihre hundert Gesänge Revue passieren läßt, ist zu lang, das sehe ich jetzt. Damals war ich natürlich mächtig stolz darauf, ein Buch von achthundertneunundsiebzig Seiten auf die Fachwelt loszulassen. Immerhin, eintausendvierhundertdreizehn Exemplare davon wurden verkauft. Ich hatte den Ehrgeiz gehabt, etwas zu leisten, das Vladimir Nabokov mit seinen Kommentaren zu den Übersetzungen von Puschkins Eugen Onegin vollbracht hat. Über tausenddreihundert Seiten! Wunderbar, einfach wunderbar!

Obwohl ich Nabokovs unerbittliche Strenge nicht gelten lasse. Gleich im Vorwort macht er klar, daß er freiere Übersetzungen nicht duldet. Er erlaubt nur die strikt wörtliche Methode. Das sehe ich anders. Die Beibehaltung der Reime, die Nabokov einfach über Bord wirft, weil Übersetzungen, die dem Reimzwang folgen, nach seiner Auffassung notgedrungen zu Verfälschungen führen, stellt aus meiner Sicht kein allzu großes Problem dar. Einen Versuch, sie in Reimen wiederzugeben, würde ich bei der Commedia nicht verdammen. Nach meinem Dafürhalten sind die Übersetzungen, die Nabokov als einzige lobt, zu pedantisch.

Um mal salopp im Jargon meiner Studenten zu sprechen: auf den Sound kommt es an! Und was den Sound angeht, da haben die gereimten Fassungen eine andere Zwingkraft. Rudolf Borchardts exzentrische Übersetzung in einem erfundenen Altdeutsch, welche einige meiner deutschen Kollegen verabscheuen, finde ich wiederum gut. Liest man sie, ohne die Worte laut nachzuformen, wirkt sie bizarr. Im Schwung einer archaisierenden Fremdheit rollen die Verse dahin. Borchardt wollte die allzu bequeme Eingemeindung der Commedia verhindern, zweifellos eine Haltung des Hochmuts, die sich nur an eine exquisite Schar von Wissenden wendet: Was lag mir an Lesern, die etwa zu mir gegriffen hätten, weil sie kein Italienisch konnten? Aber beim mündlichen Vortrag kommt ihre rhythmische und lautliche Schönheit zur Geltung, und darin ist sie all den anderen fünfzig Übersetzungen und Nachdichtungen überlegen.

Nun, das sind Details, die wohl kaum interessieren dürften. Bei unserem Kongreß wurde so etwas unter uns Deutschen natürlich diskutiert. Tempi passati. Jetzt sitze ich allein in Frankfurt, alles dreht sich in meinem Kopf, ein neues Dantebuch werde ich so bald nicht mehr schreiben.

Bisher war mein Leben eine in der Abfolge der Jahre stimmig gefaßte Konstruktion meiner selbst, die ich für wahr hielt. Darin tappte ein Gottlieb Elsheimer herum, der sich wichtig nahm und sich für einen großen Verführer hielt, einen Verführer der Frauen und des Geistes. Habe ich schon erzählt, daß ich zu Hause einen gasbetriebenen Kamin habe, der an so manchem Winterabend zu etwas altväterlich vorspielhaften Stimmungszwecken gern in Betrieb genommen wurde? Ach was. Blödsinn! Puschkin, Borchardt, Dante, der Kamin, das geht jetzt wild durcheinander. Ich bin dabei, mich zu verzetteln, obwohl das auch mit Dantes Hölle zu tun hat, wie so ziemlich alles in meinem Erwachsenenleben.

Spurwechsel, rasantes Ausscheren nach links, he ho, ich bin immer ein flotter Autofahrer gewesen, keine Tranfunzel am Steuer, sondern ein triebschüssiger Fahrer voller Energie. Vielleicht hat es einen Crash gegeben, und ich phantasiere mir seitdem einen Quatsch zusammen von irgendwelchem Himmelsgestürme, irgendwelcher Himmelskletterei. Womöglich verwechsle ich den Jakobsleiterjakob mit meinen Kollegen, die mit diesem werten Herrn nicht das geringste zu tun haben, womöglich ist alles bloßer Hirndunst, viel Dunst um nichts, pure Einbildung.

Mich hat's erwischt. Es hat einen Schlag auf den Kopf gegeben, und deshalb geht es in meinem Schädel nicht mehr ganz richtig zu. Seither bringen meine Hirnwellen keine rasanten Fahrten mehr zum Vorschein, sondern blumige Gebilde, Phantasien, erzeugt von einem erlösungssüchtigen Hunger, wo arkadische Landschaften blühen, durch die sich juwelenblitzende Bächlein winden und in deren Höhen schneeglitzernde Berggipfel mit von keinem Menschen je gesehenen Aussichten locken. Oder ich bin in die rätselhafte Gebirgslandschaft von Balthus versetzt, befinde mich am Läuterungsberg, hocke da, habe einen Arm aufs Knie gestützt, den anderen auf einen Stock und schaue streng zum Bild heraus. Unter mir, weit, weit unten, die dunklen Massen der Nadelgehölze. Dichte Massen von Gehölzen, in denen sich auch Dante zu Beginn der Commedia verirrt haben will.

Dabei sind Phasen im Spiel, die sich abwechseln, das blüht und vergeht, blüht und vergeht, ich fühle mich gehoben und sacke wieder in mich zusammen, habe keinerlei Macht darüber, mein Hirn spielt verrückt, aber der Rest an Vernunft, der mir geblieben ist, läßt mich wissen, daß ich keineswegs durchgedreht bin, sondern etwas Außerordentliches erlebt habe, woran ein normaler Sterblicher nur verzweifeln kann.

Davon in nüchternen Worten zu berichten fällt schwer. Wovon zu erzählen ist, vollzieht sich nicht in klassischen Proportionen, es gibt kein logisch untermauertes Schichtprinzip. Kunstreich ineinander verzahnt ist da nichts. Die Worte können nicht in ordentlicher Abfolge aneinandergereiht werden, als ginge es um etwas, das wir bereits halbwegs kennen. Irrwischhaft steigt's zu Kopfe, frißt sich auf, hebt sich hinweg. Macht sich auf und davon, flieht ins Universum oder hinab zum höllenhaften Glutkern der Erde.