Das Kind steht in der Bibliothek seiner Mutter und versucht zu begreifen, was es vor sich hat: Bücher. Der Dreizehnjährige geht auf sein erstes großes Konzert, begegnet dort ausgerechnet der lautesten Band aller Zeiten und bekommt eine Ahnung davon, daß man es auch ernst meinen könnte mit Kunst und Existenz. Eine Theatergruppe bringt ihm schließlich die Rolle seines Lebens bei, und am Ende begreift er den wahren und einzigen Mythos der Kunst: Tu es.

Andreas Maiers Der Kreis ist eine Reflexion darüber, wie aus Vorläufigem Unbedingtes entstehen kann, wie man sich die Motive seines Lebens durch Anverwandlung des Gegebenen erschafft, und schließlich darüber, wie man überall, auch als Kind ständig auf der Suche nach dem ist, was die Welt und das eigene Ich im Innersten zusammenhält.

Andreas Maier, geboren 1967 in Bad Nauheim, lebt in Hamburg.

Andreas Maier

Der Kreis

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlagfoto: Regina Göllner

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74769-8

www.suhrkamp.de

»Run, rabbit run. Dig that hole«

Pink Floyd

Grundschule

Der Kreis hat keinen Anfang und kein Ende, kein Vorne und kein Hinten, und wenn man ihn als Band zur Möbiusschleife bindet, auch kein Innen und Außen.

Meine Mutter benutzte für sich einen Raum, der in unserer Familie Bibliothek oder Bücherzimmer genannt wurde. Es handelte sich um den kleinsten Raum des Hauses, gelegen im ersten Stock, mit einem Fenster auf unseren Fluß, die Usa, hinaus. Die Einrichtung dieser Bibliothek war spärlich. An der türseitigen Wand standen zwei oder drei Regale aus dunkelbraun furniertem Preßspan, vor dem Fenster befanden sich ein kleiner Schreibtisch und ein Holzstuhl. Abgerundet wurde das Bild dieser Klause durch ein kleines Bett. Die Wände waren mit weißer Rauhfasertapete tapeziert und das Fenster durch eine Sichtschutzgardine verhängt. Keine Schabracken wie in den unteren Räumen im Haus, keine Übergardinen. Ich durfte das Zimmer betreten, wußte aber, daß ich meine Mutter nicht stören sollte, wenn sie in diesem Zimmer saß.

Eine gewisse Zeit wurde das Zimmer von zwei Personen genutzt. Dann saßen dort für ein paar Wochen ein alter Gymnasiallehrer aus der Nachbarschaft, Kriegsteilnehmer (Altphilologe, Funker, Krim) und meine Mutter am Schreibtisch, und der Lehrer versuchte meiner Mutter Altgriechisch beizubringen, eine Sprache, von der ich keinerlei Vorstellung hatte. Das dauerte immer eine Stunde. Währenddessen herrschte vollkommene Ruhe im Haus. Auf dem Tisch lag in diesen Wochen ein Wörterbuch mit mir unbekannten Buchstaben. Allerdings ebbten die Besuche des Lehrers schon nach kurzer Zeit merklich ab, wurden seltener und schließlich ganz eingestellt. Wenn der Lehrer da war, sollte in dem Zimmer gar nicht gestört werden.

Ich dachte immer an geheimnisvolle, hochwissenschaftliche Dinge, die in dem Zimmer geschähen, wenn sie darin saß. Dinge, von denen ich noch nichts begreifen konnte, die ich aber zugleich bewunderte, da man für sie ein eigenes Zimmer und Zurückgezogenheit brauchte. Es waren stets besondere Stunden, wenn sich meine Mutter in diesem Zimmer befand, es strahlte auf das ganze Haus ab, eine Art von Feierlichkeit lag über ihm, wenn sie dort oben saß.

Manchmal, wenn wir zu zweit zu Hause waren, saß ich im Keller in meinem Bastelraum, fügte dort unten meine Modelle zusammen und war in diese Arbeit vertieft, und zugleich saß sie am entgegengesetzten Punkt des Hauses im ersten Stock in dem kleinen Raum und war ebenfalls in eine Form von Arbeit vertieft. Ich hatte allerdings keine Ahnung, was sie in diesem Zimmer tat. Natürlich mußte es etwas mit den Büchern zu tun haben. Lesen sah ich meine Mutter nie, es sei denn, sie lag abends allein im Schlafzimmer im Ehebett, dann las sie Kochbücher. Im Bücherzimmer (das in anderen Zusammenhängen auch Gästezimmer hieß, wenn es als solches genutzt wurde) gab es ein Regal, in dem zehn oder fünfzehn blaue großformatige Bände mit dem Titel Die großen Rezepte der Welt zu finden waren. Manchmal, wenn sie im Bett im Schlafzimmer lag, rief sie mich und gab mir den Auftrag: Hol mir Band 9 von den Großen Rezepten der Welt, du kannst Band 10 auch gleich mitbringen. Ich wußte dann, wo ich hinzulaufen und in welches Regal ich zu greifen hatte.

Anderes sah ich sie nicht lesen. Die Bücher, die sich in dem kleinen Zimmer befanden, las sie offenbar ausschließlich in ebenjenem kleinen Zimmer. Deshalb stellte ich mir unter diesem Lesen etwas ganz Besonderes und Würdevolles vor. Denn man benötigte dazu ja, wie gesagt, ein eigenes Zimmer und Abgeschiedenheit. Es war wie eine Zeremonie: Meine Mutter geht zu einer bestimmten Tageszeit in dieses Zimmer, schließt die Tür hinter sich, dann tritt sie vor die Regale, nimmt ein Buch heraus, geht damit zum Schreibtisch, legt das Buch dort hin und setzt sich, noch liegt das Buch unaufgeschlagen da. Anschließend setzt sie sich noch einmal zurecht, rückt den Stuhl etwas näher an den Tisch, nimmt das Buch in die Hand und schlägt es auf. So weit konnte ich es mir vorstellen, aber immer nur bis dahin. Was weiter geschah, davon hatte ich kein Bild und auch keine Idee im Kopf, denn ich selbst hatte noch nie ein wirkliches, ganzes Buch gelesen, ich las zu der Zeit Asterix oder Geschichten aus den Reader’s Digest-Heften meiner Großmutter.

Manchmal wurde erzählt. Es hieß dann, die Mutter beschäftige sich gerade mit … oder mit … (hier wurden Fremdwörter genannt, die ich nicht verstand). Dabei wurden zum ersten Mal in meinem Leben Wörter gebraucht, die auf »-ismus« oder »-ismen« oder auf »-logie« endeten. Die Wörter selbst konnte ich nicht auseinanderhalten, denn ich hatte von keinem dieser Wörter bzw. von keiner Sache, die sie wohl offensichtlich benannten, irgendeine Ahnung oder auch nur eine geringfügige Vorstellung. Aber alle diese Sachen waren herausgehoben und mit einem eigenen Glanz versehen, weil sie eben durch jene besonderen Wörter benannt waren, die auf »-ismus« oder »-logie« endeten. Und diese Ismuslogien erforderten Konzentration, Arbeit, Abgeschiedenheit und eben ein eigenes Zimmer wie meinen Bastelraum im Keller.

Wenn ich bei meiner Urgroßmutter in ihrer Küche, die heute in einem Heimatkundemuseum ausgestellt sein könnte, herumsaß und sie gerade Sauerkraut stampfte oder Salatblätter zerrupfte und wenn ich von ihrem Fenster aus die auf unserem Viadukt, den vierundzwanzig Hallen, entlangfahrenden Züge betrachtete – meine Urgroßmutter hatte infolge ihrer bahnnahen Wohnlage den lautmalerischen Namen »Oma Huschhusch« –, dann fielen nie Wörter auf »-logie« oder »-ismus«, sondern sie erzählte Geschichten. Genauso war es, wenn ich mit Onkel J. bei meiner Großmutter in Bad Nauheim in ihrer 50er-Jahre-Einbauküche saß. Es herrschten allgemeine Gespräche über Familienmitglieder oder erzieherische Vorträge vor, die sie meinem Onkel hielt (er war damals um die vierzig Jahre alt). Oder mein Onkel erzählte wieder einmal vom Wald, vom Forsthaus Winterstein oder von irgendeiner gewaltigen Truppenübung der Amerikaner im Vordertaunus, die damals mit ihren Panzern alle paar Wochen die Taunushügel hoch- und wieder hinunterfuhren.

Zu Hause dagegen, bei uns in der Küche im Mühlweg, fielen die »-logie«- und »-ismus«-Wörter manchmal beim Essen. Mein Vater machte dann ein Gesicht, wie man es im Städel auf einem Gemälde von Rembrandt sieht, das König Saul zeigt, wie er David beim Harfespielen zuhört. Der Blick kehrt sich horchend nach innen. Mein Vater schien dann in sich nach Gedanken oder nach Antwort- oder wenigstens Gesprächsbeteiligungsmöglichkeiten zu suchen. Die »-ismen« und »-logien« waren aber nicht seine Welt, und das wußte meine Mutter.

Es handelte sich meist um das Abendessen. Mein Vater kam eine Zeitlang oft spät von seiner Arbeit bzw. aus Frankfurt zurück, und wenn die Stimmung sich durch die Verspätung sowieso schon merklich abgekühlt hatte, konnte meine Mutter plötzlich mit einem Vortrag beginnen, der gespickt war mit »-logien« und »-ismen«, wie ein Katarakt brach es dann aus ihr heraus, und sie sah meinen Vater in etwa so an, wie ein Folterknecht sein Opfer anschaut, nämlich um die Wirkung seiner Praktiken zu überprüfen. Mein Vater wirkte immer sehr hilflos, und kurz danach verwandelte sich das Gespräch in einen Streit, in dem es dann allerdings nicht mehr um »-logien« und »-ismen« ging, sondern um ganz anderes.

An anderen Tagen, wenn die Gemütslage ausgeglichen war, konnten die Ismuslogie-Gespräche harmonisch vonstatten gehen. Meine Mutter erzählte dann von ihren Tätigkeiten im Zimmer oben, der Blick meines Vaters kehrte sich wieder horchend nach innen, aber auch wenn er genauso ratlos dasaß wie sonst, hörte er diesmal gern zu, wie jemand, dem es Freude macht, den anderen gewähren zu lassen, selbst wenn er kein Wort versteht.

Beim Abendessen begriff ich, daß die Ergebnisse des rätselhaften Geschehens im Zimmer oben außerhalb des Zimmers auf verschiedene Weise eingesetzt werden konnten. Meine Mutter hatte damit etwas in der Hand, das deshalb unangreifbar war, weil es ganz allein von ihr verwaltet wurde.

Hinsichtlich des Bibliotheks- bzw. Gästezimmers war auch die Rede von Papieren, Manuskripten. Meine Mutter schrieb da oben irgend etwas. Es handelte sich nicht um die Schriftsätze für die Anwaltspraxis meines Vaters (er praktizierte neben seiner Anstellung bei der Henninger Bräu AG auch privat), denn diese wurden von meiner Mutter mit der Maschine im Bürozimmer im Erdgeschoß aufgesetzt. Was meine Mutter oben im Zimmer schrieb, war handschriftlich.

Es hieß, sie schreibe an einem Buch.

Oder es hieß: sie arbeite an einem Buch.

Manchmal, wenn ich allein im Haus war, sagen wir mit sieben oder acht Jahren, suchte ich das Bücherzimmer aus eigenem Antrieb auf. Etwas daran erinnerte mich an unsere Kirchenbesuche. Wenn ich das Zimmer im Obergeschoß betrat, stellte sich eine ähnliche Sakralität wie sonntags in der Kirche ein, nur daß sie nicht in einem fremden, großen, mich beängstigenden Raum mit unzähligen Menschen entstand, sondern in einem mir vertrauten Zimmer mit mir vertrauten Möbeln und einem (vom Vorhang verhangenen) Ausblick, der sich von dem aus meinem Fenster kaum unterschied. Als Altar diente hier, allein und unbenutzt, der Schreibtisch. Wie unverrückbar und massiv nahm er seinen Platz ein, als sei es der einzig denkbare für ihn.

Den Tisch umwob Stille. Von draußen drang kein Geräusch herein. Er stand im Halbdunkel. Manchmal setzte ich mich auf den Stuhl und schaute aus dem Fenster hinaus, wozu ich mich etwas recken mußte, denn ich war ja noch klein. Den Vorhang beseite zu schieben, darauf wäre ich nicht gekommen, das wäre mir wie eine Entheiligung vorgekommen, denn der Vorhang zog eine optische Markierung zwischen dem Profanen dort draußen und, hinter der weißlichen Lichtschranke, die er bildete, dem Inneren des kleinen Zimmers.

Der Schreibtisch besaß rechts drei Schubladen und links ein kleines verschließbares Schränkchen. Die oberste Schublade war ebenfalls verschließbar. Allerdings steckte immer der Schlüssel, ich konnte die Laden und das Schränkchen problemlos öffnen, wenn ich allein in dem Zimmer war und auf dem Stuhl saß, auf dem sonst meine Mutter saß, wenn sie hinter geschlossener Tür ihrer Zimmertätigkeit nachkam.

Am Anfang interessierten mich eher die technischen Gegenstände, etwa ein zangenartiges Gerät, mit dem man Heftklammern ins Papier schießen konnte. Man lud das Teil, das an eine Pistole erinnerte, mit Stangen von Klammern nach, was für mich so war, wie wenn das Magazin eines Gewehres nachgeladen wurde. Die Munition mußte dann so schnell wie möglich verschossen werden. Allerdings lag ein baugleiches Gerät auch unten, im Schreibtisch im Büro meines Vaters. Ich schoß meistens dort.

Es fand sich auch eine Lupe in der Schreibtischschublade meiner Mutter. Sie war viereckig und steckte in einem schwarzen Kunstlederetui, aus dem man sie herausklappte. Wozu brauchte sie sie? Ich betrachtete meine Fingerkuppen damit oder die Oberfläche des Tisches.

Eine Weile konnte ich mich auch mit dem Anspitzen diverser Bleistifte beschäftigen oder mit den ausgestanzten Papierpunkten, die ich aus dem Inneren des Papierlochers hervorholte.

Aber nachdem ich eine Zeitlang gern mit diesen Gegenständen gespielt hatte, erwachte doch ein anderes Interesse in mir, denn ich wußte, in diesem Zimmer ging es weniger um Heften und Lochen und Anspitzen als vielmehr um etwas anderes. Es ging um Bücher und Papiere.

Ich stellte mich vor das Regal. Ich konnte nicht erkennen, ob die Bücher nach einem bestimmten, durchgängig für die ganze Bibliothek geltenden Prinzip geordnet waren. Sie hatten verschiedene Farben, manche waren weich und biegbar, andere fest und mit einem Umschlag versehen, den man abnehmen konnte. Auf manchen Umschlägen fand sich nur Schrift, auf anderen waren auch Bilder zu sehen. Teils erinnere ich mich an die Bilder, erst später begriff ich, wie diese Bilder gemeint waren und was sie bedeuten sollten. Man kann anhand ihrer rekonstruieren, in welche thematische Richtung sich die Lektüre meiner Mutter bzw. die Auswahl der Bücher in diesem Zimmer bewegte (abgesehen von der vielbändigen Edition mit den Großen Rezepten der Welt