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Robert Gierden

Eonidenwege

Das Graumeer

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© 2016 Robert Gierden

ISBN
Paperback:978-3-7345-3927-5
Hardcover:978-3-7345-3928-2
e-Book:978-3-7345-3929-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

Ein fein verästelter Blitz teilte die geschlossene, grauschwarze Wolkendecke in zwei Hälften und ein ungewöhnlich warmer Sturm tobte unvermittelt über die weite, offene See. Meterhohe Wellen rollten ohne Unterlass gegen ein Segelschiff, welches winzig und hilflos in der Weite des Meeres wirkte. Auf dem Deck des Holzschiffes stand hinter dem Steuerrad ein hoch gewachsener Mann. Einsam führte er einen harten Kampf mit dem so unerwartet aufgezogenen Sturm und ständig wirbelte ihm aufgepeitschte, schaumige Gischt in sein fahles Gesicht. Es war deutlich zu sehen, dass der Steuermann die letzten Reserven seines arg geschundenen Körpers aufzehrte, um das Schiff auf Kurs halten zu können. Die Kraft, den klebrigen, weißlichgrünen Schaum aus dem Gesicht zu wischen, besaß er längst nicht mehr. Trotz seiner üblen Lage konnte er sich darüber wundern, dass kein einziger Regentropfen vom Himmel herabfallen wollte. Dem Seemann schmerzte der gesamte Leib. Seine Kräfte waren nun aufgebraucht. Gedankenfetzen schossen durch seinen Kopf. „Meine Männer, die Mannschaft”, sorgte er sich, „wo ist nur meine Mannschaft geblieben?” Der blonde Mann setzte seinen scheinbar aussichtslosen Kampf mit den wild um ihn herum tobenden Elementen weiter fort. „Wir haben irgendetwas Ungeheuerliches entdeckt, aber was war es nur?”, grübelte der Einsame weiter. „Ich darf es nicht vergessen!

Ich darf es nicht vergessen!”, er peitschte sich mit kurz aufflackernden Erinnerungsfetzen selbst noch einmal auf. „Eine Welt, da gab es doch eine andere Welt…?”, wirre Gedanken drehten sich im Kreis und es schien ihm, als würde der weiter anschwellende Sturm sie immer noch mehr verwirbeln. „Mein armes, kleines Mädchen…”, Tränen des Schmerzes und der Anstrengung rannen über seine eingefallenen blassen Wangen.

Das Schicksal aber meinte es letztendlich gnädig mit ihm, denn von einer Sekunde auf die andere verlor der Steuermann seine Sinne. Mit einem Aufseufzen brach er bewusstlos über dem abgegriffenen hölzernen Steuerrad zusammen. Der brüllende Orkan aber fegte weiterhin erbarmungslos über das Deck des Schiffes und lockerte mit jedem Windstoß etwas mehr die sorgsam gepflegte Takelage auf. Bedrohlich begann das einzige Großsegel des kleinen Wasserfahrzeugs im tosenden Wind zu schlagen. Führerlos setzte es seine Fahrt ins Ungewisse fort.

Eonidenwege
Das Graumeer

Kapitel 1
Kreatur

Kapitel 2
Alkohol

Kapitel 3
Beginn

Kapitel 4
Brühe

Kapitel 5
Musik

Kapitel 6
Garten

Kapitel 7
Licht

Kapitel 8
Kleinwuchs

Kapitel 9
Staub

Kapitel 10
Vision

Kapitel 11
Gefährt

Das Graumeer

Kapitel 1
Kreatur

Der Junge lag auf dem Rücken im Gras und betrachtete ausgiebig den klaren Himmel. Genussvoll sog er dabei die würzige Meeresluft ein. Trotz des frischen Seewindes, der hier in dieser Gegend nahezu ständig blies, war es heute ein schwül-warmer Tag. Luodwigsgard, den aber im Dorf alle nur liebevoll Lolle riefen, lag sehr gerne hier oben auf der Anhöhe, um ungestört den weiten Himmel und die darin ziehenden Wolken beobachten zu können. Wie unzählige Male zuvor malte er sich in seiner lebhaften Phantasie aus, woher diese weißen Wolken kamen und wohin sie zogen. Weiter kam es ihm in den Sinn, dass es sicherlich aufregend sein müsste, genauso wie diese Gebilde durch den Himmel ziehen zu können. Gerade eben meinte Lolle eine besonders interessante Wolkenform entdeckt zu haben. In dem strahlend blauen Firmament sah die bauschige Formation ein wenig aus wie der geliebte zottelige Hütehund seines Großvaters. Schwarzweiß gefleckte Möwen segelten dicht an ihm vorbei und kreischten ihr hohes Lied, als er mit einem Mal von weitem ein Mädchen rufen hörte. Lolle erkannte die vertraute Stimme seiner besten Freundin Anka. Anscheinend musste etwas Spannendes vorgefallen sein, weil sie den kleinen Hügel laufend erklomm und dabei mehrmals lauthals seinen Namen ausrief.

„Mädchen! Immer müssen sie stören“, grummelte Lolle leise in sich hinein und drückte sich dabei tiefer in das hohe und satte grüne Gras. „Vielleicht rennt sie ja an mir vorüber und übersieht mich“, hoffte er. Anka aber kannte Lolle nur zu gut, als dass sie nicht wusste, dass dies hier der Lieblingsplatz ihres Freundes war. Hier oben, ein wenig über dem kleinen Fischerdorf, zog er sich immer dann zurück, wenn er alleine seinen Gedanken und Träumen nachhängen wollte. „Oh Lolle! Großer Entdecker! Träumst du schon wieder von unbekannten, geheimnisvollen und fernen Ländern?“, dachte sie sich im Stillen. Schwer schnaufend hastete Anka den kleinen Hügel nach oben hinauf. Dabei bemerkte sie, dass die neuen Ledersandalen, die der Dorfschuster erst vor kurzem für sie angefertigt hatte, an ihren Füßen drückten. Noch dazu hatte sie vorhin wohl die Lederriemen zu fest an ihren schlanken Beinen angezogen, so dass auch diese zu schmerzen begannen. Immer wenn sich etwas Aufregendes ereignete, musste sie Lolle suchen gehen, stellte Anka leicht verärgert fest. „Nun, ich bin ja gleich oben angekommen. Dort kann ich mir dann die Schuhe ausziehen und kurz meine Beine und Füße massieren“, hoffte sie im Stillen. Als Anka den schlaksigen Jungen, der in dem hohen Gras in der Tat schwer zu entdecken war, fand, musste sie unwillkürlich Lächeln. Lolle hatte seine Mütze tief in das Gesicht gezogen und in seinem Mund steckte ein langer Grashalm, an dem er stetig kaute. „Typisch Luodwigsgard!“, rief sie ihm streng zu. „Während du hier oben vor dich hinträumst, passieren unten im Dorf spannende Sachen. Mein Vater kehrt gerade mit seinen Männern von seiner Seefahrt zurück und du liegst hier nur faul im Gras herum. Der Späher ließ vor kurzem die Nachricht übermitteln, dass er bereits den Schiffsmasten und das Hoheitszeichen am Horizont ausmachen könne. Er schätzte, dass nur noch wenig Zeit verstreichen würde, bis das Schiff im Hafen einläuft.“

„Das sind in der Tat tolle Neuigkeiten“, dachte sich Lolle und erhob sich mit einem Ruck aus seiner warmen Liegekuhle. Er wandte sich Anka zu, die sich zwischenzeitlich auf den Grasboden gesetzt und ihre Ledersandalen ausgezogen hatte. „Anka! Du hast doch immer das unbarmherzige Talent, mich hier oben aufzuspüren und zu stören“, warf er ihr mit gespielter Empörung vor. Dies sagte er aber nur, um das Mädchen etwas zu necken und um seine Erregung über das eintreffende Boot zu verbergen. „Außerdem, wenn es noch sooo lange dauert, bis dein Vater endlich eintrifft, hättest du doch auch noch etwas damit warten können, mich zu holen!“, setzte er noch nach.

Anka, die gerade ihre Beine und Füße sorgfältig knetete, wusste natürlich, dass dies das typisch gespielte Verhalten Lolles in solchen Fällen war. Nicht, dass sie ihm jetzt darüber besonders böse gewesen wäre, manchmal aber würde sie bei solchen Gelegenheiten gerne Lolles Kopf nehmen und diesen einfach in eine Schüssel mit eiskaltem Bergwasser tauchen. „Wenn ich dir zu spät von der Neuigkeit berichtet hätte, wärst du mir ebenfalls beleidigt gewesen“, entgegnete sie ihm trotzig. „Außerdem hast du doch schon heute früh die ganze Zeit davon gesprochen, dass das Schiff meines Vaters wohl bald eintreffen müsste und ich dachte mir deswegen, dass ich es dir sofort erzählen sollte.“

Ankas Vater Life, das klassische Abbild eines Mannes dieser Gegend, schlank, hoch gewachsen und mit kantigen Gesichtzügen, war so etwas wie der Erkunder des Dorfes Walkand. Zusammen mit einigen weiteren mutigen Männern der Siedlung unternahm er mit seiner zwar alten, aber dafür äußerst robusten und leicht zu nutzenden Kogge Fahrten im nahen Eismeer, um Erkenntnisse darüber zu erlangen, ob es außer diesem bewohnten Land noch etwas anderes weit draußen gab.

Das besiedelte Land nannten seine Bewohner Norgondia und trotz aller Schönheiten, die es besaß, wies es eine seltsame Besonderheit auf. Die Außengrenzen Norgondias erwiesen sich nämlich als unüberwindbar. Kein Mensch, der jemals aus Neugier oder Unachtsamkeit diese äußeren Landesgrenzen weit überschritten hatte, kehrte bislang wieder zurück. Begab man sich an die Westgrenze, dort wo auch die Sonne unterging, fand jedermann sein unweigerliches Ende bei mysteriösen Eisenkriegern. Diese riegelten den dortigen Grenzstreifen mit ihren gigantischen steinernen Festungen, Wehranlagen und Mauerwerken hermetisch ab und bestraften jeglichen Überquerungsversuch streng. Es gab grausige Erzählungen, wonach jeder, der es gewagt hatte, an einer dieser Festungen vorbeikommen zu wollen, unbarmherzig von den mit Metall bekleideten Kriegern verfolgt, gestellt und anschließend in einer ihrer Burgen bis zu seinem Lebensende gefangen gehalten wurde. Wandte man sich dem Osten zu, wo die Sonne aufging, war der Weg spätestens an dem sich dort befindlichen weiten Ozean zu Ende. Auf dieser See hausten ständig schwere Stürme, die sich niemand so recht erklären konnte. Grelle Blitze schlugen andauernd aus turmhohen, grauschwarzen Wolken hernieder und der Regen fiel nicht senkrecht vom wolkenverhangenen Himmel, sondern peitschte jedem Lebewesen nahezu horizontal ins Gesicht. Beständige Wellenberge verhinderten zudem erfolgreich das Einsetzten eines Bootes. Helligkeit oder gar Sonnenschein waren diesem finsteren Gewässer völlig unbekannt. Im Süden hingegen breitete sich eine unvorstellbar trockene und leere Sandwüste aus. Deren Durchquerungsversuch würde einem Menschen nur einen äußerst zweifelhaften Erfolg bescheren. Diese öde und tote Landschaft brachte bei sengender Sonne eine Gluthitze zustande, die sonst nur ein Steinbackofen erzeugen konnte. Ein Betreten oder gar der Versuch des Durchquerens brächte somit nur qualvolles Verdursten und einsames Verhungern mit sich. Im hohen Norden letztendlich grenzte ein davor liegendes Meer an weitläufige, gewaltige und ewige Eisfelder. Dauerfrost ließ den Boden dort hart und undurchdringlich wie Felsen werden und bei klirrender Kälte, ständigem Schneefall und Eisregen zerbrach jegliches menschliche Leben innerhalb kürzester Zeit. Natürlich existierten innerhalb dieser Grenzen Norgondias auch wunderschöne, bewohnbare Gegenden mit Städten und Dörfern, in denen zahlreiche Menschen ihr Leben führten. Es war jedoch ein überschaubares Land, dessen friedliebende Bewohner in der Hauptsache von der Bewirtschaftung ihrer Felder lebten. Lediglich in den wenigen größeren Städten hatten sich kleine Zentren der Kunst und Kultur sowie der Wissenschaft gebildet. Mühelos gelang es einem Reisenden mit seinem Pferd, in wenigen Wochen jede Himmelsrichtung mit ihren jeweiligen Grenzen und rätselhaften Gefahren zu erreichen.

Lolle war mittlerweile aufgestanden und blickte von der Anhöhe hinunter in das Dorf. Für Fremde wäre dieser Anblick wohl ein atemberaubender Moment gewesen. Das nördlich gelegene Walkand mit seinen vielen bunten Holzhäuschen lag geschützt in einem kleinen Fjord. Nach Norden hin bestand auf der See nur eine einzige schmale Durchfahrt in das offene Meer. Sie sicherte an stürmischen Tagen zuverlässig die Siedlung vor dem schweren und oft tödlichen Wellengang. Seitlich des Fischerdörfchens nach Westen und Osten ragten schroffe Felswände in schwindlige Höhen auf, die nur einen eng begrenzten Zugang zu der Ansiedlung zuließen. Lediglich in südlicher Richtung lagen kleine und leicht begehbare Anhöhen, die an eine großflächige Hochebene grenzten. Sie stellten den leichtesten Zugang zum Dorf dar. Trotz des vielen Gesteins war die Gegend um Walkand aber nicht nur felsig grau oder eintönig öde. Ganz im Gegenteil herrschte ab dem späten Frühjahr das satte Grün der vielen Wiesen und der Bäume vor. Und im Hochsommer blühten in ihrer ganzen Pracht unzählige bunte Blumen und bewiesen dadurch, dass Walkand ganz und gar nicht ein von Gott verlassener Fleck Erde war. Nur während des lang anhaltenden strengen Winters hatte das Leben hier oben im Norden Norgondias einen harten Stand. Aber die Menschen, die überwiegend vom Fischfang und der Jagd lebten, kannten diese Verhältnisse nun schon seit vielen Generationen und hatten sich diesen Gegebenheiten im Wandel der Zeit sehr gut angepasst.

„Also gut.“ Lolle wandte sich an Anka. „Gib mir deine Hand und wir gehen gemeinsam hinunter ins Dorf.“ Der Junge reichte Anka seine rechte Hand und zog sie behutsam vom Boden hoch. „Aber zieh dir gefälligst vorher wieder deine Schuhe an! Denn falls du barfuß in ein stechendes Insekt trittst, werde ich dich auf keinen Fall tragen!“, grinste der Junge schelmisch.

Auf dem Weg hinunter in die Siedlung begegneten den beiden Kindern einige Feldarbeiter. Auch sie hatten sich aufgemacht, das Schiff und seine Mannschaft am Hafen willkommen zu heißen. Die Mehrzahl der Einwohner Walkands sah Lifes Forscherdrang zwar eher skeptisch und mit Sorgen, da ihrer Meinung nach zu viele Gefahren für das Schiff und seine Besatzung bestanden. Wenn Life und seine Männer aber wieder gesund nach Hause zurückkehrten, waren doch alle erleichtert und stolz auf „ihre“ Expeditionsteilnehmer. Außerdem wurde das Dorf auf diese Art mit neuen abenteuerlichen Geschichten versorgt, die jeder in kalten Nächten und an wärmenden Lagerfeuern sehr gerne hörte.

„Was meinst du, welche Neuigkeiten mein Vater wohl diesmal von seiner Reise mitbringen wird?“, fragte Anka Lolle. „Nach seiner letzten Erkundungsfahrt erzählte er uns viele Geschichten von seltsamen bunten und blinkenden Lichtern am nächtlichen Sternenhimmel und über dem weiten Meer.“ „Hm, wahrscheinlich hatten sie einfach zu viel süßen Met in der Nacht an Deck getrunken und sahen deswegen farbige Lichter am Himmel“, entgegnete Lolle, der versuchte, ernst zu bleiben und nicht vor Lachen losprusten zu müssen. „Dass du mich niemals richtig ernst nehmen kannst!“, etwas beleidigt zog Anka ihre Hand aus der von Lolle und verschränkte die Arme gekränkt vor ihrer Brust. „Mein Vater hat schon oft wirklich wichtige und ernsthafte Hinweise von seinen Expeditionen mitgebracht, die uns auch allen zugutekamen.“

Lolle fiel dabei sofort die vorletzte Reise von Life und seinen Männern ein. Nach seiner Ankunft gelang es Ankas Vater, exakt die Zugroute der begehrten Bogenwale zu bestimmen. So viel Walfleisch und Fett hatte es noch in keinem Winter zuvor für die gesamten Bewohner des Dorfes gegeben.

„Sicher hast du Recht, Anka.“ Er nahm wieder die Hand des Mädchens. „Entschuldige bitte meine unkluge Bemerkung. Aber weißt du, trotz alledem hat dein Vater noch nie genaue Hinweise auf ein anderes bewohntes Land und eine sichere Passage dorthin gefunden und ich möchte doch ebenfalls zu gerne wissen, ob ein solches überhaupt existiert.“ Eine kurze schweigsame Pause entstand. „Lolle, du weißt, dass ich meinen Vater sehr lieb habe“ entgegnete dann Anka. „Aber ihr beide hört euch einfach zu viele abenteuerliche Geschichten von Johannsen an.“

Der alte und einsame Johannsen - augenblicklich sah Lolle das faltige und bärtige Gesicht des mit den Jahren ergrauten Mannes vor seinen Augen. An schönen Tagen saß Johann, wie ihn die meisten hier nannten, vor seiner kleinen Hütte, rauchte genüsslich ein Pfeifchen und ließ sich die Sonne auf seine von Wind und Wetter gegerbte Haut scheinen. Er konnte magische Geschichten von fernen Gegenden, die von sonderbaren Bewohnern beherrscht werden sollen, erzählen. Diese Geschichten waren aber angeblich nicht von ihm selbst erfunden worden! Johannsen bestand auf der von ihm behaupteten Tatsache, dass er einiges an Wissen aus einer Schrift, einem Buch, bezog, von dessen Existenz nur wenige Menschen überhaupt eine Ahnung hätten. Zudem befände sich das Werk an einem geheimen und fernen Ort, der von Unwissenden nur äußerst schwer zu entdecken sei. Da Johann aber immer auch kräftig den vergorenen Säften zusprach, gab auf diese Geschichten nicht wirklich jemand etwas. Lediglich Life und Lolle konnten seinen Erzählungen einen gewissen Grad an Wahrheit abgewinnen. Sie wussten, dass Johannsen sein ganzes Leben lang einmal als Fischer und dann wieder als Matrose zur See gefahren war und nahmen deswegen an, dass er dabei einiges gesehen haben musste, wovon andere Menschen nicht einmal träumen würden. Auch hörte Life einmal selbst von einem sagenumwobenen Buch, welches uralte Geheimnisse in sich bergen solle. Wen auch immer der Erkunder aber auf seinen Reisen gefragt hatte, keiner konnte ihm eine Antwort darauf geben, wo sich diese Schrift befinden könnte. Wovon Johannsen übrigens seinen Lebensunterhalt bestritt, vermochte niemand im Dorf so recht zu sagen. Geflüstert wurde immer wieder einmal darüber, dass er durch eine seiner letzten Schiffsfahrten plötzlich zu großem Vermögen gekommen wäre und es sich nun einfach leisten konnte, nur noch gelegentlich eine kleine Arbeit, die er selbst wohl mehr als Zeitvertreib für sich ansah, übernehmen zu müssen. Den im Dorf lebenden Baumeister seiner Hütte entlohnte er damals auf jeden Fall mit puren Goldmünzen.

Anka und Lolle stießen nun auf die ersten Holzhäuser des Dorfes und gingen auf einem mit grobem Steinpflaster belegten engen und abschüssigen Weg weiter in Richtung des Hafenbeckens. Dabei kamen sie an verwaist wirkenden Gebäuden des Dorfschusters, Dorfschmieds, Bäckers und vieler weiterer Handwerker vorbei. Normalerweise herrschte im Inneren dieser Häuser eine rege Tätigkeit, doch es schien, dass zu dieser Stunde fast das gesamte Dorf auf den Füßen und in Richtung des Hafens unterwegs war. Lifes Reise dauerte diesmal wesentlich länger als üblich und niemand hatte eine Nachricht oder Meldung aus dem Schiff erhalten. Nicht einmal der Dorfrat der Ältesten wusste, ob etwas Außerordentliches vorgefallen war. Eigentlich war es bei den früheren Reisen des Forschers stets so, dass Fischersleute oder Reisende, die Life auf seinem Weg traf, Nachrichten von ihm und seinen Männern überbrachten. Auch führte Life auf seinem Boot einige Brieftauben mit. In unregelmäßigen Abständen konnte er dadurch ein mit einer Botschaft präpariertes Tier in die Freiheit entlassen. Wenn diese Taube Walkand erreicht hatte, wurde sie sofort zum Rat der Ältesten gebracht, damit dieser nötigenfalls das Dorf von wichtigen Neuigkeiten unterrichten konnte. Allerdings war es auch nicht besonders ungewöhnlich, wenn lange Zeit keine Nachricht aus der Kogge eintraf. Life wagte sich meistens in Gegenden, in denen er keiner Menschenseele mehr begegnete, die eine Nachricht, gleichgültig ob gut oder schlecht, hätte überbringen können. Auch das Entsenden einer Brieftaube war von diesen Orten aus nicht mehr möglich. Niemals hätte das Tier seinen Weg von dort zurück nach Walkand gefunden. Bedenklich war diesmal nur, dass überhaupt keine Nachricht Walkand erreicht hatte.

Als die beiden Kinder nach kurzer Zeit den Hafen erreichten, staunten sie nicht schlecht. In der Tat war fast das gesamte Dorf hier unten am steinernen Steg anwesend und wartete gespannt auf das Eintreffen des Schiffs. Lolle spürte förmlich die Aufregung der eng zusammenstehenden Leute. Die Luft knisterte regelrecht vor Anspannung.

Das Meer selbst war heute erstaunlich ruhig. Fast sah es so aus, als ob sich statt Salzwasser eine dröge ölige Fläche vor ihnen ausbreitete. Hier und da sprang keck ein kleiner Meeresfisch aus seinem Element und schnappte eilig nach Beute. Dunkelgrüner Seetang trieb gemächlich auf der Wasseroberfläche und darüber kreisten die immer anwesenden, frechen Möwen in der Hoffnung, ebenfalls Futter für sich ausfindig machen zu können. An den Hafenstegen selbst dümpelten friedlich einige kleine Fischerbarken. Die Seeluft roch würzig, es herrschte fast Windstille und nichts deutete darauf hin, das sich in Kürze etwas ereignen würde, dass das bisherige Leben von Anka und Lolle komplett umkrempeln sollte.

Die Ereignisse begannen sich damit zu überschlagen, dass der erfahrene Späher, dessen hoher Aussichtspunkt ein zur Seeseite in den Fels gehauener Unterstand war, atemlos und wild gestikulierend zu dem Hafensteg gelaufen kam. Sichtlich mit seinen letzten Kräften schrie er in die Richtung der anwesenden Menschenmenge: „Das Schiff! Das Schiff! Irgendetwas stimmt nicht mit dem ankommenden Schiff!“ Die ersten Personen, die er erreichen konnte, hielten den japsenden und keuchenden Mann fest und stützten ihn. Der stämmige Späher war blass, schlotterte am gesamten Leib und der Schweiß rann ihm in kleinen Sturzbächen von seiner Stirn. Nur langsam kam er wieder zu Atem und begann mit vibrierender und sich überschlagender Stimme zu berichten. „Als das Holzschiff von Life näher gekommen ist, habe ich in dem kleinen Ausguck oben am Mast niemanden entdecken können.“ Weiter berichtete er: „Das Segel ist zwar gesetzt, jedoch baumelt die Takelage ohne Zug und hängt kreuz und quer herunter. Es ist mir nicht gelungen, an Deck auch nur eine menschliche Regung auszumachen.“ In der Stimme des Spähers schwang nun leichte Panik mit. „Die Kogge..., sie taumelt auf hoher See. Zwar wird die Meeresströmung das Gefährt in unsere Richtung führen, aber es wird seitlich an der schmalen Einfahrt oder an den Felsen davor zerschellen, wenn wir es nicht daran hindern.“

Lolle und Anka hatten bereits vor dem Bericht des Spähers die Gruppe erreicht, die dem Mann am nächsten war. Als das Mädchen die Worte vernommen und das drohende Unheil begriffen hatte, weiteten sich ihre Augen vor Angst um ihren Vater und sie begann augenblicklich still zu weinen. Lolle hielt deswegen Anka fest an sich gedrückt und redete dabei gefasst und leise auf sie ein.

Die ebenfalls in der großen Menschenmenge anwesenden Mitglieder des Dorfältestenrates reagierten auf diese schlechten Neuigkeiten augenblicklich. Sie wiesen einige umherstehende kräftige Fischer an, mit ihren Barken Lifes ankommendem Schiff geschwind entgegen zu fahren. Sie sollten versuchen eilig an Deck des führerlosen Bootes zu gelangen, das Ruder zu übernehmen und es dann heil in den schützenden Hafenbereich zu überführen. Da die See weiterhin ruhig erschien, bestand für dieses Unternehmen eine gute Chance und auch die Gefahren für die zur Rettung des Einmasters entsandten Männer waren eher gering als hoch anzusehen. Sogleich spurteten mehr als ein halbes Dutzend Männer zu ihren kleinen Fischerbooten, machten die Leinen los und ruderten, was das Zeug hielt, in Richtung des führerlosen Schiffes.

Andere fürsorgliche Dorfmitglieder scharten sich derweil um Lolle und Anka, um dem Mädchen Beistand leisten zu können, es zu trösten und zu beruhigen.

Es dauerte für alle eine kleine Ewigkeit, bis die Fischerboote das vermutlich menschenleere Erkundungsschiff auf hoher See, noch vor den scharfen Klippen und der engen Einfahrt in den Hafen, erreichten. Der mutigen Besatzung einer Barke gelang es dann aber erstaunlich schnell, längsseits von Lifes Holzschiff zu gehen und mittels eines mitgeführten eisernen Wurfankers ein dickes Tau an der breiten Reling sicher zu befestigen. Geschickt kletterten anschließend zwei Männer an Deck und nach und nach schafften es alle Helfer, ihre Boote an der Kogge fest zu machen und auf das beinahe havarierte Schiff zu gelangen. Gemächlich, so als wäre alles völlig normal und problemlos verlaufen, lief der Einmaster fast majestätisch mit den daran vertäuten Barken in das Hafenbecken Walkands ein. Als die Fischer das Gefährt mit schweren Tauen an Poldern festgemacht und eine hölzerne Rampe auf den Kai niedergelassen hatten, konnte niemand der Anwesenden Anka mehr halten. Sie rannte, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben gerannt war, den steinernen Hafensteg entlang, die leicht schwankende Schiffsrampe hinauf und betrat das Deck. Der Anblick, der sich dann dem bleichen Mädchen dort bot, war äußerst bizarr und Angst erregend zugleich. Anka stand wie versteinert in der Mitte des Oberdecks und konnte mit ihrem Verstand nicht erfassen, was sie dort sah. Ihr Vater, der Kapitän, und seine Mannschaft hatten ganz und gar nicht das Schiff verlassen. Vielmehr war die Besatzung auf den ersten Blick vollzählig anwesend.

Anka sah, dass Life schlaff mit seinem Oberkörper über dem mächtigen Holzsteuerrad des Einmasters hing und sich nicht bewegte. Seine Haut war aschfahl und wies deutlich bläuliche und großflächige Verfärbungen an den sichtbaren Stellen auf. Die Adern des Kapitäns waren dick angeschwollen und dunkelblau, so als würde sein Körper unter einer schweren und andauernden Last stehen. Sehr auffällig für das Mädchen war auch der Umstand, dass ihr Vater sich wohl seit längerer Zeit nicht mehr rasiert hatte. In seinem Gesicht wucherte ein blonder Vollbart und das, obwohl er Bärte eigentlich stets verabscheut hatte. Die Fingernägel des Forschers waren eingerissen und unansehnlich lang gewachsen. Zudem wiesen sie schwarze Ränder auf. Auch dies war auf Grund seiner früheren Reinlichkeit für Anka sehr ungewöhnlich. Trotz all dieser verwirrenden Eindrücke keimte in ihr das nicht erklärbare Gefühl auf, dass in ihrem Vater dennoch ein Hauch von Leben steckten musste und er keineswegs bereits aus diesem Leben geschieden war. Alle diese sichtbaren und sonderbaren körperlichen Merkmale galten auch für den Rest der Mannschaft. Lifes Männer lagen allesamt verstreut auf dem Oberdeck und zeigten dieselben deutlichen Auffälligkeiten wie ihr Kapitän. Auch sie regten sich nicht oder zeigten auf Ansprache eine Reaktion. Trotz eines lauen und nur leichten Windhauchs, der durch die kastanienbraunen Haare des Mädchens fuhr, fröstelte sie ein wenig. „Ein Geisterschiff“, flüsterte sie leise. „Mein Vater ist mit einem Geisterschiff nach Hause gekommen.“ Ein Zustand aus Angst, Furcht und Schrecken breitete sich in Anka aus und machte es ihr unmöglich, auch nur einen Schritt in Richtung ihres hilflosen Vaters zu tun.

Die immer noch anwesende Rettungsmannschaft starrte schweigend und betreten auf den Holzboden des Einmasters. Keiner wagte, Anka offen in die Augen zu sehen oder sie gar anzusprechen. Jedem war bekannt, dass das Mädchen, nachdem ihre Mutter viel zu früh gestorben war, sehr an ihrem Vater hing und jedes Mal, auch wenn sich ihr Herz mit Stolz erfüllte, litt, wenn er auf eine weite Reise ging. Für die Dorfbewohner sah Anka genau so aus, wie sie ihre jung verstorbene Mutter in Erinnerung hatten. Sie wies dieselben schmalen markanten Gesichtszüge auf und ihre blauen Augen funkelten zuweilen genauso energisch und kämpferisch wie die ihrer toten Mutter, Anne. Sie besaß auch exakt die gleichen langen und kastanienbraunen Haare, die sie, wie Anne es getan hatte, oft hochgesteckt trug. Anka war ebenfalls sehr schlank, sah aber keineswegs zerbrechlich, sondern eher sportlich, ja schon fast athletisch aus. Mit ihren dreizehn Jahren wirkte sie bereits ziemlich erwachsen. Erst recht, seitdem sich seit dem letzten Winter die ersten weiblichen Rundungen zeigten. Mit Sicherheit würde sie in Kürze zu einer, von allen Dorfjünglingen begehrten, jungen norgondischen Schönheit herangewachsen sein. Weshalb ihre Mutter vor einigen Jahren sterben musste, konnte niemand sagen. Es war so, dass Anne einfach von Tag zu Tag blasser und schwächer wurde, bis sie eines Tages überhaupt nicht mehr ihr Bett oder gar ihr Holzhäuschen verlassen konnte. Life kümmerte sich in dieser Zeit aufopfernd um seine Gefährtin, doch letztendlich war der Tod stärker und holte sich Anne nach nur wenigen Wochen des Widerstands und des Leidens. Über Nacht war sie damals sanft und friedlich entschlafen. Seit diesem schlimmen Verlust kümmerten sich die Großeltern liebevoll um das heranwachsende Kind, wenn Life mit seinen Männern auf eine seiner weiten Forschungsreisen ging. Anka erschrak leicht als, sich von hinten zart zwei Hände auf ihre Schultern legten. Als sie sich umdrehte, blickte sie in das weise und vom Alter bereits zerfurchte, aber freundliche Gesicht des Dorfgelehrten für Heilkunde. Anscheinend war er von den Dorfältesten gerufen und schleunigst auf das Schiff gebeten worden. „Anka“, sagte er sanft zu ihr, „ich kann dir jetzt natürlich nicht untersagen auf dem Boot deines Vaters weiter zu verweilen, aber ich bitte dich zumindest darum, dass du dich nun in die Obhut deines Freundes Lolle begibst. Er kann dir wenigstens etwas Zuspruch und Trost spenden, während ich mir die Menschen hier genau anschauen werde und versuche, mein Möglichstes zu tun.“ Das Wissen über den Menschen, dessen Krankheiten und die Möglichkeiten der Heilung derselben waren im Norden Nordgondias noch nicht sonderlich ausgeprägt. Dieser Umstand war Anka wohl bewusst. Wenn aber jemand etwas ausrichten konnte, dann Olafson, der Heilkundige, mit seinen herausragenden Kenntnissen über die Natur, deren hervorgebrachte Heilkräuter und die dazu möglichen Behandlungen. Auch wusste sie, dass der alte Mann in unregelmäßigen Abständen mit Gelehrten des Südens in Verbindung trat. Diese waren schon immer weit fortgeschrittener bei der Behandlung Kranker und Bedürftiger gewesen und tauschten ihr umfangreiches Wissen gerne mit Olafson aus.

Das Mädchen ging in eine der abgeschiedenen Ecken des Oberdecks und wartete dort das Eintreffen Lolles ab. Vor kurzem hatte dieser ebenfalls das Deck des Schiffes betreten und wandte sich nun zielstrebig Anka zu. Anscheinend konnte er Gedanken lesen, denn er trug eine leichte Decke mit sich und legte diese sogleich seiner fröstelnden Freundin um die Schultern. Zusammen beobachteten sie anschließend still das wissenschaftliche Arbeiten des Gelehrten.

Olafson kümmerte sich zunächst um Life. Zwei Fischer hatten ihn zwischenzeitlich vorsichtig von dem Steuerrad herunter gehoben und behutsam auf ein extra zuvor auf den Deckplanken ausgebreitetes großes Tierfell gelegt. Der Heilkundige begann seine Tätigkeit damit, dass er das geschnürte Leinenhemd des Kapitäns öffnete und sich kurz seine Hautoberfläche besah. Dann entnahm er aus seiner mitgebrachten Tasche aus Tierleder ein metallenes, längliches Rohr, welches am unteren Ende wie eine Fanfare geweitet war und presste dieses breitere Stück auf die Brust des leblosen Forschers. Das andere schmale Ende führte er an sein eigenes Ohr und anschließend lauschte er ausgiebig an dem goldglänzenden Gerät. Dabei hielt er noch zwei Finger an Lifes Hals und begann sichtbar leise zu zählen. Nach kurzer Zeit beendete er diese Art der Untersuchung und zog anschließend zuerst das eine und dann das andere geschlossene Augenlied des Mannes auf. Olafson brummte zufrieden, als er wiederum in seine Tasche griff, um daraus ein kleines gläsernes Fläschchen hervorzukramen. Mit seinen knochigen Fingern zog er den Korken, mit dem der flüssige und grünliche Inhalt des Gefäßes vor dem Auslaufen gesichert war, heraus, hob Lifes Kopf leicht an und hielt das kleine Fläschchen diesem dann unvermittelt unter die Nase. Anscheinend stellte sich aber nicht das erhoffte Ergebnis ein, denn das Gesicht des Gelehrten verdunkelte sich wieder etwas, nachdem sich keinerlei Reaktionen bei dem Behandlungsbedürftigen zeigten. Im Anschluss daran untersuchte er noch gründlich die Hände und den Kopf des Mannes, um sich dann den anderen Mitgliedern der Besatzung zu widmen. Auch hier wiederholten sich in ähnlicher Art und Weise seine Handlungen und nachdem er den letzten der Mannschaft untersucht hatte, winkte er Anka zu sich. „Anka“, begann er, „ich kann dir sagen, dass dein Vater sowie all die anderen Männer am Leben sind.“ In seinen Augen spiegelten sich Hoffnung und Ratlosigkeit zugleich. „Allerdings befinden sie sich wohl in einem Zustand des tiefen und traumlosen Schlafes, denn sie atmen nur sehr flach und reagieren auch nicht, wie du vielleicht bemerkt hast, auf äußere Reize. Zu den großflächigen und blauen Verfärbungen auf ihrer Haut kann ich mir noch keinen Reim machen. So etwas habe ich in meinem langen Leben noch nie gesehen, geschweige denn behandeln müssen. Ich werde nun dem Ältestenrat vorschlagen, dass dein Vater und alle Mitglieder seiner Besatzung in mein etwas abseits gelegenes Haus gebracht werden sollten. Sie stehen dann dort unter meiner ständigen Beobachtung und bei Bedarf kann ich die Männer auch sofort behandeln. Mache dir bitte jetzt nicht allzu viele Sorgen und düstere Gedanken, mein Kind! Ich denke, dass uns eine Lösung des Rätsels einfallen wird und du bald wieder deinen Vater in den Armen halten kannst.“ Mit diesen Worten packte Olafson seine Tasche und hielt Ausschau nach der Gruppe des Ältestenrates.

Nun gab es für Anka kein Halten mehr und sie lief mit wehenden Haaren hinüber zu ihrem bewusstlosen Vater. Dort angekommen streichelte sie diesem zärtlich über seine schulterlangen, blonden Haupthaare und flüsterte dem am Boden liegenden Mann liebevoll einige leise Worte in sein Ohr. Schweren Herzens wandte sie sich dann von dem geschundenen Körper ihres Vaters ab und ging zu Lolle. Sie bat diesen, zusammen mit ihr das Schiff zu verlassen. Fast hatten die beiden schon das Ende der hölzernen Rampe erreicht, als ein markerschütternder Schrei sie zum sofortigen Umkehren zwang. Auf dem Schuhabsatz drehten sich die beiden Kinder um und stürmten zurück an Deck. Auch andere Dorfbewohner, die sich noch im Hafenbereich aufhielten, hatten offensichtlich den gellenden Schrei vernommen. Einige Fischersleute, die wohl schon auf dem Weg nach Hause waren, änderten ebenfalls ihre Richtung und liefen sichtlich erschrocken zurück zu der noch immer ruhig an der Kaimauer liegenden Kogge. Als Anka und Lolle erneut auf dem Oberdeck des Schiffes standen, fiel den beiden sofort die leicht veränderte Situation auf. Ein junger Kerl, der noch das Handwerk eines Fischers erlernte, stand zitternd vor einer geöffneten, hölzernen Truhe, welche mit dunklen, eisernen Beschlägen versehen war und die etwas abseits verdeckt stand. Die Kiste musste wohl unverschlossen gewesen sein, denn dem Augenschein nach führte der junge Fischer kein Öffnungswerkzeug oder dergleichen mit sich. Das Blut war fast vollständig aus dem Gesicht des Jünglings gewichen, seine Augen starr vor Schreck geweitet und der Mund weit geöffnet, so als sei der Schrei in seinem Hals auf halben Wege stecken geblieben. Niemand sonst hatte sich vorher für diese auf dem Oberdeck befindliche Holzkiste interessiert und Lolle fragte sich insgeheim, was wohl so Schreckliches darin liegen könnte, das einen solchen Schrei gerechtfertigt hätte. Als sich die beiden Kinder vorsichtig der Truhe genähert hatten, riskierten auch sie einen scheuen Blick hinein. Augenblicklich konnten sie den Lehrjungen verstehen. Zwei riesige, kreisrunde, feuerrote und äußerst böse wirkende Glupschaugen starrten dumpf die drei Menschen an. Sie gehörten zweifelsohne einem leblosen Fisch. Nur, dass weder Anka, noch Lolle, noch der Lehrling jemals in ihrem Leben zuvor ein derart abscheuliches Unterwassertier gesehen hatten. Ungenau betrachtet hätte jemand, von den Glupschaugen und der Größe einmal abgesehen, zu dem Ergebnis kommen können, dass es sich bei dem vermutlich toten Lebewesen um die heimische Art eines heimtückischen Raubfisches handeln müsste. Der rabenschwarze und stromlinienförmige Körper des Fisches sowie das dazu passende längliche und mit spitzen weißen Zähnen bewehrte Maul des Tieres entsprachen nämlich in etwa dieser heimischen Gattung. Jedoch war die Oberhaut komplett mit kleinen, schwarz schillernden Schuppen besetzt, die äußerst stabil und wehrhaft wirkten. Zusätzlich zeigte sich die Schwanzflosse extrem kräftig ausgebildet. Auch die übrigen Flossen, wie zum Beispiel die Rückenflosse, waren viel zu deutlich ausgeprägt und für den restlichen Körper wesentlich zu groß geraten. Das Tier besaß auch eindeutig zu üppig dimensionierte Kiemen und als Besonderheit wiesen die Kiemendeckel noch dazu eine Vielzahl von langen, spitzen sowie scharfen Dornen an ihren Enden auf. All dies deutete darauf hin, dass es sich eben nicht um einen einheimischen Raubfisch mit dem bezeichnenden Namen „Fänger“ handelte. Das auffälligste und Angst einflößendste Element an dem Unterwasserwesen blieben aber seine hervorquellenden, übergroßen feuerroten Augen. Beim genauen Hinsehen entdeckte Lolle eine Vielzahl von winzigen schwarzen Einschlüssen in dem Gewebe der Sehorgane. Wozu diese dienten oder ob sie nur eine verspielte Laune der Natur gewesen waren, vermochte auch später keiner der Anwesenden sicher sagen zu können. Der Größe nach zu urteilen musste der Fisch bereits ein stattliches Alter erreicht haben. Obwohl der Körper des Tieres stark zusammengekrümmt war, reichte kaum der Platz dieser Truhe mit den Ausmaßen von zwei Metern Länge, einem Meter Breite und einem Meter Höhe aus.

Als einer aus der zwischenzeitlich erneut groß angeschwollenen Menschenansammlung laut rief: „Holt schnell den alten Johannsen! Der muss den Fisch doch kennen!“, kam eine rege Bewegung in die Menge. In Ankas Kopf spukten derweil Hunderte von unbeantworteten Fragen umher: „Was hatte es mit diesem Fisch auf sich? Warum lag er in einer Kiste, welche verdeckt auf dem Oberdeck stand? Trug der Fisch eine Krankheit in seinem Inneren, mit der sich ihr Vater und seine Männer vielleicht infiziert haben könnten? Ist dieses Tier überhaupt ein Fisch? Oder besser, konnte dieses Ding überhaupt jemals lebendig gewesen sein?“ Selbst Lolle, der ansonsten immer einen lockeren Spruch parat hatte, war im Moment völlig sprachlos. „Ja sicher, Life war mit Leib und Seele ein Forscher“, überlegte er sich. Er kannte den Mann aber nur als einen äußerst umsichtigen und vorsichtigen Menschen, der selten ein nicht kalkulierbares Risiko eingegangen war. „Hatte Life tatsächlich ein derart unbekanntes und gefährlich wirkendes Lebewesen an Bord genommen? Und wenn ja, wozu überhaupt?“

Als kurze Zeit danach Johannsen eintraf und vor der geöffneten Truhe stand, um sich das „Ding“ aus nächster Nähe zu besehen, stutzte er zunächst, was für die Umstehenden jedoch kaum merkbar war. Nachdem er aber den sehr kurzen Moment seiner Sprachlosigkeit überwunden hatte, pfiff Johann anerkennend durch seine gelblichen Zähne. Wie so meistens steckte in seinem Mund eine kleine Pfeife aus weißem Walfischknochen und auf seinem Kopf trug er eine Kappe. „Ich enttäusche euch alle zwar äußerst ungern“, begann er nach einer längeren Betrachtungszeit, „doch so einen Fisch kenne ich nicht.“ Er kratzte sich scheinbar etwas verlegen und unsicher an seinem grauen Kinnbart. „Ich könnte ihn aber ausnehmen”, schlug er vor „und dabei vielleicht Dinge entdecken, die uns etwas über dieses zugegebenermaßen seltsame Wesen verraten könnten.“

Die Dorfältesten, die zu einer geschlossenen Gruppe dicht beisammen standen, diskutierten kurz den überraschenden Vorschlag des alten und erfahren Seefahrers. Sie wogen sorgfältig die Risiken und den vermutlichen Nutzen einer solchen Öffnung des Fisches ab und kamen zu dem Schluss, dass Johannsen weiter so verfahren sollte, wie er es für richtig hielt. Mit dieser Entscheidung sichtlich zufrieden ließ der ehemalige Seemann den schweren Kadaver von vier kräftigen Helfern aus der Kiste hieven und auf die Deckplanken legen, als er durch einen erneuten Schrei von seiner weiteren Tätigkeit jäh gestoppt wurde. Diesmal aber war es ein wütender, ja fast schon derber Aufschrei gewesen, der die Aufmerksamkeit aller Anwesenden erregte. An Deck stand, scheinbar wie aus dem Nichts erschienen, ein älterer, untersetzter und dicklicher Mann, der gänzlich in einem purpurroten, festlichen Gewand gekleidet war. Auf seinem Haupt trug er in passender Farbe eine kleine, runde Kappe, die nur den Mittelpunkt seines lediglich mit einem schmalen Haarkranz bewachsenen Kopfes bedeckte. Am Ringfinger der rechten Hand glänzte ein mächtiges goldenes Schmuckstück, dessen Zentrum einen großen weißen Edelstein in Form eines Kreuzes beherbergte. Der rote und mit einem breiten goldenen Band umsäumte bodenlange Umhang flatterte im lauen Abendwind nur ein wenig. Deutlich war an dem Gesichtsausdruck des korpulenten Mannes erkennbar, dass er unendlich wütend sein musste. Ein Raunen ging durch die versammelte Menschenmenge: „Der Deutende!“

Der Deutende war der Dorfgeistliche Walkands und wurde deswegen so gerufen, weil er die uralten und ehrwürdigen Aufzeichnungen Gottes und seiner Gefährten deuten konnte. Um diese Gabe zu erlangen, hatte er in jungen Jahren weit abgelegene Klöster aufsuchen müssen. Dort erhielt er jenes Wissen, das er für die Auslegung der heiligen Schriften benötigte. Vertiefen musste er diese frisch erworbenen Erkenntnisse über lange Jahre hinweg in völliger Abgeschiedenheit in einer winzigen Zelle eines dieser Klöster. Seine momentane Aufgabe ermöglichte es ihm, einen gewissen Einfluss auf das menschliche Zusammenleben des Dorfes Walkand nehmen zu können. Ausüben musste er diese Machtfülle aber nicht all zu oft. Nur ab und an sprach er ein lautes und deutliches Wort, um einen, in seinem und im gedachten Sinne Gottes, geordneten Ablauf in der Dorfgemeinschaft wiederherzustellen. Für die Bewohner Walkands war der Deutende selbstverständlich eine Respektsperson. Er wurde nicht gefürchtet, aber doch immer würdevoll und mit Ehrfurcht behandelt. Auch sorgte die gesamte Dorfgemeinschaft für das Wohlergehen des Mannes.

Diesmal jedoch übte der dickliche Mann mit dem rundlichen Gesicht heftige und öffentliche Kritik. „Ihr Wahnsinnigen! Ihr Ketzer zum Verdruss unseres ehrenwerten heiligen Gottes! Ihr Anbeter der Dunkelsten aller Dämonen!”, schrie es aus ihm wütend heraus. „Habe ich euch nicht immer vor so etwas gewarnt? Habe ich euch nicht gebeten, ja sogar angefleht, derartige Unternehmungen zu unterlassen? Jetzt habt ihr das Ergebnis dieser lästerlichen Tätigkeit vor euch liegen!” Der Deutende zeigte mit beiden Händen auf die am hölzernen Deckboden liegenden regungslosen Männer. „Das gesamte Dorf wurde durch diesen ruchlosen Frevel unglückselig verflucht und wenn überhaupt, wird es uns nur schwer gelingen, den weisen Gottvater und alle versammelten Heiligen sowie Gefährten wieder zu besänftigen. Life und seine Männer sind bereits verloren. Sie wandern nun in dem tiefen Tal der ewigen Finsternis und Furcht“, fuhr er fort. „Ihr aber könnt hier und jetzt innehalten. Noch ist es nicht zu spät. Hört auf mit eurem Tun! Hört auf mit der Erforschung des bösen Unbekannten! Wendet euch wieder dem stets gnädigen Gott zu und huldigt gemeinsam den heiligen Schutzpatronen unserer Vorfahren in unserer gesegneten Gemeindekirche.” Der Deutende holte hörbar tief Luft. „Ich sage euch: Verbrennt das Boot und übergebt das Böse in der Gestalt dieser abartigen Wasserkreatur dem Feuer! Begrabt die lebendigen Toten und wagt es ja nicht Aufzeichnungen über diese schändlichen Ereignisse zu führen!“ Ohne noch eine Antwort oder Regung der angesprochenen, Menschenmenge abzuwarten drehte sich der Deutende abrupt um und verschwand so schnell, wie er zuvor erschienen war. Seine Worte jedoch hallten nach wie ein Donnerschlag.

Etwas konsterniert und mit deutlich mehr Falten als sonst auf seiner Stirn wandte sich Johann erneut seinem Untersuchungsobjekt zu und begann wie in Trance, langsam seine Arbeit wieder aufzunehmen. Er dachte nur einen kurzen Moment daran, vielleicht doch die eindringlichen Worte des Deuters zu beherzigen. Da aber weder der immer noch vollständig anwesende Dorfrat noch all die anderen irgendwelche Anstalten machten, den Worten des Deuters Folge zu leisten, verwarf auch er wieder diesen Gedanken. Life und seinen Männern musste geholfen werden!

„Seltsam“, brummelte dann Johannsen, während er sorgfältig die schuppige Haut des Wesens erkundete, „obwohl das Tier mit Sicherheit bereits vor längerer Zeit verendet sein musste und in dieser Truhe aufbewahrt wurde, kann ich keine Zeichen des Todes entdecken. Die schuppige Haut ist fein glänzend und weist auch noch die charakteristische Schleimschicht zum Schutz der sensiblen Fischhaut auf.“ Johannsen beugte seinen Kopf und ließ seine Nase bis knapp über die Fischhaut sinken. „Auch hat der Körper bislang keinerlei derbe Verwesungsgerüche entwickelt.“ Johann ließ den Fisch auf den Rücken drehen und forderte seine Helfer auf, den Leib mit ihren Händen sicher festzuhalten. Anschließend zog er sein eigens mitgebrachtes stabiles Fischmesser aus der Lederscheide und setzte gekonnt einen Stich knapp unterhalb des Kopfendes auf Höhe der dornigen Kiemendeckelenden an. Das heißt er wollte, denn das überaus scharfe und spitze Messer vermochte nicht, die schuppige Haut zu durchstoßen. Verwundert setzte er noch einmal an und musste wiederum erfolglos abbrechen. Es gelang ihm nicht die Hautoberfläche zu durchstoßen und einen langen Schnitt durch die Bauchdecke bis zur Schwanzflosse zu ziehen. Der alte Seebär wies barsch die Männer an, den Fischkörper loszulassen und verschwand für kurze Zeit im Inneren des Bootes. Nur wenige Augenblicke später kehrte er mit einer scharf geschliffenen Axt und einem schweren Hammer zurück. Die Männer hievten auf Johanns Anweisung erneut das tote Tier auf den Rücken, krallten sich daran fest und der ehemalige Seemann legte an derselben Stelle wie zuvor die Axt mit einer ihrer spitz zulaufenden Kanten an. Mit einem wuchtigen Schlag auf das Werkzeug durchdrang die Axtspitze die schuppenbewehrte Haut sowie das rohe Fleisch. Rotes Fischblut spritzte sogleich aus der Öffnung auf Johannsen sowie auf dessen tapfere Helfer. Angewidert schüttelten sich Johanns Helfer. Johannsen jedoch zog völlig unbeeindruckt, aber sichtlich zufrieden die Axt aus dem Körper heraus und legte sie etwas beiseite. Jetzt endlich gelang ihm der Schnitt, den er bereits zuvor so elegant setzen wollte. Beide Hände zu Hilfe nehmend und bis zu den Oberarmen im Körper des Tieres steckend, entnahm Johannsen dem Fisch mit einem satten, schmatzenden Geräusch die blutigen Innereien und legte sie in ein eigens bereit gestelltes weites Gefäß aus gebranntem Ton. Ein seltsam scharfer Geruch breitete sich dabei in der Luft aus. Anka rollte dabei etwas mit ihren Augen. Ihr Magen schien wohl mit dieser rauen Prozedur nicht einverstanden zu sein, aber sie wollte sich wacker schlagen und blieb kerzengerade stehen.