Reimer Boy Eilers

 

 

Ebenholz

und schwarze Tränen

 

 

Yakub Singer ermittelt

 

 

 

 

 

Kadera-Verlag

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Reimer Boy Eilers

Ebenholz und schwarze Tränen

Yakub Singer ermittelt

 

© 2015

Kadera-Verlag, Norderstedt

www.kadera.de

 

Die Urfassung erschien 1990 unter dem Titel

»Die schwarze Prinzessin«

Diese Fassung wurde aufgrund der Themen-Aktualität

vom Autor umfänglich aktualisiert.

 

Covergestaltung: Günther Döscher (Kadera-Verlag)

mit Grafik von Windy Li, Rin (fotolia) und Gorbach Varvara (shutterstock)

 

ISBN 978-3-944459-46-2 (E-Book Kindle)

ISBN 978-3-944459-45-5 (Taschenbuch / Juni 2015)

 

 

Zu diesem Buch

Dr. Bill Paddy war Mitglied einer Delegation aus Liberia, die am jährlichen Kongress der deutschen Edelholzimporteure in Hamburg teilnimmt. Jetzt ist er tot, ertrunken im Hafen. Wenn es ein Unfall war, dann hat es ausgerechnet einen entschiedenen Kritiker des Raubbaus an Edelhölzern aus der Dritten Welt getroffen.

Timus Wallraven war ein Star des deutschen Heimatfilms. Jetzt ist er aktiv im Kampf zur Rettung des Regenwaldes engagiert. Ohne ihn wären die Liberianer vielleicht nie auf diesen Kongress gekommen. Er fühlt eine moralische Verpflichtung, das Schicksal Dr. Paddys zweifelsfrei aufzuklären.

Yakub Singer verdient sein Geld in der Detektei Dr. Leo Seiler. Wallravens Auftrag bringt ihn um seine freien Tage. Dafür lernt er eine leibhaftige Prinzessin kennen und erfährt von ihr, was die größte Blume der Welt mit dem Regenwald zu tun hat.

Aber die Gelegenheiten für den Privatermittler, seine botanischen Kenntnisse zu vertiefen, sind begrenzt. Die Ereignisse drohen sich zu überstürzen, denn die Teilnahme an dem Kongress der Edelholzimporteure scheint genauso gefährlich zu sein, wie der Kontakt mit Agent Orange, einem krebsauslösenden Entlaubungsmittel der Amerikaner aus dem Vietnamkrieg. Noch anders gesagt: Das Ganze ist ein Kinderspiel, aber ein sehr spezielles. Nämlich das von den zehn kleinen Negerlein.

 

 

Pulp Fiction und Bütten

haben wir durchlitten.

 

Yakub Edel Singer

 

 

***

 

 

Über allen Gipfeln

Ist Ruh,

In allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest du auch.

 

Johann Wolfgang von Goethe,

deklamiert von Miss Eleonore Rosebud

auf dem Kongress der deutschen Tropenholzimporteure

 

 

 

Aus der schwarzen Ecke der Windrose

Auch aus der schwarzen Ecke der Windrose enden die Geschichten geradewegs im Hafen. Warum sollte es in diesem Winter anders sein? Am Afrikahöft, wo Eisschollen knirschend in die Strömung schwenkten, trieb eine Ratte mit hinaus in die offene Fahrrinne. Warum ich das erwähne? Logisch – ein perfekt korrekter Ermittler liefert seinen Kunden Berichte, die aus der Unmenge an Beobachtungen mehr als ein Groschenprotokoll machen. Also Ambiente oder »ß-timmung«, wie wir in Hamburg sagen. Stimmung mit spitzem EssTee. Eistee. Eins meiner Hamburger Lieblingslieder geht so: Stimmung, Stimmung und Humor. Im Original begleitet von einer Quetschkommode, und die Lyrik dargeboten von Richard Germer als superhumorvollem Tenor. Im Lokal zur Prallen Emmy ist mal wieder Remmidemmi ...

Wir sind nun aber nicht im warmen Mief einer Kiez-Kneipe, sondern im arschkalten Hafen, und da geht mein Blick wieder zur Ratte. Der Nager zitterte hungrig auf dem Treibeis. Er war bei anbrechender Dunkelheit aus der Bilge eines Überseeschiffs gekrochen und hatte noch nie den Hamburger Winter erlebt. Sein Zeitfenster schloss sich in bestürzender Weise, es war zu schmal für die Neugier, um sich noch zu adaptieren. So haben Nager, Bücher und Menschen ihre Schicksale.

Wie der Urhamburger Richard Germer singt: Kleine Panne, kommt mal vor ... Wo kein Ball ist, fällt kein Tor. Stimmung, Stimmung und Humor.

Im Holzhafen am Reiherstieg löschte die MS Southern Star Festmeter um Festmeter an Bongossiholz. Es gibt immer Auftraggeber, die sich verschärft für Dinge interessieren, die im Hafen geschehen. Deshalb erwähne ich diese Umstände gerne. Bongossiholz ist eisenhart. Es wird speziell für Wasserbauarbeiten verwendet. Ein perfekter anti-ökologischer Kreislauf. Man schlägt die Bäume in den Tropen, um dann mit ihrem Holz in Mitteleuropa Bäche in Abflussrinnen zu verwandeln.

Soviel zu meinem Marketing, und wenn das Drumherum neben der Kundenorientierung kein Erkenntnisgewinn ist, was dann? Das Bongossiholz gehört ja nicht direkt zu diesem Fall. Weil es kein Edelholz ist. Aber es dient mehr noch als die Äquatorratte zur Einstimmung. Bei dem Tierchen kann der Klient, dem ich meinen Bericht rüberschiebe und für den er im Gegenzug gut löhnen soll, erschrocken mitfühlen, wie schlimm es ist, wenn man sich im Winter nicht auf dem Kai, sondern buchstäblich im Hafen darunter befindet. Dann ist auch schon Schluss mit lustig, die Geschichte vorbei, während Tropenholz ja das Generalthema in diesem Fall abgibt. Wäre ein Basso continuo sozusagen, wenn das Bongossiholz zur Abwechslung mal zu einer wohltemperierten Marimba, statt zur misslichen Rinne verarbeitet wird.

Mein Gewerbe hält sich demnach mit einer Mischung von Fakten, Fantasie und Kundenfang über Wasser. Unser Kunde war damals Timus Wallraven. Wir brauchten ihn gar nicht zu fangen, denn er kam freiwillig. Und ich sage auch gleich, warum:

a) Unser fantastischer Ruf.

b) Es ging um Mord im winterlichen Hafen,

rein ins kalte Wasser, logisch.

Also die Kacke war am Dampfen, jetzt mal mit einem schiefen, weil zu warmem Bild gesprochen. Timus Wallraven heißt in Wirklichkeit natürlich anders, weil ziemlich prominent, und es genügt, wenn ich als Ziel seines Vereins den radikalen Naturschutz angebe.

Den Mord habe ich klaro nicht gesehen, er war schon passiert, als Wallraven zu uns kam, denn er war ja die Ursache seines Besuches. Puh, verwickelt. Aber Moment, ich beschreibe den Fall gleich so lebendig, wie ich die Umstände aufklären konnte. Naja, lebendig ist nicht immer der passende Ausdruck. Aber ich denke, dass der Bericht unserem Klienten das Geld wert ist. Auch freiwillige Kunden müssen bei der Stange gehalten werden. Noch sind wir ja bei der Stimmung.

Weiter oben am Reiherstieg, Richtung Steinwerder, lugte die Frau durch das offene Bullauge in die Pantry eines Frachters. »Have you many friends?«

Der Schwarze wiegte den Kopf. »Come back tomorrow.«

Hier darf der Leser nun nicht den ersten Eindruck für bare Münze nehmen. Die Frau ist keine Nutte, und der Mann, der einige Schritte entfernt am Kotflügel des Wagens lehnt, ist kein Zuhälter. Die beiden handelten zu der Zeit gerade mit Uhren, elektronisch und zollfrei. Zwanzig Euro, aber der Schwarze wollte nur fünf geben, und jetzt ging es um den Mengenrabatt.

Wir gehen endlich, ich sage nicht genau an welchen Kai: Nehmen wir an, irgendwo auf dem Kleinen Grasbrook zwischen Reiherstieg und Afrikahöft. Es ist kalt unter dem Mond und den Peitschenlampen. Und manchmal ist es auch stockfinster. Geduld ist das reinste Kapital für den Schnüffler. Bleib im Schatten der Backsteinmauer stehen und beobachte, mein Junge. Eine schwarze Wolke schiebt sich irgendwann über den Himmel. Vergiss die gefakten Uhren, die Schieber und sonstigen Eierdiebe. Sobald die Sicht wieder frei wird, hängt der Mond blass und starr vor einem Kran am Haken. Er bescheint auch den Nager auf dem Eis, der jetzt sehr müde ist und alle Viere von sich gestreckt hat. So enden hier Geschichten, bevor unser Geschäft anfängt.

 

Das Licht glitzerte auf dem Wasser

Das starre Mondlicht glitzerte auf der Wasserfläche. Dr. Bill Paddy stand auf einem der alten Kais östlich des St.-Pauli-Elbtunnels im Freihafen, und blickte hinaus auf die Fahrrinne. Er war tief in Gedanken versunken.

Vor einer reichlichen Stunde hatte er bei Einbruch der Dunkelheit den Kongress der Edelholzimporteure verlassen, um einen Spaziergang zu machen. Er würde rechtzeitig zum Kalten Buffet zurück sein. Durch den Tunnel war es nicht allzu weit bis zum Hotel oberhalb der Landungsbrücken.

Der zweite Mann drückte sich in den Schatten der Werfthalle, die längst nicht mehr benutzt wurde und nun allmählich verfiel. Vorn auf dem Kai brannte eine armselige Laterne. Eduard Loblich verwünschte den Vollmond. Er liebte die Finsternis. Aber die blasse Scheibe am Himmel sollte ihn nicht von seinem Auftrag abhalten.

Behutsam zog er die schwarz-weiß gestreiften Handschuhe aus seiner Manteltasche. Eduard Loblich war ein Spezialist und gesucht. Seine Brutalität versteckte er hinter extravaganten Accessoires. Oder was man in gewissen Kreisen dafür hielt. Jedenfalls konnte er sie sich leisten.

Wie die Ereignisse im Detail abliefen, wie genau die Situation kippte (und Dr. Paddy mit ihr), kann ich natürlich nicht wissen, weil, ich war schließlich nicht anwesend, Gott sei Dank. Aber so stelle ich mir das vor; die Hand darauf. Und ich muss es am besten wissen, weil niemand sonst den Fall so genau kennt. Ich habe meine Haut dafür zu Markte getragen, um alles ganz genau zu erfahren. Na ja, okay, nicht hundertpro ehrlich, meine Vorstellung, die habe ich auf den Punkt gebracht wegen dem Kundendienst, das Thema hatten wir schon. Und wegen Herrn Dr. Seiler, meinem Chef, weil, wie der seine Detekteiberichte schreibt, das kann ich besser.

 

Niemand konnte jetzt Dr. Bill Paddy mehr retten – behaupte ich mal. Sicher, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber wir müssen realistisch bleiben. Mit schmalen Augen blickte der Killer nach vorn. Sein Opfer stand etwa zwanzig Schritte entfernt, direkt an der Kante des Kais. Tief unter ihm schob sich das Eis in die Elbe. Und hier kommt nun die Parallele mit dem Nagetierchen vom Äquator und dem schmalen Zeitfenster, außerdem gibt es ja dieses berühmte Buch Von Menschen und Mäusen, weshalb ich den Nager in meinem Bericht erwähnt habe.

Dr. Paddy schlug den Kragen seines Kamelhaarmantels hoch. Er war die winterliche Kälte Hamburgs nicht gewohnt. Schräg gegenüber am anderen Ufer, neben dem neu aufgeputzten grünen Segelschiff, lag die Überseebrücke. Früher die letzte Station für ungezählte weiße Auswanderer nach Amerika. Drüben dann die Ankunft auf Ellis Island. Manhattan und die Freiheitsstatue. Amerika. Paddys eigene Vorfahren waren an vergessenen Palmenstränden in die Boote getrieben und auf Sklavenschiffen über den Atlantik geschafft worden. Nicht nach Ellis Island – in die Südstaaten.

Später waren viele Schwarze mit Hilfe von Nordstaatlern, die für die Abschaffung der Sklaverei kämpften, nach Afrika zurückgekehrt. Die ehemaligen Sklaven hatten dann Liberia mit der Hauptstadt Monrovia gegründet. Die Stadt nannten sie nach dem damaligen amerikanischen Präsidenten Monroe.

Dr. Bill Paddy war Beamter der Forstverwaltung in dem westafrikanischen Staat. Er nahm mit einer Delegation aus Monrovia an dem Kongress der bundesdeutschen Edelholzimporteure teil. Unversehens schreckte er aus seinen Gedanken auf. Das Gefühl einer teuflischen schwarz-weißen Gefahr in seinem Rücken überflutete ihn. Sein Nacken verspannte sich. Er drehte den Kopf zur Seite. Wie Gitterstäbe nahmen sich die Hände aus, die auf ihn zustießen.

Und vor ihm lag der Abgrund.

»Don‘t«, stammelte er. »Please, no ...«

»Oh, doch ...«, flüsterte der Killer.

Dr. Bill Paddy hörte es schon nicht mehr. Mit einem dumpfen Klatschen tauchte sein Körper in das eiskalte Wasser der Elbe und verkeilte sich zwischen den treibenden Schollen.

 

Die freien Tage waren futsch

Vor mir lagen zwei freie Tage. Ich nahm die letzten Stufen der Außentreppe mit einem Schritt.

Keine Frage, spätestens der Abschlussbericht muss auf eine bestimmte Version angelegt sein. Sonst hält die Unzufriedenheit Einzug, und der Kunde grübelt. Und zwar nicht über die Undurchsichtigkeit der Welt, sondern darüber, dass er den Falschen beauftragt hat. Menschen hassen alles, was mit Unsicherheit zusammenhängt: die Zukunft, das Wetter, die Börse. Und Berichte, für die sie teuer bezahlt haben und in denen steht: Es könnte so sein, es könnte aber auch anders gewesen sein. Der Mensch möchte an die Hand genommen werden, wie einst in der Kindheit. Es geht in unserer Branche also nicht um die Wahrheit, die ohnehin überschätzt wird, sondern um den Verkauf einer Dienstleistung, das hat mittlerweile jeder erkannt. Die Fakten müssen stimmen, das ja. Dafür ermitteln wir. Und dann müssen sie zum Sprechen gebracht werden.

Mein Büro im Hochparterre hatte ich hinter mich gebracht und quasi bereits vergessen, so war meine Stimmung, als ein Fenster klappte.

»Herr Singer, du sollst noch mal rauf zum Chef!«

Die Stimme gehörte Elfriede, der Sekretärin von Dr. Leo Seiler. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick die belebte Ehrenbergstraße hinunter und seufzte.

 

Bei Seiler im zweiten Stock des baufälligen Hauses (Chefetage, bah) roch es nach Eukalyptus. Ein großer dünner Mann saß vor Seilers Schreibtisch, eine Hand in der ausgebeulten Tasche seines Cordjacketts vergraben, das auf diese Weise über dem Bauch sperrte, trotz der Magerkeit seines Trägers. Er raschelte mächtig mit der verborgenen Hand und zog einen grün eingewickelten Eukalyptusbonbon hervor, den er auswickelte und in den Mund steckte, ohne abzuwarten, bis Seiler mich vorstellte. Sein Unterkiefer bewegte sich dabei gerade soweit, dass der grüne Bonbon aus dem grünen Papier hindurch passte.

Als er damit fertig war und aufstand, streckte er mir die Hand an einem langen dünnen Arm entgegen. Ich hatte den Geruch in der Nase und eine plastische Vorstellung davon, dass der Eukalyptus einer der am schnellsten wachsenden Bäume auf dieser runden Erde ist. Aber ich hatte im gleichen Moment, tüddelüt noch mal, keine Ahnung, wo ich dieses Wissen aufgeschnappt hatte oder wozu es mir jemals dienen sollte.

»Freut mich«, sagte der dünne Mann. Das trieb mir eine weitere Wolke Eukalyptus-Aerosol entgegen.

Das Händeschütteln gab mir Gelegenheit, einen Blick auf die Uhr zu werfen, die mit einem schlichten schwarzen Lederarmband an seinem dünnen Handgelenk hing, bevor der Ärmel des Jacketts wieder darüber glitt. Es war eine Ulysse Nardin, die Edition Astrolabium Galileo Galilei, ein teuflisches Wunderwerk, das nicht nur die gesetzliche und die Lokalzeit lieferte, sondern gleichfalls die Aspekte der Gestirne, Mondphasen und alle Arten von Finsternissen, auf Jahre und Jahrzehnte hinaus. Ein Exemplar dieser Art von Chronometer war mir mal im Zusammenhang mit einem Versicherungsfall am Jungfernstieg unter die Augen gekommen. Sonst hätte ich mich nie für das Ding interessiert, denn mit meiner Arbeit war das Schaustück nicht zu kaufen.

Und da baumelten vierzig- bis fünfzigtausend Franken am Handgelenk des dünnen Mannes. Das brachte mich vom Eukalyptus in die Realität zurück.

Ich schaute über das Häuflein von grünem Bonbonpapier, das unser neuer Kunde produziert hatte, auf die andere Seite des Schreibtisches und registrierte, dass Dr. Leo Seiler sich das Rauchen verkniff. Er spielte gequält mit einem Bleistift. Die Spitze deutete momentan auf den zweiten Besuchersessel.

Ich schwang mich salopp hinein, ich hatte ja eigentlich frei. »Dies ist ein grobes Missverständnis«, sagte ich. »In diesem Land ist die Leibeigenschaft abgeschafft und die Freizeit heiliggesprochen. Und daran ändern auch kleine Klitschen ohne Betriebsrat nichts. Ich habe seit fünf Minuten Feierabend.«

Seiler verzog keine Miene. »Tut mir leid. Aber der Fall ist sehr delikat.«

Ich musste mich beherrschen. Ich mochte seine kulinarische Sprache nicht, und ich vermied einen direkten Blick in das fleischige Gesicht mit dem übertriebenen Mund. Seiler spitzte die Lippen, wo es um Frauen ging, und schürzte sie kummervoll beim Thema Geld, oder das Thema Frauen machte ihm Kummer und das Geld ihn vergnügt. Im Vorhinein war die Geschmackssache nie ausgemacht. Immer aber stand bei diesem Mund zu befürchten, dass er alles Appetitliche wahllos hinunterschlingen würde.

Besonders liebte es Dr. Allwissend, als in Salz-und-Pfeffer gekleideter Buddha hinter seinem Schreibtisch zu hocken und Recherchen auf Lücken hin zu überprüfen. Sein Mund arbeitete, seine Glatze glänzte, ein Spiegel der Weisheit. Ich stellte mir in diesen Momenten jedes Mal vor, wie ich seinen behaarten Bauch rasieren würde. Was man als Angestellter so für Fantasien hat.

Kurz, für mich ist es der Tiefpunkt meiner Arbeit, wenn ich Seiler einen Fallbericht abzuliefern habe. Denn wir sind auf schriftlichem Gebiet wie Hund und Katze. Mein Verhältnis zu unseren Recherchen ist ein geschäftsmäßiges, wie schon beschrieben. Ich reichere höchstens das Umfeld an, um die Glaubwürdigkeit von wackligen Vermutungen zu erhärten. Dr. Leo Seiler aber ist ein verkappter Künstler der Kriminalgeschichte. Er malt die leeren weißen Stellen aus. Und er hat eine Vorliebe für Adverbien.

Als Chef konnte er sich das leisten, wir taten die Arbeit.

Timus Wallraven, unser neuer Kunde, bewegte den Unterkiefer um ein Weniges, stopfte sich ein Eukalyptusbonbon zwischen die hageren Wangen und machte mich mit dem Kongress vertraut, an dem Dr. Bill Paddy noch gestern in vorderer Reihe teilgenommen hatte. Seiler nickte hinter seinem Schreibtisch bei jedem Punkt, den er schon zuvor gehört und sich mit seinem nervösen Bleistift notiert hatte.

»Nie wieder gutzumachen ist das Artensterben«, sagte Timus Wallraven. »Auf einem Quadratkilometer Regenwald finden sich mehr Baumarten als ganz Europa zusammen besitzt.«

Sterben.

Ich steckte mir erst mal eine an, ich hatte frei. Feierabend, draußen hing schon der abnehmende Mond starr über dem Viertel. Vom nahen Hafen dröhnte ein Schiffshorn aufreizend herüber: Weg da, jetzt komm ich! Man hörte bei uns in den Büros noch die unwahrscheinlichsten Geräusche. Wir waren inzwischen so ungefähr der letzte Altbau am Platz ohne doppelt verglaste Thermopane-Fenster. Der Rauch meiner Zigarette besänftigte mich vorübergehend. Seilers Augenbrauen wanderten die hohe Stirn hinauf. Ich sah es, ohne ihn direkt anzuschauen.

Timus Wallraven rückte bloß ein wenig von mir ab. Es reichte nicht, um den grünen Geruch völlig von mir fern zu halten. Er fuhr jetzt damit fort, mich über seine speziellen Interessen an dem Fall ins Licht zu setzen.

»Okay«, unterbrach ich ihn nach wenigen Sätzen. »Ich hab Ihr Gesicht schon ein paar Male in den Medien gesehen.« Mein Kommentar war bereits einer zu viel. Die beiden freien Tage waren futsch.

Der dünne Mann schaute mich beifällig an: »Sie verfolgen unser Anliegen, Herr Singer?«

»Nicht direkt«, sagte ich. »Das meine ich nicht. Ich meine, ich hab Ihr Gesicht ein paar Male in Filmen gesehen, die ich gerade nicht vermeiden konnte, deutsche Heimatfilme. Meistens spielten Sie einen halbverhungerten Knecht auf einem Einödhof, der später die Tochter des Einödbauern heiratete.«

Wallraven betastete unwillkürlich die Ulysse Nardin an seinem dünnen Handgelenk. »Ach so!« Ein Ausdruck von Verachtung trat in sein hageres Gesicht. »Das ist lange her, Herr Singer.«

»Lassen Sie ihm nur sein Programm«, mischte sich Seiler ein, an seinen Kunden gewandt. »Das tut nichts zur Sache. Mir sind Ihre aktuellen Beiträge durchaus gewärtig. Ich schätze sie sehr. Und was meinen Mitarbeiter hier betrifft, kann ich Ihnen versichern: Ein unentwickeltes Kunstverständnis kann sich durchaus mit einer erstklassigen Ermittlungsarbeit paaren.«

Ich überging Seilers Einwurf. »Es handelt sich also um die Regenwälder, Herr Wallraven. Aufklärung, Aktionen, sympathisch, gewaltlos. David gegen Goliath, okay. Aber haben Sie in Ihrem Verein nicht auch einige Radikale? Solche von der heftigen Art? Ich meine nur, bevor ich einen Fall übernehme, muss ich entscheiden, auf wessen Seite ich mich schlage.«

Den aktuellen Pegelstand von Seilers Augenbrauen brauchte ich nicht erst zu erkunden. Mir war es um Wallravens Reaktion zu tun.

»Auf jeder guten Suppe schwimmen ein paar Fettaugen«, sagte er. »Man schätzt sie im Zeitalter der Biokost eigentlich nicht, aber sie geben dem Gemüse erst die richtige Kraft.«

»Ja, okay«, sagte ich und ärgerte mich sofort über mein ewiges Okay, das ich mir vermutlich aus billigen amerikanischen Medien abgehört hatte. Obwohl, alle jungen Leute sagten heutzutage okay, und warum sollte ich nicht mal wieder ein bisschen jung sein? »Ich bin von Haus aus mehr ein Sozialdemokrat, bescheiden und sozialversicherungspflichtig«, erläuterte ich. »Aber ich trete andauernd in Fettnäpfchen. Ein Erbteil meiner Mutter, mein Erzeuger hat sich deswegen von ihr abgesetzt.«

»Herr Singer«, sagte Timus Wallraven mit einer sanft tönenden Kanzelstimme und einem Atem, der getränkt war von grünem Aroma, »dies ist das erste Mal für die Bundesrepublik, dass eine offizielle Delegation aus der Dritten Welt unsere Positionen vertritt. Meine Freunde und ich sind nicht ganz unbeteiligt an diskreten Kontakten gewesen, um die Liberianer auf diese Business-Veranstaltung zu kriegen. Und nun habe ich für mich eine ganz persönliche moralische Verpflichtung. Was genau ist mit Dr. Paddy passiert? Unser Verein hat auf dem Kongress selbstverständlich Hausverbot, sie mögen unsere Flugblätter und Transparente nicht. Aber unter den Pressevertretern und selbst bei der Polizei haben wir Sympathisanten. Es gibt Informationen, nur nicht genug. Deshalb sitze ich hier.«

Seiler vor uns wirkte irritiert. Er zupfte am Ärmel seines Salz-und-Pfeffer-Jacketts.

»Wir wissen nicht, ob ein Fremdverschulden vorliegt«, sagte er. »Es gibt keine äußeren Anzeichen von Gewalt. Eine Wasserleiche. Steif gefroren. Rattenbisse an der linken Hand. Unappetitlich. Die Spurensicherung hat einige weiße Baumwollfasern auf dem Mantel des Toten gefunden. So in Höhe der Schulterpartie laut Polizeibericht, den ich einsehen konnte. Sie stammen jedenfalls nicht von der Kleidung des bedauernswerten Toten. Das ist im Augenblick alles.«

Ich atmete tief durch. Timus Wallravens Sympathisanten und Dr. Leo Seilers Duzfreunde bei der Polizei! Baumwollfasern! Es gab unzählige Möglichkeiten, wie man zu ein paar Fusseln auf seinem Mantel kam.

Timus Wallraven erriet meine Gedanken.

»Billy Paddy hatte keinerlei berufliche oder private Probleme, soweit seinen Freunden bekannt ist. Auch nichts in punkto Gesundheit.«

»Okay«, sagte ich, »kein Selbstmord. Aber ein Unfall kann jederzeit passieren.«

Seiler lenkte zurück aufs Moralische. »Wenn es mehr als ein Unfall war, sind möglicherweise Herrn Wallravens Interessen ganz persönlich tangiert.«

»Deshalb Ihre Hilfe«, schloss sich Timus Wallraven an. »Und ich hoffe, Sie werden die Ermittlungen nicht eher aufgeben, bis Sie jede Alternative restlos geprüft und geklärt haben.«

Ich grinste. Wallraven war ein grüner Überzeugungstäter. Ich zierte mich aus gutem Grund. Aber nun erwartete der Chef kundenfreundliche Vorschläge von mir.

»Okay«, sagte ich, »die Hamburger Polizei behandelt den Fall demnach weiter routinemäßig. Ich werde von einer ganz anderen Seite ansetzen. Die Delegation aus Liberia besteht also noch aus drei weiteren Mitgliedern.«

Timus Wallraven bestätigte: »Die Leitung hat eine Dame, Miss Eleonore Rosebud.«

»Was für ein hübscher Name«, sagte ich »Rosenknospe, hmm.«

Aus dem Chefsessel kam ein Seufzer. »Darum geht es wohl kaum.«

»Und offene Ermittlungen auf dem Kongress sind vorerst ausgeschlossen«, fuhr ich fort. »Deshalb brauche ich eine andere Identität, am besten als Pressevertreter.«

Seiler lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Elfriede hat sich bereits um Ihren Presseausweis gekümmert, Yakub.«

»Ach nee, ich hatte ohnehin nicht mitzureden, was?« Ich drückte meine Zigarette aus. Seiler verkniff sich noch immer sein Zigarillo.

»Es musste schnell gehen, Yakub. Das verstehen Sie doch.«

»Nein, verstehe ich überhaupt nicht . Aber ein andermal mehr dazu. Jetzt ein Punkt noch«, ergänzte ich. »Wenn es ein Mord gewesen ist – ich sage: wenn – dann ist es eine klassische Auftragsarbeit. Dann suchen wir auch einen gewerbsmäßigen Killer. Deshalb brauche ich Rolf Rechler zur Verstärkung. Er muss auf einer ganz anderen Schiene ansetzen. Informationen aus dem Milieu.«

»Ich habe Rolf bereits von Elfriede anrufen lassen«, lächelte Dr. Allwissend sanft.

 

Beim zweiten Anlauf an diesem verpfuschten Abend nahm ich die Außentreppe Stufe für Stufe. Missgünstig blickte ich die Ehrenbergstraße hinunter zur Kreuzung. Ich wusste genau, warum Seiler mir diesen Job aufs Auge gedrückt hatte. Ich fuhr im Sommer Fahrrad, jetzt im Winter ging ich zu Fuß, und ansonsten war ich ein lautstarker Vertreter des öffentlichen Nahverkehrs. Und Timus Wallraven war ein in der Wolle gefärbter Grüner. Also passte ich logischerweise für Seiler genau zu diesem Kunden.

Ich ballte die Fäuste in den Manteltaschen. Vorn an der Kreuzung kroch der gelbe Smog unter der Blechkolonne hervor. Jawohl, in so primitiven Schlussfolgerungen dachte Dr. Leo Seiler. Ich würde kündigen, eines Tages würde ich es tun. Mir fiel ein, dass ich meinen Presseausweis bei Elfriede vergessen hatte. Es war ekelhaft kalt im Freien. Vielleicht noch eine Tasse Kaffee im Büro. Ein paar Worte mit Elfriede wechseln. Warmer Kaffee, warme Worte, um die Bürobeziehung auf Betriebstemperatur zu halten. Es ist bloß ein Mythos, das Private Ermittler als einsame Hunde geboren werden.

Okay, ich bin erpressbar. Sie haben es längst durchschaut. Es gibt nur einen Beruf und möchte nicht ohne ihn sein – damals wie heute. Seiler wusste das und nutzte es hemmungslos aus. Und auch in Beziehung auf Elfriede will ich mich gleich ehrlich machen. Was heißt hier Kaffee und warme Worte? Ich war – um ein eisches Wort in diesem Zusammenhang zu benutzen, besonders seltsam für jemanden, der gelegentlich eine Kanone ziehen muss, um seine Brötchen zu verdienen – ja, ich war in Elfie verschossen. Damals durfte ich es allerdings vor mir selber, vor allem aber Rolf gegenüber nicht zugeben. Dafür vergaß ich lieber mal meinen Presseausweis bei ihr oder machte ähnlich geniale Manöver.

Mehr aber nun nicht an Nachklapp, mit welcher Haltung ich daran ging, Dr. Paddys Tod zu untersuchen. Der Fall liegt zum Glück hinter mir. Aus der Rückschau sollten Sie noch ins Kalkül ziehen: Dr. Leo Seilers Geschäft war im letzten Jahrhundert nicht nur die größte Detektei in Hamburg. Seiler & Partner war überhaupt das einzige Etablissement dieser Art, das an der Elbe ernst zu nehmen war. Wo hätte ich sonst hin sollen? Sie dürfen sich das so vorstellen wie schließlich mit dem Internet und Google: Man braucht nur eine Suchmaschine.

 

Die unnatürliche Ruhe in Jumbos Restaurant

Als Rolf Rechler Jumbos Restaurant betrat, fiel ihm die unnatürliche Ruhe der Gäste auf. Alle hatten sie die Köpfe über die Tische gesenkt, als müssten sie das Bier und die halben Hähnchen noch einmal genau prüfen, bevor sie zulangten. Dann hörte der Privatdetektiv das leise Wimmern aus dem Hinterzimmer.

Mit Rolf steht es so: Mein Freund und Kollege schreibt seine Berichte zuweilen gar nicht für den Kunden, sondern für das Künstlerherz unseres Arbeitgebers. Ob er Seiler damit erfreuen kann, ob überhaupt je ein Bericht Seiler erfreuen konnte, das sehe ich so nüchtern wie ein Fisch das Wasser. Sei‘s drum, das Folgende habe ich nun seinen Aufzeichnungen entnommen, samt dem blumigen Stil. Mit ein paar Sätzen war Rolf an der Tür neben dem Bartresen. Plötzlich stand ein Kerl davor, mit Sattelnase und Blumenkohlohren. Er roch penetrant nach Zwiebeln.

Rolf schlug zu. Er kannte diesen alten Kiezboxer aus der Ritze und hatte keine andere Wahl. Denn eins war mal klar: Wer seine bürgerlichen Reflexe nicht vollständig abgelegt hatte, der konnte gegen so eine Figur nicht bestehen. Die wichtigste Regel auf dem Kiez ist so einfach wie unerfüllbar für die zivile Empfindung: Umnieten! Kein Zögern, kein Abschätzen. Kein Vermitteln und natürlich kein Fairplay. Mit einem Handkantenschlag gab Rolf seinen Einstand. Er zielte auf die Schlagader, eben oberhalb des Hemdkragens. Gleiches zu Gleichem, Schlag auf Schlag also, irgendein östliches Prinzip. Rolf packte den Bewusstlosen an den Schultern und legte ihn auf dem Stuhl ab, auf dem er zuvor gesessen hatte.

Die ganze Aktion war in Sekunden und ohne Lärm abgegangen. Von den anderen Gästen rührte sich keiner. Das Wimmern im Hinterzimmer ging in ein Geheul über. Dann ein Schrei.

»Iieee ... Aufhören!« Es war Jumbos Stimme.

Manchmal denke ich, Rolf würde in Chicago oder L.A. noch besser zurechtkommen als in Hamburg. Er zog seine harte Walther P 38 aus dem Halfter, Kampfweite 50 Meter, Rechtsdrall bei sechsfach gezogenem Lauf, und trat mit dem linken Fuß die Sperrholztür zum Büro auf.

Ich trage lieber einen kurzläufigen Revolver, ein wunderschönes Fabrikat aus der Neuen Welt. Zur Zeit besitzen Rolf und ich neben Onno Onken als einzige aus der Detektei einen Waffenschein. Dr. Leo Seiler weiß genau, was er an uns hat.

Im nächsten Augenblick sah sich Rolf, die Walther im Beidhand-Anschlag, dem Restaurantbesitzer und seinen ungebetenen Besuchern gegenüber.

Herbert Kirch, den alle auf dem Kiez »Jumbo« nannten, bot einen jämmerlichen Anblick. Er saß auf einem Stuhl gefesselt vor einem Regal mit Suppenkonserven. Sein Gesicht war noch grauer als sonst, und aus dem Mundwinkel lief ihm Blut über das Doppelkinn hinab. Die 230 Pfund Lebendgewicht, die er auf die Waage brachte, hatten sich sämtlich in Angst verwandelt. Sein Bauch hob sich unter den Weinkrämpfen, die durch seinen Körper liefen.

Zwei der Gangster standen ihrem Opfer zur Seite, falls sein Kopf wegsackte, während der dritte sich frontal vor der Schmerzensgestalt aufgebaut hatte. Er war offensichtlich der Anführer, eine hagere Figur im braunen Anzug. Das Gesicht zierte eine spitze Nase, durch die er jetzt die Luft ausstieß. Sein Haar war flammend rot.

Rolf hatte die Kerle vollständig überrumpelt. Er schwenkte die Pistole. »Links rüber an die Wand!«

Das Trio gehorchte zögernd. In diesem Moment erhielt Rolf einen Stoß in den Rücken wie von einer aus den Schienen gesprungenen Geisterbahn. Es schleuderte ihn nach vorn, quer durch den winzigen Raum, und er krachte in das Regal gegenüber. Dann begruben ihn die Suppenkonserven unter sich. Sie rochen merkwürdig nach Zwiebeln. Rolf begriff, dass er trotz allem einen Fehler gemacht hatte. Er hatte bei dem alten Boxer nicht hart genug zugeschlagen. Sondern er hatte das Alter respektieren wollen. Doch war das nur einer der falschen Reflexe. Denn Mitleid zahlte sich bei diesem Typ von berufsmäßigen Aufmischern nie aus.

Während Rolf sich ächzend zwischen den Konservendosen herausschaufelte, flohen die Gangster durch das Restaurant auf die Straße. Es dauerte zu lange, bis Rolf in die Senkrechte kam und ihnen nachsetzen konnte. Er sah noch, wie der Ex-Boxer sich als Letzter in einen blauen Opel Senator schwang. Rolf brachte die Walther hoch. Die Reifen des Opels waren eine so gute Zielscheibe wie nur irgend ein paar Scheibenringe. Aber auf dem Bürgersteig spielten Kinder. Außerdem riskierte man bei jeder Ballerei endlosen Papierkram. Und vorerst waren die Gangster für den Detektiv nur hässliche Eierdiebe. Er senkte die Waffe. Mit aufheulendem Motor zog der Opel davon.

Rolf kehrte in das Restaurant zurück. Es war so leer, als sei die Sperrstunde plötzlich schon am Nachmittag hereingebrochen. Man durfte nie einen guten Zeugen abgeben. Wer in Jumbos Restaurant verkehrte, hatte diese Lebensweisheit spätestens mit den ersten Suppen in sich hineingelöffelt. Achselzuckend ging Rolf nach hinten, in diese Mischung aus Lager und Büro.

Als er Jumbo die Fesseln löste, fiel der Wirt vom Stuhl. Rolf half ihm hoch. Jumbo knetete die Hände über seinem Bauch.

»Die Küche ist für heute dicht, verstehen Sie? Versuchen Sie‘s ein andermal wieder, Rechler.«

»Red keinen Unsinn«, sagte Rolf. »Wer hat dich in die Mangel genommen?«

»Dieses Vorkommnis? Keine Ahnung, nicht die Bohne«, jammerte Herbert Kirch.

Rolf tippte ihn an. Der Wirt, ausgelaugt und schreckhaft, platschte mit seinem breiten Hinterteil auf den Stuhl zurück.

»Klapp deine Ohren auf, Jumbo«, ermunterte ihn Rolf. »Im Moment ist die Bude da vorn leer. Aber irgendwann werden deine Gäste wieder eintrudeln. Hoffentlich finden die dann nicht raus, dass dir ein Schnüffler geholfen hat ...« Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar. »Na, braucht ja nicht zu sein. Rolf ist ein ganz empfindsames Blümchen, weißt du. Wenn man ihm schnell was vorsingt, verduftet er noch schneller wieder.«

Herbert Kirch stöhnte.

»Mir hilft keiner! Sie und Singer – ihr seid doch in Schuld mit diesem Missverständnis.« Er tupfte sich mit einem Küchentuch das Blut vom Kinn. »Den Besuch hab ich euch zu verdanken. Sucht euch endlich andre Musikanten, die euch was zwitschern. Strengt euern Kopp selber an. Einige Leute vom Kiez sind nervös geworden. Heute ist die Warnung angekommen. Das ist ein Dschungel hier, fast wie Hagenbeck. Und Elefanten, die zu laut trompeten, werden zuerst erwischt.«

Rolf Rechler hatte keine Zeit, sich Jumbos Klagelied weiter anzuhören. »Wir machen ein Geschäft«, drängte er. »Ich werde dafür sorgen, dass dieser Rotfuchs und seine Schläger für einige Monate aus dem Verkehr gezogen werden. Und wenn ich die Gangster auf der Davidwache abgeliefert habe, komm ich wieder. Dann wirst du mir noch eine kleine Frage beantworten. Das ist unser Geschäft.«

Rolf schaute den Wirt durchdringend an. Er sah förmlich, wie die Gedanken hinter Jumbos verschwitzter grauer Stirn arbeiteten. Hilfreich deutete der Detektiv nach vorn ins leere Restaurant. »Sollen wir lieber auf deine Gäste warten?«

Das gab den Ausschlag.

»Es war der Rote Hans Albrecht«, würgte Jumbo. »Und Schmeling im Gefolge.« Er nannte dem Detektiv eine Adresse.

Rolf machte sich eine Notiz. »Schmeling?«

Jumbo starrte ihn an. »Der Kiezname von dem Unhold mit der Boxernase. Dem Zwiebelfresser. Nie was von Max Schmeling gehört?«

Rolf verdrehte die Augen. »Oh, Gott! Sind wir hier im Café Größenwahn?«

 

Ich war Journalist im Kongresshotel

Ich war der Journalist Yakub Singer, sauber am Namenskärtchen vor der Brusttasche meines Jacketts identifizierbar, und saß zusammen mit den echten Kollegen vom Fach im Presseraum des Kongresshotels. Regelmäßig bewegte ich unter dem Sitz meinen linken Fuß im Schuh, um das Blut zirkulieren zu lassen. Natürlich datiert der schriftliche Bericht meines Kollegen Rolf Rechler über Jumbos Zusammenstoß mit dem Roten Hans Albrecht von einem späteren Termin. Ich mixe meine Geschichte und dritte Berichte zu einer sinnvollen Chronologie. Einerseits ist das Resultat fast eine gut geschriebene Reportage, andererseits ohne journalistische Skrupel gefertigt, was Distanz und Zitate betrifft. Denn hier geht es um das Verständnis schlimmer Zusammenhänge, die im wahren Leben verborgen bleiben.

Ich hatte bei meinem Auftritt auf dem Kongress noch keinen blassen Schimmer von der Existenz des Roten Hans Albrecht und seiner Gang, und ich verkneife mir den Kommentar zu Rolfs Beschreibungen des harten Lebens. Er würde drunter leiden, dass es vergebliche Liebesmüh ist, Dr. Leo Seiler mit seinen Berichten gefallen zu wollen. Und wozu denn, bitteschön? Rolf ist ein Mann der Tat, noch dazu mit Waffenschein, ein Glücksfall für die Detektei. Okay, Rolf muss Elfriede zu Weihnachten und Ostern beim Dom auf dem Heiligengeistfeld Plastikblumen schießen, was macht‘s.

Der Fuß fühlte sich eisig an. Auf dem Weg vom Büro hierher zu den Landungsbrücken hatte ich sozusagen an Backbord eine Ladung Schnee übergenommen, die inzwischen geschmolzen war. Ich verfluchte die Halbschuhe. Am liebsten trage ich im Winter knöchelhohe Schnürschuhe, so etwas wie Wanderschuhe light, mit denen man in der Stadt blendend zurecht kommt. Nur nicht als seriöser Berichterstatter auf einem Kongress. Jetzt half vielleicht noch Fußgymnastik, begleitet von einem ekligen, schmatzenden Geräusch.

Der Presseraum war ganz in Palisander eingerichtet, ein Holz von »heller Gefälligkeit«, wie ich mir gleich probeweise auf meinem Journalistenblock notiert hatte. Der Raum besaß sogar eine Wandvertäfelung aus Palisander, was mich in meinen Notizproben allerdings inzwischen von der Gefälligkeit des Produkts mehr zur Vorstellung von Palisaden geführt hatte und von Maserung zu Marterung.

Ich hatte noch nie soviel über Holz erfahren wie an diesem Nachmittag. Neben den aktuellen Statements hatte das PR-Management für eine Info-Mappe gesorgt, die mich über eine Palette an Verarbeitungs-Beispielen bis hin zur massiv edlen Klobrille aufklärte und mit Importstatistiken spickte, und aus der ich auf Hochglanzpapier den Nachweis entnahm, wie verantwortungsvoll die Holzwirtschaft in der Dritten Welt betrieben wird. Ich bog meinen Fuß durch. Es machte ein Geräusch unter dem Sitz, als ob ein Hund seine Schüssel ausleckte. Oben raschelte ich mit den Infos und legte dann eine schwere Hand auf die Mappe. Summa summarum, Edelholz war ein zu kostbarer Rohstoff, um fern im Dschungel naturnah zu vermodern.

Unauffällig musterte ich die Tische meiner Pressekollegen, ob zwischen ihren Stapeln an hochglanz-karätigen Informationen nicht auch ein graues oder eukalyptusgrünes Flugblatt von Timus Wallraven steckte. Es konnte nicht schaden, einen potenziellen Sympathisanten auszumachen oder auch nur einen kritischen Kopf. Sie hatten sich alle gut getarnt.

Vorn auf dem Podium beendete soeben der Geschäftsführer des Bundesausschusses Edelholz seine Pressekonferenz. Dieser Bundesausschuss organisierte den Kongress für die Importeure. »Ich danke Ihnen für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren«, moderierte er.

Seiner Aussprache nach war er fest mit der Hansestadt verwurzelt. Er überdehnte den dunklen Vokal in Damen und verwandelte die rollenden Konsonanten in Herren samt voranstehendem hellem Vokal zu einem einzigen Umlaut: »Hään.« Ich tippte auf Elbchaussee mit einem tüchtigen Schuss Holzhafen.

»Und hier zum Schluss noch ein Tipp, woran Sie unsere Mitglieder todsicher unterscheiden können«, fuhr er fort. »Die Importeure von südamerikanischen Hölzern rauchen Brasilzigarren. Wer mit Teak aus Südostasien handelt, raucht garantiert Sumatras. Und die Importeure aus Afrika sieht man ohne Stumpen. Die können sich nicht entscheiden.«

Der Raum vibrierte vor Lachen, eine schmissige Salve. Peter Henry Golfriller am Mikrofon vorn auf dem Podium lachte am lautesten. Der Geschäftsführer schien ein umgänglicher Mensch zu sein. Vielleicht sogar eine urwüchsige Type, wenngleich im dreiteiligen dunklen Anzug und mit Krawattenperle. Ich schätzte das, denn ich nahm an, dass ich seine Unterstützung bei den Ermittlungen noch brauchen würde.

Der Presseraum leerte sich. Ich hatte meine Pflichtübung beendet. Jetzt kam der interessantere Teil. Ein Stockwerk tiefer warteten Miss Eleonore Rosebud und ihre restliche Delegation auf mich. Wir hatten ein Interview verabredet. Meine Kür.

Der kleine Konferenzraum, den ich jetzt betrat, war mit Mahagonimöbeln ausgestattet. Ein Grund vielleicht, warum Herr Golfriller und sein Bundesausschuss genau dieses Hotel ausgesucht hatten, obwohl in mir der Verdacht keimte, dass seine PR-Leute bei einer befristeten Sonderausstattung generalstabsmäßig nachgeholfen hätten und die Einrichtung bloße Fiktion für die Dauer des Kongresses sei. Das Hotel hatte insgesamt fünfzehn Stockwerke. Ich überschlug an fünf Fingern, ob es wohl fünfzehn verschiedene Edelholzsorten gab, Bongossi als Bauholz für den Keller und die Kanalisation ehrenhalber ins Edelsegment eingeschlossen. So spielte ich meine neuen Kenntnisse durch.

 

Miss Rosebud begrüßte mich freundlich