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Marlon & Faruk

Marlon Baker

FARUK

Mehr als nur ein Flüchtling

 

Unter der Mitwirkung von Faruk Souleyman

 

Alle Texte, Textteile, Grafiken, Layouts sowie alle sonstigen schöpferischen Teile dieses Werks sind unter anderem urheberrechtlich geschützt. Das Kopieren, die Digitalisierung, die Farbverfremdung, sowie das Herunterladen z. B. in den Arbeitsspeicher, das Smoothing, die Komprimierung in ein anderes Format und Ähnliches stellen unter anderem eine urheberrechtlich relevante Vervielfältigung dar. Verstöße gegen den urheberrechtlichen Schutz sowie jegliche Bearbeitung der hier erwähnten schöpferischen Elemente sind nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung des Verlags und des Autors zulässig. Zuwiderhandlungen werden unter anderem strafrechtlich verfolgt!

 

Die Originalausgabe erschien am 21. Juni 2016

im mysteria Verlag / www.mysteria-Verlag.de

 

© 2016 mysteria Verlag

Publishing Rights © Marlon Baker & Faruk Souleyman

Buchsatz & Lektorat: AutorenServices.de

Coverartwork © Marlon Baker

 

Das Paperback ist erschienen durch:

CreateSpace Independent Publishing Platform

mit der ISBN-13: 978-1534611894

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

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www.MarlonBaker.com

Dem Terror zu entfliehen

ist meine wichtigste Lebensaufgabe,

die mir sehr viel Kraft abverlangt.

 

Faruk Souleyman

Faruk

 

Faruk war noch nie ein Kind von Traurigkeit gewesen. Oft erweckte er den Eindruck, als dass es ihm mit fetten Lettern auf der Stirn stand, dass er alles andere als zufrieden war mit seinem Leben. Dabei hatte es auch andere Zeiten gegeben, die jetzt jedoch in einer Welt lagen, die es nicht mehr gab. Noch vor wenigen Jahren hätte sich Faruk nie vorstellen können, seine Heimat zu verlassen, auch wenn es zu dieser Zeit schon problematisch war, über alles offen zu reden, was in seiner Familie oder im Bekanntenkreis vor sich ging.

Seine Eltern waren immer sehr bedacht darauf gewesen, mit höflicher Zurückhaltung zu argumentieren, wenn sie sich nicht selbst ans Messer liefern wollten. Und Faruk und seine Eltern lebten in einem Land, in dem es oft nur ein Fünklein an der Waage brauchte, um die Stimmung kippen zu lassen. Diese Vorsicht bestimmte seit jeher Faruks Leben, da er wusste, wie schnell man in Ungnade fallen konnte. Da war es auch völlig egal, ob man nun beste Freunde oder Schulkollegen war. Brachte man Dinge zur Sprache, die besser unausgesprochen blieben, riskierte man nicht selten sein Leben und das seiner Angehörigen.

Dieser Form der permanenten Einschüchterung war es schließlich zu verdanken, die Faruk lieber schweigen ließ. Und dieses Schweigen wollte er niemals brechen; zumal er eine große Schuld auf sich geladen hatte, um heute da zu sein, wo er war. Faruk hatte in den letzten Jahren nicht nur miterleben müssen, wie seine Heimat systematisch zerstört wurde von einer Ideologie, die ihm völlig fremd war und die er nicht nachvollziehen konnte. Doch seine Seele hätte er niemals verkauft. Weder an den Teufel noch an irgendeine andere Person, die ihn mit süßen Verlockungen das Seelenheil versprach. In der Familie hatte es in den letzten Monaten viele Überlegungen gegeben, wie man dieser Lage Herr werden sollte, und doch waren sie nicht bereit, alle ihre Werte über Bord zu werfen, nur um am Ende des Tages auf den Knien gedemütigt einen Gott anzubeten, der nicht der ihre war. Faruk war in den letzten zwei bis drei Jahren ein sehr aufmerksamer Beobachter geworden. Mit großer Angst sah er die Entwicklungen in seinem Land. Aber auch an sich selbst nahm er Dinge war, die beängstigend waren, wenn man so wie er in Syrien aufwuchs und sich täglich die Frage stellen musste, wann all diese Lügen auffliegen würden.

Selbst seine Eltern belog er, da er wusste, was es zur Folge hätte, wenn er ihnen die Wahrheit über sich sagen würde. Nicht einmal die Wahrheit über all die Schrecken in ihrem Land wollten seine Eltern hören. Stattdessen versuchten sie, ihn davon zu überzeugen, dass es Gott schon richten und die Hand schützend über ihn halten würde.

»Jetzt aus diesem Land zu fliehen, dass wir unsere Heimat nennen, wäre das falsche Signal, mein Junge«, sagte Tarek, Faruks Vater, der von den Fluchtplänen seiner Landsleute nichts hören wollte. »Ich kann meine Gemeinde doch nicht im Stich lassen.«

»Aber viele haben dieses Land bereits verlassen«, versuchte Faruk zu argumentieren, »weil sie für sich keine Zukunft mehr sehen. Und wir dürfen nicht so blind sein und unsere Augen und Ohren vor dem verschließen, was da auf uns zugerollt kommt.«

»Aber mit Gottes Stärke werden wir auch diese Prüfung überstehen«, sagte Tarek und deutete auf die vielen Schriften, die er in seinem Haus angesammelt hatte. »Gott stellt hier unseren Glauben auf den Prüfstand, und wir müssen jetzt Stärke beweisen und dem trotzen, was uns auslöschen will.«

»Aber Vater«, erwiderte Faruk und konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. »Sie werden uns überrollen, so wie sie es auch schon anderenorts getan haben und wenn sie erfahren, dass wir anders sind, werden sie kein Erbarmen mit uns haben und uns abschlachten, wie alle, die sich ihnen in den Weg stellen.«

»Hier sind wir geboren worden. Hier sind wir aufgewachsen. Syrien ist unsere Heimat und wir sollten hier auch ausharren der Dinge, die noch auf uns zukommen werden.« Tarek beendete das Gespräch, indem er das Heilige Buch zuschlug, dass er immer schon gern zurate zog, wenn er mit seinem Sohn sprach.

Faruk wusste genau, dass sich sein Vater nicht eines Besseren belehren ließ. Nicht von ihm und erst recht nicht von irgendjemand sonst aus der kleinen Gemeinde, die vor den Toren der großen Stadt ein Schattendasein fristete. Offiziell gab es ihre Gemeinde nicht einmal mehr, da es in ihrer Heimat mit dem Tode bestraft wurde, andersgläubig zu sein. Mit dem falschen Gebetbuch unter dem Arm stand man nur allzu schnell auf der Todesliste eines Märtyrers, der sich im Paradies Jungfrauen versprach. Und in einer anderen Gemeinde war es schon vorgekommen, dass ein Selbstmordattentäter ins Gebäude stürmte, um sich dann während des Gebets in die Luft zu sprengen. Alles sehr deutliche Signale und Botschaften, was Faruk von diesem Land zu erwarten hatte, würde er hierbleiben.

Aber nicht nur sein Glaube war ein Makel, das wusste er, denn in den letzten Monaten hatte er Veränderungen an sich wahrgenommen, die selbst sein so toleranter Vater missbilligte. Und wie sollte er seinen Freunden erklären, warum er trotz seines Teenageralters noch immer nicht beschnitten war?

Entsetzt zeigte er sich allerdings, als erste Jungs aus seiner Klasse und dem Bekanntenkreis damit begonnen hatten, sich der ISIS anzuschließen, weil sie es als ihre von Allah gegebene Pflicht ansahen, für ihre Überzeugungen in einen Krieg zu ziehen, der für ihre Begriffe längst überfällig war.

Mit diesen Gedanken schlief Faruk heute Nacht ein.

Es war ein so beklemmendes und beängstigendes Gefühl, dass sich der Strick um seinen Hals immer enger zog, sodass er in dieser Nacht beschloss, seinem alten Leben ein Ende zu setzen.

Im Internet und auf den sozialen Netzwerken hatte er allerlei Informationen zusammengetragen, die es brauchte, um erfolgreich ein neues Leben zu beginnen. Faruk wusste, dass er den Tod finden würde, wenn er in Syrien bliebe. Und dieser Tod hätte ihn auch von seinem eigenen Vater ereilen können, der ihn immer öfter dazu drängte, sich eine Freundin zu suchen. Sein Vater hatte ihm schon viele Mädchen aus der Gemeinde oder aus befreundeten Familien vorgestellt, doch Faruk lehnte stets mit der Begründung ab, dass er sich noch nicht reif für eine Beziehung fühlte. Doch wie lange wollte er dieses Konstrukt aus Lügen noch aufrecht erhalten? Seinem eigenen Vater mitten ins Gesicht zu lügen, war schon frevelhaft genug, aber sollte er dieses Bild wirklich aufrechterhalten, nur um seinem Vater zu gefallen?

Er konnte sich nicht einmal mehr im Spiegel betrachten, so sehr schämte er sich für die Tatsache, dass sein Leben auf Lügen erbaut worden war … wenn er weiterhin in Syrien bliebe. Sein Entschluss stand daher fest, es auf eigene Faust versuchen zu wollen, um sich aus dieser Enge — aber auch dem sicheren Tod — zu befreien.

Eigentlich hatte sein Vater große Pläne mit ihm. Faruk sollte studieren und seine Familie mit Ehre und Stolz erfüllen. Doch was würde er über seine Familie bringen, wenn eines schönen Tages die Wahrheit ans Licht käme? Schande würde er über sie bringen, nicht zuletzt, weil er so lange verschwiegen hatte, was ihm schwer auf den schmalen Schultern lastete. Um sich von dieser erdrückenden Last zu befreien, gab es im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Er könnte sich das Leben nehmen, was ihm sein Vater aber niemals verzeihen würde, oder er könnte sich bis an sein Lebensende verstellen, um ja keinen Verdacht zu erwecken, dass er unglücklich war mit dem, was andere in ihm sahen. Aber wollte er wirklich sein gesamtes Leben unglücklich bleiben und sich wie eine Marionette verhalten, deren Fäden im Hintergrund ein selbst auferlegtes Schweigen zog?

Nein, das wollte er mit Sicherheit nicht! Und ganz gewiss wollte er auch nicht seine Ideale verraten, seine Vorstellungen von einem glücklichen und zufriedenen Leben — wie es nur anderenorts möglich wäre.

Anderenorts!

Dieser Gedanke war in letzter Zeit allgegenwärtig. Überall in Syrien wurde Faruk damit konfrontiert, dass es anderenorts sicher besser wäre. Denn früher oder später würde er wahrscheinlich von seinen eigenen Freunden gelyncht werden, die einen ersten Verdacht hegten, dass er nicht ihren Vorstellungen entsprach. Aber wollte er wirklich den anderen um jeden Preis gefallen, in dem er sich jeden Morgen in das Korsett aus Lügen zwängte?

Nein, diese Zeit sollte ein Ende finden. Nicht länger wollte er sich verbiegen oder in irgendeinen Schubkasten stecken lassen, weil es die anderen für richtig hielten, ihm dieses Etikett aufzudrücken. Jetzt wollte er sein Leben in die eigene Hand nehmen und dafür sorgen, dass er derjenige sein konnte, der er war. Glück und Glückseligkeit sollten fortan sein Leben bestimmen und nicht die Furcht, eines Tages wie ein Verräter an der eigenen Kultur gesteinigt und ermordet zu werden.

Faruk hatte viel zu weiche Gesichtszüge, aber stets ein Lächeln parat, sodass ihm andere nur schwer einen Gefallen abschlagen konnten. Er hatte sich im Morgengrauen aus dem Haus geschlichen, mit dem endgültigen Entschluss, sich niemals mehr umzudrehen.

Stattdessen wollte er nach vorne blicken und herausfinden, was ihm diese Welt, mit all ihren unterschiedlichen Versprechungen, zu bieten hatte.

Ein LKW-Fahrer bot ihm eine Mitfahrgelegenheit an.

»Wo soll es denn hingehen?«, fragte der junge Mann, der an den Straßenrand gefahren war, um sich den Jungen genauer anzusehen, der sich ganz allein auf den Weg machen wollte. Und ganz gleich, was ihm Faruk auch erwiderte, dieser junge Mann wusste genau, wohin seine Reise gehen sollte. Und auch wenn Faruk es niemals Flucht nannte, sondern eine lange Reise, die ihm bevorstand, so konnte er sich niemals sicher sein, ob sein Leben nicht doch in Gefahr war.

»An die Landesgrenze«, sagte Faruk schließlich, als er alle Fürs und Widers abgewogen hatte, wie viel er von seinem Abenteuer preisgeben wollte.

»Willst auch du unser schönes Land verlassen, statt dich uns anzuschließen«, sagte der junge Mann, der sich ihm als Salah vorstellte, und ohne es wie eine Frage klingen zu lassen.

Auch das noch, dachte Faruk und sah seine Pläne bereits in Gefahr, jemals an die Landesgrenze zu gelangen. Ausgerechnet ein IS-Kämpfer hatte ihn von der Straße aufgelesen, weil er sich vermutlich davon versprach, den Jungen für sich und seinen Kampf zu gewinnen, um in Syrien einen Gottesstaat zu etablieren. Doch alle Argumente, die der junge Mann während ihrer mehrstündigen Fahrt hervorbrachte, prallten an Faruk ab, auch wenn er gute Miene zum bösen Spiel machte. Manchmal ging Faruk sogar so weit, dass er seinem Gegenüber zu verstehen gab, dass er die Motive durchaus nachvollziehen könnte, die so viele junge Männer in Scharen zu Märtyrern werden ließ.

Allerdings sah Faruk auch der bitteren Realität auf dieser Fahrt ins Auge. Sie kamen an Städte vorbei, die in Schutt und Asche lagen. Sie sahen viele Hunderte Menschen, die sich mit wenig Gepäck ebenfalls auf eine Reise ins Ungewisse begaben — auch wenn diese Personen eher von einer Flucht sprachen. Der junge Mann, der Faruk versprochen hatte, dass er ihn bis zur Grenze mitnehme, wurde nicht müde, aus dem Koran zu zitieren. Er sprach davon, dass die Ordnung in der Welt wiederhergestellt werden müsste und dass es keinen anderen Glauben als den Islam geben dürfe.

Faruk zeigte sich jedoch resistent von all den Werbungsversuchen, die der junge Mann während ihrer Fahrt unternahm:

»Wenn du für die richtige Sache kämpfst, wirst du von Allah reichlich belohnt werden. Er lässt seine Kämpfer nicht im Regen stehen und wird auch für sie sorgen, wenn sie das Paradies betreten.«

»Was unweigerlich den Tod bedeutet«, erwiderte Faruk eher in Gedanken versunken nach einer langen Zeit des betroffenen Schweigens.

»Du stirbst jedoch für einen von Allah gegebenen Auftrag. Was kann daran falsch sein, für seine Sache zu sterben?«

Ganz gleich mit welchem Argument Faruk auch kam, der junge Mann wusste auf alles eine Antwort, so wie er es auch von seinem Vater her kannte. Aus Gottes Wort zu zitieren, legimitierte offensichtlich jeden, auch das Werk Gottes zu vollenden, ganz gleich wie absurd diese Vorstellungen auch sein mochten. Doch Faruk wusste, dass im Prinzip jede Kirche und jeder Glaube auf dieser Welt für sich beanspruchte, die einzig wahre Religion zu sein. Da standen die Christen den Moslems oder Juden in nichts nach. Christen hatten in der Vergangenheit unglaublich viel Leid über die Erde gebracht und Glaubenskriege geführt und alle, die nicht an Jesus Christus als ihren Erlöser glauben wollten, vernichtet. Waren die meisten Kriege der letzten Jahrhunderte nicht aus religiösen Gründen geführt worden, obwohl es jedem Gott — egal wie er sich nun auch nennt — ein Graus sein müsste, wenn sich in seinem Namen die Menschen gegenseitig die Köpfe einschlugen?

Faruk schob es auf die Propheten, oder zumindest auf die Personen, die sich für solche hielten, dass es diese Auseinandersetzungen überhaupt gab, statt einen Kompromiss zu finden, dass es nur einen Gott gibt und das es keineswegs von Gott gewollt ist, in seinem Namen Kriege zu führen.

Faruk sah es als deutlichen Missbrauch des Herrn, hier seinen Namen überhaupt ins Spiel zu bringen. Wie würde die Welt wohl heute aussehen, wenn es die Spaltung der Religionen nie gegeben hätte, fragte sich Faruk und malte sich eine Welt aus, die nicht von Leid und Entbehrungen in die Knie gezwungen wurde. Was hätten wir heute für ein Paradies auf Erden, wenn es keine selbst ernannten Propheten gegeben hätte?

Als Ketzer wäre Faruk abgeschlachtet worden, wenn er diesen Gedanken laut ausgesprochen hätte. Selbst sein Vater hätte dann nicht länger schützend die Hand über ihn gehalten, obwohl er wusste, dass sein Sohn schon vieles infrage gestellt hatte und die wichtigen Dinge des Lebens pausenlos hinterfragte, weil er Antworten haben wollte auf seinen Wissensdurst.

Er nahm jedoch davon Abstand, diese Thesen mit Salah zu besprechen, der längst einer Gehirnwäsche unterzogen worden war, wie so viele junge Männer in diesem Land. Den Islam oder sogar den Urheber des Korans (also den Propheten Mohammed) infrage zu stellen, kam überall im arabischen Raum einem Todesurteil gleich, auch wenn es dann und wann einige mutige Männer gewagt hatten, dieses Tabu zu brechen.

Doch Faruk würde es niemals wagen — jedenfalls nicht auf diesem ideologisch verseuchten Boden — einem Islamisten zu widersprechen, ganz gleich wie radikal seine Ansichten auch sein mochten.

Somit nahm Faruk auch den Koran an sich, als sie am nächsten Morgen die Grenze erreichten und die Zeit gekommen war, Lebewohl zu sagen.

»Möge dich Allah auf all deinen Wegen führen, mein Freund«, sagte der junge Mann, der die Grenze an einem anderen Ort überschreiten wollte. »Jedenfalls bist du in der Türkei unter Brüdern.«

Faruk hatte dem jungen Mann erklärt, dass er Verwandte in der Türkei besuchen wolle, jedoch wegen seines Alters keinen Pass hatte und somit illegal die Grenze übertreten müsste.

»Falls du es dir noch einmal anders überlegst«, sagte Salah und übergab Faruk einen Umschlag, »dann bist du bei uns gut aufgehoben. Wir könnten dich zu einem Gotteskrieger ausbilden.«

Faruk schenkte dem jungen Mann ein Lächeln, bevor dieser sich auf den Weg machte, seine Ladung Rohöls in der Türkei abzuliefern, um weitere Geldmittel für ihren Krieg zu mobilisieren.

Marlon

 

Mobil zu machen, davon hielt Marlon nicht allzu viel. Und auch in den letzten Jahrzehnten hatte er sich stets zurückgehalten, wenn es darum ging, sich für irgendetwas politisch zu engagieren. Doch im Sommer 2015 war für ihn der Punkt erreicht, seiner Stimme Gehör zu verleihen; und diesmal sollte es nicht als Buch geschehen, sondern viel direkter.

Seit ein paar Wochen sammelte er Zeitungsausschnitte und verfolgte zudem die politischen Diskussionen in den Medien, die allesamt nur einen Schluss zuließen: Deutschland wurde gerade von einer Flüchtlingswelle überrollt und die sogenannte »Willkommens-Kultur« musste den vielen Asylsuchenden weltweit doch signalisieren, dass sie dieses Land mit der erschreckend dunklen Vergangenheit gern aufnahm — oder nicht?

Vorbei waren die Vorurteile, dass man als Deutscher im Ausland nach wie vor als Nazi beschimpft wurde, obwohl die heutige Generation nichts mit der Vergangenheit des Landes zu tun hatte. Allerdings gab es auch Gruppierungen in Deutschland, die diesem Bild weiterhin Nahrung boten, dass man als Ausländer hier nicht wirklich willkommen war.

Insbesondere in Ostdeutschland formierten sich Menschen zu populistischen Vereinigungen und man gab dort recht unverhohlen preis, was man von dem Strom der Flüchtlinge hielt. Diese Parolen wurden dann bei den Montagsdemonstrationen laut krakelt, ohne je zu hinterfragen, warum Europa gerade von Millionen von Menschen fokussiert wurde, um hier ein neues Leben zu beginnen.

Aus diesem Anlass wollte Marlon auch in seiner Heimatstadt Fulda Stimmen einfangen. Denn in einer Stadt, die über sechzig Jahre lang ausschließlich von der CDU regiert wurde, gab es viel »Braune Substanz«, und diese wollte er zur Rede stellen. Außerdem galt Fulda als das »Schwärzeste Loch Deutschlands«, was damit zu tun hatte, dass sich zu der politischen »Schwarz-Weiß-Malerei« auch noch eine Hochburg der Katholischen Kirsche hinzugesellte — also ein Klima, unter dem nicht nur Fremde zu leiden hatten. Auch Marlon war in dieser Stadt schon oft angeeckt, was sicherlich auch mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen zu tun hatte. Ein Autor von Büchern wie Der Mensch erschuf Gott oder Hexen und Druiden in der Neuzeit spielte in Fulda mit dem Feuer, wenn es darum ging, als Künstler wahrgenommen zu werden. Die stark konservative Fuldaer Zeitung hatte bislang eher selten über ihn und seine Werke berichtet. Doch das sollte sich schon in naher Zukunft ändern!

Seitdem Marlon das Thema für sich entdeckt hatte, schrieb er einen Blog über die vielen Ereignisse, die die Flüchtlingswelle überhaupt erst ausgelöst hatten. Und spätestens als im Landtag von Fulda entschieden wurde, auch hier etwa 500 Flüchtlingen eine Unterkunft zu stellen, wollte er die Bewohner selbst befragen, was sie davon hielten, dass in Haimbach, der ehemaligen US-Kaserne, ein Lager entstehen sollte, dass schon bald die ersten Hilfesuchenden beherbergen sollte.

Mit seinem Kameramann Moritz war er auf der Bahnhofstraße unterwegs. Die Stimme des Volkes wollte er ungefiltert auf YouTube online stellen, da er schon seit einiger Zeit die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sender kritisierte, da sie all zu negative Stimmen dem interessierten Zuschauer vorenthielten. Viel mehr war ihm aufgefallen, dass eine gewisse Stimmung und Grundhaltung weit verbreitet war und auch verbreitet werden sollte. Und dieser wollte er etwas entgegensetzen. Wenn er von Passanten gefragt wurde, auf welchem Sender sein Beitrag zu sehen sei, erwiderte er zumeist: »Dieser Beitrag ist für den Offenen Kanal in Fulda. Sie werden ihn aber auch online sehen können.«

Was keine Lüge war! Produzierte Marlon doch auch TV-Beiträge für das Lokalfernsehen. Doch dass der Offene Kanal in Fulda seine Berichterstattung äußerst fragwürdig fand, sagte er niemandem, da er echte Meinungen einfangen wollte.

»Was halten Sie davon, dass in wenigen Wochen vorerst 500 Asylsuchende nach Fulda kommen werden?«, fragte Marlon, der heute wieder bewusst seine Klamotten von Nebulus trug, um die Passanten im Glauben zu wiegen, auch er hätte eine politische Meinung. Dabei war Marlons politische Meinung völlig neutral. Es gab weder Neigungen ins linke noch ins rechte Lager der Politik; wenn er überhaupt wählen würde, wäre sein Kreuz sicher nicht bei den etablierten Parteien zu finden, die für seinen Geschmack schon seit Jahren dem Volk einen Einheitsbrei servierten, ohne sich großartig von ihren politischen Mitbewerbern zu unterscheiden. Somit hatte er es vorgezogen, lieber nicht zur Wahl zu gehen, und auch eine Mitgliedschaft in einer Partei kam für ihn nicht in Betracht, da er für alle Parteien ein besonderes Makel innehatte — auf den wir später noch zu sprechen kommen werden!

Wie üblich lehnten erste Passanten es ab, überhaupt Stellung zu beziehen. Vor allem die Hutträger-Fraktion machte einen großen Bogen um ihn. Um jedoch erste Leute vor die Kamera zu bekommen, bediente er sich eines einfachen Tricks, denen sich auch große Sender bedienen: Kaufte man sich die ersten Stimmen mit jeweils fünfzig Euro, so blieben auch jene Passanten stehen, die man ursprünglich befragen wollte.

Das gemeine Volk!

Den Anfang machte ein junges Pärchen, dem anzusehen war, dass sie nicht wirklich viel von ihrer Regierung oder Stadt erwarteten. Sie waren Mitte bis Ende Zwanzig und gaben das wider, was ihnen zuvor die Medien eingebläut hatten: »Die sollen sich allesamt verpissen! Denn wir haben wirklich andere Probleme, als jetzt auch noch die Mäuler von irgendwelchen Kanaken zu stopfen.«

»Wenn wir in Deutschland Krieg hätten und ihre Heimat wäre zerstört, wohin würde es Sie ziehen, wenn Sie die freie Wahl hätten?«, argumentierte Marlon und ahnte, wie das junge Pärchen darauf reagieren würde.

»Wir würden selbstverständlich an der Front kämpfen und unser Vaterland verteidigen. Genau das würden wir tun. Unsere Eltern sind ja auch nicht geflohen, als es um den Wiederaufbau Deutschlands ging.«

»Wo kämen wir auch hin, wenn jeder das Land verlässt, nur weil es sich im Krieg befindet«, mischte sich ein älterer Herr ein, der offenbar von der Hutträger-Fraktion ins rechte Lager übergewechselt war. »Da kommen auch Leute, die hier doch nur die Sozialhilfe abgreifen wollen, weil sie in ihren Ländern nichts verdienen.«

»Wirtschaftsflüchtlinge also«, warf Marlon ein und freute sich, dass die Diskussion ins Laufen kam.

»Nicht einmal ihren Pass müssen die vorzeigen. Die werden einfach durchgewunken. Mich würde es nicht wundern, wenn es in Europa bald knallt. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass insbesondere junge Männer nach Deutschland strömen? Wo sind all die alten Männer, wo die Familien?«, sagte eine ältere Frau Mitte Fünfzig, die sicher ihren Regenschirm um die Ohren von Marlons Kameramann gehauen hätte, wenn er heute mit seinem asiatischen Kollegen unterwegs gewesen wäre und nicht mit Moritz (einem fettleibigen jungen Mann, der so deutsch wirkte, wie man nur sein konnte).

»Es kommen schon auch Familien über die Grenze, sowie zahlreiche Kinder«, sagte Marlon, der allerdings auch beobachtet hatte, dass vor allem junge Männer den Flüchtlingsstrom dominierten.

»Ja, und mit den heulenden Kinderaugen wollen die uns weichkochen, dass wir sie alle aufnehmen. Und wer soll das alles bezahlen? Unsere Kanzlerin meint ja, wir schaffen das! Ich jedoch sage Ihnen, dass wir das niemals schaffen werden, und dass Deutschland gerade unterwandert wird von den vielen IS-Kämpfern, die sich hier zusammenschließen werden, um Terror zu verbreiten. Merken Sie sich meine Worte! Es wird nicht mehr lange dauern, bis es in Europa so richtig knallen wird. Und dann wollen alle nichts davon gewusst haben, dass wir diese Schurken ins Land gelassen haben.«

Keine einzige positive Äußerung hatte Marlon heute einfangen können, ganz gleich, wen er auch ansprach, aber in der Frage der Flüchtlingsproblematik schien sich das deutsche Volk einig zu sein. Die positiven Beispiele wie aus München, wo Asylsuchende und Flüchtlinge mit Willkommenstransparenten empfangen wurden, würde es hier in Fulda sicherlich nie geben.

Das ahnte bestimmt auch der Landrat, der für Fulda beschlossen hatte, das Lager in Haimbach zu errichten; in unmittelbarer Nähe zur Polizei. Somit würde es hier jedenfalls keinen Aufmarsch der rechten Szene geben oder schlimmer noch, den Brand einer Flüchtlingsunterkunft. Marlon wollte mit eigenen Augen sehen, wie dieses Lager aussah und welche Möglichkeiten die hier Ankommenden hätten, um rasch in die Gesellschaft integriert zu werden.