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Der einarmige Boxer, eine Liebesgeschichte

Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann viele Reisen ins Ausland. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg, den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur und 2016 den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. Bei Beltz & Gelberg erschienen unter anderem die berühmte »Trilogie der Wendepunkte« mit den Romanen Die Roten Matrosen oder Ein vergessener Winter, Mit dem Rücken zur Wand und Der erste Frühling, die »Jacobi Saga« mit den Romanen 1848. Die Geschichte von Jette und Frieder, Fünf Finger hat die Hand und Im Spinnennetz. Die Geschichte von David und Anna sowie der autobiographische Roman Krokodil im Nacken (Deutscher Jugendliteraturpreis; nominiert für den Deutschen Bücherpreis).

Für Paula

Erster Teil

Über alle Grenzen

Fakten

Feri stand vor dem Spiegel und versuchte, ein möglichst cool-strenges Gesicht zu machen. Den ganzen langen Nachmittag über hatte sie gegrübelt, wie sie den Eltern diesen Blitzeinschlag in ihre bisher so reibungslos friedliche Welt beibringen sollte – und das, wenn’s irgendwie ging, ohne allzu viel Stress zu erzeugen. Dieses und jenes Statement hatte sie sich zurechtgelegt, nichts hatte sie überzeugt.

Sollte sie beim Abendessen ganz locker sagen: »Ach, übrigens, ich bin schwanger«? Oder besser die Zerknirschte spielen? »Tut mir ja so leid, aber … es ist was Schlimmes passiert: Ich, na ja, ich bin nämlich schwanger, und jetzt müssen wir darüber reden, wie alles weitergehen soll.«

Auch nicht das Richtige. Auf keinen Fall durfte sie sich von Anfang an in eine Verteidigungshaltung drängen lassen. Obwohl das schwer werden würde. Deshalb war’s vielleicht das Beste, erst mal gar nichts zu sagen. Kommt Zeit, kommt Rat, wie’s im Märchen hieß.

Was es auf jeden Fall nicht werden durfte: ein allein aus der Not geborenes, von vorn bis hinten jämmerlich hilfloses Versteckspiel, das ja auch gar nicht klappen würde. Aber wie so oft, wenn sie irgendeiner Sache ausweichen wollte, es kam alles ganz anders.

Denn ausgerechnet an diesem Abend kam ihr Vater früher als üblich nach Hause. Und das nicht gerade in allerbester Laune. Eine neue Dienstreise stand an, die erste nach den Ferien. Und das ausgerechnet in dieses so weit entfernte Malaysia, wo er vor zwei Jahren schon mal war, mitten in einer schlimmen Hitzeperiode.

Er hatte keine Lust auf diese lange Reise und seufzte beim Abendessen ärgerlich. »Die kommen da mal wieder mit dem Produktionsablauf nicht klar. Und wer soll’s richten? Derselbe wie vor zwei Jahren … Ist eben wie immer: Erst wird ewig lange getrödelt, dann muss alles ganz schnell gehen.«

»Tolle Neuigkeiten sind das!« Ihre Mutter rieb sich die Stirn. Ein langer Tag in der Praxis lag hinter ihr, Unmengen schlecht gepflegter Zähne hatte sie mal wieder reparieren dürfen, sie war rechtschaffen müde. »Und wann fliegst du?«

»Übermorgen.«

»Und für wie lange?«

»Eine Woche oder zwei … Kommt ganz drauf an, woran’s hapert.« Erst trommelte Feris Vater – eine seiner Lieblingsangewohnheiten – ein Weilchen mit den Fingern seiner linken Hand auf den Tisch, als wollte er Klavier spielen, dann öffnete er die zweite Flasche Bier. Vor Dienstreisen hatte er jedes Mal großen Durst.

Feri, zuvor schon ganz und gar in Gedanken versunken ihren Teller anstarrend, legte ihr Brot zurück. Zwei Wochen würde der Vater wegbleiben? So lange durfte sie nicht warten. Mit der Mutter darüber reden, ohne dass der Vater dabei war? – Keine gute Idee! Zwar würde auch ihr Vater sich aufregen, wenn er erfuhr, wie dumm sie sich verhalten hatte – auch dass sein kleines Töchterlein sich überhaupt schon auf diese Weise mit einem Jungen eingelassen hatte, würde ihn erschüttern –, irgendwann aber würde er seinen Ingenieursverstand einschalten und sachlich werden. So war’s ja immer, wenn etwas passiert war, das ihm gehörig gegen den Strich ging. Ihre Mutter schaffte das meistens erst viel später.

»Bei mir hapert’s auch«, brach es aus ihr heraus – und damit gab’s kein Zurück mehr.

Feris Mutter, Bissen im Mund, krauste die Stirn. »Darf man erfahren, woran?«

»Ich … ich bin schwanger.«

Was für ein Satz! Er schwebte in der Luft – und war doch schwer wie ein Sack Zement. Und wie schnell die Gesichter sich veränderten! Zuerst der reine Unglaube – ihr Vater hätte beinahe gelacht –, dann Misstrauen: War das Ganze etwa doch kein Scherz? Gleich darauf: Bestürzung! »Du bist – was?«, fragte ihre Mutter, als konnte sie unmöglich richtig gehört haben.

»Schwanger.«

Jetzt wurde Feris Mutter blass. Ihr Vater aber wollte es noch immer nicht glauben. »Was soll denn das? Willst du uns auf den Arm nehmen? Ein kleiner Test, wie wir reagieren würden, wenn …?«

»Wenn heute der 1. April wäre?«

Das war zu cool gekommen. Ihr Vater starrte sie an, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. »Und mit wem, wenn man fragen darf …?«

»Mit Milan.«

Stumm sahen die Eltern sich an, bis Feris Mutter mühsam beherrscht ausstieß: »Feri! Also wirklich, das kann, das darf doch einfach nicht wahr sein! Wozu denn all unsere Gespräche?«

Ja, wozu? Das hatte sie sich inzwischen selbst schon gefragt. Fakt war, dass sie eben nicht die kluge, vernünftige Feri war, die ihre Mutter gern in ihr gesehen hätte, sondern nichts als ein noch sehr naives, kleines Mädchen, das, als es darauf ankam, nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch gedacht hatte.

Feris Mutter hatte eine Antwort erwartet. Als keine kam, fragte sie, obwohl sich das nach allem, was sie inzwischen wusste, ja eigentlich verbot: »Und ihr habt euch nicht geschützt?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Weil … weil wir nichts dabeihatten.«

Eine Auskunft, so dumm, knapp und simpel, dass es ihrer Mutter die Sprache verschlug.

Ihr Vater war nicht weniger entsetzt. »Und ihr habt es trotzdem getan?«, fragte er mit belegter Stimme.

Noch so eine total überflüssige Frage.

»Ja.« Ein sehr, sehr knappes, bemüht selbstbewusstes und damit auch irgendwie freches Ja.

Das war zu viel. Er verlor die Beherrschung, sprang auf und schrie: »Ja, seid ihr denn total verrückt geworden? Habt ihr geglaubt, ihr könnt einfach mal ’n bisschen Liebe machen, weil der liebe Gott schon auf euch aufpassen wird?«

»Vielleicht.« Wieder so eine knappe Antwort.

Der Vater hatte von Liebe machen gesprochen. Das klang so abwertend, als sei das zwischen Milan und ihr nur so eine Art neugieriges Kinderspiel gewesen. Es war aber mehr, viel, viel mehr gewesen und eigentlich müssten die Eltern das längst wissen.

Wie Feris Vater jetzt dastand und sie anstarrte. Eine Feri, die so zu ihm sprach, kannte er nicht.

Gelegenheit für ihre Mutter, weitere Fragen zu stellen. Mit ihren kleinen, festen Zahnärztinnenhänden, mit denen sie sogar Nüsse knacken konnte, fuhr sie sich durchs Haar, als müsste sie irgendetwas richten. »Woher weißt du denn überhaupt, dass du schwanger bist? Hast du einen Test gemacht?«

»Ja.«

»Aber bei einem Arzt warst du nicht?«

»Nein.«

»Na, dann ist’s vielleicht besser, wir melden dich gleich morgen bei Dr. Fahrenhorst an.« Sie schöpfte wieder Hoffnung. »Erst nach einem Bluttest kannst du sicher sein, dass du dich nicht irrst.«

Dr. Fahrenhorst war ihr Frauenarzt, seit zwanzig Jahren ging die Mutter zu ihm, und auch Feri hatte Vertrauen zu dem immer freundlichen, schon sehr weißhaarigen Mann. Doch was sollte sie bei ihm? »Aber wozu denn? Ich irre mich nicht. Hab zweimal getestet. Auch ist das Ganze ja nun schon fast drei Wochen her, da … da bleibt kein Zweifel.«

Stille. Feris Vater holte tief Luft, ihre Mutter wusste endgültig nicht mehr, was für ein Gesicht sie machen sollte. »Ich versteh dich nicht«, sagte sie schließlich kopfschüttelnd. »Warum hast du denn nicht rechtzeitig den Mund aufgemacht? Dann hätten wir doch sofort was unternehmen können.«

Sie dachte an die »Pille danach«. Und aus ihrer Sicht musste sie das wohl auch fragen. Nur: Eine sie befriedigende Antwort darauf gab’s nicht.

»Hast du dich vor uns geschämt?«

»Auch.«

Wieder wurde geschwiegen, dann schob Feris Mutter mit einer resoluten Geste ihren Teller von sich, wie um reinen Tisch zu machen. »Gut oder schlecht, passiert ist passiert! Natürlich könnten wir dir jetzt Vorwürfe machen, Feri, unendlich viele Vorwürfe könnten wir dir machen. Besonders ich hätte allen Grund dazu, so oft, wie wir über all diese Dinge gesprochen haben. Doch was soll das jetzt noch bringen?« Sie seufzte und holte tief Luft. »Dass wir enttäuscht sind, Feri, wirst du dir ja denken können. Doch kommt’s jetzt ganz allein darauf an, wie die Sache weitergehen soll. – Oder siehst du das anders?«

Nur eine rhetorische Frage. Zur Antwort genügte ein »Nein«. Etwas aber war anders als sonst: Nicht Feris Vater, ihre Mutter hatte sich zuerst gefasst.

»Und? Wie stellst du dir alles Weitere vor? Hast du mit diesem Milan schon darüber gesprochen?«

»Hab ihn angerufen.«

»Und was sagt der junge Mann?« Der Vater wurde ironisch. »Freut er sich darauf, Papa zu werden? Wie alt ist er denn überhaupt?«

»Siebzehn, genau wie ich.« In Feri wuchs der Zorn. Was war das denn hier? Vorwürfe, ja, die hatte sie erwartet, aber nicht dieses Verhör und vor allem nicht die unsichtbare Mauer, die die Eltern da plötzlich zwischen ihnen aufgerichtet hatten. »Und klar würde er sich freuen. Und ich mich übrigens auch, wenn’s … wenn’s eben nur nicht gerade jetzt wäre.«

Das Letzte hatte sie sehr bissig gesagt. Ein Kind zu bekommen war ja schließlich nichts Schmutziges. Die ganze Welt bestand aus Kindern; jeder war mal eines gewesen. Nur zwei Atemzüge lang blieb sie noch sitzen, dann sprang sie auf, als müsste sie jetzt dringend irgendwohin.

Und dann hockte sie im Bad auf dem geschlossenen Klodeckel und durfte die Tränen fließen lassen. Sie heulte, als wollte sie nie wieder damit aufhören. Es war heraus; sie hatte gesagt, was gesagt werden musste, alles würde seinen Lauf nehmen. Nur welchen, das war die große Frage.

Als sie danach, das Gesicht frisch gemacht, an den Abendbrottisch zurückkehrte, saßen die Eltern noch da wie zuvor. Ihre Mutter starrte das halbe Brot an, das noch immer auf ihrem Teller lag, und schien nicht mehr zu wissen, was sie damit tun sollte; ihr Vater, kaum hatte er Feri gesehen, sprang wieder auf und begann im Zimmer auf und ab zu wandern, als könnte er jetzt unmöglich die Füße still halten. Bis er endlich vor ihr stehen blieb und sie lange prüfend ansah. »Deine Mutter hat recht: Du und dieser Milan, ihr habt euch äußerst leichtsinnig verhalten. Doch wie gesagt: Wozu noch Vorwürfe? Jetzt kommt’s allein darauf an, Vernunft walten zu lassen. Also noch mal: Was sagt dein Milan zu alldem?«

»Er … er will noch überlegen.«

»Aha, er will noch überlegen!« Feris Vater lachte auf, warf die Arme in die Luft und ließ sie fallen, als könnte er sich auf diese Weise von irgendwas befreien. »Hätte der junge Mann das doch nur vorher getan, dann steckten wir jetzt nicht in diesem Dilemma.«

Er wusste es nicht besser, deshalb machte er es sich zu einfach: Milan war für ihn der verantwortungslose Loser, der seine Tochter verführt hatte! »Aber Milan hat ja viel weniger Schuld als ich.« Es kostete Feri Mut, das zuzugeben, aber auf gar keinen Fall durfte Milan zum alleinigen Sündenbock gestempelt werden.

»Wie bitte?« Jetzt begriff der Vater gar nichts mehr.

»Er hat viel weniger Schuld als ich«, wiederholte Feri fest. »Ich wollte das! Ich hab damit angefangen. Bei… beide Male!«

So! Damit war auch das heraus. Viel ehrlicher hätte sie nicht sein können.

Ihr Vater riss die Augen auf. Durfte er, was er eben zu hören bekommen hatte, denn wirklich glauben? Sie – seine Tochter! – war nicht verführt worden, sie war die Verführerin? Und es ging nicht um einen einmaligen Ausrutscher?

Auch ihre Mutter schluckte, fasste sich aber gleich wieder. »Was passiert ist, ist nun mal passiert«, wiederholte sie, als hoffte sie, auf diese Weise allen Erörterungen der Schuldfrage ausweichen zu können. »Jetzt kommt’s allein darauf an, wie wir mit dieser Situation umgehen. Habt ihr euch schon informiert? Ich meine, über einen Schwangerschaftsabbruch?«

Es gab keine andere Möglichkeit. Feri wusste das. Doch so etwas einfach abnicken? Das brachte sie nicht fertig. »Ja schon. Aber was, wenn wir das vielleicht gar nicht wollen?«

Sie hatte sehr leise gesprochen, die Mutter aber fuhr hoch, als hätte Feri ihr ins Ohr geschrien – und konnte nun auch nicht mehr sachlich bleiben. »Was soll das denn heißen – nicht wollen? Was willst du dann? Etwa dein Abitur sausen lassen, aufs Studium verzichten? Oder wer, meinst du, kümmert sich um dein Kind, während du in den Hörsälen herumsitzt? Ich etwa? Soll ich die Praxis aufgeben, um Kinderhüteoma zu spielen? – Nein, Feri, an so etwas denke lieber erst gar nicht. Du hast ja keinen Schicksalsschlag erlitten, leidest nicht an irgendeiner furchtbaren Krankheit. Wäre es so, würde ich alle möglichen Opfer bringen, um dir zur Seite zu stehen. Du hast nur deinen Verstand ausgeschaltet – und das so total, wie es totaler nicht geht. Jetzt müssen wir überlegen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.«

Eine Reaktion, die Feri vorausgesehen hatte. War ja klar, die Mutter durfte ihretwegen doch nicht ihren Beruf aufgeben; er war ja ein wichtiger Teil ihres Lebens. »Hab doch nur gemeint, dass ich noch ein bisschen darüber nachdenken will«, wehrte sie sich. »Ist ja noch Zeit. Wieso soll ich mich denn heute schon entscheiden? Weiß das Ganze ja erst seit ein paar Stunden.«

Endlich gelang es dem Vater, über seinen Schatten zu springen. Er zog sie zu sich hoch, nahm sie in die Arme und presste sie fest an sich. »Aber Feri, wir verstehen dich ja! So ein Eingriff ist keine schöne Sache … Doch zum Glück gibt es diese Möglichkeit. Denn Fakten sind nun mal Fakten. Wenn du dir nicht deine gesamte Zukunft verbauen willst, musst du dich wohl oder übel dazu entschließen. Wir … wir könnten dir ansonsten kaum helfen. Eltern sind nun mal nur so etwas wie Gesellschaften mit beschränkter Haftung.« Er lachte, wurde aber gleich wieder ernst. »Wir haben ja auch unser Leben. Oder sollen Eltern bis in alle Ewigkeit für all das, was ihre Kinder anstellen, den Kopf hinhalten? Früher oder später werdet ihr ja sowieso eure eigenen Wege gehen wollen.«

Nur kurz genoss Feri die Wärme dieser Umarmung, dann nickte sie still und ging, ohne die Eltern noch einmal anzusehen, in ihr Zimmer. Dort, am weit offenen Fenster sitzend, die laue Luft der Dämmerung im Gesicht, konnte sie in aller Ruhe weiterheulen.

Der zweite Blick

Wie Milan und sie sich das erste Mal sahen! In den Ferien war das gewesen, in dem großen Biergarten am Waldsee. Mitten zwischen seinen lärmenden und vor Begeisterung über die eigene gute Laune öfter laut wiehernden Freunden hatte er gesessen; ein groß gewachsener Junge mit dunklen Locken. Und egal, wie aufgedreht die anderen waren, welche Witze sie rissen und wie einer den anderen an Lautstärke übertreffen wollte, er sagte nichts, hörte nur zu und grinste hin und wieder.

Fiel ihm eine Locke zu tief in die Stirn, warf er sie mit einer ruckartigen Kopfbewegung zurück. Das wirkte irgendwie störrisch. Oder stolz. Und auch das gefiel ihr. Ob sie wollte oder nicht, unentwegt musste sie zu ihm hinschauen, quer über fast alle Tische dieses quirligen Biergartens hinweg.

Ja, er sah gut aus, daran gab es keinen Zweifel. Aber nicht deshalb war sie auf ihn aufmerksam geworden – der wahre Grund war ein anderer: Aus dem rechten, ebenfalls hochgekrempelten Ärmel seines bunten Hemdes ragte kein Arm. Der Ärmel war leer. Ein Anblick, der sie tief berührte. Was diesem Lockenkopf wohl passiert war?

Irgendwann spürte er ihren Blick. Verwundert sah er zu ihr hin, sie tauchte tief in ihre Limonade und er wandte sich wieder seinen Freunden zu.

Doch nein, sie war nicht enttäuscht. Wozu hätte er sie länger anschauen sollen? Auch der schönste Sonnenschein machte aus einer Motte keinen Schmetterling. Sie hatte sich schon immer einzuschätzen gewusst: Sie war nun mal kein Model-Typ. Eher mittelgroß und drahtig war sie, hatte noch kaum Busen und ihre igelkurzen, rotblonden Haare entsprachen auch nicht gerade dem aktuellen Schönheitsideal. Wenn es überhaupt etwas an ihr gab, das ein bisschen auffiel, dann waren das ihre Augen: groß und grün. Und im Sommer leider auch ihre munter blühenden Sommersprossen über Stirn und Nase.

Die Mutter sprach gerade über den Roman, den sie sich als Ferienlektüre mitgenommen hatte. »Für die Ferien ist so was nichts«, schimpfte sie, »viel zu viele kaputte Personen. Alles Leute, die mit ihrem Leben nicht fertig werden. Da fängt man an, sich zu wundern, weshalb man selber noch einigermaßen heil geblieben ist.«

Der Vater antwortete irgendwas Lustiges, doch das bekam sie schon nicht mehr mit – denn nun sah der Lockenkopf doch wieder zu ihr her. Ein zweiter Blick? Damit hatte sie nicht gerechnet. Ja, und wie er sie jetzt ansah! So neugierig, als wollte er fragen: »Wer bist du? Warum schaust du immer wieder her?« Vielleicht aber auch nur: »Hast du noch nie einen Einarmigen gesehen?«

Sie bemühte sich, möglichst gleichgültig zurückzublicken, aber da lächelte er ihr auf einmal zu – und das war ein so freundlich-sympathisches Lächeln, ob sie wollte oder nicht, sie musste ebenfalls lächeln. Warum denn auch nicht? Warum sollte sie diesem Lockenkopf nicht zeigen, dass er ihr gefiel? Sie würde ihn ja garantiert nicht wiedersehen …

Es war noch ganz zu Anfang der Ferien gewesen. Die Eltern hatten am Waldsee ein Ferienhaus gemietet, mitten in den bayerischen Bergen. Und eigentlich hatte Feri gar nicht mitfahren wollen. Sie hatte schon lange keine Lust mehr, mit den Eltern zu verreisen. Nur: Wenn sie nicht mitgefahren wäre, was hätte sie dann getan? Immer nur Schwimmbad oder Kino, DVDs kucken oder die Mails und SMS lesen, die Edda und Caro ihr aus Spanien und Italien schickten?

Das hätte sie nicht lange ausgehalten. Also ist sie nach vielerlei langwierigen Diskussionen am Ende doch mitgefahren und ihre Mutter hatte sich gefreut. Sie hätte ihr armes, hilfloses Kind nicht gern ganze vierzehn Tage allein gelassen. Und auch ihr Vater hatte dankbar genickt: Gut, dass sie ganz von selbst zur Vernunft gekommen war! Eine siebzehnjährige Tochter, so sein ewiger Spruch, muss man behandeln wie eine Kiste Nitroglyzerin. Nicht dran rütteln, nicht stürzen, nicht kippen, sonst fliegt alles in die Luft.

Und nein, sie hatte das Ganze nicht bereut. Hier, an diesem großen, blauen, von so viel Wald, hohen Bergen und sanften Hügeln umgebenen See, lasen sich Eddas und Caros Jubelschreie leichter. Obwohl: Gewisse Neidgefühle ließen sich auch hier nicht verhindern. Edda joggte jeden Morgen mit ihren Urlaubsbekanntschaften, Mädchen und Jungen aus Frankreich, am Mittelmeer entlang, Caro lernte nicht nur halb Italien, sondern auch alle paar Tage einen neuen Enrico, Renato oder Salvatore kennen. Und das, obwohl sie nun schon seit über einem Jahr mit Timothy ging. Sie hingegen: Urlaub mit Papa und Mama. Morgens gemütlich auf der Veranda frühstücken – Vogelkonzert im Ohr –, vormittags im See schwimmen, mittags gemütlich in einem Wirtshaus Mittag essen. Und danach? Danach satt bis zur Kinnlade in den Liegestühlen herumhängen.

Nachmittags dann ewig lange Spaziergänge oder die Besteigung irgendwelcher Berggipfel, weil sie ja alle drei sooo ausgeruht waren und eine solch irre Aussicht natürlich nicht verpassen durften. Folgte ein gemütliches Abendessen auf der Veranda und erneut abhängen. Diesmal bis zum Dunkelwerden. Es sei denn, die Eltern bekamen noch mal Lust auf ein Bad im See.

Der See allerdings, der war die große Entschädigung für alles andere. Traumhaft, wie klar und sauber das Wasser war. Ob im Sonnen- oder im Mondschein, immer wieder schwamm sie weit hinaus, legte sich auf den Rücken und blickte unendlich lange zum kaum bewölkten oder bereits sternenübersäten Himmel hoch; fast so, als hätte sie Sehnsucht, mit den Wolken fortzutreiben.

Ein komisches Gefühl, das sie jedes Mal sehr genoss, aber nicht verstand: Wohin wollte sie denn? Und warum überhaupt fort? Es ging ihr doch gut. Da war das große, von einem üppigen Garten umgebene Reihenhaus, in dem sie wohnten, und da war ihr auch nicht gerade kleines Zimmer, um das Edda und Caro sie heftig beneideten und in dem sie Alleinherrscherin war. Auch wenn sie eine ganze Woche lang nicht aufräumte oder die Jalousie drei Tage lang nicht hochzog, weder die Mutter noch der Vater redeten ihr rein. Privatsphäre blieb Privatsphäre. Einzige Bedingung: gute Schulnoten! Aber die bekam sie so regelmäßig, wie auf jedes schöne Wochenende ein müder Montag folgte. Wenn ihr in diesem Bayern kein Felsbrocken auf den Kopf fiel, durfte sie auf ein gutes, vielleicht sogar sehr gutes Abi hoffen. – Also: Was wollte sie mehr? Diese unbestimmten, blöden Sehnsüchte waren geradezu lächerlich. Immer wieder sagte sie sich das, während sie weit draußen im See schwamm, doch half das nur wenig. Jenes Grummeln in ihr, mal mehr im Kopf, mal mehr im Bauch, ließ sich einfach nicht abstellen. Irgendwas fehlte ihr, sie wusste nur nicht, was.

Die beiden Kellner, einer rundlich, der andere eher Halm im Wind, wieselten hin und her und scherzten selbst mit den ungeduldigsten Feriengästen. Feris Vater wären zwei dralle Serviererinnen im Dirndl lieber gewesen. »Wozu sind wir denn in Bayern?«, witzelte er. »Ein bisschen Folklore wäre doch gleich ein viel heiterer Anblick als diese schwitzenden Marathonläufer.«

Vor lauter guter Ferienlaune hatte er auch seinen »beiden Frauen« je ein solches Dirndl kaufen wollen. Geschäfte, in denen diese Trachten die Schaufenster füllten − entweder original und teuer oder kitschig und billig −, gab es rund um den Waldsee mehr als genug. Und Dirndl, so glaubte er zu wissen, sollten bei jungen Leuten gerade wieder mächtig hip sein. Feris Mutter hatte ihm daraufhin nur einen Vogel gezeigt und Feri erst gar nicht darauf reagiert. Seit wann wusste ihr Vater denn, was »hip« war? Außerdem: Sie mageres Hühnchen im Dirndl? Wollte er sie zur Witzfigur machen?

Das Essen kam. Ihre Mutter hatte sich nur einen Salat bestellt, wenn auch mit Forellenfilet, Feri und ihr Vater verdrückten jeder eine Portion Gulasch mit Klößen. Feris Mutter, noch immer so schlank wie auf dem Hochzeitsfoto, achtete sehr auf ihre Figur. Ihre größte Angst: irgendwann ein paar Kilo »Hüftgold« mit sich herumschleppen zu müssen. In ihrem Alter, so sagte sie oft, würden die Weichen gestellt – in Richtung Kuh oder Ziege. Ziege sei vielleicht nicht schöner, aber auf jeden Fall gesünder.

Feris Vater sorgte sich kaum um seinen »Wohlstandshügel«. Da konnte ihre Mutter sticheln, so viel sie wollte, ihre Spitzen prallten an ihm ab wie ein Tennisball an einer Betonwand. Eine Diät? Und das ausgerechnet in den Ferien? Sollte er sich hier erholen oder eine Ausbildung zum Hungerkünstler absolvieren?

Während des Essens bemühte Feri sich, nicht immerzu zu dem langen Kerl mit dem leeren Ärmel hinzuschauen. Inzwischen aber hatte er den Spieß umgedreht und beobachtete sie. Und einmal nickte er ihr sogar zu. Sollte wohl Guten Appetit bedeuten.

Sie verzog das Gesicht, als würde ihr diese gegenseitige Angafferei langsam ein bisschen lästig werden. Aber dann spielte sie doch wieder mit, spießte ein Stückchen Fleisch auf die Gabel und hielt es in seine Richtung. Ob er mal kosten wolle?

Er musste lachen und sie lachte mit. Und eigentlich, ja, eigentlich war’s das auch schon gewesen …

Blauer als blau

So hatte es begonnen: nichts als ein bisschen gegenseitiges Anlächeln beim Mittagessen und danach tschüs und auf Nimmerwiedersehen. Am Nachmittag aber hatte Feri mal wieder nicht gewusst, was sie mit sich anfangen sollte – und da sah sie immer öfter diesen Jungen mit den schwarzen Locken vor sich. Was der jetzt wohl machte?

Ein wahrer Sympathiekeks, dieser lange Kerl. Aber der leere Ärmel! Wieder fragte sie sich, was ihm wohl zugestoßen war.

Die Eltern dösten in den Liegestühlen, der hohe Baum mit den unreifen, grünen Äpfeln spendete ihnen Schatten. Ihr Liegestuhl aber war schon lange leer. War ja nicht zum Aushalten gewesen, diese Langeweile. Ein Weilchen war sie im Garten herumspaziert, zuletzt stand sie auf dem kleinen Bootssteg, der zu dem Ferienhaus gehörte, an dem aber kein Boot festgemacht war. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie auf den im Sonnenschein glitzernden See hinaus.

»Wenn ich diesen See seh, brauch ich kein Meer mehr«, hatte ihr Vater voller Inbrunst deklamiert, als er am Abend ihrer Ankunft zum ersten Mal hier stand. War aber gar nicht mal übertrieben, dieser Gefühlsausbruch. Blauer als blau lockte das sich kräuselnde Wasser, strahlend weiße Segelboote glitten darüber hinweg, Kindergeschrei vom nahen Strandbad her erfüllte die Luft. Eine Idylle, als gäbe es nichts als Frieden auf der Welt.

Wieder musste sie an die Szene im Biergarten denken. Was das wohl für Jungen waren, die da so voller guter Laune Witze gerissen, gelacht und gejohlt hatten? Ein paar Freunde auf Trekkingtour? Wenn ja, waren sie sicher längst weitergewandert. Falls aber auch die Jungen an diesem See Ferien machten, wo hatten sie Quartier bezogen? In der Jugendherberge am Fuß der Berge? Auf ihrer ersten Bergwanderung waren die Eltern und sie daran vorübergekommen.

Schade, dass sie diesen Lockenkopf nicht wiedersehen würde! Was, wenn ausgerechnet er der ganz besondere Eine war, der … na ja, der nicht nur ihr gefiel, sondern dem auch sie gefiel? Ein Gedanke, der sie immer unruhiger werden ließ. Vielleicht verpasste sie ja tatsächlich was – etwas, das sich nie wiedergutmachen ließ … Zögernd spähte sie zu den Eltern hin, die noch immer in ihren Liegestühlen lagen. Ob sie mal an der Jugendherberge vorbeispazierte? Sie hatte ja sonst nichts zu tun.

Aber was, wenn die Jungen wirklich dort untergekommen waren und er sie sah? Was sollte er dann von ihr denken? Dass sie ihm nachlief? – Nee, wieso denn? Sie konnte ja rein zufällig dort vorbeigekommen sein, hier gab’s doch keine verbotenen Wege.

Anfangs zögerlich, später schneller werdend, wanderte sie auf die Jugendherberge zu. Sie kannte sich: Je schneller sie lief, desto leiser würden ihre Zweifel.

Eine typisch bayerische, richtig große Jugendherberge war das und direkt am Abhang der Berge stand sie. Das hölzerne Dach ragte weit über die mit vielen bunten Blumen geschmückten Balkone hinaus. Davor, auf dem kurz geschnittenen, dichten Rasen, waren mehrere grüne und weiße Zelte aufgeschlagen. Die hatte es, als sie mit den Eltern hier vorübergekommen war, noch nicht gegeben. – Waren das die Zelte der Jungen vom Biergarten?

Abstand haltend spazierte sie an dem nur halbhohen Drahtzaun entlang, der das weitläufige Gelände von der Straße und vom Wald trennte. Wilde Rufe drangen zu ihr her, ja, und dann sah sie schon: Sie hatte nichts Falsches vermutet, es waren die Jungen, die im Biergarten so laut gelacht hatten, die jetzt dort Fußball spielten. Schoss einer ein Tor, jubelte dessen Mannschaft laut; schoss einer daneben, jubelte die Gegenpartei noch lauter.

Und nun? Was sollte sie sagen, wenn die Jungen sie entdeckten? Warum war sie gekommen? Der Lockenkopf mit dem leeren Ärmel spielte ja auch gar nicht mit, obwohl ein fehlender Arm beim Fußballspielen doch sicher nicht sehr gestört hätte.

Vorwärts oder zurück? Aber nein, auf keinen Fall zurück, sonst stand sie bald wieder am See oder lag im Liegestuhl und würde dieser verpassten Chance nachtrauern. Mutig gab sie sich einen Ruck und ging weiter am Zaun entlang, bis sie an den Fußballern vorüber war. Und da, gleich hinter der Herberge, im Schatten des großen Hauses, sah sie ihn: Vom unteren Ast einer Eiche hing ein roter Punchingball herab, er stand davor, einen genauso rot glänzenden Boxhandschuh über die Hand gezogen, und mit schnellen, rhythmischen Schlägen hieb er auf den Ball ein. Sein nackter Oberkörper glänzte vor Schweiß.

Eine Szene zum Staunen: Ein einarmiger Boxer? Wo hatte es das schon mal gegeben? Aber wie kräftig er auf den Punchingball eindrosch! Wollte er mit aller Gewalt ausgleichen, dass er nur noch einen Arm hatte?

Noch vier, fünf Schritte, dann war sie ihm so nahe gekommen, wie es, getrennt durch den Zaun, nur möglich war. – So, und jetzt? Was sollte sie sagen, wenn er sie entdeckt hatte? Albern, ihm vorzuspielen, dass sie rein zufällig hier vorbeigekommen war, nachdem sie während des Mittagessens immer wieder zu ihm hingeschaut hatte!

Lange bemerkte er sie nicht. Immer weiter trommelte er auf den Punchingball ein. Und wenn er auch sehr schlank war, sein linker Arm war ziemlich muskulös. Dafür baumelte rechts nur ein kurzer, weicher, seidig glänzender Armstumpf.