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Vogelfrei eBook

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Schauplätze des Geschehens:

In Frankfurt-Fechenheim trifft Karlo seinen alten Zellengenossen Lotto-Otto. Ein Mordversuch in Oberrad wirft drängende Fragen auf. Als Kommissar Reichards Frau verschwindet, führt die Spur nach Wüstensachsen in der Rhön. Karlo mietet sich mit Jeannette im Nachbarort Seiferts in einem Hotel ein, und Jeannette hat eine überraschende Begegnung auf dem Gipfel des Wachtküppels, einer markanten Erhebung in der Nähe von Gersfeld.

Bisher sind neun Bände der Karlo-Kölner-Reihe im Verlag Vogelfrei erschienen:

Karlo und der letzte Schnitt
Karlo und der zweite Koffer
Karlo und der grüne Drache
Karlo und das große Geld
Karlo geht von Bord
Geschenke für den Kommissar
Liebe, Tod und Apfelsekt
Miezen, Mord und Malerei
Lottoglück für eine Leiche

Alle Bände sind auch
als E-Book erhältlich

Der Autor

Peter Ripper, Jahrgang 1954, ist selbstständiger Werbefachmann, Gitarrist bei einer Frankfurter Rockband und begeisterter Motorradfahrer und Fotograf.

Er lebt in Langenbieber in der Rhön und in Frankfurt am Main.

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Umschlaggemälde: Sergej Kasakow · www.kasakow-kunstmalerei.de
Lektorat: Stefanie Reimann, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Peter Ripper
Satz: SLG Satz, Layout, Gestaltung, Frankfurt am Main, 0177/3098536
E-Book-ISBN: 978-3-9817124-5-2

Peter Ripper

Lottoglück
für eine Leiche

Kriminalroman

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Vorwort

Die einen behaupten, Glück sei das Einzige, das sich verdopple, wenn man es teilt. Andere halten dagegen, das Prinzip funktioniere auch beim Kartoffelpflanzen, und Glück sei bloß eine trügerische Verbindung von Illusion und Ignoranz.

Unsere chaotische Hauptfigur Karlo Kölner würde vielleicht sagen, Glück sei das Pech, das er gerade mal nicht hat. Oder auch die Fähigkeit sich kratzen zu können, wenn es ihn juckt. Hemingway hingegen war der Überzeugung, Glück bestehe aus guter Gesundheit, gepaart mit einem schlechten Gedächtnis.

Vielleicht erkennt man das Glück aber auch erst dann, wenn es sich verabschiedet hat.

Wie es auch immer sei: Es dürfte auf der Suche nach dem Glück hilfreich sein, wenn man das mag, was man tun muss, und das darf, was man tun mag.

Eine ziemlich einleuchtende Theorie besagt, dass derjenige glücklich ist, der möchte, was er hat, und nicht wer hat, was er möchte.

Und schon sind wir beim Thema: Wer möchte nicht gerne einmal so richtig im Lotto gewinnen? Natürlich muss man dazu erst einmal bereit sein, zu spielen. Hat man das getan, ist so ein Lottoschein bis zur Ziehung der Zahlen allerdings eher eine Art Baugenehmigung zur Errichtung von Luftschlössern.

Wurden dann jedoch die richtigen Zahlen angekreuzt, hat man durchaus sehr großes Glück gehabt. Wie gesagt: gehabt. Denn ob man danach mit seinem Gewinn und allem, was darauf folgt, glücklich wird, steht auf einem völlig anderen Blatt.

Was alles passieren kann, wenn ein Lottoschein ausgefüllt wurde, wer lediglich materiell davon profitiert und wer wirklich glücklich damit wird – oder auch nicht –, ist ein Teil der folgenden Geschichte.

Am Ende aber ist es ganz einfach: Glück ist immer genau das, was man dafür hält.

Und vielleicht macht es Sie ja ein kleines bisschen glücklich, die folgende Geschichte zu lesen ...

Mittwoch, 15. Juli
Frankfurt am Main

1

In der kleinen Küche herrschte zwischenmenschliche Hochspannung. „Jetzt sei nicht so rational, Karlo. Das ist langweilig. So kenne ich dich gar nicht.“ Jeannette Müller stand vor dem Küchentisch und fuchtelte ihrem Freund Karlo Kölner mit einem knallgelben Notizzettel vor der Nase herum. Von den sechs Zahlen, die darauf gekritzelt waren, hatte sie in der vergangenen Nacht geträumt. Nun machte sie sich Hoffnung auf den großen Treffer. Mitten in der Nacht hatte sie sich aus den Federn gequält, um die Zahlen zu notieren.

Karlo schaute kopfschüttelnd auf die Uhr an der Wand. Halb acht. Er begann, eine dicke Schicht Butter auf eine Brötchenhälfte zu streichen, öffnete das Senfglas, fuhr mit dem Messer hinein und schaufelte reichlich Senf heraus, um ihn ebenfalls auf das Brötchen zu schmieren. Nachdem er das Messer genüsslich abgeschleckt hatte, griff er nach der dicken Scheibe Leberkäse auf dem Holzbrett vor sich, halbierte sie und legte eine der Hälften auf das Brötchen.

Die kleine blonde Frau schaute angewidert. „Du bringst dich noch um mit diesem ungesunden Zeug. Iss lieber mal ein Müsli, das ist viel bekömmlicher.“

Karlo betrachtete sein Brötchen liebevoll, seiner Freundin schenkte er einen treuen Hundeblick. Nach kurzem Zögern biss er herzhaft zu. Jeannette zuckte resigniert mit den Schultern und winkte ab. „Was rede ich überhaupt?“, gab sie auf. „Nie hörst du mir zu, wenn ich es gut meine. Und wenn doch, dann nützt es nichts.“ Sie zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ist auch egal“, gab sie auf, „ich muss zur Arbeit.“

Ihre Lottozahlen hatte sie allerdings nicht vergessen. Erneut fing sie an, mit dem Zettel zu fuchteln. „Also – was ist jetzt?“, drängte sie. „Spielst du für mich oder muss ich das nach der Arbeit auch noch selbst machen?“

Karlo atmete tief durch. „Das ist reine Geldverschwendung, Jeannie“, versuchte er noch einmal, sie zu überzeugen. „Du glaubst doch nicht wirklich, nur weil du von sechs Zahlen geträumt hast, gewinnst du damit im Lotto? Die Chance ist eins zu vierzehn Millionen für sechs Richtige. Für den richtig großen Pott mit Superzahl wird’s noch ’ne Menge schwieriger.“ Er runzelte die Stirn. „Aber wir haben’s ja!“ Theatralisch hob er die Hände.

Eine hässliche Falte erschien auf der Stirn seiner Freundin. „Ich denke, dein Freund Gehring hat dir ein so tolles Honorar gezahlt, nachdem du ihm bei seinem letzten Fall geholfen hast?“

„Stimmt, das hat er auch. Das muss aber nicht bedeuten, dass wir das Geld postwendend aus dem Fenster schmeißen müssen, oder?“

„Vielleicht hast du ja recht“, nickte die blonde Frau unsicher, und einen Augenblick glaubte Karlo, seine Freundin wolle einlenken. Doch dann spannte sich ihr Körper wieder. „Aber nur vielleicht“, legte sie energisch nach und hielt ihm den Zettel unter die Nase. Karlo senkte den Kopf und blickte dumpf auf sein Frühstücksbrett. War da wieder dieser beleidigte Unterton? Dunkle Wolken zogen in der kleinen Küche auf. Und Jeannettes Stimme begann quengelig zu werden. Dieser Ton war Karlo wohlbekannt. Schnell wollte er etwas entgegnen. Doch schon ging es weiter. „Außerdem habe ich die Zahlen auswendig im Kopf“, lamentierte sie. „Was glaubst du wohl, wie es um meine Laune bestellt wäre, wenn sie wirklich gezogen würden? Und du aus purem Geiz nicht gespielt hast?“ Ein streitlustiger Blick traf Karlo.

Das Argument saß. Solcherart Laune wollte er nicht ausgesetzt sein. „Ist ja schon gut“, lenkte er ein. „Ich mach’s ja.“ Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn, und seine Bartstoppeln knisterten leise. Ein träumerischer Ausdruck huschte unvermittelt über sein Gesicht. Er nahm den gelben Zettel in die Hand, studierte die Zahlenreihe und schloss die Augen. „Schön wär’s ja schon“, sinnierte er. „Was würdest du mit dem vielen Geld machen?“

„Das überlegen wir uns, wenn wir es haben.“ Jeannette schien sich sicher, und ihre Verstimmung war auf dem Rückzug. Sie grinste. „An Ideen wird es uns bestimmt nicht fehlen, glaubst du nicht auch?“ Stürmisch drückte sie Karlo einen Kuss auf die Lippen. Doch dann zog sie den Kopf mit einem angewiderten „Puuh“ zurück und rümpfte die Nase.

Igittigitt, Leberkäse.

Karlo schaute verständnislos.

„Früchtemüsli zum Frühstück, das macht sexy“, hörte er ihre spöttische Stimme. „Hast du das gewusst? Aber stopf deine geschredderten toten Tiere nur weiter in dich rein. Wirst schon sehen, was du davon hast.“ Sie warf sich eine Jacke über die Schultern und griff nach ihrer Tasche. „So, ich muss los. Bin schon viel zu spät. Bis heute Nachmittag.“

Karlo stand auf, begleitete seine Freundin in die Diele und hielt ihr die Tür auf. Als sie an ihm vorbeilief, wollte er ihr einen Kuss geben, doch sie entzog sich seiner Umarmung. „Nicht jetzt, Karlo. Ich hab keine Zeit mehr. Und putz dir bei Gelegenheit die Zähne, hörst du?“

Enttäuscht lauschte Karlo Jeannettes Schritten. Als die Haustür zuschlug, schlurfte er zurück in die Küche und setzte sich an den Tisch. Er nahm einen Schluck Kaffee, dann blieb sein Blick für einige Zeit an dem kleinen gelben Notizzettel mit Jeannettes Traumzahlen hängen. Es dauerte nicht lange, und er war sich sicher, dass er die Zahlen auch nicht mehr so ohne weiteres vergessen würde.

Es war wie verhext! Nun blieb ihm wirklich nichts anderes mehr übrig. Er musste Jeannette recht geben: Wenn diese Zahlen heute Abend gezogen würden ...

Missmutig starrte er auf das verbliebene Brötchenviertel mit der dicken Scheibe Leberkäse.

Einen Moment zögerte er noch, dann griff er sich den Brötchenrest und stopfte ihn in sich hinein. Wütend begann er zu kauen.

Doch so richtig schmecken wollte es ihm nicht mehr.

Mittwoch, 15. Juli
Frankfurt am Main

2

Otto Biernat war der geborene Pechvogel. Stets war er abgebrannt, nur selten verfügte er über einen richtigen Job, und immer, wenn er mal wieder kein Glück hatte, kam auch noch das Pech dazu. Genau wie in dieser verhängnisvollen Samstagnacht vor ein paar Monaten, als er wegen seiner verzweifelten finanziellen Lage in einen Fechenheimer Kiosk eingebrochen war.

Hineinzukommen war nicht besonders schwierig gewesen. Mit dem unerkannten Verlassen des Kiosks jedoch hatte er Probleme gehabt. Zu verlockend waren die Vorräte an Bier und Spirituosen gewesen. Biernat hatte sich noch vor Ort einen ordentlichen Schluck gegönnt.

Dann noch einen.

Und noch einen.

Nach dem letzten Schluck hatte er, schon mittelschwer angeschlagen und mit einem gewaltigen Rauschhunger ausgestattet, den Bestand an industriegefertigten, in Plastik verpackten Snacks, kleinen Kuchen und Schokoriegeln dezimiert. Dann passierte ihm das entscheidende Malheur: Er nahm noch einen Schluck deutschen Weinbrand.

Den allerletzten.

Danach war er auf dem Fußboden eingeschlafen.

Gewaltige Kopfschmerzen hatten ihn aus dem Schlaf gerissen und ihm immerhin signalisiert, dass er noch lebte. Nachdem er seine verkleisterten Augen mit Schmerzen und großer Mühe freigerieben hatte, schaute er auf zwei Paar schwarze Schuhe. Im linken Paar steckten die Füße von Streifenpolizist Dietmar Hund. Wenn er die Augen nach rechts rollte, was ihm einen verheerenden Schmerz hinter der Stirn verursachte, sah er das Paar, in dem die Gehwerkzeuge von Manfred Haffmann untergebracht waren, dem kleinen blonden Kollegen des zuvor erwähnten Gesetzeshüters. Überflüssigerweise machten die beiden Beamten ihn mit der Tatsache bekannt, er sei nun festgenommen, und alles, was er sage, könne gegen ihn verwendet werden.

Ganz wie im Film.

Der Film, der in Otto Biernats Kopfkino laufen sollte, war im Übrigen gerissen.

Dieser großartige Ermittlungserfolg der beiden Polizisten wurde ermöglicht durch den Anruf des Kioskbesitzers, der die ganze Bescherung am frühen Sonntagmorgen entdeckt hatte, als er seinen Laden öffnen wollte.

Das örtliche Nachrichtenblatt, der Fechenheimer Anzeiger, berichtete in seiner Ausgabe am darauffolgenden Donnerstag ausführlich über die Begebenheit. Das Heimatblatt vergaß nicht, den enormen Mut des Kioskbesitzers sowie die Geistesgegenwart der beiden örtlichen Beamten gebührend zu würdigen.

Was Otto Biernat schnurzpiepegal war.

Er verschwand nämlich für einige Zeit hinter schwedischen Gardinen.

Das war mal wieder: kein Glück.

Und nun kam noch das Pech dazu: Otto verlor seine Dreizimmerwohnung in Seckbach, die er seit der Scheidung von seiner Frau noch eine Zeitlang mühselig hatte halten können. Über ein halbes Jahr Mietrückstand hatten schließlich die Geduld des Vermieters restlos überfordert. Biernats Habseligkeiten wurden in Kartons gepackt und in einer Firma auf der Hanauer Landstraße eingelagert.

Wieder auf freiem Fuß, hatte man ihm eine Einzimmerbude mit Kochnische und winzigem Bad in der Dietesheimer Straße in Frankfurt-Fechenheim zugewiesen. Hier hauste er nun inmitten seiner Kartons, die den größten Teil des Raumes beanspruchten.

Es gab aber noch etwas über Otto Biernat zu berichten: Der geborene Pechvogel hatte so etwas wie eine Obsession. Nein, nichts Dunkles, auch nichts Geheimnisvolles oder gar Verruchtes. Otto Biernat forderte das Glück durch exzessives Lottospielen heraus. Er war der festen Überzeugung, dass sein selbst ausgeklügeltes System in naher Zukunft den ganz großen Treffer landen würde. Dadurch wuchs seine Zukunftsperspektive bis zur nächsten Ziehung in unermessliche Höhen, sein Kontostand hingegen reduzierte sich im Laufe der Zeit drastisch, denn Otto Biernat machte keine halben Sachen. Mit einer Handvoll Felder gab er sich bei weitem nicht zufrieden.

Bei seinen Bekannten prahlte er damit häufig bis an die Grenze des Erträglichen.

Während seiner Knastaufenthalte war er kreuzunglücklich, weil er nicht spielen konnte, und redete kaum von etwas anderem. Diese Angewohnheit hatte ihm den überaus kreativen Namen Lotto-Otto eingetragen.

Als er entlassen wurde und seine finanziellen Möglichkeiten so gut wie erschöpft waren, spielte er immer noch wenigstens ein Kästchen – stets die gleichen Zahlen. Die Zahlen, die er mittlerweile so oft angekreuzt hatte, dass er sie, nachts aus dem Schlaf gerissen, auswendig aufsagen konnte.

Doch bald war Otto finanziell so weit abgebrannt, dass er sogar auf das eine Kästchen verzichten musste. Es war eine im Grunde simple Entscheidung, die ihm dennoch schwergefallen war. Sie fiel allerdings zugunsten der ein oder anderen Flasche deutschen Weinbrands aus.

Was den seelischen Schmerz, wenigstens nach dem Genuss einer solchen Flasche, halbwegs relativierte.

Die korpulente Frau mit den schütteren dunklen Haaren aus dem Stockwerk über seiner Bude kam zur gleichen Zeit wie Otto Biernat an der Haustür an. Sie schnaufte schwer und schleppte etliche große Discounter-Plastiktüten an beiden Händen mit sich.

Biernat erinnerte sich dunkel an seine Kinderstube. Ganz Gentleman öffnete er die Tür und hielt sie mit großer Geste auf. „Bitte schön, Frau Schiebelhut.“

Die Schiebelhut zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt. Breitester Frankfurter Dialekt zwängte sich in seine Ohren: „Saache Sie mal, Herr Biernat, was stinkt denn da so fürschterlich in Ihne Ihrer Wohnung? Des is ja ne Zumutung. Mache Sie denn nie sauber? Wenn des net uffhört, beschwer ich mich bei de Hausgesellschaft. Mer könnt ja glaube, Sie hätte ne Leich bei sich versteckt.“

Biernat atmete tief durch. „Ach, das“, versetzte er unsicher. „Das hat ganz bestimmt was mit dem Abfluss zu tun. Ich hab mich auch schon beschwert. Aber es kümmert sich ja keiner, Sie kennen doch die Gesellschaft. Die kassieren ab, und machen tun sie nichts.“

Natürlich hatte Otto Biernat den Gestank schon selbst bemerkt. Überhaupt keine Frage. Eine knappe Woche nach seinem Einzug hatte es zu riechen begonnen. Zuerst hatte er wirklich geglaubt, es sei der Abfluss. Er hatte ihn einer oberflächlichen olfaktorischen Prüfung unterzogen und war dabei zu der Überzeugung gekommen, dass es nichts mit dem Abfluss zu tun hatte.

Der Verdacht, irgendetwas in den Kisten gammele vor sich hin, war ihm allerdings schon gekommen. Denn was damals alles eingepackt und eingelagert wurde, entzog sich gnädig seiner Erinnerung.

Die ihm angeborene Trägheit und seine stetig wachsende Weltverdrossenheit hatten bis dahin eine Überprüfung der restlichen Wohnung verhindert. Zumal das eine oder andere Gläschen deutschen Weinbrandes den unangenehmen Geruch erträglicher machten.

Momentan aber war er nüchtern.

Leider.

Er beschloss deshalb, zuerst einen Kaffee im Zeitungsladen gegenüber der Eisdiele zu trinken und sich danach im Supermarkt einen ebenso günstigen wie hochprozentigen „Geruchsdämpfer“ zu beschaffen.

Frau Schiebelhut indes schlappte aufgebracht an Biernats Wohnung vorbei und rümpfte die Nase. Nun war es aber endgültig zu viel. Doch in einem Punkt musste sie Biernat recht geben: Der Hausgesellschaft würde es egal sein, wenn sie sich über den Gestank beschwerte.

Was konnte sie also tun? Nachdenklich öffnete sie ihre Wohnungstür. Sie betrat den Flur, hängte ihren Mantel an die Garderobe und brachte die Tüten mit den Einkäufen in die Küche.

Dann kam ihr die Idee.

Sie schlug das Telefonbuch auf. Kurz darauf wählte sie die Nummer des siebten Polizeireviers.

Mittwoch, 15. Juli
Frankfurt am Main

3

„Bitte, einmal die Rundschau. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“ Der Inhaber des Zeitschriftenladens gegenüber der Eisdiele in Alt-Fechenheim schaute Karlo erwartungsvoll an. Karlo überlegte. „Ja“, begann er dann zögerlich, „ich wollte noch Lotto spielen.“

Karlo war kein Lottospieler, das war er noch nie gewesen. Deshalb überkam ihn plötzlich das unangenehme Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

„Meine Freundin hat heute Nacht von einer Zahlenreihe geträumt“, erklärte er betreten, „und jetzt hat sie Angst davor, dass, wenn sie nicht spielt, genau diese Zahlen gezogen werden.“

„Ja, diese Frauen, nicht wahr? So sind sie eben.“ Der Ladeninhaber fing sich einen bösen Blick seiner Angestellten ein, die das Gespräch mitbekommen hatte. Er zuckte mit den Schultern und drückte Karlo einen Lottoschein in die Hand.

Augenblicke später war der Schein ausgefüllt. War ja nur ein Kästchen.

„Komm schon, auf einem Bein kann man nicht stehen.“

Karlo erschrak, als er die Stimme hörte. Seine Hand zuckte zur Seite und blieb an einem Zeitungsständer hängen. Dabei ritzte er sich die Haut am Handballen auf, und ein kleiner Tropfen Blut fiel auf den Lottoschein.

„Mist“, fluchte Karlo leise. Er wischte den Schein an der Hose ab und schaute nach links, von wo die heisere Stimme kam. Der Mann, dem die Stimme gehörte, schaute ihn erwartungsvoll an. Karlo taxierte ihn mit einigen knappen Blicken. Der Typ sah irgendwie ... abgelebt aus. Die Kleider schlotterten ihm um den hageren Leib. Sein graubraunes Fischgratsakko hatte schon bessere Zeiten gesehen. Fatalerweise war die rostbraune Cordhose etwas zu kurz und ließ einen gnadenlosen Blick auf die marode Fußbekleidung, ein paar speckige braune Wildlederschuhe nebst löcherigen Socken, zu.

Karlo zupfte sich nervös an der Nase. Er begriff nicht. „Bitte?“, fragte er unwillig.

„Na ja, ich meine, ein Kästchen ist einfach zu wenig. Du solltest wenigstens das nächste Feld noch ankreuzen. Diese Woche kommen bestimmt meine alten Zahlen dran, pass auf: zwei, elf, fünfzehn, siebzehn, fünfunddreißig, achtundvierzig.“

Karlo war perplex. Was erlaubte sich dieser Kerl? Doch irgendwie konnte er nicht anders. Bedächtig kreuzte er die Zahlen an. Was war heute nur los mit ihm? Zum zweiten Mal an diesem Tag ließ er sich überfahren.

Lottospielen.

Ausgerechnet er.

Er schüttelte den Kopf, tippte sich mit dem Finger an die Schläfe, ging zum Tresen und bezahlte. Dann steckte er Schein und Quittung in die Innentasche seiner Lederjacke und ging zur Tür. Er hatte keine Lust, sich auf den Hageren einzulassen, und ließ ihn einfach links liegen. Karlos innere Stimme meldete sich, und er kannte ihre Sprache, er kannte sie nur zu gut.

Vorsicht, Alter! Hierbei kommt nichts Vernünftiges raus!

Dieses eine Mal vernünftig bleiben.

Also zog er die Tür auf.

Na also, Karlo, geht doch.

Bevor er den Laden verlassen konnte, stach ihm die heisere Stimme in den Rücken.

„Butzbach? Neunzehnhundertzweiundneunzig?“

Karlo blieb ruckartig stehen und versteifte sich.

„Was?“ Langsam drehte sich Karlo um. „Wer zum Henker sind Sie?“

„Nein,“ rief der Hagere ungerührt, „nicht Butzbach.“ Er schien zu grübeln. Dann riss er theatralisch die Augen auf. „Klar, jetzt weiß ich’s wieder, eben fällt’s mir ein: Preungesheim. Zweitausendeins.“ Triumphierend schaute der Dürre in Karlos Gesicht. „Stimmt’s?“

Die Situation wurde ungemütlich, Karlo bekam feuchte Hände. Seine nicht ganz gesetzeskonformen Ausrutscher hatte er weit hinter sich gelassen. Klar, er hatte durchaus schon mal Mist gebaut. Das war jedoch Schnee von gestern, er hatte dazu gestanden und seine Strafe abgesessen. Es mussten nach all der Zeit aber nicht alle erfahren. Vor allem nicht durch diese Jammergestalt. Denn Karlo war beileibe kein schlechter Kerl, mittlerweile hatte er selbst schon oft dazu beigetragen, knifflige Fälle aufzuklären. Ja, sogar einige Polizisten zählten zu seinem engeren Freundeskreis.

Ein Schuss Adrenalin klumpte seinen Magen zusammen, ließ sein Herz schneller schlagen und brachte seine Unterarme zum Prickeln. Er kniff die Augenlider zusammen und ging auf den Mann zu. Nur wenige Zentimeter vor ihm blieb er stehen. „Ich weiß nicht, wer du bist“, zischte er gefährlich leise. „Ich weiß nicht, was du von mir willst. Aber besser wäre es, du willst es ganz schnell nicht mehr, verstanden?“

Der Ladeninhaber duckte sich unwillkürlich weg und musterte Karlo mit erschrocken aufgerissenen Augen.

Doch es passierte nichts. Karlo blieb ruhig, drehte sich abrupt um und verließ den Laden. Vor der Tür blieb er stehen und schob seinen linken Ärmel zurück. Halb eins zeigte seine abgewetzte Uhr. Er atmete dreimal tief durch.

Das hast du gut gemacht, Karlo. Immer ruhig bleiben. Den bist du los.

Da meldete sich das nächste Gefühl: Er bekam Hunger. Sollte er irgendwo eine Kleinigkeit essen? In der ehemaligen Stadt Offenbach? Oder war da schon wieder geschlossen? Vielleicht doch lieber in der Kastanie? Die Bluesmühle fiel aus, die hatte mittags noch zu, außerdem trafen Wirt Harry Webers fragwürdige autodidaktischen Kochkünste nicht ganz Karlos Geschmack.

Wenn er es freundlich ausdrücken wollte.

Was blieb also? Entschlossen wandte er sich nach rechts und lief die Straße entlang Richtung Kastanie. Natürlich könnte er auch nach Hause gehen und sich den Rest Leberkäse braten, dazu ein paar schöne Bratkartoffeln mit viel Zwiebeln und zwei oder besser drei Spiegeleiern.

Seine kulinarischen Träume fanden ein jähes Ende.

Denn da war sie wieder, diese heisere Stimme.

„Jetzt hab ich’s aber wirklich! JVA Weiterstadt. Zweitausendacht. Du bist der Karlo. Ich weiß noch genau: Damals hattest du dem Liebhaber deiner Freundin eins auf die Fresse gegeben. Und warst noch auf Bewährung.“ Ein kurzes meckerndes Lachen folgte. „Deshalb hatten sie dich wieder eingebuchtet, stimmt’s?“

Karlo konnte das frohlockende Grinsen hinter sich geradezu spüren. Er wirbelte herum und packte den abgerissenen Mann am Kragen. „Auf die Fresse geben? Das mach ich jetzt sofort mit dir, wenn du dich nicht augenblicklich vom Acker machst. Letzte Chance, klar?“

Die heisere Stimme wurde zu einem verzagten Wimmern. „Aber – aber, ich bin’s doch nur. Ich, der Otto. Otto Biernat.“

„Lotto-Otto!“

Karlo entspannte sich und ließ los.

„Sag ich doch“, hauchte der Mann kleinlaut, aber auch ein wenig erleichtert. Doch schnell hatte er sich wieder einigermaßen gefasst.

„Mensch, Karlo, ich war doch der Einzige, mit dem du damals geredet hast. Du hast dich nie gemeldet, obwohl ich schon zwei Wochen nach dir rausgekommen bin. Na ja, versäumt hast du nichts. Das Meiste, das ich angefangen habe, ist gegen die Wand gefahren. Hat denn wenigstens bei dir alles geklappt?“

Karlo war einen Schritt zurückgetreten und besah sich Biernat. „Was ist denn mit dir los? Du – du siehst so anders aus. Ich hätte dich fast nicht erkannt. Bist du krank? Du warst doch so ... na ja, wie soll ich sagen ...?“

„Fett?“

„Äh, nun ja, ich ...“, wand sich Karlo etwas verlegen.

„Sag’s ruhig, fett wolltest du sagen. Ja, du hast schon recht. Aber so ist das eben, wenn man keine Kohle hat. Nicht mal mehr zum Lottospielen, das musst du dir mal vorstellen. Man muss sich eben nach der Decke strecken. Nein, Karlo, ich bin nicht krank. Mir geht’s eigentlich ganz gut, körperlich wenigstens. Ansonsten ist es eben immer das Gleiche: das liebe Geld.“ Er kniff die Augen zusammen und zeigte ein bauernschlaues Grinsen. „Du kannst mir ja was abgeben, wenn meine Zahlen gewinnen.“

Nun wurde Karlo doch neugierig. Außerdem plagte ihn der Hunger. Nach Hause, in Jeannettes Wohnung, konnte er Biernat aber nicht mitnehmen. Auf keinen Fall.

Denn ein komisches Gefühl hatte er schon. Otto, der Knast – das alles war doch Vergangenheit. Und die hatte er schon lange hinter sich gelassen. Andererseits hatte er Lust bekommen, ein wenig mit Otto zu quatschen.

„Weißt du was, Otto?“ Karlo rieb sich die Hände. „Wir gehen was essen. Ich lade dich ein. Wir gehen in die Kastanie. Dann können wir ein wenig reden.“

Die Einladung sollte sich als überaus kostspielig herausstellen. Karlo hatte Ottos Appetit gewaltig unterschätzt. Der dürre Mann schien wie ein Fass ohne Boden, und Karlo machte sich langsam Sorgen um seine Finanzen.

Otto Biernat hingegen strich sich zufrieden über den Bauch. Als Vorspeise hatte er eine beachtliche Portion Matjesfilet „Hausfrauen Art“ zu Salzkartoffeln mit Petersilien-Butter vertilgt. Danach stopfte er mit großem Appetit mit Gorgonzola und Birne gratiniertes Putensteak zu Schupfnudeln und Madeira-Sauce in sich hinein. Das Ganze gipfelte in einem adäquaten Nachtisch: ein überaus leckeres Spekulatius-Parfait zu Schokolade-Chili-Orangen-Sauce.

Nun nuckelte Otto an einer Tasse Kaffee, anschließend kippte er mit selig glänzenden Augen einen Malt-Whisky. Er streckte sich behaglich und schaute Karlo an. „Danke, mein Freund, das tat gut. Wirklich gut. Ich habe ewig lange nicht mehr so gut gegessen.“

Achtzig Euro hatte Karlo noch in der Tasche. Er hoffte, dass es reichen würde. Sonst würde er Daniel, den Wirt, bitten müssen, den Rest ein paar Tage anzuschreiben.

Daniel hatte die Teller höchstpersönlich abgeräumt. Nun saßen die beiden Männer vor einem frischen Bier – nicht dem ersten – und redeten. Vor allem Otto klagte sein Leid und erzählte von Pleiten, Pech und Pannen.

Die anderen Gäste hatten das Lokal bereits verlassen. Die meisten kamen zwischen zwölf und halb zwei aus den umliegenden Firmen zu einem schnellen Mittagessen vorbei.