Über Paul Theroux

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Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts/USA, ist mit mehr als dreißig veröffentlichten Büchern einer der weltweit populärsten Gegenwartsautoren. Weltruhm erlangte er vor allem als Reiseschriftsteller. Daneben verfasste er autobiografisch beeinflusste Romane. Theroux ist seit 2013 Mitglied der American Academy of Science and Arts. Er lebt mit seiner Familie auf Hawaii und auf Cape Cod.

Fußnoten

1

* Am 31.12.1999 wurde der Kanal an Panama übergeben. (A.d.Ü.)

Für meine Shanghai Lil

und für Anne, Marcel und Louis

in Liebe

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Jede Reise trägt ein Element von Gefahr in sich: Immer kann etwas Schreckliches geschehen, oder, was viel schlimmer wäre, es kann auch überhaupt nichts passieren. Die schweren Prüfungen eines Reisenden sind in der Rückschau wunderbar; Reisebücher, in denen viel von Leiden und lauernden Bedrohungen die Rede ist, liest man immer gern. Zu meinen Lieblingen gehören Apsley Cherry-Garrards The Worst Journey in the World (gefrorene Hölle am Südpol im Jahre 1912), Wilfried Thesigers Arabian Sands (Hungern in der Wüste Rub-al-Khali), Geoffrey Moorhouses The Fearful Void (Durst und Panik in der Sahara) und Joshua Slocums Sailing Alone Around the World (wundersame Errettungen vor Piraten, Indianern und Naturgewalten). Es gibt noch viele andere.

In einer Zeit, in der die Reiseliteratur von manchen Kritikern als neumodische Spielart des Romans gehandelt wird, sagt es viel aus, wenn jemand solche Reisebücher für abwegiger hält als erzählende Literatur. Meiner Ansicht nach unterscheidet sich ein Reisebuch stark von einem Roman und ist keineswegs etwas Neues. Der Bericht eines Reisenden ist vielleicht die Urform der Erzählung; ihr Ursprung liegt wohl in der schmucklosen Wiedergabe der Erlebnisse von Steinzeitmenschen, die die Sicherheit ihrer Höhle aufgegeben und Streifzüge in die Ferne unternommen hatten. Als die menschliche Phantasie damit begann, solche Erzählungen gestaltend zu verschönern und umzuformen, kam die Kunst der Epik zur Welt.

Im berüchtigten kalten Schneewinter des Jahres 1978 brach ich auf nach Südamerika. Ich hatte gerade meinen Roman Picture Palace beendet (der deutsche Titel Orlando oder Die Liebe zur Fotografie [Claassen, 1980] stammt nicht von mir, ist aber zugegebenermaßen bei weitem beziehungsreicher und reizvoller), hatte nichts mehr zu schreiben und begab mich ganz gezielt auf eine Reise, um darüber zu berichten. Ich freute mich auf die Unternehmung, weil es so aussah, als müsse ich nur mein Elternhaus in der Nähe von Boston verlassen, mich in einen Zug in die Stadt setzen, umsteigen in einen nach Chicago, dann in einen nach Texas, um von Texas aus mit Anschlusszügen durch Mexiko, Guatemala und El Salvador zu gelangen. Was hätte reizvoller sein können? Durch bloßes Umsteigen, ohne jemals den Boden zu verlassen, könnte ich ein fernes, exotisches Ziel erreichen. Und wenn ich großes Glück hätte, würde mir etwas Schreckliches widerfahren.

Das Schlimmste, was dieser Planet zu bieten hat, ist das Erlebnis des Krieges. Auf einer früheren Reise, über die ich auch ein Buch schrieb, hatte ich den in Vietnam tobenden Krieg miterlebt und mir geschworen, dass ich freiwillig keinen Umweg mehr machen würde, um einem weiteren Krieg ins dämonische Antlitz zu sehen. Den möglicherweise denkwürdigen Erlebnissen, die ich 1978 in Nicaragua beim Zusammenbruch des verbrecherischen Somoza-Regimes hätte machen können, entzog ich mich daher. Meine denkwürdigen Erlebnisse waren weitaus weniger dramatisch: Ich entkam einem der schlimmsten Winterstürme in der Geschichte der USA, erschrak zutiefst über die Armut in Mexiko, Guatemala und El Salvador, lernte in Costa Rica Mr. Thornberry kennen, der ein Problem darstellte, aber auch eine Lösung bot, und fand mich verzaubert von Peru und der Fremdartigkeit Boliviens.

Argentinien, wo das üble Regime unter Videla sich auf übelste Weise seiner Kritiker und politischen Gegner entledigte, hatte in ethischer Beziehung keine, in ästhetischer Beziehung aber sehr wohl seine Vorzüge: solche Widersprüche trifft man auf Reisen öfter an.

Meine Begegnung mit Jorge Luis Borges bleibt mir als eine der bedeutendsten in meinem gesamten Reiseleben im Gedächtnis, zeigte sie mir doch, wie ein schlichtes Zusammentreffen mit einer einzigartigen Person einer Reise Gestalt und einem ganzen Land Bedeutung verleihen kann.

Was mir auf dieser Reise am meisten Glück brachte, war, dass jemand mir zufällig den Namen einer Küste in Costa Rica nannte, auf die wir gerade zufuhren. Im zehnten Kapitel wird der Augenblick geschildert: »Wir hatten die Küste erreicht und fuhren jetzt an einem palmengesäumten Strand entlang: die Moskitoküste, die sich von Puerto Barrios in Guatemala bis nach Colón in Panama erstreckt. Ein wilder Landstrich; er scheint mir ein idealer Schauplatz für eine Geschichte über Schiffbrüchige zu sein.«

Die Beobachtung ist einfach genug, nur ein Blick, aber dieser Strand und der Name hafteten in meinem Gedächtnis, und die Idee mit den Schiffbrüchigen bemächtigte sich meiner Vorstellung. Es war nichts als die Andeutung einer Idee zu einer Erzählung, aber sie genügte. Wer sich für den kreativen Prozess interessiert, muss nicht weiter vordringen als bis zu diesen beiden Sätzen über Costa Rica, geschrieben von einem siebenunddreißigjährigen Mann, der Heimweh nach seiner Frau und seinen beiden Kindern in London hatte, aber fasziniert war vom Dschungel, durch den er sich bewegte; ein Mann, der sich nach einer Idee sehnte, nach einem neuen Leben, und sich fragte, wie er wohl zurechtkäme, wenn er seine Familie dazu zwingen könnte, ihn in diesen Urwald, an diesen Teil der Moskitoküste zu begleiten. Und so wurde der Roman geboren, in einem Gefühlswirrwarr von Phantasie, Einsamkeit, Panik, Selbstironie und Größenwahn.

Als ich nach Hause kam, hatte ich zwei Bücher zu schreiben. Dieses ist eines davon, Die Moskitoküste war das andere. Und es bedeutete eine besondere Freude für mich, dass ich diese beiden höchst exotischen Exkurse während der nächsten drei Jahre in der Geborgenheit meiner Familie niederschrieb, in einem stillen Haus in einer Londoner Straße.

1 Der »Lake Shore Limited«

Einer von uns in diesem dahingleitenden U-Bahn-Wagen war bestimmt nicht auf dem Weg zur Arbeit. Das sah man schon an der Größe seiner Reisetasche, und außerdem kann man einen Flüchtling immer an seinem unsteten Ausdruck von Selbstgefälligkeit erkennen: Er scheint ein Geheimnis auf der Zunge zu haben und sieht aus, als würde er gleich damit herausplatzen. Aber warum mich zieren? – Ich war in meinem alten Schlafzimmer aufgewacht, in dem Haus, in dem ich den größten Teil meines Lebens zugebracht hatte. Tiefer Schnee lag ums Haus, zwischen Hintertür und Mülltonne sah man gefrorene Fußstapfen. Ein Blizzard hatte uns gerade heimgesucht, der nächste stand bevor. Ich hatte mich mit mehr Sorgfalt als üblich angezogen, meine Schuhe fester als sonst geschnürt und die Stoppeln auf der Oberlippe für einen künftigen Schnauzbart stehen lassen. Ich klopfte auf meine Taschen, um mich zu vergewissern, dass ich Kugelschreiber und Pass sicher verstaut hatte, ging nach unten, vorbei an der mit Schluckauf behafteten Kuckucksuhr meiner Mutter und weiter zur U-Bahn-Station Wellington Circle. Ein froststarrender Morgen, der ideale Tag, um sich nach Südamerika aufzumachen.

Für manche war dies die Bahn zum Sullivan Square, zur Milk Street, allenfalls nach Orient Heights – für mich war es der Zug nach Patagonien. Zwei Männer unterhielten sich leise in einer fremden Sprache. Da waren Männer mit Lunchpaketen, Diplomatenkoffern und Aktentaschen; und eine Frau, deren zerknitterte Kaufhausplastiktüte darauf schließen ließ, dass sie einen unerwünschten Artikel zurückbringen oder umtauschen wollte (die Originalverpackung verhalf der unangenehmen Transaktion zur nötigen Glaubwürdigkeit). Das Frostwetter hatte die Gesichter der bunt gemischten Fahrgäste in dem Waggon verändert: Die Wangen der Weißen sahen aus wie mit rosa Kreide eingerieben, die Chinesen wirkten blutleer, die Schwarzen aschfahl oder gelblichgrau. Bei Sonnenaufgang waren es minus zehn Grad gewesen, am späten Vormittag minus zwölf, und die Temperatur sank weiter. Als sich am Haymarket die Türen öffneten, fuhr der kalte Wind durch den Wagen und ließ die flüsternden Fremden, die mediterran aussahen, verstummen. Sie zuckten in der Zugluft zusammen. Die meisten Leute saßen in sich zusammengekauert da und hielten sich warm, indem sie die Ellbogen in die Seiten drückten, die Hände in den Schoß legten und die Augen zusammenkniffen.

Sie hatten in der Stadt Dinge zu erledigen: Arbeit, Einkäufe, Bankgeschäfte, den peinlichen Augenblick an der Umtauschkasse. Zwei hatten gewichtige Lehrbücher auf dem Schoß, einen Buchrücken konnte ich entziffern: Allgemeine Einführung in die Soziologie. Ein Mann überflog mit feierlicher Miene die Schlagzeilen im Boston Globe, ein anderer durchforstete mit dem Daumen die Papiere in seiner Aktentasche. Eine Frau sagte zu ihrer Tochter, sie solle mit dem Zappeln aufhören und sich anständig hinsetzen. Jetzt stiegen sie aus, gingen auf die windigen Bahnsteige – nach vier Stationen war der Zug halb leer. Heute Abend würden sie zurückfahren, nach einem Tag voller Gespräche über das Wetter, für das sie sich gut gerüstet hatten: Bürokleidung unter Eskimomänteln, Handschuhe, Fäustlinge, Wollmützen. In ihren Gesichtern zeigten sich Resignation und, schon jetzt, Anzeichen von Erschöpfung. Keine Spur von Aufregung – dies alles war üblich und normal, der Zug gehörte zum Tagesablauf.

Niemand schaute aus dem Fenster. Alle hatten den Hafen, Bunker Hill und die Reklametafeln schon gesehen. Einander sahen sie auch nicht an. Ihr Blick endete ein paar Zentimeter vor ihren Augen. Obwohl sie sie nicht beachteten, sprachen die Schilder über ihren Köpfen doch zu den Menschen, denn sie waren Einheimische, sie zählten, die Werbeleute kannten ihre Adressaten. HABEN SIE SCHON IHRE EINKOMMENSSTEUERFORMULARE? Darunter grinste ein junger Mann mit Matrosenjacke in seine Zeitung hinein und schluckte. BARAUSZAHLUNG AUF SCHECKS IN GANZ MASSACHUSETTS. Eine Dame mit dem gelblichgrauen Teint der Hottentotten umklammerte ihre Einkaufstasche. FREIWILLIGE HILFSKRÄFTE – BOSTONS STÄDTISCHE SCHULEN BRAUCHEN SIE. Für den muffigen Aktentaschenforscher mit der Russenmütze wäre das doch sicher was. BAUFINANZIERUNG? FRAGEN SIE UNS. Niemand sah auf. VOM KELLER BIS ZUM DACH – WERDEN SIE KLEMPNER AM ABENDCOLLEGE. Ein Restaurant. Ein Radiosender. Ein Appell, mit dem Rauchen aufzuhören.

Mir hatten die Schilder nichts zu sagen. Hier ging es um lokale Angelegenheiten, aber ich reiste an diesem Morgen ab. Bei einem, der geht, verfangen die Lockungen der Werbung nicht mehr. Geld, Schule, Haus, Radio: Ich ließ das alles zurück, und schon auf der kurzen Strecke zwischen Wellington Circle und State Street verwandelten sich die Slogans in ein flehendes Gebrabbel: Wortfetzen in einer unbekannten Sprache. Ich konnte sie mit einem Achselzucken abtun, ich wurde von zu Hause weggezogen. Kälte und gleißendes Licht auf dem Schnee – an meiner Abreise war nichts Bedeutsames, nichts Bewegendes, höchstens die Tatsache, dass ich bei der Einfahrt in die South Station schon anderthalb Kilometer näher an Patagonien war.

 

Reisen ist ein Prozess des Verschwindens, ein einsamer Weg auf einer dünnen geographischen Linie, die ins Vergessen führt.

What’s become of Waring

since he gave us all the slip?

 

(Was macht denn Mr. Waring

seit er uns allen entwischt ist?)

Ein Reisebuch ist genau das Gegenteil: Der einsame Wolf ist plötzlich überlebensgroß wieder da, um die Geschichte seines Experiments mit dem Raum zu erzählen. Das ist die schlichteste Form der Erzählung, eine Erläuterung, die Aufbruch und Reise in sich selbst rechtfertigt. Fortbewegung, die ihre Ordnung dadurch erhält, dass sie in Worten wiederholt wird. Diese Art des Verschwindens ist elementar, aber die wenigsten kommen zurück und schweigen. Und doch ist es Brauch, die Reisebeschreibung wie in so vielen Romanen teleskopartig zu verkürzen, mittendrin anzufangen und den Leser an einem exotischen Ort landen zu lassen, ohne ihn erst einmal dorthin zu geleiten. »Die weißen Ameisen hatten sich über meine Hängematte hergemacht« könnte so ein Buch anfangen. Oder: »Dort unten schnitt das patagonische Tal tief ein in den grauen Fels, von äonenalten Streifen gezeichnet und von Fluten zerklüftet.« Oder, um mit ein paar echten ersten Sätzen aus drei zufällig ausgewählten Büchern zu beginnen:

 

»Es war gegen Mittag des 1. März 1898, als ich zum ersten Male in den engen und recht gefährlichen Hafen von Mombasa an der afrikanischen Ostküste einfuhr.« (Lt. Col. J.H. Patterson, The Man-Eaters of Tsavo)

 

»›Herzlich Willkommen!‹ steht auf dem großen Schild am Straßenrand, als das Auto die Haarnadelkurven hinauf aus der Glut der südindischen Ebene hinter sich und uns in eine fast erschreckende Kühle gebracht hat.« (Mollie Panter-Downes, Ooty Preserved)

 

»Vom Balkon meines Zimmers bot sich mir eine Panoramaaussicht auf Accra, die Hauptstadt von Ghana.« (Alberto Moravia, Die Streifen des Zebras)

 

Meine Frage, auf die ich weder in diesen noch in kaum einem anderen Reisebuch eine Antwort finde, lautet für gewöhnlich: »Wie sind Sie dahin gekommen?« Auch wenn kein Motiv angeführt wird, wäre ein Prolog sehr recht, denn die Reise selbst ist oft ebenso faszinierend wie die Ankunft. Aber weil Neugier aufhält und jeder Aufenthalt als Luxus gilt (wozu eigentlich die Eile?), haben wir uns angewöhnt, das Leben als Serie von Ankünften und Abreisen, von Siegen und Niederlagen anzusehen, zwischen denen nichts Mitteilenswertes liegt. Gipfel sind wichtig, aber was ist mit den unteren Hängen des Parnass? Wir haben das Zutrauen zum Aufbruch von zu Hause nicht verloren, doch die Texte darüber sind rar. Von der Abfahrt wird die panische Sekunde in der Abflughalle, das hastige Fummeln nach den Tickets oder ein ungeschickter Kuss an der Gangway beschrieben, und dann kommt nichts mehr bis zu: »Vom Balkon meines Zimmers bot sich mir eine Panoramaaussicht auf Accra …«

In Wirklichkeit geht Reisen anders vor sich. Vom ersten Moment des Erwachens an wendet man sich dem fremden Ort zu, jeder Schritt (erst an der Kuckucksuhr vorbei, dann die Fulton Street runter zum Fellsway) bringt einen näher ans Ziel. The Man-Eaters of Tsavo spielt um die Jahrhundertwende in Kenia und handelt von Löwen, die indische Eisenbahnarbeiter fressen. Aber ich möchte wetten, dass es ein subtileres und ebenso fesselndes Buch über die Seereise von Southampton nach Mombasa gab, das Colonel Patterson aus nur ihm bekannten Gründen ungeschrieben ließ.

Die Reiseliteratur ist armselig geworden. Zur billigen Standardeinleitung gehört inzwischen, dass jemand sich am Fenster der schräggeneigten Flugzeugkabine die Nase platt drückt. Die Effekthascherei eines solchen Witzblattanfangs ist mittlerweile so bekannt, dass sie sich kaum noch parodieren lässt. Wie geht das noch mal? »Unter uns tropisches Grün, ein überflutetes Tal, ein Flickenteppich aus Feldern, und als wir durch die Wolkendecke tauchten, sah ich Schotterpisten, die ins Hügelland führten, die Autos darauf winzig wie Spielzeug. Wir flogen eine Schleife über den Flughafen; beim Landeanflug sah ich die mächtigen Palmen, die Bauern bei der Ernte, die Dächer der ärmlichen Häuser, die quadratischen, mit groben Zäunen zusammengestoppelten Felder, ameisengroße Menschen, das farbige …«

Mich hat diese Art von Ratespiel noch nie sehr überzeugt. Wenn ich irgendwo mit dem Flugzeug ankomme, klopft mir das Herz bis zum Hals, während ich mir, wie vermutlich jeder andere auch, überlege, ob wir gleich abstürzen. Mein Leben blitzt als Potpourri aus scheußlichen und kläglichen Trivialitäten vor mir auf. Dann weist eine Stimme mich an, so lange auf meinem Platz auszuharren, bis das Flugzeug die endgültige Parkposition erreicht hat, und wenn die Maschine endlich Bodenkontakt hat, ertönt aus den Lautsprechern eine konzertante Fassung von Moon River. Wenn ich jetzt noch die Nerven hätte, mich umzuschauen, könnte ich vielleicht einen Reiseschriftsteller kritzeln sehen: »Unter uns tropisches Grün …«

Aber was ist mit der Reise selbst? Vielleicht gibt es nichts zu sagen. Über die meisten Flugreisen gibt es nicht viel zu erzählen. Nur das Katastrophale ist der Rede wert, also definiert man einen angenehmen Flug durch Negationen: Das Flugzeug wurde nicht entführt, man ist nicht abgestürzt, man hat sich nicht übergeben, man war nicht verspätet, man hat sich nicht vor dem Essen geekelt. Also ist man dankbar. Diese Dankbarkeit bringt eine so große Erleichterung, dass das Gehirn leer wird – zu Recht, denn der Flugreisende ist ein Zeitreisender. Er kriecht in eine teppichbelegte, nach Desinfektionsmittel stinkende Röhre und wird festgeschnallt, um nach Hause oder von zu Hause wegzufahren. Die Zeit wird verstümmelt, zumindest verdreht, denn er reist in einer Zeitzone ab und kommt in einer anderen wieder heraus. Von dem Augenblick an, in dem er in die Röhre gestiegen ist und in unbequem aufrechter Haltung seine Knie gegen den Sitz vor sich gepresst hat, vom Augenblick seines Abflugs an konzentriert sich sein Denken auf die Ankunft. Jedenfalls, wenn er überhaupt denkt. Wenn er aus dem Fenster sehen würde, böte sich ihm nichts als die Tundra der Wolkendecke und der leere Raum darüber. Die Zeit wird glänzend geblendet: Es gibt nichts zu sehen. Deswegen scheinen so viele Menschen sich beinah zu entschuldigen, wenn sie per Flugzeug reisen. Sie sagen: »Am liebsten würde ich diese Plastikjumbos vergessen, einen Dreimaster besteigen und mir oben an Deck den Wind um die Nase wehen lassen.«

Solche Entschuldigungen sind nicht nötig. Eine Flugreise ist vielleicht keine Reise im herkömmlichen Sinn, aber sie hat mit Sicherheit etwas Magisches. Für den Preis eines Tickets kann jedermann den burgbewehrten Drachenfels oder den See von Innisfree herbeizaubern, wenn er – beispielsweise in Bostons Logan Airport – die richtige Rolltreppe erwischt, aber wahrscheinlich bietet diese eine Fahrt auf der Rolltreppe mehr Anregung und hat mehr von einer Reise an sich als die ganze Zeit im Flugzeug. Und der Rest? Die Ankunft in dem fremden Land – ist nichts als die Rollbahn eines übel riechenden Flughafens. Wenn der Passagier diese Form von Transfer für Reisen hält und der Öffentlichkeit ein Buch darüber vorlegt, ist der erste Ausländer, den der Leser kennenlernt, entweder ein kleidungfilzender Zollbeamter oder ein schnauzbärtiger Lemur am Einreiseschalter. Obwohl sie inzwischen einfach dazugehören, sollten wir doch die Tatsache beklagen, dass Flugzeuge uns unser Gefühl für den Raum genommen haben; wir sind behindert wie Liebende, die in einer Ritterrüstung stecken.

Dies ist offensichtlich. Was mich interessiert, ist das Aufwachen am Morgen, das Vorrücken vom Vertrauten über das Seltsame und das Fremdartige zum völlig Unbekannten und schließlich Exotischen. Es kommt auf die Reise an und nicht auf die Ankunft; die Passage zählt, nicht die Landung. Weil ich mich von anderen Reisebüchern darum betrogen fühlte und mich fragte, was es eigentlich war, was man mir vorenthalten hatte, wollte ich meinen eigenen Weg ins Reisebuchland ausprobieren, so weit nach Süden fahren, wie es von Medford, Massachusetts, mit Zügen möglich ist, und mein Buch da beenden, wo andere Reisebücher anfangen.

Ich hatte nichts Besseres zu tun. In meinem Leben als Schriftsteller war ich an einem mir inzwischen vertrauten Punkt angekommen: Ich hatte gerade einen Roman beendet, also zwei Jahre Arbeit in geschlossenen Räumen hinter mir. Während ich noch nach einem neuen Thema suchte, fiel mir auf, dass ich, statt Nägel auf die Köpfe zu treffen, nur serienweise Schläge ins Leere vollführte. Ich kann Kälte nicht ausstehen, ich wollte ein bisschen Sonne. Ich hatte keinen festen Beruf: mich hielt nichts. Ich nahm mir meine Landkarten vor und fand eine Strecke, die offenbar ohne Unterbrechung vom Haus meiner Eltern in Medford bis zur Hochebene von Patagonien im Süden Argentiniens verlief. Dort, in der Stadt Esquel, war dann Schluss mit den Eisenbahnen. Nach Tierra del Fuego gab es keine Züge, aber zwischen Medford und Esquel ziemlich viele.

In dieser wanderlustigen Stimmung bestieg ich den ersten Zug, den, der die Leute zur Arbeit brachte. Sie stiegen aus – ihre Zugreise war schon zu Ende. Ich blieb drin – meine fing gerade an.

 

An der South Station, wo meine Haut sich in der stumpfen Kälte wie Krepppapier zusammenzog, erschienen ein paar Freunde. Dampf waberte unter den Waggons hervor; sie tauchten als Nebelgestalten daraus auf, Atemwölkchen wehten um ihre Köpfe. Wir tranken Champagner aus Pappbechern und hopsten herum, um uns warm zu halten. Meine Familie brach aus dem Dunst hervor, Hände wurden geschüttelt wie Pumpenschwengel. Vor Aufregung vergaß mein Vater meinen Namen, aber meine Brüder bewahrten die Ruhe. Der eine gab sich ironisch, der andere beäugte einen flotten jungen Mann auf dem Bahnsteig und meinte: »Ui, ein Süßer, Paul, pass auf, der steigt ein!« Ich winkte meinem Abschiedskomitee zu und tat es ihm nach. Bei der Abfahrt des »Lake Shore Limited« von Gleis 15 kam ich mir vor, als sei ich immer noch in einem vorläufigen Zustand, als würden alle anderen bald aussteigen und nur ich bis zur Endstation im Zug bleiben.

Eine schöne Vorstellung, die ich aber für mich behielt. Wenn ein Fremder mich fragte, wohin ich wollte, sagte ich: »Chicago.« Zum Teil war es Aberglaube – in diesem frühen Stadium der Reise brachte es sicher Unglück, wenn ich mein Ziel angab. Außerdem wollte ich weder den Fragenden mit abwegigen Ortsnamen wie Tapachula, Managua oder Bogotá verwirren noch seine Neugier wecken und ihn zum Nachhaken animieren. Jetzt war ich sowieso noch auf vertrautem Boden, kannte alles: die gebeugten Rücken der braunen Sandsteinhäuser in der Stadt, die lächerlich feierlichen Turmspitzen der Boston University, jenseits des zugefrorenen Charles River die weißen Spitztürme von Harvard, jeder einzelne in seiner ganzen Zerbrechlichkeit wie ein gescheiterter Versuch, einen Elfenbeinturm darzustellen. Die Luft war kalt und klar, weit trug sie den Schrei der Lokomotivpfeife durch die Back Bay. Die Pfeifen amerikanischer Züge haben diesen bittersüßen Doppelton; selbst der unbedeutendste Zug spielt den Träumern am Rande des Schienenwegs das sehnsuchtsvolle Lied perfekt vor. In der Musik heißt der Klang verminderte Terz: Huu-iii! Huu-iii!

Ein paar Autos fuhren auf den gestreuten Straßen, Fußgänger waren nicht zu sehen. Es war zu kalt, um irgendwohin zu laufen. Die Außenbezirke von Boston wirkten wie nach einer Evakuierung: keine Menschen, alle Türen und Fenster fest geschlossen, der schmutzige Schnee türmte sich an den Rändern der leeren Straßen und auf den parkenden Autos. Ein Fernsehsender, mit vorgesetzter Klinkerfassade auf Herrensitz getrimmt, ein zugefrorener Ententeich, eine Kaserne mit angedeuteten grauen Festungsmauern, deren militärischer Nutzen ungefähr so überzeugend war wie der von Pappburgen zum Ausschneiden auf der Rückseite von Cornflakespackungen. Ich wusste, wie diese Vororte hießen, war schon oft dort gewesen, aber weil ich ein so fernes Ziel hatte, gewann jeder Punkt, den wir passierten, an Bedeutung. Es war, als ginge ich zum ersten Mal von zu Hause weg, und zwar für immer.

Weil mir auf einmal klar wurde, wie gut ich diese Orte verstand, hielt ich am Vertrauten fest und wollte es nicht für die Ferne aufgeben. Die Brücke dort, die Kirche da drüben, das Feld. Von zu Hause wegzugehen kommt nicht als Schock, sondern eher als ein langsam wachsendes Trauergefühl; es verstärkt sich mit jedem vertrauten Ort, der am Fenster vorbeizieht, der verschwindet und zur Vergangenheit wird. Die Zeit wird sichtbar und bewegt sich mit der Landschaft. Jede verstreichende Sekunde wurde mir vorgeführt, während der Zug dahinschoss und die Gebäude mit einem Tempo abhakte, das mich melancholisch stimmte.

Hier in Framingham wohnten elf meiner Cousins. Bungalows, gezähmte Wälder und eisbedeckte Veranden auf Hügeln, saubererer Schnee als in Boston. Und etwas menschliches Leben: Kinder, die an diesem Winternachmittag auf einer Eisbahn zwischen ein paar verfallenen Häusern vornübergebeugt auf ihren Schlittschuhen herumsausten. Augenblicke später überquerten wir eine Klassenschranke: große rosafarbene, grüne, gelbe und weiße Kästen, manche davon mit schneegefüllten Swimmingpools. Der »Lake Shore Limited« legte den Verkehr auf der Hauptstraße lahm, wo ein Polizist, dessen vor Kälte aufgedunsenes Gesicht die Farbe einer Salami hatte, mit Bärentatzenfäustlingen an den Händen die Autos zurückhielt.

Weit war ich bisher nicht gekommen. Ich hätte noch schnell aus dem Zug springen und per Bus den Heimweg nach Medford antreten können. Obwohl ich mich hier gut auskannte, entdeckte ich neue Dinge: eine andere Struktur des Vorortschnees, die kumpelhaften Namensschilder an den Läden (»Wally’s«, »Dave’s«, »Angie’s«) und immer wieder die amerikanische Flagge. Die Stars and Stripes wehten über Tankstellen, Supermärkten und zahllosen Hinterhöfen. Ein Kirchturm in der Form einer Pfeffermühle. Ich konnte mich nicht entsinnen, ihn schon gesehen zu haben, aber ich war auch noch nie so Hals über Kopf von zu Hause weggereist wie jetzt. Weil ich eine so lange Reise vor mir hatte, konnte ich es mir erlauben, mich mit Details zu befassen. Die Fahnen gaben mir Rätsel auf: Handelte es sich um stramm patriotische Großsprecherei, eine Warnung an Fremde oder um Dekorationen für einen staatlichen Feiertag? Warum zum Beispiel flatterte die hübsche kleine Fahne im müllbedeckten Gärtchen dieses verkommenen Häuschens dort so treu an ihrer Stange? Allem Anschein nach handelte es sich um eine amerikanische Obsession, um eine Art von Götzendienst, die ich nur den primitivsten politischen Gemütern zugetraut hätte.

Die untergehende Sonne färbte den Schnee bronzefarben, und jetzt sah ich fahnengeschmückte Fabriken, die auf den hohen Backsteinschornsteinen für ihre Produkte warben: SNIDERS DRESSED BEEF stand auf einem, auf einem anderen ein einziges Wort: ENVELOPES. Und wie vorher die Kaserne mit ihren falschen Burgmauern nun eine Kathedrale mit Stützpfeilerattrappen und glockenlosem Glockenturm, ein paar Häuser mit Säulen, die das Dach nicht trugen, dekorative Imitate an einem Pfefferkuchenhäuschen. Echtheit sollte hier nicht vorgespiegelt werden, es ging um die Betonung der Niedlichkeit, wie sie oft an amerikanischen Gebäuden zu sehen ist – Zitate als legitime Bestandteile der Architektur.

Und zwischen den kleinen Industriestädtchen – die jetzt immer weiter auseinander lagen – wurden die dichten Wälder dunkler, die Stämme der Eichen sahen schwarz und abweisend aus wie Kirchenkanzeln. Kurz vor Springfield legte sich die Nacht über die kahlen Hügel, in den verschneiten Tälern glitt der Phosphorschein des tiefen Schnees zu schwarzen Bächen mit von der Strömung aufgerauten Oberflächen. Seit Boston war ständig Wasser in Sicht gewesen: eisbedeckte Seen und Teiche, halb zugefrorene Flüsse oder Bäche mit muschelförmigen Eisablagerungen an den Ufern, das wenige offene Wasser wirkte im Zwielicht wie Tinte. Dann ging die Sonne unter, das Licht vom Himmel ergoss sich in das Loch, in dem sie verschwunden war, und die winzigen Fenster, die durch die Wälder zu sehen waren, schienen heller erleuchtet. Weit entfernt an der Straße stand ein Mann mit Fäustlingen allein vor den Zapfsäulen seiner Tankstelle und sah dem Zug nach.

Bald darauf waren wir in Springfield. Ich erinnerte mich sehr deutlich an den Ort, daran, wie ich an einem Winterabend an diesem Bahnhof ausgestiegen und über die lange Brücke über den Connecticut River bis zur Route 91 gelaufen bin, um per Anhalter nach Amherst weiterzufahren. Auch heute Abend trieben Eisschollen auf dem Fluss, da waren immer noch die dunkelbewaldeten Hänge auf dem jenseitigen Ufer und der gleiche schneidende Wind. Erinnerungen an die Schule sind für mich immer Erinnerungen an Verlassenwerden, Unerfahrenheit, an die freudlose Ungeduld, unter der ich litt wie unter Armut. Traurige Zeiten habe ich damals durchgemacht. Das Vorwärtskommen beim Reisen ist eine Gnade: Bevor ich mir allzu viel ins Gedächtnis rufen und diese Stadt und dieser Fluss mir eine bestimmte Erinnerung zuspielen konnten, kam der Pfiff, und fort ging es in die Amnesie der Nacht. Wir fuhren nach Westen durch die Wälder von Massachusetts, das Rattern des Zuges klang dumpf zwischen den Schneewehen. Aber sogar in dieser Dunkelheit erkannte ich alles. Es war nicht die undurchsichtige Nacht, nicht die ungebrochene Dunkelheit im Hinterland einer fremden Gegend, sondern eine Finsternis, die nur Fremde verwirrt. Für diese Jahreszeit in dieser Gegend war es ein ganz gewöhnlicher Abend; ich kannte alle seine Gespenster: Es war die Dunkelheit der Heimat.

Ich saß noch immer in meinem Abteil. Der Champagner an der South Station hatte mich ziemlich benebelt, und obwohl William Faulkners Wilde Palmen aufgeschlagen auf meinem Schoß lag, hatte ich keine drei Seiten gelesen. Hinten auf den Schutzumschlag hatte ich gekritzelt: »Polizist mit der Gesichtsfarbe einer Salami«, »Wasser wie Tinte«, »Fahnen« – und ansonsten zum Fenster hinausgesehen. Andere Passagiere hatte ich noch nicht wahrgenommen, weil ich nicht darauf geachtet hatte. Ich wusste nicht, wer sonst in diesem Zug saß, und verschob in meinem teilnahmslosen Zustand die sozialen Kontakte auf später: wenn heute nicht, dann eben morgen in Chicago oder übermorgen in Texas. Ich hätte es mir auch bis Lateinamerika oder bis zu einer anderen Klimazone aufheben, einfach dasitzen und lesen können, bis das Wetter sich änderte, und erst dann ein bisschen spazieren gehen. Aber schließlich fand ich den Faulkner doch zu unzugänglich und ließ meine Neugier über meine Trägheit siegen.

Im Gang des Schlafwagens (übrigens der einzige Schlafwagen des Zuges, und einen Namen hatte er auch: »The Silver Orchid«) stand ein Mann. Er hatte die Unterarme und das Gesicht gegen die Fensterscheibe gedrückt und starrte auf Pittsfield oder die Berkshires: auf einen kalkweißen, in Nacht und Schnee gehüllten Birkenhain, auf eine Reihe Zaunpfosten, die aus den Schneewehen, in denen sie halb begraben lagen, deutlich herausstakten, auf die schattigen Laternenformen kleiner Zedern und auf einen streifigen Zuckerguss aus Schneeflocken, der auf der Scheibe vor seiner Nase die Bewegung des Windes nachahmte.

»Genau wie die ›Transsibirische Eisenbahn‹«, sagte er.

»Nein«, sagte ich.

Er zuckte zusammen und starrte weiter vor sich hin. Mit schlechtem Gewissen, weil ich ihm über den Mund gefahren war, ging ich bis zum Ende des Waggons. Als ich mich umwandte, stand er noch immer da und betrachtete die Dunkelheit. Ein älterer Herr, der seine Bemerkung sicher nur als freundliche Geste gemeint hatte. Ich tat so, als sähe ich selbst aus dem Fenster; als er sich aufrichtete und, wie auf einem im Sturm schwankenden Schiffsdeck in einer Art Tango die Balance haltend, auf mich zukam, sprach ich ihn wieder an: »In Sibirien gibt es nicht so viel Schnee.«

»Was Sie nicht sagen.« Er ging weiter. Seinem brüsken Ton konnte ich entnehmen, dass er für mich verloren war.

Da es bis Albany, wo der New Yorker Zugteil mit dem Speisewagen angekoppelt wurde, nichts zu essen geben würde, ging ich in den Salonwagen, trank ein Bier, stopfte meine Pfeife, zündete sie an und ergab mich dem tranceartigen Zustand müßigen Nachdenkens, in den Pfeifenrauch mich immer versetzt. Ich blies einen so dichten Kokon aus dicken, tröstlichen Wolken um mich herum, dass das Mädchen, das in den Wagen kam und sich mir gegenübersetzte, so geisterhaft aussah wie ein im Nebel verirrtes Kind. Sie legte drei prallvolle Tüten auf den Tisch, kreuzte die Beine zum Schneidersitz, faltete die Hände im Schoß und stierte versteinert in den Waggon hinein. Ihre Intensität machte mich hellwach. Am Nachbartisch saß ein in eine Matt-Helm-Geschichte vertiefter Mann, daneben zwei Poker spielende Streckenarbeiter mit ihrem Werkzeug. Dann noch ein Junge mit einem Kurzwellenempfänger, dessen Krach aber im Getöse des Zuges unterging. Ein Uniformierter rührte in seinem Kaffee – eine alte, verschmierte Laterne zu seinen Füßen wies ihn als Eisenbahner aus. Am gleichen Tisch wie er, aber ohne sich mit ihm zu unterhalten, saß eine dicke Frau und knabberte verstohlen an einem Schokoriegel. Sie tat es so schuldbewusst, als ob sie befürchten müsste, dass jeden Moment jemand kommen und sie anschnauzen könnte: »Schmeiß das Ding weg!«

»Können Sie vielleicht das Rauchen lassen?«

Das Mädchen mit den Tüten und dem versteinerten Blick.

Ich sah mich nach einem Nichtraucherschild um. Es gab keins. »Stört es Sie?«

»Es macht mir die Augen kaputt.«

Ich legte die Pfeife hin und trank einen Schluck Bier.

»Das Zeug ist Gift«, sagte sie.

Ich sah sie nicht an, sondern betrachtete ihre Tüten: »Erdnüsse sind krebserregend, heißt es.«

Rachsüchtig grinste sie mich an: »Kürbiskerne.«

Ich wandte mich ab.

»Und das hier sind Mandeln.«

Ich überlegte, ob ich meine Pfeife wieder anzünden sollte.

»Und hier sind Cashews drin.«

Sie hieß Wendy. Ihr Gesicht war ein Oval voller Unschuld, ungetrübt von jeder Art von Wissensdurst. Vielleicht war sie irgendwie hübsch, aber auf mich wirkte sie nur hausbacken, also absolut uninteressant. Sie konnte ja nichts dafür; wem gelingt es schon, im Alter von zwanzig interessant zu sein. Sie sei Studentin, sagte sie, und auf dem Weg nach Ohio. Sie trug Holzfällerstiefel zu einem indischen Rock; in der schweren Lederjacke sah sie aus, als hätte sie Hängeschultern.

»Was studieren Sie denn, Wendy?«

»Östliche Philosophie. Ich zieh mir gerade Zen rein.«

Himmel hilf, dachte ich. Aber sie redete weiter. Sie hatte gerade etwas über die große Leere gelernt, vielleicht ging es auch um die ganzheitliche Lehre – für mich ergab das sowieso keinen Sinn. Gelesen hätte sie noch nicht wahnsinnig viel, sagte sie, und außerdem hätte sie miese Lehrer. Aber wenn sie erst mal in Japan oder Burma wäre, hätte sie sich gedacht, würde sie viel mehr rauskriegen. Erst mal würde sie noch ein paar Jahre in Ohio bleiben. Das Irre am Buddhismus sei doch, dass er das ganze Leben einschloss. Egal, was man tut, es ist Buddhismus. Was auch immer in der Welt passiert – alles Buddhismus.

»Die Politik aber nicht«, sagte ich. »Die ist bloß verlogen und hat mit Buddhismus nichts zu tun.«

»Das sagen alle, aber sie haben unrecht. Ich hab gerade Marx gelesen, und irgendwie ist der auch Buddhist.«

War das ihr Ernst?

»Marx hatte ungefähr so viel von einem Buddhisten an sich wie diese Bierdose«, sagte ich. »Wie auch immer; ich dachte, wir reden über Politik. Die ist nämlich das Gegenteil von Denken: Selbstsucht, Engstirnigkeit und Unehrlichkeit, nichts als Halbwahrheiten und Verkürzungen. Der eine oder andere buddhistische Politiker könnte vielleicht etwas ändern, aber in Burma, wo …«

»Nehmen Sie eine.« Sie zeigte auf ihre Tüten mit Nüssen. »Ich esse nur Rohkost und nehme auch keine Milchprodukte zu mir. Wahrscheinlich haben Sie damit recht, dass die Politik immer auf dem falschen Weg ist. Ich glaub, dass die Menschen sowieso alles falsch machen – vollkommen falsch, meine ich. Sie essen Müll. Sie konsumieren Müll. Sehen Sie sie doch an!« Die dicke Frau nagte immer noch an ihrem Schokoriegel – vielleicht war es auch schon ein neuer. »Sie zerstören sich selbst und wissen es nicht einmal. Sie rauchen sich zu Tode. Sehen Sie sich den Qualm in diesem Waggon hier an.«

»Ein Teil davon stammt von mir.«

»Er macht mir die Augen kaputt.«

»Keine Milchprodukte«, sagte ich. »Das heißt, Sie trinken also keine Milch?«

»Genau.«

»Und Käse? Käse ist doch was Gutes. Und man braucht doch auch Kalzium.«

»Ich decke meinen Kalziumbedarf durch Cashewnüsse.« Konnte das stimmen? »Und von Milch war ich immer total verschleimt. Milch ist der größte Schleimerzeuger, den es gibt.«

»Das wusste ich nicht.«

»Früher hab ich pro Tag eine ganze Schachtel Kleenex verbraucht.«

»Eine Schachtel? Das ist ja ziemlich viel.«

»Die Milch war schuld. Ließ alles verschleimen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie mir immer die Nase lief.«

»Kommt es daher, dass manchen Leuten dauernd die Nase läuft? Von der Milch?«

»Ja!«, rief sie.

Vielleicht war ja etwas dran an ihrer Theorie. Milchtrinkern läuft die Nase. Kinder trinken Milch. Also muss Kindern die Nase laufen. Und Kindern läuft wirklich andauernd die Nase. Aber ich hatte doch meine Zweifel. Jedem lief die Nase – nur ihr nicht, offenbar. »Von Milchprodukten kriegt man außerdem Kopfschmerzen.«

»Sie wollen sagen, dass Sie davon Kopfschmerzen kriegen.«

»Genau. Erst neulich Abend. Meine Schwester weiß, dass ich Vegetarierin bin, und sie hat Auberginenauflauf mit Parmesan für mich gemacht. Sie wusste nämlich nicht, dass ich ausschließlich Rohkost esse und keine Milchprodukte. Ich hab den Auflauf angeguckt – ein Blick auf die Käseschicht, und schon wusste ich, dass ich mich danach scheußlich fühlen würde. Aber sie hatte den ganzen Tag in der Küche gestanden – was sollte ich machen? Das Komische ist, dass es mir sogar gut geschmeckt hat. Gott, war mir hinterher schlecht – und meine Nase fing an zu laufen.«

Ich erzählte ihr, dass Mahatma Gandhi in seiner Autobiographie behauptet, Essen fördere die Lüsternheit. Und ausgerechnet er hat mit dreizehn, in einem Alter, in dem die meisten amerikanischen Kinder in der Jugendliga herumbolzen oder ihre gesamte Hirnkapazität auf die Herstellung von Wurfgeschossen aus Spucke und Papier konzentrieren, geheiratet – und er war Vegetarier.

»Aber das war keine richtige Hochzeit«, meinte Wendy. »Eher so eine Art hinduistische Zeremonie.«

»Der Ehevertrag wurde geschlossen, als er sieben war, die Hochzeit hat das Geschäft nur besiegelt. Da waren beide dreizehn, und er fing schon an, sie zu bumsen – obwohl das vielleicht nicht der passende Ausdruck für das Liebesspiel des Mahatma ist.«

Wendy wurde nachdenklich. Ich versuchte es noch mal. Ob sie, wollte ich wissen, vielleicht seit ihrer Konversion zur Rohkost ein Nachlassen ihres sexuellen Appetits festgestellt habe?

»Schlafstörungen hatte ich zuerst«, sagte sie. »Und schlecht war mir, echt schlecht. Und miese Laune habe ich auch gekriegt, muss ich zugeben. Ich glaube, dass Fleisch wirklich aggressiv macht.«

»Aber was ist mit den sexuellen Wünschen? Hunger, Gier – ich weiß nicht recht, wie ich es nennen soll.«

»Meinen Sie Sex? Sex soll ja nicht gewalttätig sein, sondern etwas Sanftes und Schönes. Still und ruhig.«

Vielleicht wenn man Vegetarier ist, dachte ich. Die pedantische Studentinnenstimme brabbelte unablässig weiter.

»Ich verstehe meinen Körper jetzt viel besser … Ich habe meinen Körper jetzt erst richtig kennengelernt … Stellen Sie sich vor, ich merke es inzwischen sofort, wenn sich mein Blutzuckerspiegel auch nur ein kleines bisschen verändert. Ich kann spüren, wie er rauf- und runtergeht, mein Blutzuckerspiegel, wenn ich bestimmte Dinge esse.«

Ob sie jemals schwer krank geworden sei, erkundigte ich mich. Absolut nicht, sagte sie. Ob sie sich manchmal ein kleines bisschen krank fühle?

Ihre Antwort war erstaunlich: »Ich glaube nicht an Keime.«

Toll. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht an die Existenz von Krankheitserregern glauben? Dass die Dinger bloß eine optische Illusion unter dem Mikroskop sind, Staubkörnchen, kleine Flecken, so was?«

»Ich glaube nicht, dass Keime krank machen. Bakterien sind Lebewesen – kleine, harmlose, lebendige Wesen.«

»Wie Flöhe und Kakerlaken«, sagte ich. »Nette kleine Tierchen, oder?«

»Keime machen nicht krank«, beharrte sie. »Essen macht krank. Wenn man sich schlecht ernährt, schwächt man seine Organe und wird krank. Die Organe werden krank, das Herz, der Darm.«

»Aber wovon werden die Organe krank?«

»Von schlechtem Essen. Es schwächt sie. Wer sich gut ernährt wie ich«, sie deutete auf ihre Kürbiskerne, »wird nicht krank. Ich werde auch nie krank. Wenn mir die Nase läuft und ich Halsweh habe, nenne ich das nicht Erkältung.«

»Nein?«

»Nein, weil es daher kommt, dass ich etwas Schlechtes gegessen habe. Also esse ich dann etwas Gutes.«

Ich stellte meine Frage, ob mit dem Begriff Krankheit nur eine laufende Nase gemeint sei und nicht vielleicht auch Krebs oder Beulenpest, erst einmal zurück. Befassen wir uns mit dem Detail, dachte ich. Was sie denn an diesem Tag gegessen habe?

»Das hier. Kürbiskerne, Cashewnüsse, Mandeln. Eine Banane. Einen Apfel. Ein paar Rosinen. Eine Scheibe Vollkornbrot – getoastet. Wenn man es nicht toastet, verschleimt man.«

»Ihre Lebensweise ist eine Art Kriegserklärung an alle Gourmets, nicht wahr?«

»Ich weiß, ich habe ziemlich radikale Ansichten.«

»Ich würde sie nicht als radikal bezeichnen«, sagte ich, »sondern eher als selbstgefällig und selbstbezogen, man könnte auch sagen, egozentrisch. Witzigerweise kann man, wenn man selbstgefällig und egozentrisch ist und die ganze Zeit an Gesundheit und Reinheit denkt, ganz leicht zum Faschisten werden. Meine Ernährung, mein Darm, mein Ego – so reden Rechte. Als Nächstes werden Sie sich noch über die Reinheit der Rasse auslassen.«

»Okay«, gestand sie in einer plötzlichen Kehrtwendung: »Ich gebe zu, dass einige meiner Ansichten konservativ sind. Na und?«

»Tja, weil zum Beispiel außerhalb Ihrer Eingeweide eine ganz große Welt liegt. Der Mittlere Osten. Der Panamakanal. Politische Gefangene im Iran, denen man die Fußnägel rausreißt. Indische Familien, die verhungern müssen.«

Meine Tirade machte wenig Eindruck und brachte sie bloß auf das Thema Familie, vielleicht weil ich hungernde Inder erwähnt hatte. Familien könne sie nicht ausstehen, sagte sie. Da sei einfach nichts zu machen, sie hasse sie einfach.

»Woran denken Sie bei dem Wort Familie?«

»Ein Kombi, eine Mutter, ein Vater. Vier oder fünf Kinder, die Hamburger essen. Sie sind grässlich, und sie sind überall, fahren überall rum.«

»Sie meinen also, dass Familien nur die Landschaft verschandeln?«

»Eigentlich ja.«

An ihrem College in Ohio war sie seit drei Jahren. In dieser ganzen Zeit hatte sie keinen einzigen Literaturkurs belegt. Und noch interessanter war, dass sie auf dieser Reise zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Bahn fuhr. Der Zug gefalle ihr, sagte sie, ließ sich ansonsten aber nicht weiter darüber aus.

Was sie mit ihrem Leben vorhabe, erkundigte ich mich.

»Ich glaub, ich will was mit Ernährung machen. Unterricht über Essen. Leuten beibringen, was sie essen sollen. Ihnen sagen, was sie krank macht.« Die Stimme einer Kommissarin, die im nächsten Augenblick schwelgerisch tönte: »Manchmal sehe ich ein Stück Käse. Ich weiß, dass es gut schmeckt, ich weiß, dass es mir schmecken würde. Aber ich weiß auch, dass es mir am nächsten Tag ganz scheußlich geht, wenn ich es esse.«

»So geht es mir beim Anblick einer Magnumflasche Champagner, einer Kaninchenpastete und eines Tellers voll Windbeutel mit Schokoladensoße«, sagte ich.

Damals nahm ich Wendys Verrücktheit nicht so wichtig, aber als ich mich später an unsere Unterhaltung erinnerte, kam mir das Mädchen doch außerordentlich gestört vor. Und außerordentlich desinteressiert. Ich hatte ihr ganz nebenbei zu verstehen gegeben, dass ich im einstigen Königreich Burma und in Afrika war, hatte ihr Leopold Blooms Vorliebe für »den schwachen Urinduft« der Leber, die er zum Frühstück aß, geschildert und ein bisschen was über den Buddhismus, über die Essgewohnheiten von Buschmännern in der Kalahari und über Gandhis frühes Eheleben einfließen lassen, war also ein ziemlich interessanter Mann – oder etwa nicht? Aber sie hatte mir während der ganzen Unterhaltung keine einzige Frage gestellt und sich weder dafür interessiert, was ich machte, noch woher ich kam und wohin ich wollte. Entweder hatte ich ihr Fragen gestellt, oder sie hatte monologisiert, mit ihrer süßlichen Fistelstimme rosarote Gemeinplätze von sich gegeben, ab und zu ihre Beine wieder in den Lotussitz zurückverfrachtet und ein Beispiel an vollkommener Selbstversenkung und verzweifelter Selbstbeweihräucherung geboten. Eine Verwechslung von Egoismus und Buddhismus. Ich habe immer noch ein Faible für die Unvoreingenommenheit amerikanischer College-Studenten, aber dieses Mädchen erinnerte mich daran, wie viele ich kennengelernt habe, denen nichts beizubringen war.

Die vorgerückte Stunde und mein Hunger müssen das Gespräch wohl auf das Essen gelenkt haben. Aber jetzt waren wir in Albany. Ich entschuldigte mich und ging schnellstens in den jetzt angekoppelten Speisewagen. Die nächsten Meilen führten über eine historische Trasse: Seit über einhundertfünfzig Jahren verkehren schon Züge zwischen Albany und Schenectady, anfangs mit der »Mohawk and Hudson Railway«, Amerikas ältester Eisenbahngesellschaft. Im weiteren Verlauf folgt die Strecke dem Erie Canal. Diese Eisenbahn war es, die den Kanälen und Wasserstraßen das Geschäft wegnahm, auch wenn ihre Effizienz von den rivalisierenden Gesellschaften erbittert bestritten wurde. Die Fakten sprachen für sich: Um 1850 brauchte man für die Schiffsreise von New York nach Chicago vierzehneinhalb Tage; mit dem Zug nur noch sechseinhalb.

Flott stellte ein serviettenschwenkender Kellner das Amtrak-Essen auf den Tisch. Mein Steak-Sandwich, auf das ich reichlich Tabascosoße gegossen hatte, betrachtete ich als Racheakt an Wendy mit ihrer Vorliebe für rohe Alfalfasprossen. Während ich aß, setzte sich ein Vertreter (er verkaufte Polaroidgeräte zur Herstellung von Führerscheinen) namens Horace Chick an meinen Tisch und bestellte einen Hamburger. Auch er ein Monologisierer, aber von der harmlosen Sorte. Wenn er irgendetwas besonderen Nachdruck verleihen wollte, presste er Luft durch eine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. Er kaute und keuchte.

»Sämtliche Flieger waren voll. Pfiit. Da hab ich den Zug genommen. Bin noch nie mit diesem Zug gefahren. Geht ja prima. Pfiit. Drei Uhr früh sind wir schon in Rochester. Da nehm ich mir ’n Taxi. Meine Frau springt im Dreieck, wenn ich sie um drei Uhr morgens vom Bahnhof aus anruf. Das nächste Mal nehm ich die Kinder mit. Pflanze sie einfach hin, lasse sie rumrennen. Pfiit. Heiß hier drin. Ich hab’s lieber kühl, so um neunzehn, zwanzig Grad. Meine Frau kann Kälte nicht ab. Ich kann dann nicht schlafen, also geh ich hin, pfiit, und mach das Fenster auf. Sie schnauzt mich an. Wacht einfach auf, pfiit, und schreit rum. So sind die meisten. Frauen. Wollen es vier Grad wärmer haben als Männer. Pfiit. Keine Ahnung, warum das so ist. Muss der Körper sein. Anderer Körper, anderer Thermostat. Ob das hier besser ist als Autofahren – da könn’ Sie sich drauf verlassen! Fahren? Acht Stunden, vierzehn Tassen Kaffee. Pfiit. Aber der Hamburger hier … schmeckt schwer nach Sägemehl. He, Herr Ober!«

Draußen Eis und Schnee. Jede Straßenlampe beleuchtete den eigenen Pfosten und einen runden Schneefleck direkt davor, mehr nicht. Als ich um Mitternacht aus meinem Abteilfenster sah, fiel mir ein weißes Haus auf einem Hügel auf. Hinter jedem Fenster brannte eine Lampe, und all die erleuchteten Fenster schienen das Haus zu vergrößern und zugleich seine Leere zu verraten.

Um zwei Uhr früh passierten wir Syracuse. Ich habe geschlafen, sonst wären die Erinnerungen auf mich eingestürmt. Aber der Name der Stadt auf dem Amtrak-Fahrplan am Frühstückstisch genügte, um den erbarmungslosen Regen von Syracuse heraufzubeschwören, eine zufällige Begegnung mit dem schon damals hoffnungslos heruntergekommenen Dichter Delmore Schwartz in der Orange Bar, das Klassenzimmer (meine Ausbildungszeit für das Peace-Corps, ich lernte gerade die Bantusprache Nyanja), in dem ich vom Attentat auf Kennedy erfuhr, und die aufwühlende Erinnerung an eine Anthropologin, die, unbeeindruckt von meiner glühenden Verehrung, später – aber nicht deswegen – einen gewaltsamen Tod fand, als irgendwo im Westen ein Baum auf ihr Auto stürzte und sie zusammen mit einer Turnlehrerin, mit der sie eine lesbische Beziehung hatte, zerquetscht wurde.

Buffalo und Erie lagen inzwischen auch hinter uns, und das war nicht schlecht. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Ich war in meinem Abteil aufgewacht, in dem eine solche Hitze herrschte, dass meine Lippen aufgesprungen waren und meine Fingerspitzen sich wie geschält anfühlten. Aber zwischen den Waggons, wo es besonders kalt war, hingen Vorhänge aus schwerem Dampf, Eisblumen wuchsen an den Fensterscheiben des Speisewagens. Ich rieb ein bisschen daran, konnte aber nicht viel mehr sehen als blaugrauen Nebel, der mit wolkigem Leuchten die Konturen der Landschaft verwischte.

In diesem Dunst hielt der Zug. Ein paar Minuten lang passierte gar nichts. Dann tauchte ein schwach erleuchteter Baumstumpf aus dem Nebel auf. Ein Streifen Orange rann heraus, verbreiterte sich zum Fleck, wuchs weiter und ergoss sich über die verwitterte Rinde wie Blut, das durch einen grauen Verband sickert. Dann stand der ganze Stumpf in Flammen, die Grasbüschel dahinter loderten auf, plötzlich waren Bäume da. Bald funkelte das rubinrote Feuer des Sonnenaufgangs auf den Feldern, und als die ganze Landschaft mit dem Baumstumpf, den Bäumen und dem Schnee hell erleuchtet war, fuhr der Zug weiter.

»Ohio«, sagte die Frau am Nebentisch.