Das Land zwischen Nord- und Ostsee ist flach.

Es geht ein frischer Wind drüber hinweg.

Du musst zupacken und festhalten, was du behalten willst, sonst fliegt es davon.

Hier und da habe ich ein paar bunte Fetzen erwischt und sie mit dem Faden der Fantasie

zu einem Flickenteppich vernäht:

Land und Leute – und die Geschichten ihrer Beziehungen unter dem weiten Himmel des Nordens.

Dank an alle, die meine Gedanken beflügelten.

Gundolf Hansen

Der Mittelpunkt der Welt

Wer wissen will, wo Wischenbek liegt, muss zuerst in den Dorfkrug kommen. Irgendwann hatte Schorsch mal eine Landkarte gemalt, auf der auch Wischenbek seinen Platz hatte, sogar die Straßen sind darauf zu sehen: die Dorfstraße, der Nordweg, der Bargweg und die Steinstraße. Den Bullenweg gab es damals noch nicht. Auf richtigen Landkarten gibt es das ganze Dorf nicht. Auch Oldertrum nicht. Trotzdem war es so, dass die Leute von Oldertrum glaubten, die Wischenbeker gehörten zu ihnen, nur weil sie die Kirche und den Krämer hatten. Aber Wischenbek hatte den Dorfkrug, sogar mit Saal, und wenn in Oldertrum Hochzeit war, dann feierten sie im Dorfkrug von Wischenbek. Soviel war erlaubt, aber ihre Deerns mussten sie schon mitbringen. »Wi pett’ uns Heuhner sülben«, war das manchmal hart erzwungene Gesetz, mit dem die Mädchen aus Wischenbek für Männer aus Wischenbek beansprucht wurden.

Es gab sowieso zu wenige davon, so dass sich für beide Dörfer auch keine Schule lohnte. Die war in einem anderen Dorf, das deshalb Schuldorf genannt wurde. Immerhin ersparte es den Weg bis Husum, denn das wäre auch mit dem Rad ein Stück zu weit gewesen.

Aber ich wollte von Fritz erzählen:

Als der mal in den großen Ferien in Schlüttsiel auf dem Zeltplatz war, fragte ihn ein Junge, wo er denn herkäme, und er selbst sei aus der Pfalz.

»Ich komm aus Wischenbek«, antwortete Fritz.

»Und ich aus Wiesbach«, hat der Junge gesagt, und am nächsten Tag hat er Fritz erzählt, dass sein Vater gesagt hätte, dass Wischenbek das gleiche bedeutet wie Wiesbach: ein Fluss, der durch die Wiesen fließt.

»Aha«, hatte Fritz nur gesagt. Von da an wollte er nie mehr sagen, dass er aus Wischenbek kommt. Es wäre ihm aufschneiderisch vorgekommen, denn was sich im Wischenbek durch die Wiesen schlängelte, war kein Fluss, eher ein Graben. Ein schwungvoller Schritt reichte aus, um auf die andere Seite zu kommen.

Die Dorfstraße wurde erst so genannt, als oben am Knick ein paar Altenteil-Häuser entstanden waren. Die brauchten eine Adresse, weil der Postbote auch mal Urlaub machen wollte und der Aushilfs-Postbote sich da ja nicht auskannte, aber er hätte jeden fragen können, wer wo wohnt. Hier wusste jeder alles über jeden. Der Nordweg hieß dann so, weil er im Norden lag. Am Bargweg standen gar keine Häuser, es war auch kein richtiger Berg, nur eine kleine Erhebung, ein Relikt aus der Eiszeit. Hier wurde ein aus Schweden angereister Eisberg von der prähistorischen Klimakatastrophe überrascht. Er verdunstete. Alles, was er an Sand und Geröll in sich hatte, blieb liegen, ringsum kullerten die Steine herunter. Das war der Steinweg, der mit seinem festen Grund eine gute Voraussetzung für die Zufahrt zu den Äckern war.

Der Bargweg tat den Schafen gut, weil sie auf dem trockenen Sandboden des Bergs keine Moderhinke bekamen. Klaas war für die Schafe zuständig. Er sah sofort, wenn eines der Tiere auch nur ein ganz klein bisschen hinkte. Dann griff er es und kratzte ihm mit dem Taschenmesser die Hufen aus. Alle sagten, dass Klaas nur Stroh im Kopf hatte. In Wirklichkeit wusste er mehr als Fritz’ Vater und seine Lehrerin zusammen, deshalb ist er nach der Schule oft zu ihm auf den Berg gegangen.

Fritz hatte das Gefühl, vom Berg aus die ganze Welt überschauen zu können. Man konnte die Kühe und Ochsen zählen, beobachten, wer in den Dorfkrug ging oder heraus kam, sehen, wo der Bek verlief, wohin die Dorfstraße nach dem letzten Haus führte, wo sie in die Landstraße mündete, auf der man nach Husum kam.

»Das ist die graue Stadt am Meer«, sagte Klaas, wenn er am westlichen Horizont auf ein paar eckige und spitze Schatten zeigte. Er hat nie von Husum gesprochen, immer nur von der grauen Stadt am Meer, viel früher noch als Fritz’ Lehrerin, die in der Schulklasse erzählte, dass es Theodor Storm war, der Husum so genannt hat, weil er ein Dichter war. Die Lehrerin kannte Klaas nicht, aber Klaas kannte den ollen Theodor, wie er sagte, »in- und auswendig kenn ich den«.

Der Kirchturm von Oldertrum kam Fritz vom Berg aus viel näher vor. Später musste er dort jeden Donnerstag zum Konfirmandenunterricht gehen. Im Sommer ging’s ja, aber wenn es geregnet hatte, war der Weg matschig und er brauchte mit dem Fahrrad über eine Stunde.

Es war ein erhabenes Gefühl für Fritz, mit Klaas auf dem Berg zu stehen, kein Haus in Wischenbek war höher. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass irgendwo irgendwas noch höher als dieser Berg war. Und den gab es in Wischenbek. Ausgerechnet in Wischenbek.

»Hier ist der Mittelpunkt der Welt«, sagte Klaas, und Theodor Storm hätte es nicht bedeutungsvoller sagen können. Fritz drehte sich um seine eigene Achse, betrachtete die in Felder, Äcker und Wiesen aufgeteilte flache Welt, über der nur noch der Himmel höher war, als Klaas und er.

Gewiss, Fritz war sich der Einmaligkeit dieses Punktes bewusst. Wenn ihn wieder einmal jemand fragen würde, woher er käme, dann wollte er ihm sagen: vom Mittelpunkt der Welt. Und dann? Dann würden sie ihn auslachen!

»Der Mittelpunkt der Welt?« Fritz stieß Klaas an. »Wieso?«

Auch Klaas ließ seinen Blick noch einmal über das weite Marschland gleiten. Und noch bedeutungsvoller als zuvor sagte er: »Dies ist der Mittelpunkt der Welt. Von hier aus kommst du überall hin.«

Schweigend gingen sie gemeinsam den Bargweg hinunter. Anfangs schien er mit sich und der Antwort zufrieden, dann sah er zunehmend nachdenklicher aus, schließlich sagte er: »Überall hin. Wohin du willst, wenn du willst.« Er stockte, aber dann leuchtete sein Gesicht auf: »Nee, geht nicht. Kannst nicht überall hingehen. Wohin kannst du von hier aus nicht gehen?«, fragte er.

Fritz strengte sein kleines Hirn an und zog die Schultern hoch. »Weiß nicht.«

Klaas überzog sein Gesicht mit einem breiten Grinsen. »Zum Mittelpunkt der Welt kannst du nicht gehen.« Er schwieg eine Weile mit breiter werdendem Grinsen. »Bist ja schon da!«

Der Mittelpunkt des Dorfes aber war der Dorfkrug. Wer etwas über die anderen Leute im Dorf wissen wollte, der ging dort hin, um es zu erfahren. Und wer etwas über die anderen wusste, der erzählte es dort bei Bier, Köm und manchmal auch Kaffee. Die Frauen bestellten auch mal ein Glas Wein, wobei Hannes jedes Mal nachfragen musste: »Rot oder weiß?« Und wenn es was Leckeres sein sollte, dann Eierlikör. Für Kinder und größere Mädchen hatte Hannes auch Brause und etwas Besonderes war es, sie mit einer Kugel Eis aufzuwerten. Vanille oder Schoko zur Auswahl.

Der Dorfkrug war zugleich der Bereitschaftsstützpunkt der Freiwilligen Feuerwehr, weil der Schuppen mit dem Löschtankzug gleich nebenan stand. Alle Männer im Dorf waren Feuerwehrmänner. So war die Bereitschaft immer ausreichend besetzt. Soweit man erinnern konnte, waren sie wohl ein Dutzend Mal nach Oldertrum ausgerückt. In Wischenbek hatte es noch nie gebrannt, aber der Tank im Löschfahrzeug war immer gefüllt und die Leiter war auch sonst sehr nützlich. Außerdem konnte im Dorfkrug-Saal die Feuerwehrkapelle für ihre Konzerte üben, da waren dann auch Männer aus Oldertrum dabei. Die Konzerte hörten sich wie die Übungen an, dann aber hatten sie blaue Uniformen an. Oder sie haben zu irgendeinem Fest oder auf einer Hochzeit Musik gemacht. Das waren die Tage, an denen Elsa ihre ganze Kochkunst offenbarte: Rinderrouladen mit Erbsen und Wurzeln, Kohlwickel mit Hack, Grünkohl mit Schweinebauch, Kochwurst und süßen Kartoffeln, Schweinebraten mit Rotkohl und was nicht alles. Natürlich immer nur ein Gericht, eine Speisekarte gab es nicht. »Wer von einem Teller nicht satt wird, kann ja nachnehmen«, sagte Elsa. Zwischen den Festen war die Auswahl größer, dann gab es Knackwurst mit Kartoffelsalat, eine Frikadelle auf die Hand, Schinken- oder Käsebrot, hübsch angerichtet mit einer viertel Tomate und einem Stängel Petersilie.

Wer nach Husum fuhr, fragte im Dorfkrug nach, ob etwas mitzunehmen sei. Als Fritz achtzehn war und sich nach der Lehre als Schiffszimmermann ein Moped zugelegt hatte, hat er so manches Mal Päckchen und Pakete nach Husum zur Post gebracht und auf dem Rückweg Glühbirnen oder Nägel oder irgendwas anderes mitgebracht, was gerade dringend gebraucht wurde. Das Trinkgeld, das man ihm für diese Gefälligkeiten zusteckte, genügte für manche Tankfüllung und manchmal natürlich auch fürs Trinken.

Das Bier war für Fritz nicht das Wichtigste im Dorfkrug. Das war Inken. Wenn er sie nicht auf der Dorfstraße traf, dann vielleicht im Dorfkrug, wo sie ab und zu eine Brause mit Eis trank und den Feuerwehrmännern den Stoff für ihre Witze und Phantasien lieferte. Dennoch stand allgemein fest, dass Fritz und Inken wohl gut zusammenpassen würden und dass die beiden, wenn nicht vorher jemand am Nordweg das Zeitliche segnete, gut und gern das erste Haus am Steinweg bauen könnten. Von dieser Planung erfuhren sie aber erst viel später.

An diesem Tag hatte Fritz bereits zwei Bier getrunken, als Inken in den Dorfkrug kam und sich direkt neben ihn an den Tresen setzte. Dass er zur gleichen Zeit aufstand, hatte nichts mit Inken, wohl aber mit dem Bier zu tun. Als sie ihn zur Begrüßung anlächelte, wie sie ihn noch nie zuvor angelächelt hatte, sagte Fritz nur: »Bis gleich!«

Das Männerklo war direkt neben dem Tresen. Das war praktisch, auch wenn zu später Stunde mit jedem Türschlag ein Hauch Ammoniak über den Tresen wehte. Für Elsa war es der Grund, niemals Spargel anzubieten. Früher gab es im Männerklo eine lange Pinkelrinne aus Zink an der geteerten Wand. Dann aber kam ein Mann aus Husum und erklärte Hannes, dass so was nicht mehr in die Zeit passte. Da hat Hannes die Wand kacheln lassen und sechs weiße Schüsseln – »Pferdchen«, wie er sagte – angeschraubt. Mit Wasserspülung, aber wer machte das schon; so blieb das Ammoniakaroma erhalten.

Mit der Klo-Renovierung erneuerte Hannes auch den schlanken Blechkasten mit der Aufschrift »Männer, schützt eure Gesundheit!« gegen einen breiten »Condomaten«, der ähnlich wie der Zigarettenautomat auf dem Flur verschiedene Sorten anbot. »Das Modernste was es gibt«, hatte Hannes zur Einweihung des renovierten Klos erzählt.

Ob es nun an Inkens sonderbarem Lächeln lag oder Fritz sich aus vorsorglichen Gründen entschloss, ein Päckchen jener »Piedeltüten« zu erwerben, die sich dort farbig, feucht, genoppt und sogar mit unterschiedlichem Geschmack anboten – es war ihm selbst nicht klar. Erinnern konnte er sich jedoch noch lange danach an das metallene »Rrrackss«, als er das Fach seiner Wahl herauszog und mit ebenso lautem »Rrrummmps« zurückschob. Hätte er dieses Geräusch vorher geahnt, er hätte den Automaten nicht berührt. Als Fritz wieder in die Gaststube trat, sahen ihn die Männer mit wissendem Lächeln an.

Es war aber so, dass Inken gerade vom Wirt eine Brause mit Eis erbeten hatte. Und weil das üblicher Weise keine korrekte Bestellung war, fragte Hannes in gewohnter Art über den Tresen: »Vanille oder Schoko?«

Inken hatte noch gar nicht geantwortet, da wiederholte Schorsch, den es ja nun wirklich gar nichts anging, Hannes Frage mit dem Unterton, der seinem wissenden Lächeln entsprach, und er sah dabei nicht Inken, sondern Fritz an: »Vanille oder Schoko?«

Die allzeit bereiten Feuerwehrmänner brüllten vor Lachen und Schorsch, setzte noch eins drauf: »Hast du heute noch was vor, mien Jung?«

Inken war völlig verdattert, sagte nur »Nee, lass man!« zu Hannes, gab Fritz eine saftige Ohrfeige und verließ den Dorfkrug.

Schorsch schob Fritz sein gerade von Hannes frisch gezapftes Bier vor die Nase: »Ist Scheiß, der Automat. Aber wer weiß, wozu es gut ist. Jetzt weiß sie doch, was los ist.« Die anderen nickten. Und während Fritz das Blut wieder aus dem Kopf wich, spürte er, dass er jetzt ein Mann unter Männern war. Inken hat er trotzdem ein paar Tage lang nicht gesehen. Und wenn sie ihn gesehen hat, dann hat sie schnell weggeguckt, so wie er. Aber beide haben natürlich gemerkt, dass der andere weggeguckt hat und das war aufregender als hingucken. Irgendwann haben sie wieder »Na, wie geht’s?« gefragt und »Soweit ganz gut, und dir?« geantwortet und noch irgendwas gesagt, alles andere brauchte noch Zeit. Wegen Inken, weil sie erst sechzehn war, auch wenn sie – na, das muss wohl nicht erklärt werden.

Der Hafen von Husum weckte Fernweh. Immer wenn die Flut die Schiffe aus dem Schlick hob, wollte Fritz weg. Wenigstens bis Hamburg. Wenn er dort jemandem erzählte, dass er Schiffszimmermann ist, hat man ihn nur blöd gefragt: »Gibt’s die auch aus Holz?«

Später musste Fritz dazu keine Erklärungen mehr abgeben, denn die Firma machte Pleite. »Weil ich euch jahrelang einen zu hohen Lohn gezahlt habe«, begründete der Chef das traurige Ende seines Unternehmens. Fritz sei ja noch gut dran, tröstete er ihn, denn ein Schiffszimmermann sei doch auf jeden Fall ein guter Tischler wegen seines maritimen Feingefühls, so wie es außerhalb der Seefahrt eigentlich sogar noch mehr gebraucht würde als für die Seefahrt. Und er hatte sogar recht damit.

Der zu üppig ausgezahlte Lohn ermöglichte es Fritz, sich immer mal wieder von seinem Mittelpunkt zu entfernen, um den Rest der Welt zu entdecken, wobei ihn wohl alle Leute, die er dabei kennen lernte, aus unbekannten Gründen neugierig nach dem Woher und Wohin fragten.

Nur in Oldertrum, wo man Fritz allerdings nicht danach fragte, wäre die Antwort »Aus Wischenbek und zurück!« verstanden worden, vielleicht mit einem milden Mitleidsausdruck im Blick. In Husum ahnten die meisten nur, dass es dem Namen nach in der Nähe sein müsste. In Kiel oder Flensburg konnte man Husum nennen und als Bildungsbeweis des Fragenden »Die graue Stadt am Meer!« entgegennehmen. Besser war es, einfach »Westküste« zu sagen, das klang weiträumig. Hamburger waren mit »weiter draußen« zufrieden, und wenn Fritz jemals von einem in Hannover oder München gefragt worden wäre, so hätte er ihm Wischenbek mit »etwas nördlich von Hamburg« nahe gebracht, ohne Rücksicht darauf, dass Kiel bedeutend näher war. Im übrigen südlichen Europa war »Norddeutschland« der richtige Maßstab, besser noch »Hamburg«, denn danach war sowieso irgendwie Eskimoland. Je weiter Fritz sich von Wischenbek entfernte, desto kleiner und unscheinbarer wurde es. Er stellte sich vor, dass er nach einem unendlichen Flug durchs All von seltsamen Wesen nach dem Woher und Wohin befragt würde. Was wäre geschehen, wenn er ihnen geantwortet hätte: »Von der Erde – und dahin will ich zurück.« Wo auf der Erde wäre er gelandet? »Wischenbek«, musste er sagen, dann konnte nichts schief gehen, das war ja der Mittelpunkt der Welt.

Vier Jahre war Fritz weg. Selbstverständlich war es nicht, dass er zurück nach Wischenbek kam. Aber in Oldertrum gab es einen Tischler, der einen Gesellen suchte, und irgendjemand hat ihm gesagt, dass es doch am besten wäre, wenn es ein Schiffszimmermann wäre, weil der ja ein maritimes Feingefühl besitzt und er würde jemanden kennen, der sogar aus der Gegend ist und sich deshalb kein Zimmer suchen muss, auch wenn das nun nicht das größte Problem wäre, aber wie gesagt er kannte einen, von dem er eine Telefonnummer hätte, wenn die denn noch stimmte, weil das auch schon wieder über ein Jahr her sei, den er doch mal fragen könnte – und das war Fritz.

»Dein Zimmer ist ja frei«, sagte Fritz’ Mutter. »Da muss ich nur das Plättbrett rausnehmen.« Und Vater fluppte ihm eine Flasche Bier auf und sagte: »Kannst mir Sonnabend beim Heuen helfen.«

»Na, auch wieder im Lande?«, fragte Inken, als Fritz sie auf der Dorfstraße traf. Sie hatte immer noch diesen wippenden blonden Pferdeschwanz und die lustig frechen dunklen Augen mit diesem Schuss grüner Sinnlichkeit darin. Wie’s geht und was er denn so gemacht habe, wollte sie wissen.

Fritz erfuhr von Inken, dass sie in Husum bei der Sparkasse arbeitete, was ihr aber eigentlich nicht gefiel. Und so redeten und redeten sie und waren dabei immer weiter von der Dorfstraße in die Feldmark gekommen und schlängelten sich Schritt für Schritt wie der Bek auf seinem Ufertrampelpfad durch die Wiesen, bis das ganze Dorf Wischenbek hinter den Knicks verschwunden war.

»Dass du noch nicht verheiratet bist ...« Genau genommen war es keine Feststellung, sondern Fritz’ Vermutung, in der ein Hauch Hoffnung mitschwang, dass diese Ahnung stimmte.

Inken schien es zu merken. »Eigentlich waren wir doch ...« Sie brach den Satz ab und sie trotteten schweigend zwischen Wiese und Graben entlang und Fritz spürte, dass die Luft zwischen ihnen wärmer wurde. »Weißt du noch, damals im Dorfkrug?« fragte sie plötzlich.

Und wie er sich erinnerte! »Als du mir eine geknallt hast?« fragte er so unaufgeregt es ging zurück.

»Ich habe dir eine geknallt?«

»Und wie!« Fritz rieb sich die linke Wange, als sei es gerade eben gewesen.

»Ich kann mich nur an das Rummssen erinnern«, sagte Inken. »Zweimal, bevor du wieder in den Schankraum kamst.«

Fritz stieg das Blut in den Kopf und blieb dort.

Noch heißer wurde ihm, als Inken ihre Arme um seinen Hals legte, ihn grünäugig und sinnlich ansah und ihre Lippen immer näher kamen. Es war so, wie er es tausendmal geträumt hatte, deshalb wäre es falsch zu sagen, dass dies ihr erster Kuss gewesen sei. Dann wäre, was dann kam, unschicklich und viel zu schnell.

Als sie fragte, ob er jetzt auch welche dabei hätte und er den Kopf schüttelte, sagten sie fast gleichzeitig: »Ist doch egal.«

Inzwischen ist die Hochzeit von Fritz und Inken, die sie natürlich im Dorfkrug feierten, fast acht Jahre her. Sie haben ein Haus am Steinweg und Hendrik freut sich jeden Tag, wenn er in den Schulbus steigt und wieder ein Stück seiner Neugierde befriedigen kann. Die beiden Mädchen haben mit der Schule noch etwas Zeit.

Es ist noch gar nicht lange her, dass die junge Familie an den Strand fuhr und sich in der Seeluft gemeinsam müde tobte.

Als Hendrik wieder aufwachte, rieb er sich schlaftrunken die Augen: »Wo bin ich?«

Fritz hätte »St. Peter-Ording« antworten können, doch wie er so dalag mit seiner blauen Seepferdchen-Badehose und dem sonnengebräunten Bauch, da tippte er ihm mit dem Zeigefinger auf den Bauchnabel: »Hier bist du. Das ist der Mittelpunkt der Welt.«

»Genau hier?«, fragte Hendrik.

»Ganz genau hier«, sagte Fritz und tippte noch einmal auf seinen Nabel. »Von hier kommst du überall hin.«

Und er träumte in die Wolken, von denen ihm Klaas zuwinkte. Siehst du, rief der, jetzt hast du’s begriffen.

Cowboy zur See

Versuch’s mal mit Rodeo, Segeln ist nicht dein Ding«, pflegte Manfred zu sagen. Aber Horst brauchte Luft und Wasser. Er war nicht Büromensch geworden, um sich damit einen Wunsch zu erfüllen, es hatte sich so ergeben. Banklehre, ohne anschließend Sparkassendirektor zu werden, das war Frust genug. Dann lieber Sachbearbeiter im Groß- und Einzelhandel, deshalb sattelte er um. Und er wäre weiterhin auf der Suche, wenn er nicht Manfred kennengelernt hätte, der ihm das Leben zumindest außerhalb des Büros spannender machte und seine Begierde nach Wind und Wellen stillen konnte.

Manfred war Seemann. Nicht wirklich, er hatte ein Küchenstudio. Zum Glück verdiente er damit genug Geld, um sich ein Segelboot zu leisten. Segeln ist so, als wenn man unter der Dusche Zehn-Mark-Scheine zerreist, sagte man, als er damit anfing. Solche Sprüche schaffen Image. Eine Segelyacht war es inzwischen, sozusagen nach dem zweiten Update. Eine 332-er Najad. Das war schon was! Nach dem traditionellen Dusch-Maßstab waren die Scheine jetzt Zwanziger und sie hießen Euro. Angefangen hatte er mit dem Folkeboot, das er immer zu groß aufgetakelt hatte, um damit, zumindest wenn es so um vier Windstärken herum wehte, an den trägen Dickschiffen vorbeizuziehen. Aber die Ostsee hatte an drei Tagen das Wetter von vier Jahreszeiten, so hatte er immer wieder festgestellt. Deshalb musste das Schiff mit seinem Anspruch wachsen.

Das Folkeboot hatte Manfred »Schüssel« getauft. »Dann müssen sich die Großkotze kein Schimpfwort dafür einfallen lassen«, befand er und hatte recht damit. Wenn »Manni mit seiner Schüssel« mit ihnen auf gleichem Kurs war, wussten sie, dass er an ihnen vorbei wollte. Manchmal zogen sie unvermittelt vor ihm nach Luv, um ihm den Wind zu nehmen. Aber im nächsten Hafen war die »Schüssel« auf magische Weise dennoch zuerst da, als habe er eine Abkürzung mit besserem Wind genommen.

Logisch, das nächste Schiff hieß »Schüssel zwei«. Von der Zwei redete Manfred nicht gern. Als ein Sturm soviel Wasser in den Hafen trieb, dass sich ein »Eisendampfer«, der quer vorm Steg lag, losriss und mit einer Welle über sieben Yachten surfte, war Manfreds zweite Schüssel dabei. Irgendeine Seetüchtigkeit war dem Schiff nicht mehr anzusehen. Aber als Versicherungsfall war es eine gute Basis für die Najad, die nun »Schüssel 3« hieß, ein Name mit witzigem Understatement, doch das kehrte sich ins Gegenteil, wenn Manfred von »seiner Schüssel« in der Weise redete wie Harley-Biker von ihrem »Moped«.

Die Najad 332 war kein Schiff für Einhandsegler, – behauptete Manfred jedenfalls. Er brauchte eine Mannschaft, mindestens einen Vorschoter. Das war Horst, dem er entgegen dieser Bezeichnung auf See meist das Ruder überließ. Manfred turnte dann gern auf dem Vorschiff herum und beschäftigte sich mit dem Feintuning der Segel. Er fummelte am Vorliek, gab dem Groß mehr Bauch, zog die Rollfock härter an den Wind. Bis er sich aufs Vordeck legte, den Verklicker beobachtete und sich an den waagerecht am Segel liegenden Windbändern erfreute. Ob mit Folkeboot oder Najad, er befand sich mit jedem zwei Fuß größerem Segler sofort im Wettstreit, musste aus dem lauesten Lüftchen die optimale Rumpfgeschwindigkeit herauszukitzeln und die Dickschiffe hinter sich lassen.

»Wir segeln immer Regatta«, sagte er zu Horst. »Wir müssen dran vorbei, wir müssen siegen!« Auch wenn die anderen nichts davon wussten und nur auf einer Kaffeefahrt die Segel lüfteten. Und wenn er es einmal nicht schaffte, dann musste sein Vorschoter im nächsten Hafen ein Bier ausgeben, weil der doch der Dussel war, der das Ruder verriss und das Segel flattern ließ, das Manfred so genial zum Wind getrimmt hatte. Horst war nicht nur Vorschoter, er war auch das schwarze Schaf für alles, was schief ging. Nein, ein Schaf war viel zu lieb für Manfreds Mitsegler-Bewertungsskala. Horst musste es hinnehmen, ein Ochse, Rhinozeros, Trottel, Stümper, Idiot, und natürlich ein Arschloch zu sein! Das Wetter konnte nicht rüder sein als die Flüche des Skippers.

»Vielleicht hättest du doch Cowboy werden sollen«, sinnierte Manfred über Horst, wenn sein hektischer Zorn verraucht war. »Auf dem Schiff bist du jedenfalls eine Katastrophe.« Und er bestellte das nächste Bier und alles war wieder gut.

Der Cowboy-Spruch war irgendwie auch ein Kompliment. Denn es war Horst schon zwei- oder dreimal gelungen, die Achterleine beim Anlegen wie ein Lasso über den Pfahl zu werfen. Es bedurfte dieser Fähigkeit zwar nicht, denn Manfred steuerte seine 332-er in ruhiger Fahrt so nah daran vorbei, dass es theoretisch ein Leichtes war, die Leine direkt über den Pfahl zu legen, einfach so aus der Hand heraus. Dafür aber musste man dort stehen, wo das Schiff am dicksten ist, an der Schiffsmitte, zwei Schritte hinter den Wanten. Es ist die Chance eines Augenblicks. In der nächsten Sekunde schon sind die Arme zu kurz, und eine weitere Sekunde später ist es verpasst. Wenn dann nicht ein Dritter mit einem Satz aus dem Bugkorb auf den Steg springt und dem Treibgut von rund zweieinhalb Tonnen seinen Körper entgegen stemmt ..., ja, dann kracht das Schiff auf den Steg. Kommt natürlich drauf an, wie viel Fahrt im Schiff ist. Strömung, Wellen und Wind sind weitere Risikofaktoren. Meistens ist der Skipper lauter als der Aufprall. Die Achterleinen aber sind die Bremsen beim Anlegen. Gibt es also ein heikleres maritimes Manöver?

Horst hatte das einfache Drüberlegen zwei- oder dreimal verpasst. Das Schiff glitt am Pfahl vorüber. Er hatte versucht, laufend auf gleicher Höhe zu bleiben, während seine Arme kürzer und kürzer zu werden schienen. Er versuchte den Wurf der Verzweiflung – und das Lasso schnürte sich tatsächlich um den Dalben. Vor Gericht und auf See sind wir in Gottes Hand, – hier hatte der Herr im Himmel ein mildes Herz für Horst. Er machte ihn zum Cowboy und ersparte ihm auch das Gericht seines Skippers. Statt die Wurftechnik zu bewundern, hatte Manfred jedoch nur Spott für den Cowboy. Es wäre ja noch schöner, wenn der Vorschoter irgendetwas besser könnte als der Skipper.

Ab und zu machten Manfred und Horst einen »richtigen Törn«, also vier oder fünf Tage unter Wind. »Nehmen wir einen mit?« fragte Manfred dann und Horst antwortete: »Warum nicht?«

Und dann grinste Manfred: »Oder besorgst du Weiber?«

»Ich kenn’ nur welche, die nicht seetüchtig sind«, sagte Horst dann. Aber das war eine Ausrede. Er hatte nur keine Lust, sich von Manfred die Hübschere wegschnappen zu lassen, denn das galt als das Recht des Skippers. Die alte Seefahrerregel, dass es Unglück bringt, wenn Frauen an Bord sind, war noch nicht außer Kraft.

»Ich frag’ Susi mal«, sagte Manfred. »Dann haben wir jedenfalls ein bisschen Spaß.«

»Du«, korrigierte Horst.

Und Manfred grinste: »Kannst ja zugucken, wenn du dir selbst keine mitbringen willst.«

»Wenn du es brauchst«, sagte Horst. »Ich guck nicht hin. Ich werde die Wellen und den Wind genießen. Hab im Büro genug Frauen um mich herum. Und auch sonst.«

»Hast nicht immer Erbsensuppe, was?«

»Manchmal denk ich, dass du als Verheirateter der bist, der das einfachere Leben hat.«

Manfred nickte: »Das liegt daran, dass Marilla auch nicht seetüchtig ist und dass sie froh ist, wenn ich mal ein paar Tage weg bin. Sie ist richtig heiß drauf, den Laden allein zu schmeißen und die teuerste Küche zu verkaufen, ohne dass ich dazwischen quatsche. Ja, das sind glückliche Umstände, mein Lieber. Susi kommt in Flensburg an Bord und wir schippern dann mit ihr ein bisschen durch die Rum-Regatta.«

»Ist also alles schon perfekt?«

»Da siehst du’s mal wieder, Cowboy, der Skipper muss sich um alles selbst kümmern.«

Horst nickte. Einen Augenblick überlegte er, Helga zu fragen, eine Kollegin aus dem Büro. Manchmal hatte sie Andeutungen gemacht. Dann fiel ihm ein, dass sie von einem Kurzurlaub zu ihren Eltern gesprochen hatte, gerade in dieser Zeit, wegen des Brückentags nach Himmelfahrt. Und er war froh, dass es so war. Dann war er frei, falls sich in einem Hafen mal was ergab; davon hatte er immer wieder geträumt, wenn sie im Abendrot in einen Hafen einliefen. Eine von einem anderen Segelschiff. Plötzlich wäre sie da. Der heiße Schauer, wenn sich ihre Blicke treffen, das Lächeln, mit dem alles gesagt ist. Vom Wind zusammengetrieben und am nächsten Morgen vom Wind verweht. Sodass nur eine Erinnerung bliebe, ein Stempel auf einem verborgenen Blatt der Seele. Der Traum vorweg war schon märchenhaft genug.

»Hast du jemals eine Seglerin gehabt?«, fragte Horst, als sie in einer Flaute in der Eckernförder Bucht dümpelten.

Manfred blinzelte achteraus in den blauen Himmel, wischte die von der schwülen Luft auf die Ostsee getragenen Rapskäfer vom gelben T-Shirt und nahm erst einmal einen Schluck aus der Bierflasche.

»Hast du oder hast du nicht?« fragte Horst.

Manfred steckte den Zeigefinger in den Flaschenhals und hebelte ihn mit einem »plopp« wieder heraus. »Weiß ich nicht mehr«, sagte er dann in seiner machohaften Art, »das ist es doch nicht, was sie können müssen.«

»An Steg drei lagen zwei Boote mit kompletter Damen-Crew«, hatte Horst beobachtet.

»Hühnersegeln«, winkte Manfred selbstgefällig ab. »Auf See bin ich an so was noch nicht vorbeigesegelt. Wahrscheinlich, weil sie von Anfang an zu weit hinter uns sind. Unüberholbar sozusagen.«

»Und Susanne? Müsste doch inzwischen Seglerin sein.«

»Die Susi? Frag sie doch mal morgen Abend, was ein Fender ist.« Manfred schüttelte sich vor Lachen. »War schon bei Marilla komisch. Als sie endlich begriffen hatte, dass die blauen Gummiwürste so heißen – sie hat tatsächlich blaue Gummiwürste gesagt – da hat sie alle über Bord geschmissen, als ich ihr in der Hafeneinfahrt ‚Fender raus!’ zurief. Mein Gott! Frauen und Segeln ...«

Horst hatte die Geschichte schon hundertmal gehört. Er wechselte das Thema: »Wenn wir morgen in Flensburg sein wollen, müssen wir wohl ein bisschen motoren. In der Flaute Eier schaukeln bringt uns da nicht hin.«

Manfred deutete mit der Bierflasche über seine rechte Schulter. »Siehst du das Wölkchen da?«

»Liegt genau auf Kurs«, sagte Horst und in der Meinung, dass Manfreds Gedanken um Susanne kreisten, rezitierte er: »Lieblich war die Maiennacht, Silberwölklein flogen.«

»Bewahre du dir deine Romantik, Cowboy«, sagte Manfred. »Schieb dir man noch das Mettwurstbrötchen rein, sonst hast du nachher nichts zum Kotzen. Wir kriegen gleich fix was auf die Mütze, und zwar von vorn.«

Horst sah seinen Skipper an, als hätte er einen Waldbrand auf der Ostsee angekündigt. »Kleine Brise kann nicht schaden, wenn’s von Nordwest weht, schaffen wir Höruphav in fünf langen Schlägen.«

»Mach schon mal die Vorschiffluke dicht«, wies Manfred an. »Und zieh dir Ölzeug an und bring noch mal ein Bier mit. Dafür ist gleich keine Zeit mehr.«

Der Skipper spinnt, dachte Horst. Aber er wollte keinen Streit und machte, was ihm gesagt wurde. Aber nicht mit Ölzeug.

Manfred hebelte die Flasche auf und schüttete sie in einem Zug in sich hinein, jumpte unter Deck, schlüpfte in sein Ölzeug, stellte den Funk laut auf Kanal 16 und war wieder an Deck.

Das Großsegel flatterte leicht. »Wir nehmen es zurück. Und die Rollfock nur zwei Handbreit raus. Mal sehen, was wir wie gebrauchen können.«

Horst sah dem Treiben des Skippers zu und zuckte zusammen, als der ihn anschrie: »Ölzeug, hab ich gesagt!« Er verschwand unter Deck und zwängte sich unwillig ins gelbe Gummi.

Als er wieder an Deck kam, peitschte ihm ein Schlag Hagel ins Gesicht. Das Schiff drehte sich.

»War das ‘ne Halse?«

»Groß los!« schrie Manfred.

Horst stolperte über die Leinen, riss die Großschot aus der Klammer und entging knapp dem umschwenkenden Baum, dem Manfred ein »Pass auf!« hinterher schrie.

Der Himmel war dunkel geworden, die See quirlte ohne Richtung, das Schiff bäumte sich auf wie ein Hengst im Rodeo. Der Cowboy krallte sich fest, wo immer es ging, und wenn er aus der Kapuze heraus einen Blick zum Skipper wagte, sah er ihn holzgeschnitzt hinterm Ruder stehen, den Blick am Mast vorbei auf die Regenwand gerichtet, die den Horizont versperrte.

»Wo müssen wir denn hin?« klagte Horst, der eine Halse nach der anderen wahrnahm, aber das war nur zweimal und setzte sich nun in seinem Magen fort.

»Mach die Funke lauter!« brüllte Manfred.

Horst ging trittlos unter Deck.

»Lauter!« rief Manfred, doch Horsts Hand erreichte nicht den Regler. Er schleuderte von Backbord nach Steuerbord und zurück. Schließlich hielt er sich am Spülbecken der Pantry fest und kotzte sich gründlicher aus, als er es in sich hatte. Sowie er sich aufrichtete, packte ihn wieder das Würgen – bis das Schiff endlich, endlich etwas geordneter durch die Brandung stampfte.

»Komm rauf, sonst wird dir noch schlecht!« rief Manfred. »Und bring mir noch ein Bier mit. Und mach die Flasche auf!«

Horst drückte die größeren Brocken seines Innenlebens durch das Abflusssieb und pumpte Wasser nach. Als er das Bier aus dem Kellerloch fischte, wurde ihm wieder übel, aber es war nur noch galligbittersaurer Wind, der in ihm aufstieß. Als er die Flasche aufhebelte, zischte ihm eine Schaumladung ins Gesicht. Wenigstens roch es anders.

»Siehst grün aus, Cowboy«, sagte Manfred. »Solltest an Deck bleiben, das geht nicht so auf den Magen.«

»Ist schon gut«, stöhnte Horst.

»Hast die Fische betrogen«, rief Manfred. »Die haben doch auf eine Mahlzeit gewartet.«

Als sie nach Höruphav einbogen, hatte sich der Sturm wieder gelegt. Es spritzte nur noch etwas durch den Wind, aber in Richtung Sonderborg klarte der Himmel auf und eine rote Sonne verabschiedete den Tag.

»Was ich an der Seefahrt so liebe«, sagte Horst, »das sind diese phantastischen Sonnenuntergänge.«

»Und mit der Sonne sinkt die Moral«, fügte Manfred hinzu, »das macht es noch schöner.«

***

Sie hatten früh losgebunden. Kurs Flensburg. Über dem Wasser lag weißer Dunst, der das Landschaftsbild der Flensburger Förde mit ihren grünen und rapsgelben Feldern in Pastelltönen malte. Alte Großsegler hatten den gleichen Kurs. Für den nächsten Tag war die Rum-Regatta angesagt.

»Die einzige Regatta, die ich nicht gewinnen kann«, klagte Manfred. Und weil Horst nichts sagte, weil er diese traurige Feststellung jedes Jahr erneut hören musste, ergänzte Manfred ungefragt: »Weil der Zweite gewinnt. Ist eben eine Schnaps-Idee, diese Rum-Regatta. Aber meine Schüssel hat keine Bremsen, die segelt als Erste rein.«

Als sie gegen Mittag um Holnis herum waren, ging Manfred unter Deck, fluchte, weil sein Handy sich auf Dänemark umgestellt hatte und ihm die Deutschland-Vorwahl nicht gleich gelang, dann telefonierte er sanft: »Susi, meine Süße, hast du schon Sehnsucht nach mir?«

Susanne schien die Frage zufriedenstellend beantwortet zu haben, denn Manfred streckte seinen Kopf mit mildem Lächeln aus dem Niedergang, wollte Horst gerade darüber berichten, als das Handy die nervig-schrille Nokia-Weise dudelte. Mechanisch drückte er die grüne Taste, nahm es ans Ohr und plapperte gleich los: »Na, mein Schatz, wolltest du deinem Seemann noch einen Kuss mit auf die Reise geben?«

Dann kratzte er sich mit der freien Hand am Hinterkopf: »Ja, natürlich sind wir in Stimmung. – Das Wetter, na ja, geht so, klart wohl noch auf. – Ach was?! Die hast du verkauft? Da siehst du mal, wie gut es ist, wenn ich mal nicht da bin. – Ja. – Ja. – Dann kann ich ja noch einen Tag länger hier rumschippern. – Nee, das dauert noch, wir sind grad kurz an Sonderborg vorbei. – Danke, danke. Ich ruf durch, wenn was ist. Tschüüß, mein Deern!«

Manfred stieg an Deck und ließ sich auf die Bank fallen. »Mensch, das war Marilla!« Dann lachte er lauthals und blickte kopfschüttelnd in den nordischen Himmel, auf dem ein paar Wolkentürme wie auf blauem Parkett dahinsegelten. »Guck dir die Wolken an«, sagte Horst, »wie ein Himmel voller Weiber, – oben lockig, unten rasiert.« Er schüttelte sich vor Lachen.

Horst verdrehte die Augen. »Du kannst wohl gar nicht anders denken.«

»Wie anders?« fragte Manfred ohne auf Antwort zu warten. »Die Marilla«, sagte er dann, »die ist ganz in Ordnung, vor allem geschäftlich. Wenn sie mitgekommen wäre, hätte sie nur mit dir um die Wette gekotzt. Aber sie blieb zu Hause und hat eine Luxus-Küche verkauft, unsere beste aus Herford – das gibt richtig Kohle! Sie ist glücklich. Ich bin glücklich. Es ist immer gut, wenn man nicht nur eine hat. Frau, meine ich. Stimmts?«

Horst nickte und peilte die nächste grüne Tonne an. Vor allem dachte er daran, ob er heute Abend wohl auch eine Frau im Arm haben würde, wenigstens eine.

»In zwei Stunden ungefähr, hab ich ihr gesagt. Ich ruf dann noch mal an«, sagte Manfred. »Susi mein ich. Kannst noch mal ‘ne Suppe machen; ich lös’ dich am Ruder ab. Aber keine Erbsensuppe, klar? Blähungen wären mir denn doch peinlich. Sogar bei Susi.«

Sie hatten halben achterlichen Wind, kaum Schräglage im Schiff. Horst kippte eine Dose Kartoffelsuppe in den Topf und zündete das Gas auf dem sanft pendelnden Herd an.

»Willst du ein Flens oder ein Jubi dazu«, rief er nach oben.

»Wieso oder?«, kam es zurück.

»Schon gut!«, murmelte Horst und griff zur Flasche.

Als sie an der Werft vorbei waren, lag Backbord voraus die »Mir« in seriöser Einsamkeit am Pier. Am nördlichen Kai, direkt unterhalb der Altstadt, ragte ein dunkler Mastenwald empor, durchbrochen von Rahen und Tauwerk. Dahinter schob sich eine Menschenmasse über den Hafen. Musik drang herüber.

»Da liegen die Oldtimer schon zu viert gepackt am Kai«, staunte Manfred. »Heißt ja sonst auch Museumshafen, aber jetzt ist es wirklich ein Schifffahrtsmuseum.«

Horst tastete mit dem Fernglas die Südseite ab. »Der Segel-hafen ist dicht; wo es geht, liegen sie im Sixpack – mindestens.«