Zum Buch

Das Straßenschild »Gutenbergring« erinnert noch an die 500-jährige Ära des bleischweren Buchdrucks. Dort hatte Eddie Buchholz Anfang der 70er-Jahre seine Druckerei eröffnete. Mit der kleinen Offset-Druckmaschine gehörte zu den Pionieren der modernen Drucktechnik und erlebte goldene Jahre.

Dreißig Jahre später war die neue Technik immer besser und die Konkurrenz immer stärker geworden. Eddie musste erkennen: Der Fortschritt hatte ihn überholt. Seine Druckerei – immerhin inzwischen auf eigenem Grund und Boden, mit drei Druckmaschinen und mit einem Team von sieben Mitarbeitern – war in eine finanzielle Schieflage geraten.

Jetzt sucht Eddie Rat und praktische Hilfe. Er will nicht aufgeben, sondern seinen Mitarbeitern die Arbeitsplätze erhalten. Sein Kampf um die Existenz wird jedoch falsch verstanden – und auch gutgemeinte Ratschläge fallen bei Eddie nicht auf fruchtbaren Boden. Plötzlich wird deutlich, wie Familie, Mitarbeiter und Freunde mit Eddies Schicksal verbunden sind. Ganz unterschiedliche Charaktere sind mit der veränderten Situation konfrontiert und fordern mit ihrem Handeln nicht nur von sich selbst neue Entscheidungen.

 

***

 

Peter Jäger – als Lokalreporter mit dem Mittelstand bestens vertraut – lässt eine Gruppe aus bodenständigen Urgesteinen, kreativen Werbeprofis, bürgerlichen und ausgeflippten Typen lebendig werden. In seinem anschaulichen Roman macht er einerseits deutlich, wie unerbittlich der Fortschritt sein kann – und andererseits, welche Chancen er bietet. Sogar für die Liebe.

 

Peter Jäger


Eddie
will leben

Existenz unter Druck

 

Roman

 

Für Rainer und Izais

 

 

IMPRESSUM

 

Peter Jäger

Eddie will leben · Existenz unter Druck

Roman

 

Der vorliegende Roman ist eine Überarbeitung

des im Privatdruck und als E-Book erschienenen Ursprungstitels:

»Junge Füchse. Alte Hasen. – Die Kunst des Überlebens.«

Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Eventuelle Ähnlichkeiten sind zufällig und unbeabsichtigt.

 

Kontakt zum Autor:

www.jaeger.quickborn-online.de · pejaeg@freenet.de

 

© 2015

Kadera-Verlag, Norderstedt

www.kadera-verlag.de · verlag@kadera.de

Alle Rechte vorbehalten.

 

Umschlaggestaltung: Günther Döscher

– unter Verwendung von grafischen Motiven aus dem fotolia-Stock.

 

ISBN 978-3-944459-43-1 (E-Book Kindle)

ISBN 978-3-944459-65-3 (E-Book ePUB)

ISBN 978-3-944459-42-4 (Druckausgabe)

 

 

November – Kurier gespart

Eddie Buchholz erschrak heftig, als Warnsignale eines Rettungswagens in seinen Ohren dröhnten. Ausgerechnet direkt vor der Einfahrt des Kronstiegtunnels. Zum Wenden zu spät. Das wär’s noch: Auffahrunfall in der Röhre unter der Startbahn von Flughafen Hamburg – Chaos pur!

Er befand sich bereits auf der linken Spur, weil er hinter dem Tunnel nach Niendorf abbiegen wollte. Wie sollte er Platz machen? Er musste zurück auf die rechte Fahrbahn. Doch da wollte man ihm keine Lücke lassen. Es war eng. Erstaunlich, dass die Außenspiegel nicht abgerissen wurden. Die schrillen Signale wurden lauter, das flackernde Blaulicht warf grelle Fetzen an die Röhrenwand. Plötzlich zog das rote Einsatzfahrzeug in bedrohlicher Schräglage an Eddies Kombi vorbei. Zu dritt auf zwei Fahrspuren! Der Einsatzwagen war mit zwei Rädern auf den schmalen Seitenrand ausgewichen. Riskantes Manöver! Eddie verkrampfte sich mit verbissener Miene am Lenkrad.

Er atmete tief aus. Ruhe bewahren! Sein Blutdruck war mal wieder bedenklich hochgeschnellt. Aufregung kann gefährlich werden, hatte sein Arzt gewarnt. Mit zittriger Hand schleuderte er die lästige Mütze auf die Rückbank. Seine spärlichen grauen Haare waren plattgedrückt und schweißnass.

Als die Kolonne nach wenigen Augenblicken wieder in Gang kam, schob Eddie erleichtert den ersten Gang rein. Er dufte keine Zeit mehr verlieren, denn hinten auf der Ladefläche lagen frisch gedruckte Werbeprospekte. Sonst überließ er eilige Auslieferungen einem Kurierdienst. Doch dieser Auftrag war anders: Eddie wollte Bargeld sehen, sofort bei Übergabe. Der Restaurant-Besitzer hatte ihn verdammt oft mit blöden Ausreden vertröstet. Die unbezahlten Rechnungen überstiegen jedes vertretbare Maß. Der Italiener schuldete ihm mindestens zweitausend D-Mark aus früheren Aufträgen.

»Entspann dich, Junge! Nachher wird Klartext geredet«, kämpfte der Druckerei-Boss aus Norderstedt gegen seinen Zorn und fingerte knisternd in der aufgerissenen Lakritztüte. Ohne den Blick von der pitschnassen Fahrbahn abzuwenden, stopfte er eine Handvoll buntes Konfekt in den weit geöffneten Mund. Und schmatzte genießerisch.

Um sich abzulenken, drückte Eddie die Taste des Autoradios. »Welle Nordland, mein erträglicher Sender«, schmunzelte er bei den ersten Schlagerrhythmen. Etwas später verkündete der Moderator das Tageshoroskop für Schützen: »Steine, die im Weg lagen, haben Sie mit Leichtigkeit aus dem Weg geräumt. Noch ein Schritt weiter und Sie sind am Ziel!«

Was für ein Blödsinn, schüttelte Eddie den Kopf. »Du hast wohl einen Kasper gefrühstückt«, spottete er über die utopische Prophezeiung. Von der Leichtigkeit des Seins hatte Eddie sich weit entfernt. Ein kurzer Blick aus dem Seitenfenster präsentierte ihm die Realität: Grauer November. Bunt war gestern. Das herabwirbelnde Laub hatte die Abflüsse verstopft, matschte unter den Schuhen der Passanten, die ihre aufgespannten Schirme gegen heftige Windböen stemmten.

Wutsch! Klatschte ein Windstoß triefend nasses Herbstlaub gegen das Seitenfenster seiner Karre. Matschig-braune Blätter suchten Halt, rutschten in die Tiefe, spülten in die Gosse.

»So werde ich auch weggespült, wenn ich nicht durchgreife«, murmelte Eddie mit gepresster Stimme. Er wusste auch schon, wie er den aalglatten Berlusconi-Verschnitt vom »Ristorante La Grotta« begrüßen würde.

»Buon giorno, Mario! Heute nix Grappa für Dottore – dein guter Freund will Bares! Sonst keine neuen Prospekte.«

Er würde kein Pardon kennen, denn seine Druckerei litt unter einer finanziellen Schieflage. Deshalb musste er seine Forderungen unerbittlich eintreiben. Hinten im Kombi lagen neue Farbprospekte. Warum also Rücksicht nehmen? Das hinhaltende Blabla des Italieners passte nicht zu den Umsätzen seines Lokals, dem man es ansah: Bester Lage für gute Geschäfte.

 

Eddies goldene Jahre hingegen lagen ziemlich weit zurück – da blühte noch das westdeutsche Wirtschaftswunder. Wer nicht studierte oder rebellierte, folgte der Parole des dicken Ludwig Erhard: »Wohlstand ist für alle da!«

Einst Papierschneider in einer Großdruckerei, hatte er sich von der Aufbruchsstimmung mitreißen lassen. Mit einer kleinen Offsetmaschine wagte er Anfang der siebziger Jahre den riskanten Schritt in die Selbstständigkeit. Unterstützt von seinem Freund Robert, einem Busfahrer bei der Hamburger Hochbahn, brachte er die tonnenschwere Maschine in einem angemieteten Flachbau in Norderstedt zum Rotieren. Die Rechnungen tippte seine Hanna auf einer Olympia-Schreibmaschine, umständlich mit Kohlepapier und zwei Durchschlägen. Das Porto wurde gespart, denn die Briefe kutschierte er persönlich zur Kundschaft, auch um Präsenz zu zeigen!

Inzwischen waren die Falten in seinen Mundwinkeln tiefe Furchen geworden. Nicht vom Lachen. Längst spielte der schwungvolle Aufreißer keine Rolle mehr an der einst so erfolgreichen Druckerfront. Mit der Schallgrenze Sechzig vor den graublauen Augen verteidigte Eddie nur noch das mühsam Erreichte. Mehr war nicht drin.

 

Achtung – durchtreten! Sein Passat bretterte bei Gelbrot über eine gefährliche Kreuzung. Verdammt, das passierte ihm jedes Mal, wenn seine Gedanken sich in seinem Finanzchaos verirrten. Übertrieben heftig trat er auf die Bremse, sodass die Pakete gegen die Rückbank polterten. Als er sich wenige Minuten später dem Einkaufszentrum im Stadtteil Niendorf näherte, lärmte sein Handy. Eddie griff in die ausgebeulte Jackentasche und warf einen flüchtigen Blick aufs Display.

Sven – auch das noch!

»Alter, du hast die falschen Kartons mitgenommen!«, überschlug sich die Stimme am anderen Ende. »Blöde von dir, du fährst Vereinshefte spazieren.«

»Vereinshefte?«, stotterte der Druckerei-Chef ungläubig. »Das kann nicht sein.« Sekundenschnell bildete sich eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen, die abgrundtiefes Misstrauen verriet. Ich habe ein Großmaul zum Sanierer meines Betriebes gemacht, peitschte ihn eine innere Stimme. »Vier Pakete hast du zu mir gesagt, vier Pakete, Sven! Ich habe sie eigenhändig eingeladen.«

»Du brauchst wohl ein Hörgerät! Der Italiener bekommt vierzehn Pakete«, widersprach sein selbsternannter Logistikexperte, dabei holte Sven geräuschvoll Luft, um die präzise Stückelung zu erklären. »Fünfhundert Prospekte in jedem Karton, das macht unterm Strich 7000.«

»Nun halt mal die Luft an!«, unterdrückte Eddie die peinliche Belehrung, während seine flinken Augen die nächste Abbiegung anpeilten. »Nicht in diesem Ton! Ich fahre in die Seitenstraße, melde mich wieder.«

Er fand eine Lücke, kaum größer als ein Badelaken. Egal, irgendwie musste seine Kiste da rein. Sachte im Rückwärtsgang. Dann wollte er dem Schlaumeier im Büro die Wacht am Rhein blasen. Er drückte die Rückruftaste seines Nokia.

»Buchholz-Druck, Hanna Buchholz am Apparat«, säuselte seine Frau ahnungslos ins Telefon. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mich mit Sven verbinden.«

»Wieso, habt ihr nicht alles geklärt?«

Was sollte die Ausfragerei? Anscheinend machte seine lächerliche Spazierfahrt schon die Runde im Betrieb. »Darf unser Prinz nicht gestört werden?«

»Mein Gott, hast du eine miese Laune«, parierte Hanna spitzt. »Sven hat gerade einen Kunden verabschiedet, das geht selbstverständlich vor!« Weiter kam sie nicht, denn plötzlich war sie aus der Leitung.

»Hallo, Senior! Sag bloß, du hast eine Parklücke gefunden?«, frotzelte Sven vergnügt weiter.

»… sonst könnte ich dir nicht sagen, dass mir dein salopper Ton missfällt!«

»Was unterstellst du mir, sollte ich dich auflaufen lassen? Mario würde Schreikrämpfe kriegen: Vereinsnachrichten statt Pizza-Werbung!«

Eddie presste seine Lippen zusammen, musste dringend den Tornado in seinem Schädel bändigen. »Anscheinend macht es dir Spaß, mich als Trottel hinzustellen. Das ist nicht fair, mein lieber Sven. Du solltest dir merken: Wo gehobelt wird, fallen Späne! Bei mir und bei dir. Ich werde dich bei nächster Gelegenheit daran erinnern.«

Sven ließ sich nicht einschüchtern, und verspürte anscheinend keine Lust, die Schwächen des Alten schönzureden. »Hätte nicht gedacht, dass du so dünnhäutig bist, Senior. Machst einen Staatsakt aus jeder Lappalie. Ich lege jetzt besser auf.«

»Na endlich«, seufzte Eddie und ließ den Motor anspringen. Er setzte den Kombi einige Zentimeter zurück, um besser einschlagen zu können. Dabei warf er hektische Blicke in den Rückspiegel – bis ihn ein schmirgelndes Geräusch erschreckte. Alarmiert trat sein Fuß die Bremse durch.

Das geküsste Opfer hinter seinem Wagen war ein Kleinwagen. Eddie überlegte blitzschnell: Aussteigen? Damit könnte er in Verdacht geraten, Verursacher eines Lackschadens zu sein. Er beschloss, der weniger riskanten Eingebung zu folgen: Blinker raus und weg!

Aber schon beim Anfahren ruckelte sein Wagen merkwürdig über die Bordsteinkante. Verdammt, was war das? Eddie riss die Fahrertür auf und erschrak über den heftigen Regenguss, der auf seinen schütteren Schädel prasselte. Ein ahnungsvoller Blick hinter das Fahrzeug bestätige ihm – die Anhänger-Kupplung steckte im Motorgrill eines Ford Fiesta!

Eddie erstarrte geschockt. Woher kam diese Pechsträhne? Der Schaden, von ihm verursacht – oje, das kostet! Bevor er seine Gedanken sortieren konnte, traktierte ihn das Hupkonzert eines ungeduldigen Fahrers, der mit beiden Händen hinter beschlagenen Scheiben fuchtelte. Unmissverständlich: Mach, dass du wegkommst! Dein Huckepack-Gespann blockiert den Verkehr auf dem rechten Fahrstreifen.

»Heute ist nicht mein Tag!«, stöhnte der Alte aus tief verwundeter Seele. »Hätte ich doch bloß den Kurier losgeschickt!«

*

»Halt, mein Freund! Wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greife lieber zur HB ...« Nach seinem Telefongeplänkel mit dem angesäuerten Alten musste Sven Kinkel an dieses geniale Werbespot-Beispiel aus dem Marketing-Kurs denken. Das wuselnde HB-Männchen aus der Kino-Reklame, das wie eine Rakete in die Luft schoss, wenn die Bodenhaftung verloren ging, könnte Eddie heißen. Für den smarten Werbeprofi war der Wunsch nach einer Zigarettenpause aber kein Notnagel. Eher ein willkommener Vorwand, um sich den Blicken der Chefin zu entziehen.

Hanna glich einer feierlichen Altarkerze, wenn sie am Schreibtisch saß – aufrecht, ernst und wachsbleich. Sven führte ihre verkrampfte Haltung auf den Ordner »Offene Posten« zurück, den sie seit einigen Stunden durcharbeitete. Sie schien es persönlich zu nehmen, wenn ihre Mahnbriefe keinen kontofüllenden Erfolg hatten. Beim Abgleich einiger Kundenkonten stieß sie abgrundtiefe Seufzer aus, was ihm, drei Schritte entfernt am Schreibtisch des Chefs, auf die Nerven ging.

Er hätte mehr Grund zum Stöhnen gehabt. In seiner Werbeagentur herrschte Land unter, denn im letzten Quartal des Jahres fielen bei den Kunden wichtige Etat-Entscheidungen. Stattdessen klebten seine Gedanken an sinkende Umsatzzahlen dieser Druckerei, die keine Illusionen mehr zuließen. Er beendete seine Recherchen am PC des Chefs. Dabei rutschte ihm eine sarkastische Bemerkung heraus: »Kleinvieh macht nur kleinen Mist. Ihr braucht frische Zugpferde im Stall!«

Hanna quittierte diese Spitze mit einem strafenden Seitenblick. Dabei entdeckten ihre Augen die Zigarettenschachtel, die seine Hand aus dem Sakko hervorzog.

»Im Büro ist Rauchverbot, Sven! Das müssen hier alle respektieren«, verwarnte sie den Schwarm ihrer Tochter. Monika hatte ihre Eltern davon überzeugt, dass es nicht schaden könnte, eine externe Meinung über die Lage des Betriebs einzuholen. Außerdem war Sven ein interessanter Kunde, seine Agentur hatte ihnen einige Druckaufträge zukommen lassen.

»Klare Ansage, Hanna, auch wenn ich eure Bude damit bestimmt nicht in Brand stecke. Obwohl – ein schnell herbeigeführter Versicherungsschaden könnte die Lösung eures Problems sein«, grinste er spitzbübisch. Die Chefin erschrak, als wenn sie ein schlechtes Gewissen wegen dieser züngelnden Gedanken haben müsste. Statt darauf einzugehen, presste sie ihre schmalen Lippen zusammen und blickte ihn verständnislos an. Für Sven war es das Signal, sich endlich eine Zigaretten-Pause zu gönnen.

»Pardon, ich verschwinde jetzt mal nach draußen.«

 

Auf dem Gang zum Hinterhof warf er einen Blick in die laute Druckereihalle. Nur die großformatige Bogenoffset-Maschine vor dem Fenster war im Einsatz, zwei kleinere warteten seit Tagen auf neues Auftragsfutter. Der kahlköpfige Walter Nessler trug gerade ein Plakat zum Montagetisch. Sven war über den Eilauftrag für ein Gospel-Konzert in Norderstedt informiert. Zugegeben, ein wichtiger Auftrag, immerhin vom Veranstaltungs-Management der Stadt – aber was blieb hängen bei so einer Miniauflage?

Draußen, auf der Rückseite des Flachbaus, schützte eine schräge Überdachung vor lästigem Dauerregen. Sven war ungewöhnlich groß, schlank und trug eine modische Kombination. Seine Füße steckten in komfortablen Freizeittretern, Größe 45. Während er sich eine Zigarette ansteckte, kroch bereits der nasskalte Atem des Novembers in seinen schlaksigen Körper. Fröstelnd stellte er den Kragen hoch und sah sich auf dem Hof um. Unweit der Verladerampe parkten neben seinem BMW die Autos der Belegschaft. Entschieden zu viele, dachte er finster. Eddie muss sein Personal verringern und rationeller produzieren!

Diesen Eindruck hatte er bereits gewonnen, als seine Werbeagentur die ersten Aufträge mit der Druckerei des Alten abwickelte. Schon damals, vor zwei Jahren, missfielen ihm die abgehobenen Preise. Er blieb trotzdem, weil der zuverlässige Service und die praktische Nähe nicht zu verachten waren. Bis er Angebote im Internet aufspürte, die nicht mit seriöser Kalkulation zu erklären waren. Zugegeben – der Haken daran war, dass die Vorlagen druckfertig gestaltet sein mussten, bei Korrekturen entstanden erhebliche Mehrkosten. Aber dafür hatte er ja fähige Leute, die er ohnehin besser auslasten wollte.

Als er mit seinen Aufträgen fremd ging, sie dort platzierte, wo ihm interessantere Gewinnspannen winkten, zog Eddie die Jalousien runter, rief nicht mehr an und wurstelte weiter, als wenn er die Konkurrenz ignorieren könnte. Das ist verdammt gefährlich fürs Überleben, dachte Sven, denn Monat für Monat hielten seine Mitarbeiter, vom Drucker bis zur Putze, am Ersten die Pfoten auf.

Gottlob, es war nicht seine Klitsche. Wie schnell man kopfüber in die Pleite stürzen kann, hatte er vor einem Jahr selbst erlebt.

Monika wusste davon. Er hatte ihr offen eingestanden, dass ihr Großer nicht der supergroße Hecht war, den sie bewunderte. »Ist doch keine Schande, dass du neu anfangen musstest. Du bist herausgekommen aus dem Schlamassel, kannst mit Erfahrungen aufwarten – das ist entscheidend und macht dich sympathisch.« So hatte sie seine Pleite in einen Sieg verwandelt.

Weniger zimperlich urteilte sein Vater, Leiter einer Sparkassen-Filiale in Hamburg: »Ihr habt zu viel Rotwein gesoffen und nicht effektiv gearbeitet!«

Daddy übertrieb und lag hochprozentig daneben. Ein Großkunde hatte alle Agentur-Preise unter die Lupe genommen, mit dem Ergebnis, dass ihm der Stuhl vor die Tür gestellt wurde. »Sieben kleine Negerlein, die lebten in Saus und Braus, auf einmal ging ein Kunde weg, da stürzte ein das Haus«, hatte sein Werbetexter Sebastian Schmücke auf der Toilette geträllert – und dazu die Spülung rauschen lassen.

Kinkel Senior verordnete Sven eine radikale Kur: Gehaltskürzungen bei allen Mitarbeitern. Firmenwagen nur für die beiden Teilhaber. Auch von ihrem teuren Domizil, einer nostalgischen Villa im Hamburger Stadtteil Groß Borstel, mussten sie Abschied nehmen. Die neu gegründete Agentur Kinkel & Partner GmbH bezog stinknormale Büroräume, zur Ehrenrettung immerhin in Winterhude, im angesagten Stadtteil gutbürgerlicher Hanseaten.

Während der kurzen Zigarettenpause hatte Sven seine Marschroute im Hinterkopf abgespeichert: Schluss mit dem Gequatsche, zum Jahresende muss Eddie die Daumenschrauben angezogen haben, sonst macht mein Einsatz hier keinen Sinn! In diesem Moment störte der Klingelton seines neuen Handys.

»Was gibt’s, Sebastian?«, zischte er seinen Texter forsch an, obwohl er ihn an allen Fronten im Büro vertrat.

»Du warst schon mal freundlicher! Hab ich dich beim Beischlaf mit Monika gestört?«

»Beischlaf? Du brütest wohl noch in der Bettenabteilung des Möbeldiscounters? Oder sind deine Entwürfe fertig?«

»Kannst Eindruck schinden mit meinen genialen Sprüchen«, konterte Sebastian Schmücke. »Auf meine Kissenschlacht mit Weihnachtsgänsen muss erst mal einer kommen! Super klingt doch auch die federleichte Betten-Finanzierung, oder?«

Er hielt kurz inne, wartete vergebens auf ein positives Echo. Da seinem Partner anscheinend das Wasser unter der Kinnlade schwappte, zog er die Mitleidskarte und säuselte: »Wann kommst du rein, Svenni? Ich brauche Luftveränderung, muss mal um die Außenalster sprinten.«

»Es kann spät werden – leider«, wich Sven muffig aus. »Passt mir auch nicht, dass ich hier festhänge. Leg die Mappen auf meinen Tisch. Ich hol sie auf jeden Fall heute Abend raus. Okay?«

»Langer, du riskierst viel!«, verpasste Sebastian ihm nun doch einen Warnschuss. »Der Marketing-Fuzzi des Discounters fragt jedes Mal nach dir, bin anscheinend nur zweite Wahl für ihn. Außerdem – nicht vergessen – die Präsentation für den Baulöwen muss fertig werden...«

»… und finish! Morgen bin ich in Hamburg. Und ich verspreche dir: Hier wird jetzt Klartext geredet.«

Sven ließ sein Handy in die Sakkotasche gleiten und eilte mit langen Schritten ins Büro zurück.

»Du holst dir eine Grippe«, prophezeite Hanna, als sie bemerkte, dass er seine kalten Hände knetete. Ihre mütterliche Anteilnahme überraschte ihn, kam aber seinen Absichten gelegen.

»Ich brauche nur einen starken Kaffee, Hanna, dann bin ich wieder fit. Hast du an Nachschub gedacht?«

»In der Küche steht ein frisches Paket. Kommst du mit unserer Maschine klar?«

»Mal sehen, welches Jahrhundert mich da erwartet«, tönte Sven angriffslustig und erinnerte sie an ein ausgeschlagenes Angebot. Im Frühjahr hatte seine Agentur eine Verkaufskampagne für Vollautomaten durchgezogen. Mit flüsterleisem Kegelmahlwerk und Cappuccino-Zubereitung auf Knopfdruck. »Schade, dass ihr den Vollautomaten verschmäht habt. Die kosten allerdings ‘ne Kleinigkeit, wenn du verstehst, was ich meine.«

Hanna quittierte die Anspielung mit verständnislosem Kopfschütteln. Für sie machte es keinen Unterschied, aus welcher Maschine der Bürokaffee sprudelte. »Wir sind kein Restaurant, Sven. Nimm den gemahlenen Kaffee, der neben der Maschine steht, für jede Tasse ein Lot.«

Unbeirrt faltete sie die letzten Mahnungen, die sie nachher auf dem Weg zum Shopping-Center in Norderstedt einstecken wollte. Im Stillen genoss sie die Aussicht auf einen verabredeten Einkaufsbummel mit ihrer Schwester Vera.

Sven hätte eine Wette abschließen sollen: Die Ausstattung der Druckereiküche vermittelte den Charme der legendären Sperrmüll-Ära. Zwei weiße Hängeschränke, eine grauschwarz gesprenkelte Arbeitsfläche mit integrierter Edelstahlspüle auf der Fensterseite. Gegenüber, auf einem weißen Plastiktisch, lag eine aufgeschlagene »Morgenpost«, was darauf schließen ließ, dass hier auch gefrühstückt wurde.

Während die Kaffeemaschine wütende Dampfgebilde zur Decke fauchte, spülte er geschwind zwei Becher unter fließendem Wasser ab und stellte sie auf ein Tablett. Wenig später spielte er den perfekten Hausmann: »Ist ziemlich stark mein Gesöff, hab aber auch Milch mitgebracht.«

»Danke, das ist wirklich nett von dir«, lobte Hanna seinen Service. Sie schien es nicht gewohnt zu sein, von einem Mann bedient zu werden, nahm einen Kaffeebecher vom Tablett und trank vorsichtig einen heißen Schluck.

Das Klima schien ausreichend entspannt, fand der lauernde Agenturstratege und startete seine Offensive: »Was hältst du davon, Hanna, wenn ich die Pizza-Prospekte heute Abend nach Niendorf mitnehme, muss ja ohnehin nach Hamburg, dann muss Eddie nicht noch einmal los?«

Überrascht schaute sie zu ihm auf. Er besaß die Länge einer Gartenleiter. Sein Unschuldslächeln machte sie stutzig. Vorhin hatte er Streit mit Eddie, woher kam der plötzliche Wandel?

»Das wird meinem Mann aber nur gefallen, wenn du auch das Geld kassierst«, gab sie zu bedenken. »Der Italiener ist ganz schön abgebrüht.«

»Vielleicht ist Monika bereit, mich zu begleiten«, holte Sven seine Verbündete mit ins Boot. »Sie sollte schon dabei sein, wenn’s ums Finanzielle geht. Außerdem möchte ich sie in meine Pläne einweihen.«

»Welche Pläne?« Alarmiert erhob sich Hanna aus ihrem Bürostuhl. »Warum zuerst mit Monika darüber sprechen? Sie ist Erzieherin, hat sich nie für die Druckerei interessiert.«

Sven trat einen Schritt zurück, als wollte er ihr ermöglichen, die Antwort in seinen ehrlichen, braunen Augen abzulesen. Warum dieses plötzliche Misstrauen, das ihm auch beim Alten aufgefallen war? Und was hatte sie gegen einen Pakt mit Monika?

»Du weißt doch, dass ich nicht aus eigenem Antrieb zu euch gekommen bin. Moni hat mich zu diesem Job gedrängt, weil sie sich Sorgen macht. Nach drei Wochen Buchholz-Druckerei ist mir klar geworden, was hier gegen den Strich läuft. Wir müssen über Konsequenzen reden.«

»Von mir aus – gerne!«, willigte Hanna energisch ein. »Monika kann mitfahren, aber über deine Erkenntnisse oder Pläne, soweit sie die Druckerei betreffen, solltest du zuerst mit Eddie und mir sprechen.«

Sven spürte ihre lauernden Blicke und begriff blitzschnell: Jetzt nicht den Bogen überspannen, sonst würde er seine Recherchen mit einer Bauchlandung abschließen. »Okay, Hanna, vielleicht hab ich mich unglücklich ausgedrückt!«, räumte er diplomatisch ein. »Mag ja sein, dass ich manchmal zu schnell bin, aber es ist nun mal Fakt, dass Monika ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Vater hat. Eddie vertraut ihr, auch wenn sie mehr von Kindererziehung versteht. Deshalb will ich sie mit einbeziehen. Ehrlich gesagt, ich möchte den heutigen Tag mit einem kleinen Erfolg abschließen. Lass uns bitte später über deine Bauchschmerzen reden.«

»Kopfschmerzen, Sven«, korrigierte sie seinen Redeschwall und tippte mit der flachen Hand an die Schläfe. »Ich denke hier oben über alles nach. Die Reihenfolge ist trotzdem verkehrt! Bis vor einigen Minuten hatte ich sogar den Verdacht, dass du uns gegeneinander austricksen willst.«

»Hui, das ist verdammt starker Tobak!«, brauste Sven entsetzt auf. Er hatte gehofft, die silbergraue Chefin würde ihre Einwände endlich abstellen. Stattdessen verpasste sie ihm einen Denkzettel. »Warum sollte ich ein Interesse an Tricksereien haben, Hanna? Bitte, nenne mir einen Grund!«

Verdammt, sie wendete sich von ihm ab und stützte eine Hand auf den Schreibtisch. Wollte sie Theater mit ihm spielen? Dazu war er nicht aufgelegt. Sie musste endlich Farbe bekennen.

»Wenn ihr unsicher seid, ob ihr mir vertrauen könnt, müsste ich das ganz schnell wissen!«

Hanna sah ihn eine Weile schweigend über die Schulter an, schien jedes Wort vorsichtig abzuwägen. »Entschuldige, Sven«, stammelte sie kleinlaut, nachdem sie begriffen hatte, dass sie ihn nicht verprellen durfte. »Du hast dir zweifellos viel Mühe gegeben. Aber du musst auch uns verstehen. Plötzlich soll alles falsch sein, was wir machen. Ich verliere in letzter Zeit meine Nerven – bündelweise. Sehe tanzende Zahlen und höre ständig mahnende Stimmen: Passt auf, Hanna, ihr verliert den Anschluss! Ihr müsst in neue Technik investieren! Ihr müsst junge Leute einstellen, die sich besser auskennen. Ihr müsst ...«

Sie unterbrach ihre Aufzählung, die plötzlich in einem heftigen Schluchzen erstickte. Anscheinend war ihr auch die Offenheit peinlich, denn sie versuchte, ihr Gesicht hinter vorgehaltenen Händen zu verbergen.

»Du hast aber auch einen Scheiß-Job in diesem Laden!«, rutschte es Sven mitfühlend über die Lippen. »Das ist doch ungerecht: Du und Eddie, ihr schindet euch ab und die Jungs da drinnen, die drehen die meiste Zeit Däumchen. Na ja, nicht alle – den Nessler nehme ich mal aus, aber der verdient richtig viel Schotter. Warum lasst ihr diesen Zustand zu? Kein Wunder, dass dir Tränen in die Augen steigen.«

Hanna wiegelte beschwichtigend mit den Händen ab. »Lass es genug sein, Sven«, flüsterte sie mit belegter Stimme. »Es ist nicht meine Art, mich zu beklagen. Ich bin mir sicher, dass wir einen Ausweg finden werden.«

Sven staunte über ihre perfekte Wandlung. Eben noch verzweifelt, das heulende Elend, unter der drückenden Last leidend. Und schon zwei Minuten später schaffte sie es mit eiserner Disziplin, sich wieder aufzurichten. Um das anstrengende Gespräch zu beenden, sammelte sie ihre Mahnbriefe ein und schritt zur Portomaschine, die auf einem niedrigen Ordnerschrank abgestellt war.

Bevor sie dort ihre Arbeit fortsetzte, drehte sie sich kurz zu Sven um: »Grüße Monika von mir. Ich spreche mit Eddie, wenn er zur Ruhe gekommen ist. Viel Glück euch beiden.«

 

Überredet

An diesem Nachmittag sehnte Monika den Feierabend herbei. Wegen des nasskalten Wetters waren die Kinder ihrer Gruppe zu wenig draußen gewesen und ließen ihrer aufgestauten Energie bei jeder Gelegenheit freien Lauf. Oft hatte sie eingreifen oder schlichten müssen, was Kraft kostete. Auch jetzt wieder, als die letzten Kinder der Hortgruppe abgeholt wurden. Sie rangelten beim Anziehen vor der Garderobe und schienen verstopfte Ohren zu haben.

Da die Mutter von Oliver nur grinsend zuschaute, verschärfte Monika den Ton: »Zieh deine Jacke an, Olli, jetzt wird nicht gezankt! Den Klettverschluss schaffst du doch alleine, oder?«

Auch das kichernde Mädchen, das an seiner Kapuze zerrte, bekam die rote Karte gezeigt: »Nele, beeil dich, deine Omi wartet schon! Gleich gehen hier die Lichter aus!«

Aber ihre Worte purzelten auf fruchtlosen Boden. Als sie in die Hocke fuhr, um dem Mädchen in die Gummistiefel zu helfen, surrte ihr Handy. Ein kurzer Blick aufs Display bestätigte ihre Vermutung – Sven!

»Tut mir leid, ihr müsst ohne mich zurechtkommen«, sagte sie den Kindern und entfernte sich einige Schritte im Flur.

»Schön, dass du an mich denkst, was gibt es denn, Großer?«

»Du klingst so aufgedreht, ist bei euch Party?«

»Ja, später, eine Kollegin hat die Dreißig gestürmt. Heute Abend ist ein Kiezbummel angesagt.«

»Könnte ich auch gebrauchen, aber dein Alter ist wieder auf Krawall gebürstet.«

Monika fand, dass sie die falsche Adresse war, wenn er Differenzen mit ihrem Vater hatte. »Männer sind in unserer Clique nicht erwünscht, Sven. Geh mit meinem Vater ein Bierchen trinken, sprecht euch mal richtig aus.«

»Nein, heute brauche ich deine Ohren, beide, unbedingt.«

Monika atmete tief durch. »So einfach geht das nicht ... ich müsste Katrin einen Korb verpassen.«

»Dir wird schon was einfallen«, drängte Sven hartnäckig. Er musste mit ihr reden. Die Prospekte im Wagen waren nur ein willkommener Vorwand.

»Du hast leicht reden«, zögerte Monika, die sich schon festgelegt hatte, den Bummel der Clique mitzumachen. Einen Rückzieher in letzter Minute würden die Kolleginnen ihr übel nehmen. Andrerseits fand sie das gespannte Verhältnis zwischen ihrem Vater und Sven unerträglich. Einige unschöne Details hatte sie von ihrer Mutter gehört. Was tun? Vielleicht konnte sie ihn überreden, sie zum Essen einzuladen. Dann wäre der Abend, auf den sie sich gefreut hatte, wenigstens annähernd gerettet. »Ich komme nur mit, wenn du mich in ein Restaurant ausführst, Svenni ... ich gestehe, mich peinigt ein Mordshunger!«

»… und ich habe die perfekte Lösung«, säuselte Sven mit schmeichelnder Stimme. Er hatte befürchtet, ohne Rückendeckung in der italienischen Arena kämpfen zu müssen.

*

Der auf den Hof fahrende Wagen blendete Sven. Trotzdem erkannte er den Alten hinterm Steuer des schwarzen Passat. Auf ihn hatte Sven startbereit in der Einfahrt gewartet. Als sie auf gleicher Höhe waren, ließen beide die Seitenfenster hinabgleiten.

»Na, Senior, alles geschafft?«, rief Sven lauernd hinüber. Er war gespannt, ob Eddie wieder zu mosern anfangen würde.

»Nicht alles, aber ich war beim Sportverein, wenigstens die Hefte sind abgeliefert«, antwortete er mit Bitterkeit in der Stimme. »Und du? Willst du jetzt Feierabend machen?«

»Eigentlich nicht, ich hatte auf dich gewartet.«

»Warum? Du kannst doch gehen, wann du willst.«

»Schon, aber du sollst wissen, dass ich mit Monika zum Italiener fahre. Wir wollen die Pizza-Prospekte mitnehmen. Was hältst du davon?«

Eddie schien überrascht zu sein. »Das ist keine schlechte Idee«, sagte er erleichtert. »Aber dann müsst ihr auch die Rechnung mitnehmen.«

»… und Geld mitbringen, ist doch logo, Senior«, versuchte Sven den erschöpften Mann zu beleben.

Mit ausgestrecktem Arm reichte Eddie einen Briefumschlag hinüber. »Vielleicht hast du mehr Glück als ich… aber, warte, willst du etwa ohne Pakete losfahren?«

»Sei unbesorgt, die liegen schon in meinem Wagen«, grinste Sven beim Anfahren.

»Nicht so schnell, Sven!« rief der Alte. »Ist noch jemand im Betrieb?«

»Ja, Hanna und Walter Nessler. Die Konzert-Plakate sind fertig geworden, müssen nur noch trocknen!«

Ein zufriedenes Lächeln huschte über Eddies aschgraues Gesicht.

Sven hielt vor dem Kindergarten. Es war bereits nach fünf Uhr, deshalb blieb er im Wagen sitzen und drückte dreimal kurz auf die Hupe. Aber nichts regte sich in dem flachen Gebäude, obwohl einige Fenster erleuchtet waren. In einer Parknische entdeckte er ihren Polo, neben zwei anderen Fahrzeugen – aber wo steckte Monika?

»Ich flippe aus!«, brauste Sven auf, der keine Lust verspürte, sich ständig über diese lahmarschige Familie zu ärgern. Hatte sie sich etwa von ihrer Weiber-Clique herumkriegen lassen?

Sven streckte eine Hand zum Taschenschirm aus, der auf der Fußmatte vor dem Beifahrersitz lag. Er eilte fröstelnd zur Eingangstür, die jedoch verschlossen war. Energisch drückte er auf den Klingelknopf, lauschte jedoch vergebens. Zufällig berührte seine Hand die Zigarettenpackung im Sakko. Warum nicht? Ein bisschen Raucherglück würde seine Stimmung verbessern, entschied er und genoss die tiefen Züge nach dem Anzünden.

Wenn er an seine Fortschritte in Hamburg dachte, hätte er zweifellos eine Havanna verdient. Nach der Neuausrichtung seiner Agentur kam sein kleines Team bombig ins Geschäft, besser als vor der Krise, mit den geschassten Trittbrettfahrern, die zu wenig Leistung brachten. Zu den Entlassenen gehörte auch Carmen, die zwar gute Kontakte einfädeln konnte, bisweilen auch ihren Sex-Appeal einsetzte, aber keine Gelegenheit ausließ, krumme Dinger zu drehen.

Morgen früh hatte er in einem Möbelhaus vor Hamburgs Toren ein Meeting mit dem Geschäftsführer, fiel ihm siedend heiß ein. Die Aussichten waren günstig, einen größeren Etat abzuschließen. Er nahm sich vor, den heutigen Abend solide ausklingen zu lassen. »Die Orgie beim Italiener darf kein Waterloo werden!«

Während er an der Zigarette sog, machte ihn die Stille in der Kindertagesstätte stutzig. Warum hielt Monika ihn zum Narren? Spontan zog er sein Handy aus der Tasche, unterdrückte aber den Reflex, sie anzurufen, weil ihm einfiel, dass er das Misstrauen ihrer Kolleginnen wecken könnte. Vielleicht wurde gerade in feuchtfröhlicher Runde die Enttäuschung über Monikas Absage ertränkt.

Während sich der Zigarettenrauch kräuselnd im November-Dunst auflöste, dachte er an das erste Treffen mit Monika – abgespeichert auf der Festplatte seiner Eroberungen. Ein breites Grinsen huschte über sein Gesicht, als ihm die erste Szene einfiel. Monika, treue Sparkassenkundin, hatte ein Kreditgespräch im Büro seines Vaters. Völlig überraschend hatte er die Tür geöffnet und hinein gerufen: »Entschuldigung, ich will nur wissen, ob du nachher Zeit für mich hast?«

Bevor sein Vater antworten konnte, schnellte Monika herum. Hellwache, braune Augen starrten den Eindringling vorwurfsvoll an. »Erlauben Sie mal – kennen wir uns?«

Seine Blicke waren gefesselt von ihrer erotischen Ausstrahlung und den kessen, blonden Löckchen, die auf ihrer Stirn tanzten. In Sekundenschnelle war sein Jagdfieber geweckt: »Pardon, die Frage galt meinem Vater! Ich möchte Sie wirklich nicht in Verlegenheit bringen.«

»Dann schließe bitte die Tür von draußen«, hatte sein Vater den tollpatschigen Auftritt beendet.

Aber Sven hatte schon die heiße Fährte aufgenommen und wollte sich nicht abschütteln lassen. Als Monika später die Filiale verließ, stand er zufällig vor einem Schaukasten der Sparkasse und studierte Immobilien-Angebote. Was hatte er zu verlieren? Seine letzte hautenge Beziehung, nach der Bauchlandung mit Carmen, lag schon einige enthaltsame Wochen zurück.

»Na, hat’s geklappt bei meinem Daddy?«, fragte Sven mit gespieltem Interesse.

Monika stutzte. Sie konnte ja nicht damit rechnen, am helllichten Tage vor der Sparkasse aufgelauert zu werden. Sie atmete so heftig, dass sich der Knopf ihres modischen Leinenblazers bis zum Anschlag spannte. Dabei reichte ihm die flotte Kundin gerade mal bis unters Kinn. Wenig später wusste er: Was ihr an Zentimetern fehlte, machte sie mit Schlagfertigkeit wett. »Eigentlich geht Sie das nichts an, was ich mit ihrem Herrn Vater vereinbare. Aber es stimmt – ich bin jetzt unglaublich reich!«

»Reich mit einem Kleinkredit – ?«

»Hoppla, die kleinen Kunden sollten Sie nicht unterschätzen! Mit diesen Leuten sind die Sparkassen groß geworden«, konterte sie geschickt.

»Dann sollten Sie meinen persönlichen Schutz in Anspruch nehmen«, schlug er geschwind ein neues Kapitel auf. »Es wäre bestimmt auch im Sinne meines Vaters.«

»… dem traue ich mehr Stil zu als Ihnen!«

»Da sind Sie aber im Irrtum, oder hat Sie mein Vater zum Essen eingeladen?«

»Das habe ich auch nicht erwartet. Ist wohl nicht üblich bei dem niedrigen Zinssatz!«

Schnell hatte er die Erkenntnis gewonnen: Sie gehört zu den wortgewandten Frauen, vor denen sich die Manager fürchten!

»Nun geben Sie sich mal einen Ruck, ich bin mit einem berühmten Restauranttester befreundet, brauche nur seine Geheimnummer anzurufen«, prahlte Sven so schlecht, dass sie ein helles Gelächter anstimmte.

Monika hatte ihn absichtlich zappeln lassen, aber zum Glück bemerkte er den Linienbus, der sich der Haltestelle näherte. »Na, was ist nun: Bus oder BMW?«

»In einem BMW bin ich noch nie gefahren«, gestand sie interessiert. »Und ehrlich gesagt: Ich riskiere ja nicht meine Unschuld, wenn wir beide völlig illusionslos zu einer Probefahrt durchstarteten. Außerdem habe ich bei Ihrem Vater eine Risiko-Lebensversicherung abgeschlossen ...«

»Aber nicht für meinen geilen 3er«, stellte Sven unmissverständlich klar. Gerne hätte er den Arm um sie gelegt, sie etwas an sich gezogen, um die Distanz zu beenden, doch er verkniff sich die übereilte Geste. Stattdessen bot er ihr, verdammt uncool, seinen angewinkelten Arm: »Kommen Sie, wir wollen doch Spaß haben!«

Monika hatte ihn erst zögernd angeschaut, den langen Kerl, zu dem sie aufschauen musste. Weiß der Kuckuck, was sie in diesem Moment dachte. Aber auch bei ihr durchbrach eine kribbelnde Neugierde die anfängliche Zurückhaltung: »Bin gespannt, was Sie unter Spaß verstehen.«

Auf dem Kunden-Parkplatz der Filiale waren sie in seinen silbernen Leasingblender eingestiegen. Beeindruckt hatte Monika ihre schönen Augen im komfortablen Cockpit kreisen lassen. Dass dieser edle Schick einer Bank gehörte, verriet Sven seiner sommerheißen Eroberung erst viel später.

*

Was ihm wie eine Ewigkeit vorkam, dauerte gerade mal eine Zigarettenlänge. Die Eingangstür des Kindergartens öffnete sich mit einem Summton. Warnsignal für Sven, den Rest der Zigarette in eine Pfütze zu schnippen.

»Empfängt man so eine Dame?«, maulte Monika vorwurfsvoll, denn sie hatte die Kippe fliegen sehen. »Ich will mal ein Auge zudrücken, weil du nicht im Wagen gepafft hast. Weißt du, was ich noch ekeliger finde?«

»Nein. Ich warte.«

»Kalten Rauch in einer Telefonzelle.«

»Kennst du eine?«, fragte er verwundert und zog sie an seine Seite. »Du solltest mir dankbar sein, dass ich hier stehe. Gehört nicht zu meinen Stärken, auf eine Frau zu warten.«

»Auch nicht, wenn sie verdammt sexy ist?«

»Komm jetzt!« Sven hob den Schirm über ihre Köpfe, zog Monika an sich und rannte mit ihr zum Wagen. Als sie den Gurt über ihren Busen zerrte, streifte für Sekunden ein sinnlicher Duft seine Nase. »Du riechst gut, hast du mit den Kindern gebadet?«

Sie lachte schallend. »In Escada! Ist meine Geheimwaffe.«

»Wer hier wohl wen zur Strecke bringt?« Sven bot seine Lippen an – und wurde belohnt. Beim Küssen spürte Monika seine Bartstoppeln, die das Verfallsdatum schon überschritten hatten. »Igitt, bist du kratzig, außerdem stinkst du nach Tabakmief! Wie ein Macho, der in seinen Klamotten gepennt hat!«

Sven griff das Stichwort geschickt auf. Während der Motor aufheulte, stimmte er den Titel von Reinhard Fendrich an: »Macho Macho, kannst net lernen, Macho Macho muss man sein ...«

Monika hob warnend ihren rot lackierten Zeigefinger: »Gibt es etwas, das du mir beichten müsstest?«

»Verrate ich dir beim Italiener.«

Während der Fahrt nach Niendorf übernahm das Autoradio die Unterhaltung, donnerte laut aufgedrehte Popsongs in die Lederkabine. Nach zwanzig Minuten bog Sven auf dem unbeleuchteten Parkplatz des Restaurants ein.

»Nur fünf Autos. Ist das ein schlechtes Zeichen?«, fragte Monika beim Aussteigen.

»Kommt darauf an, ob die Gäste Chianti oder Barolo trinken!«

»Armer Svenni«, bedauerte sie ihren Fahrer, weil er an diesem Abend alkoholfrei bleiben musste. »Mineralwasser zu Frutti di Mare, das schmeckt wie Froschpippi zu Nutellabrötchen!«

»Deine Schadenfreude spottet jeder Beschreibung!«

 

Rabatz bei Mario

»Buona sera!«, trällerte Mario und kam ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Zwei Personen?«

Sven nickte, und der agile Italiener begleitete sie zu einem gedeckten Tisch am Fenster. »Ist doch gemütlich hier«, stellte Monika zufrieden fest, als sie sich gegenübersaßen. »Meinst du, wir schaffen es heute Abend, den Tresor zu knacken?«

»Pssst!«

Mario brachte die Speisekarten und drückte aufs Tempo. »Möchten Sie schon Getränke bestellen?«

»Später«, bremste Sven den Wirt, weil er diese Unsitte hasste. »Wir bestellen alles zusammen.« Mit hungrigen Blicken suchte er die Seite mit den Fischspezialitäten. Aus versteckten Boxen warb eine Reibeisenstimme für Amore an der italienischen Adria. »Mare … Mare … Mare … Mare!«

»Das ist doch Luca Carboni, eine Urlaubsbekanntschaft von mir!«, flunkerte Monika reichlich übertrieben. »Hierzulande kaum bekannt, in bella Italia aber ein Star. Ich finde es wohltuend, mal nicht den englischen Pop-Cocktail serviert zu bekommen.«

Sven nickte gefällig: »Urlaubsbekanntschaft ... nicht übel!« Er hatte ein wohlklingendes Gericht entdeckt. »Hier – wie findest du grüne Bandnudeln mit Lachs in Gorgonzolasoße? Dazu eine Portion Oliven und einen Rucola-Salat mit Putenstreifen.«

»Würde mir genügen«, entschied Monika. »Will mir ja keine Rettungsringe zulegen.«

Der Wirt lauerte an ihrer Seite. »Für beide, oder wollen Dottore etwas Besonderes? Frische Muscheln mit ...« Seine Empfehlung blieb unvollendet. Er stutzte bei dem skeptischen Seitenblick, den Sven ihm zuwarf. Zweifelte der Gast etwa an der Frische seiner Muscheln?

»Wieso nennen Sie mich Dottore?«, wollte Sven wissen. »Ich besitze keinen akademischen Titel. Sie verwechseln mich.«

Mario atmete erleichtert auf und erklärte grinsend: »Das sagen wir Italienern gerne bei seriösen Kunden. Sie sind ein seriöser Mann, oder täuschen mich meine Augen?«

»Auf jeden Fall, wenn es um Geschäfte geht«, bestätigte Sven und hob eine Augenbraue. »Ich nehme eine Portion Muscheln. Haben Sie einen Barolo oder etwas Vergleichbares?«

»Si, Signore! Eine Flasche? Ich bringen ...«

»Zuviel«, winkte Sven heftig ab. »Bitte nur ein Viertel, muss noch Auto fahren. Und was trinkst du, meine bella Monika?«

»Weißwein des Hauses, trocken.«

»Mein Pino Grigio ist aus Venezien, wird Ihnen gefallen.« Der Wirt wetzte zum Tresen. Monika blickte sich im Lokal um. Es war zur Hälfte gefüllt, für Donnerstagabend nicht schlecht. Die Gäste plauderten angeregt, die Musik umrankte die Gespräche.

»… das Gesülze hat den Vorteil, dass uns niemand zuhört, wenn ich dir jetzt mein Anliegen verklicker«, legte Sven plötzlich den Hebel um. In seinem Gesicht verschwand jede Heiterkeit.

Männer, dachte sie. Nie haben sie Zeit für Gefühle. »Kannst du nicht wenigstens warten, bis wir gegessen haben.«

»Nein, Moni, mir rennt die Zeit davon. Muss nachher noch ins Büro, wichtige Unterlagen für einen Kunden einstecken.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Dann rede los, warum hast du Zoff mit meinem Vater?«

Sven senkte seine Stimme. »Ich will deinen Vater davon überzeugen, dass zum Jahreswechsel ein Kurswechsel stattfinden muss. Sonst kann er bald einpacken.«

»Das klingt aber sehr beängstigend, als wenn du von einer unheilbaren Krankheit sprichst.«

»Nicht unheilbar – der Virus ist schon erkannt!«, versuchte Sven den Ball flach zu halten. »Die Krankheit der Druckerei besteht darin, dass dein Vater die technische Entwicklung der letzten Jahre verschlafen hat. Oder aus Geiz nicht investieren will. Aber das lässt sich hinbiegen, wenn er endlich in die Hufe kommt.«

In diesem Moment störte der Wirt, brachte einen Korb mit Brot, Oliven, Wein und das Besteck. Als er verschwand, erinnerte Monika an ihren spärlichen Einfluss: »Ich kann dazu nicht viel sagen, Sven. Du weißt, ich liebe meine Eltern, aber von der Druckerei habe ich null Ahnung.«

»Und wer hat mich gebeten, den Stall deines Vaters auszumisten? Du hast mich dazu überredet, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen! Das ist wertvolle Zeit, die muss ich meiner Agentur abzwacken. Du darfst mich jetzt nicht im Regen stehen lassen.«

»Denkst du so?« Eine Denkfalte über der Nase verriet, dass sie diese Unterstellung nicht akzeptierte. »Regen ist draußen, aber wir beide sitzen hier wunderbar im Trockenen. Können völlig entspannt über das Ausmisten nachdenken, Sven.«

»Dann ist ja alles in Butter, wir gehen jetzt meine Vorschläge in Ruhe durch«, lobte Sven ihren Schwenk ins Eingemachte. »Na, denn«, er griff zum Weinglas.

»Salute!«, nickte Monika ihm aufmunternd zu. »Schade, dass man Wein nicht streicheln kann.«

»Ich wüsste einen dankbaren Körper«, flachste Sven und schnupperte an seinem Roten, bevor er einen köstlichen Schluck über die Zunge gleiten ließ. »Hervorragend temperiert, hätte ich dem Mario gar nicht zugetraut!« Er schwenkte das Glas wie ein verspielter Träumer, der nicht an vierzehn Pakete in Kofferraum erinnert werden wollte. Monika beschloss, ihren Genießer behutsam zu wecken.

»Wieso bin ich wichtig in deinem Plan? Ich lebe in einer total anderen Welt, mit vergnügten und plärrenden Kindern, die wir fit machen wollen fürs Leben. Aber es ist richtig – ich habe dich gebeten, meinem Vater zu helfen. Jeder sollte das machen, was er am besten kann. Du beherrschst das moderne Marketing. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich kneifen will.«

»Dann bin ich beruhigt«, lenkte Sven mit einer kurzen Handbewegung ein. »Die Rollenverteilung ist klar. Aber ich brauche Rückendeckung von dir, denn ich will alle an einen runden Tisch bringen, je eher desto besser. Das erwartet auch deine Mutter. Sie findet es übrigens nicht in Ordnung, dass du besser informiert bist als die Geschäftsleitung.«

»Runder oder eckiger Tisch – du musst behutsam an die Sache herangehen. Wenn du von meinem Vater verlangst, dass er Leute rausschmeißen soll, wird er mauern. Er kann keine Mitarbeiter entlassen, die ihm über viele Jahre die Treue gehalten haben. Einige sind so etwas wie Weggefährten für ihn geworden.«