Cover

Philipp Felsch, Frank Witzel

BRD Noir

Fröhliche Wissenschaft 087

msb_logo_schrift_sw_200%25.eps

Inhalt

Philipp Felsch

Die schwarze Romantik der Bundesrepublik

Philipp Felsch/Frank Witzel

BRD Noir

1.

Provinz

2.

Narrative der Bundesrepublik

3.

Mörder und Entführer

4.

Die Eltern

5.

Minima Moralia

6.

Terror der Theorie

7.

RAF I

8.

Der ästhetische Rest der Aufklärung

9.

Banalität des Bösen

10.

Tatort

11.

Sexualität und Wahnsinn

12.

Heimlich lesen, heimlich fernsehen

13.

No Future

14.

RAF II

15.

Evangelisch versus katholisch

16.

Mick Jagger war ein Beatle

17.

Das Elend des Kapitalismus

Frank Witzel

BRD Chamois

Dank

Literatur

Philipp Felsch

Die schwarze Romantik der Bundesrepublik

»Novembers in Germany remind you of the
sadness and despair of a fallen woman.«
Robert O’Connor, Buffalo Soldiers

Die alte Bundesrepublik? Das war doch das Land, in dem die Achtundsechziger mehr Demokratie wagen wollten, bevor ihren Kindern beim Playmobilspielen der Glaube an eine bessere Zukunft verloren ging. Vollbeschäftigung und Voltigieren, soziale Marktwirtschaft und Wetten, dass..?. Wenn es stimmt, dass sich jede Zeit in der Mythologie ihrer jüngeren Vergangenheit bespiegelt, dann reflektierte sich die Berliner in der Harmlosigkeit der Bonner Republik. Politisch unpolitisch und ästhetisch unergiebig: Wer von der neuen Hauptstadt aus die alten Bundesländer bereiste, wurde den Eindruck nicht los, in eine von der Geschichte abgehängte Provinz zu kommen. Im Gegensatz zu den östlichen Landesteilen hatten die Fußgängerzonen und sonstigen Bausünden der Siebziger- und Achtzigerjahre nicht einmal Ruinenromantik zu bieten, sondern waren einfach nur hässlich. »Ein gnadenloser Tritt in meine Eier«, wie Rainald Goetz anlässlich eines Besuchs in Marbach am Neckar im fernen 1983 schrieb. Selbst Ostdeutsche, sofern sie in den Westen fuhren, beschlich ein Gefühl fader Vertrautheit, nachdem die Euphorie der neu gewonnenen Freiheit verflogen war; die Produktpaletten waren ja dieselben geworden. Und verfassungsrechtlich wie volkswirtschaftlich befand man sich nach wie vor in diesem Staat. Das Monopol auf Nostalgie und Aufarbeitung, ja auf Historizität hatte nach der Wende die DDR inne, in der vieles anders und nicht alles schlechter als im wiedervereinigten Deutschland gewesen war.

Es wäre interessant, die Etappen nachzuzeichnen, in denen sich die Historisierung der BRD vollzogen hat. Eine wichtige Zäsur war die Sozialstaatsreform der Jahrtausendwende: Erst im Licht von Hartz IV nahm auch die Alltäglichkeit des alten Westens nostalgische Züge an. Im Gegensatz zur krisenhaften globalen Ökonomie repräsentierte sie einen »rheinischen« Kapitalismus, der noch solidarisch funktionierte und den erwirtschafteten Reichtum allen zugutekommen ließ. Die Historiker attestierten der Bundesrepublik, eine »geglückte Demokratie« gewesen und mit den Jahren »im Westen« angekommen zu sein. Es spricht viel dafür, dass dieser Prozess am Ende des Jahrhunderts die Biedermeier-Mentalität der Generation Golf nach sich zog. Doch galt dies nur als ein weiteres Indiz dafür, dass kein ideologischer Weltbürgerkrieg mehr zu befürchten war. Keine schlechte Bilanz für einen Staat, der auf den Trümmern des Dritten Reiches gegründet worden war. Als kollektive Mythen wurden seine politischen Schlüsselmomente von Bern über Lengede bis Mogadischu im öffentlich-rechtlichen Fernsehen verfilmt.

Die Bestandsaufnahme ihrer zivilisatorischen Errungenschaften scheint bis auf Weiteres abgeschlossen. Jetzt folgt die schwarze Romantik der Bundesrepublik. In letzter Zeit wird sie ästhetisiert, verfremdet und verzaubert, wobei die älteren Narrative keineswegs als wirklicher oder wahrer zu gelten haben. Doch anders als der Ostalgie in ihren verschiedenen Spielarten liegt diesen Reminiszenzen das Idyllische vollkommen fern. Hinter dem Gewöhnlichen spüren sie das Bizarre, hinter dem Alltag den Abgrund und in der Provinz das Unheil auf. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Optik des BRD Noir. Ein Kulturwissenschaftler untersucht die Kachelfassaden der Kölner Nachkriegsarchitektur und denkt über die Obsession der Abwaschbarkeit nach. Ein Fotograf bildet die Hinterlassenschaften eines Paderborner Witwers in grellem Blitzlicht ab und entdeckt in der Begegnung von Flaschenöffner und Fernbedienung auf einer marmornen Couchtischplatte die geheime Essenz der BRD. Ein viel diskutierter Autor rekonstruiert den Fall eines Hamburger Prostituiertenmörders aus den Siebzigerjahren und verfolgt, wie sein Protagonist bei über vier Promille in einen heillosen Blutrausch geriet. Ein mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Autor schildert ein katholisches Milieu in Wiesbaden, dessen Archaik eher an Süditalien als an Westdeutschland denken lässt. In solchen Darstellungen artikuliert sich ein neues Interesse, das ebenso historisch wie ästhetisch ist. Gut möglich, dass es mehr über unsere Gegenwart als über die real existierende Bundesrepublik verrät. Vielleicht handelt es sich nur um eine Etappe der geschichtlichen Distanzierung. Vielleicht stellt die alte BRD in diesen Tagen aber auch eine besondere Projektionsfläche dar.

Vor Kurzem war die größte Tennisanlage der alten Republik in Keferloh bei München in einer Fotoreportage zu sehen. Die siebzig Plätze, gegen Ende der Achtzigerjahre auf dem Höhepunkt des Becker-Booms gebaut und in ihren besseren Tagen eines Eintrags im Guinness Buch der Rekorde würdig, sind heute halb verfallen und mit moosigen Plastikplanen abgedeckt. Ich habe den Eindruck, auf diese Art schauen wir im Moment gern auf die gesamte BRD zurück. Unter den Tulpen, die ihre gepflegten Vorgärten zierten, suchen wir nach dem Gekrabbel der Insekten. Wenn man genau hinschaut, findet man vielleicht sogar ein Ohr im Gras. Nicht nur der Motivschatz, sondern auch das Personal wird einer neuen Bewertung unterzogen. Auf der Suche nach dem öffentlich-rechtlichen Gesicht der Epoche tendieren wir nicht mehr zu dem biederen Frank Elstner, sondern zu dem unheimlichen Eduard Zimmermann.

Niemand, der ihn aus seiner Kindheit kennt, wird seine nasale Stimme je vergessen. Doch wer weiß schon, dass er in der JVA Fuhlsbüttel und später sogar vier Jahre in Bautzen saß? 1929 als uneheliches Kind einer bayrischen Serviertochter geboren, war er genau wie Habermas oder Enzensberger ein Angehöriger der Flakhelfergeneration, die die Bundesrepublik in ihrem nüchternen Geist gegründet hat – denn wer wollte bestreiten, dass Aktenzeichen XY … ungelöst ebenso wie die Diskursethik oder das Kursbuch zu deren kultureller Physiognomie gehört? Doch während der Tatort Sonntag für Sonntag sozialliberale Aufklärungsarbeit leistete und den Rechtsstaat und die Vernunft auf ihre vorhersehbare Weise triumphieren ließ, machte Zimmermann seine Zuschauer in seiner Sendung mit der beunruhigenden Tatsache vertraut, dass das Wirtschaftswunderland Bundesrepublik zugleich auch ein El Dorado für Verbrecher war: »Aus Nord- und Südamerika, aus Marokko und fast allen europäischen Ländern eilen sie in Scharen herbei, um auf ihre Art am bundesrepublikanischen Wohlstand teilzuhaben.« Die BRD war schon immer ein Einwanderungsland. Dass das Böse auch von innen kommen könne, diese Erkenntnis wurde hier noch geflissentlich abgewehrt.

Einsamer Detektiv stößt auf die Spur eines schmutzigen Verbrechens und wird in dessen Aufklärung verwickelt, die vordergründig die Identität eines Täters, aber eigentlich die moralische Korrumpiertheit der Gesellschaft offenbart. Mit dem französischen Filmkritiker Nino Frank bezeichnen wir Filme, die dieses oder ein ähnliches Strickmuster aufweisen, als »noir«, stellt sich der amerikanische Traum in ihnen doch als Alptraum dar. Das Genre datiert ins Hollywood der Dreißiger- und Vierzigerjahre, als nach dem Boom Südkaliforniens die Wirtschaftskrise das grenzenlose Wachstum als Illusion entlarvte und Angehörige der depravierten Mittelklasse zusammen mit expressionistisch geschulten Immigranten die Ausdrucksmittel erfanden, um das primordiale Unrecht des Kapitalismus im Allgemeinen und der Gründung von Los Angeles im Besonderen darzustellen – so wie vielleicht später am deutlichsten in Chinatown von Robert Towne und Roman Polanski, in dem es um die Spekulation mit Land und Wasser zur Zeit des Stadtvaters William Mulholland geht. Der Film gehört bereits in die Phase des Neo-Noir der Siebzigerjahre, als das Genre wieder auflebte und einige seiner besten Exemplare entstanden sind.

Eigentlich liegt es nahe, diese Erzählperspektive auf die alte Bundesrepublik zu übertragen, deren Geschichte alle Zutaten bietet, die dafür erforderlich sind: ein ursprüngliches Verbrechen, in das nicht nur wenige, sondern alle verwickelt sind, ein Klima der Verdrängung sowie ein Wirtschaftswunder, dessen Abebben in den Siebzigerjahren einen schmerzhaften Kater hinterlässt. Es ist kein Geheimnis, dass die Bundesrepublik von ihrer Vergangenheit heimgesucht wurde. Davon zeugen ihre Protestbewegungen, und dafür bieten ihre Historiker und Zeitdiagnostiker Begriffe wie »Latenz« oder »kommunikatives Beschweigen« an. Doch historische Erkenntnis und politische Aufarbeitung sind das eine. Im BRD Noir bringen sie eine spezifische literarische Sensibilität hervor.

Frank Witzels Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 ist keine Detektivstory. Der Autor hat einen verhaltensauffälligen Dreizehnjährigen gewählt, um eine Bundesrepublik zu schildern, die so kaputt wie Österreich und mindestens so abgründig wie Kalifornien ist. Sein Erzähler schüttelt Wahn und Wirklichkeit durcheinander und malt ein kaleidoskopisches Sittenbild, das von den verstörten Erwachsenen über die abweisenden Mädchen bis zu den vergötterten Beatles reicht. Doch seine Lieblingsband kam nur bis München und trat dort im Circus Krone auf. Nach Wiesbaden-Biebrich gelangen die Sixties dagegen nur als fernes Echo. Daher sind seine Tagträume nicht in Flower-Power-Farben, sondern in Schwarz- und Grautönen gehalten; sie schrauben die kleinstädtische Tristesse zu drastischen Fantasien hoch. Witzels hessische Provinz, über der ein gelber Himmel hängt, wimmelt von Vergewaltigern, Mördern und Entführern. Ihr Katholizismus ist kaum weniger nekrophil als in Neapel ausgeprägt. Zwischen repressiven Erziehungsberechtigten, alten Nazis und angehenden Terroristen sucht man verzweifelt nach irgendeiner Form von Normalität – nur um ernüchtert auf die Leitfrucht des Romans, auf die Futterrübe, im Hessischen »Dickwurz«, zu stoßen, die mit ihrem fahlen Weiß und ihren fauligen Runzeln spätestens nach ein paar Tagen im Wasser wie ein vom Rumpf abgetrennter Kinderkopf aussieht.

Auf welche Vorbilder kann sich eine solche Erzählweise stützen? Ich glaube, BRD Noir ist nicht nur im Rückblick auf den alten Westen möglich, sondern hat eine autochthone bundesrepublikanische Tradition. Als früher Fall fallen einem zum Beispiel die Minima Moralia von Adorno ein. Die Welt, die der Autor schildert, ist von Untoten bevölkert. Das Individuum, die Fähigkeit zu schenken oder das Hotelgewerbe vegetieren genau wie die meisten übrigen Errungenschaften des vergangenen bürgerlichen Zeitalters nur noch auf gespenstische Weise vor sich hin. Weil aber niemand sieht, dass sie sich, wie Adorno sagt, im Zustand der »Totenstarre« befinden, macht nicht die Katastrophe, sondern ihre Verkennung das eigentliche Grauen aus. Daher bekommt der Spätkapitalismus eine unheimliche Note. Auch die Unmöglichkeit, nicht kompromittiert zu sein, entspricht der Erzählstruktur des Noir. Adorno hat das Buch im kalifornischen Exil geschrieben, in Los Angeles, wo zur selben Zeit Filme wie Double Indemnity oder Murder, My Sweet entstanden. Knapp zwei Jahrzehnte später missverstanden es seine deutschen Leser als Beschreibung des Unbehagens an der jungen Bundesrepublik.

Doch waren die Sechzigerjahre insgesamt eine zu prosperierende Dekade, um der Atmosphäre des Vergeblichen breiten Raum zu geben. Raymond Chandler hatte erst seinen Job bei einer Ölfirma verlieren müssen, bevor er die Figur des Philip Marlowe erfand. Auch in Deutschland bedurfte es einer Rezession und enttäuschter politischer Hoffnungen, damit in den Siebziger- und Achtzigerjahren die Formensprache des BRD Noir entstand. Man denke an Fassbinder, an Rolf Dieter Brinkmann oder an die Romane von Jörg Fauser, der 1985 mit Das Schlangenmaul einen echten, von Chandler inspirierten Hard Boiled schrieb. Wer wissen will, wie noir die späten Siebzigerjahre waren, muss sich Manfred Stelzers Dokumentarfilm Der Monarch anschauen, der 1980 den Bundesfilmpreis gewann, aber heute völlig zu Unrecht weitgehend vergessenen ist. Diethard Wendtland tourt mit seinem in Gold lackierten Mercedes durch Deutschland, um Spielautomaten auszuräumen, was er aufgrund einer besonderen Begabung wie kein Zweiter kann. Die Spelunken, in denen er sein Geld verdient, sind der Bauch der Bundesrepublik. In solchen Läden gabelt Fritz Honka in diesen Jahren seine Opfer auf. Während der Protagonist versucht, mit niemandem aneinanderzugeraten, tanzen die Gäste schon vormittags zu deutschem Schlager. Alte Nazis, denen nichts als Trinken bleibt.

Auch amerikanische Varianten wären hier zu nennen, Walter Abishs How German is it, in dem im sumpfigen Untergrund der Bundesrepublik gegraben wird, oder Robert O’Connors Buffalo Soldiers, schon nach dem Mauerfall veröffentlicht, das uns zu Zeugen des florierenden Heroinhandels auf einer Base der U. S. Army in der Gegend von Mannheim macht. Vielleicht lohnt sich sogar der Versuch, die 1974 gestartete Serie Derrick als BRD Noir zu interpretieren. Die Abgründe, in die Horst Tappert in den Villen der Münchner Schickeria blickt, sind bodenlos. Vor allem aber erfüllt Derrick die Bedingung des kompromittierten Ermittlers, stellte sich doch posthum heraus, dass Tappert – Jahrgang 1923 – in jungen Jahren ein Angehöriger der Waffen-SS gewesen war. Eine genretypische Metaverwicklung speziell des BRD Noir. Dass der Mann etwas zu verbergen hatte, hätte man, sofern man über einen Fernseher verfügte, vielleicht schon immer an seinem Gesicht ablesen können, das, wie viele westdeutsche Nachkriegsfassaden, einen merkwürdigen Mauve-Ton besaß.

Die Bundesrepublik, die Frank Witzel aus der Erinnerung beschwört, ist nicht die helle Epoche nachholender Modernisierung, sondern bietet das paradoxe Bild eines Landes, das manichäisch in feindliche Lager gespalten, zugleich jedoch in provinziellem Leerlauf stillgestellt war. Es ist symptomatisch, dass der Autor seinen Protagonisten über die zyklische Natur der Zeit nachdenken lässt. Die Welt des Teenagers erscheint auch deshalb so morbide, weil er mit dem Schlimmsten rechnet, obwohl in Wirklichkeit nie irgendetwas Unerwartetes passiert. Wenn sich über Witzels Wiesbaden überhaupt ein Schein von Hoffnung ausmachen lässt, dann verdankt er sich der Beatles-Platte Rubber Soul und dem Haribo-Gummiteufel. Auch Gudrun Ensslin und Andreas Baader treten folgerichtig nur als Spielzeugfiguren auf.

1946 hatte Gottfried Benn das zerbombte Berlin als überwachsene Ruine beschrieben, die vom Kultur- in den Naturzustand zurückgefallen war. Von Arnold Gehlen bis Francis Fukuyama wurde das Motiv des Posthistoire anschließend durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts tradiert. Auch Adorno ist seinen Autoren zuzurechnen: Alle Veränderung ist scheinbar, alles, was getan werden könnte, schlagen die Minima Moralia mit Vergeblichkeit. Man begegnet dieser Diagnose in jüngeren Epochendeutungen wieder, die den Verlust der Zukunft in einer Kultur der »breiten Gegenwart« als philosophisches Vermächtnis nicht erst der Achtzigerjahre, sondern des langen Nachkriegs überhaupt ansehen. Demnach wäre die BRD ein Land gewesen, in dem nicht nur der Erwartungshorizont zusammenschnurrte, sondern auch der historische Erfahrungsraum schwand, wie man mit einem ihrer wichtigsten Historiker sagen könnte. Ich vermute, dass das auch Frank Witzels implizite These ist. Wer die kapitalistische Gesellschaft als unheimlich oder sogar drastisch schildert, sieht ihren Schuldzusammenhang zumeist als unentrinnbar an. Heute, wo wir um unsere Sicherheit und unseren Wohlstand fürchten, wäre es naheliegend, auf die alte Bundesrepublik als Idyll zu rekurrieren. Dass das Gegenteil der Fall ist, dass wir sie nicht als heiles, sondern als versehrtes Land imaginieren, bedeutet, dass wir ihren Mythen misstrauen. Die Idee vom Fortschritt wie die vom Ende der Geschichte kippen in ihr unheimliches Gegenbild. Denn, wie wir den Nachrichten entnehmen müssen, ist die Geschichte zurückgekommen. Doch haben wir nicht den Eindruck, dass sie sich nach vorn bewegt.

In dem Gespräch, das dieser Band dokumentiert, dient uns BRD Noir als eine Art heuristische Brille, um zwischen Erinnerungen, Büchern und Filmen Zusammenhänge herzustellen. Dabei ist weder eine Theorie noch eine Geschichte der alten Bundesrepublik beabsichtigt, und wir maßen uns auch keine Entscheidung darüber an, was als ihr historisches Vermächtnis zu gelten habe. Wenn Frank Witzel im Folgenden eher den Part des Zeitzeugen spielt und ich eher die Rolle des Historikers übernehme, so hat das mit Naturell und Profession zu tun. Doch haben wir diese Aufgabenteilung nicht kategorisch durchgehalten. Schließlich reden hier vor allem Angehörige zweier Generationen miteinander, denen klargeworden ist, dass das Land, in dem sie aufgewachsen sind, der Vergangenheit angehört.