Leo Tuor

Foto Ayşe Yavaş

Leo Tuor, geboren 1959, wuchs in Rabius und Disentis auf, wo er die Schule im Benediktiner-Kloster be­suchte. Er stu­dierte Philosophie, Geschichte und Literatur in Zürich, Fribourg und Berlin. Während des Studiums war er Redaktor der streitbaren rätoromanischen Zeitschrift «La Talina».

Leo Tuor schreibt Erzählungen, Essays, Kolumnen, Kurzgeschichten und Beiträge für Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien. Daneben arbeitet er für Radio und Fernsehen sowie beim nationalen Wörterbuch drg. Viele Jahre verbrachte er den Sommer als Schaf­hirt auf der Greina und den Herbst als Jäger auf Carpet. Sein Hauptwerk ist die Surselver Trilogie mit den Romanen «Giacumbert Nau. Bemerkungen zu seinem Leben», «Onna Maria Tumera oder Die Vorfahren» und «Settembrini. Leben und Meinungen». Zuletzt erschien die Erzählung «Cavrein».

Leo Tuor

Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee

Erzählungen und Essays

Aus dem Rätoromanischen von Renzo Caduff, Michel Decurtins, Elisabeth Peyer, Claudio Spescha, Flurin Spescha und Christina Tuor-Kurth

Limmat Verlag

Zürich

Die Geburt der Geschichten

Es war einmal und es war einmal nicht, eine frühere Zeit, da hängte bei uns niemand Steinbockhörner an die Wand. Das ganze Tier galt als Apotheke. Der hinterletzte seiner Teile wurde verwertet, inklusive Hörner und Fell. Puder und Öle wurden daraus gewonnen. Die Apotheker drückten mit diesen Extrakten Pasten zusammen und machten Salben zum Einreiben und fürchterliche Tinkturen zum Einnehmen, und man erhielt auf diese Weise Qualitäten wie die Standfestigkeit, die Postur, die Potenz, das Profil des Steinbocks.

Das hat sich ein wenig geändert.

In einem echten Bündner Haus wird Ihnen von der Frau Kaffee serviert und vom Hausherrn und Jäger Geschichten – falls er gerne erzählt, sonst erzählen die Tassen. Über diese Eigenart aber später. Es wäre unhöflich, den Kaffee zurückzuweisen. Es wäre unhöflich, den Erzählungen nicht zuzuhören. Sie haben schon längst die ganze Kaffeekanne ausgetrunken und die Erzählungen gehen weiter, und sie würden nie aufhören, wäre nicht der Kaffee ausgegangen und hätten Sie nicht immer und immer wieder betont, Sie dürften nicht zu viel Kaffee trinken. Aber Sie müssen eine zweite Kanne trinken. Man verlangt von den Gästen eine gewisse Höflichkeit, wenn sie schon ins Haus kommen, und diese Höflichkeit bedeutet, mindestens zwei Kannen Kaffee zu leeren und einen guten Teil des Repertoires an Geschichten des Hausherrn oder der Tassen anzuhören, bevor Sie aufstehen und wieder gehen.

Nun ist der Kaffee aus der Kanne natürlich nicht der Kaffee der Maschinen, kein schwarzer Espresso mit einem schönen Schäumchen, sondern eine gestreckte Flüssigkeit, so klar, dass man hindurchsieht. Wegen seiner Klarheit wird er auch caffè da sontga Clara genannt, ein schlechter Kaffee, sozusagen im guten Sinn des Wortes, den können Sie trinken und trinken, ohne dass er Sie kribblig macht und das Hirn austrocknet. Seitdem die Hörner des Steinbocks an der Wand hängen und seine heilenden Kräfte ignoriert werden, ist dieser traditionelle – um nicht zu sagen nationale – Bündner Kaffee der wahre Heiltrunk für Seele und Darm. Und alle trinken sie zu allen Zeiten caffè da sontga Clara: Erwachsene, Jugendliche, Hund und Katze und auch die Wickelkinder nippen an diesem Kaffee genauso gerne wie an der Mutterbrust. Ja, man kann behaupten, er sei die Muttermilch unserer Nation, wie der Schwarztee bei den Engländern. Vor dem Kaffee hatte zwar der Schnaps eine Weile grosse Bedeutung. Er wurde in teuflischen Mengen getrunken wie der Wodka in Russland. Dann vermochten die Moralisten mit scharfen Predigten und polternden Befehlen dieses Getränk zu bannen, welches den angeborenen Schwachsinn und die windschiefen, buckligen, blassgelben, hinkenden, krummen Gestalten hervorbrachte, die nicht alt wurden und entweder an Schwindsucht, Schlagfluss oder Wassersucht starben. So wurde die Kultur des Schnapses vom Ritual des Kaffeetrinkens abgelöst. Kaffee als Heilmittel am Morgen, um wach zu werden, Kaffee am Abend vor dem Zubettgehen, um besser zu schlafen. Kaffee vor dem Zahnarztbesuch zur Beruhigung, Kaffee vor den Prüfungen, um das Gedächtnis zu wecken. Kaffee, um den durchfrorenen Darm la beglia manedla zu wärmen und Kaffee zum Schutz vor der Hitze im Sommer. Ja, es soll sogar Pfarrer geben, die die Messe mit Kaffee zelebrieren. So gross ist die Revolution des Kaffees, dass man ihn in Thermosflaschen im Rucksack des Jägers ebenso findet wie auf dem Altar des Priesters.

Kaffee für alle und überall. Und jede Hausfrau hat immer zwei Thermoskrüge warmen Kaffees bereit für den Fall, dass jemand unerwartet zur Tür hereinkommt, und sie stellt sofort eine neue Pfanne mit Wasser auf den Herd für einen dritten Reservekrug. Die erste Frage ist immer: «Vul in tec caffè?» Und bevor Sie antworten können, steht das Getränk schon vor ihrer Nase, und wenn Sie vor lauter Höflichkeit nicht aufpassen wie der Teufel auf die Seelen, werden gleich noch vier, fünf Löffel Zucker für Sie hineingetan und Sie haben selber nur zu trinken und zuzuhören.

Nun sind die Bergler entweder furchtbar schweigsam oder schreckliche Schwätzer.

Auch die Unterländer waren früher nicht anders. Walter Benjamin erzählt uns von Arnold Böcklin, dessen Sohn Carlo und Gottfried Keller folgende Geschichte:

«Sie sassen eines Tages wie des öftern im Wirtshaus. Ihr Stammtisch war durch die wortkarge, verschlossene Art seiner Zechgenossen seit Langem berühmt. Auch diesmal sass die Gesellschaft schweigend beisammen. Da bemerkte, nach Ablauf einer langen Zeit, der junge Böcklin: ‹Heiss ist’s›, und nachdem eine Viertelstunde vergangen war, der ältere: ‹Und windstill!› Keller seinerseits wartete eine Weile; dann erhob er sich mit den Worten: ‹Unter Schwätzern will ich nicht trinken.›»

Die Bergler sind noch heute furchtbar schweigsam oder schreckliche Schwätzer. Zu welcher Gruppe sie gehören, kann man an dem Service ablesen, in dem sie den Kaffee servieren. Bei den Schwätzern sind die Tassen weiss, braun, gelb. Bei denen, die wenig oder gar nicht reden, sind die Tassen mit jeweils einem ovalen Bild verziert. Dort erzählen die Tassen. Ich erinnere mich an die Tassen von früher, als ich ein Bub war, Tassen mit dem Motiv des Angelusläutens von Jean François Millet und mit den Variationen des extravaganten Salvador Dalí, der im «An­gelus»-Motiv, wie mein Grossvater, ein unvermutetes Drama sah, «das sich unter den scheinheiligsten Erscheinungen dieser Welt verbirgt».

In einem Haus, in das wir zum Kaffeetrinken gingen, gab es ein Service mit Engeln, die Ordnung machten: Sie warfen Adam und Eva aus dem Paradies, brachten Sünder wieder auf den richtigen Weg, trieben heiligen Josephen Zweifel aus, beschützten Kinder, die über gefährliche Brücken gingen.

Die Toni Mihels besassen ein Service mit lauter heiligen Michaels, die den Teufel vernichteten. Dort lernte ich den Heiligen Michael von Jacob Epstein an der Kathedrale von Coventry, England, kennen und kombinierte sogleich, dass England also das Land der Engel sein müsse. Dieser Erzengel Michael mit riesigen platten Bronzeflügeln sprang wie ein Athlet auf dem Trampolin auf einen gefallenen Engel herab, der sich nicht wehren konnte. Aber ich habe nie geglaubt, er könne den armen Teufel fertigmachen, auch wenn er als «Führer der himmlischen Streitscharen gegen das Satansheer» galt.

Geradezu harmlos waren dagegen die Tassen mit Jagdmotiven bei unseren Jägern, falls die Tassen selber deren Heldentaten erzählten: Steinböcke, die sich aufrichteten, Gemsen, die zusammenbrachen, Hirschstiere, die brüllten. Wie langweilig sind, verglichen mit dem Geschirr der Toni Mihels, die heutigen Servicetassen mit allen Arten amerikanischer Mickymäuse. Oder die Serien von Tassen mit der einschläfernden rätoromanischen Propaganda: Tgi che sa rumantsch, sa dapli.1 – Tgi che sa rumantsch, po dapli. – Tgi che ei rumantschs, ei dapli. Tassen, angefertigt, um den Rätoromanen ihren Komplex auszutreiben.

Wie die Teetrinker und die Krautmischer an das glauben, was sie trinken, sind auch unsere Kaffeetrinker davon überzeugt, dass ihr Getränk Medizin sei. Ich persönlich hatte immer den Verdacht, die heilende Kraft, die man dem Kaffee zusprach, komme eher von der Grossartigkeit der Tassen. Aber je mehr man daran herumstudiert, desto unsicherer wird man. Am leichtesten leben diejenigen, die nicht zu viel studieren. Schon früh hatte mein Grossvater gesagt, nichts zu studieren sei das beste Mittel, um alt zu werden. Er ist trotzdem alt geworden. Um jedoch gesund zu bleiben, müsse man immer um die Geschichten herum sein, um rauchende Tassen und um haufenweise Bücher. Dann könne man Kräuter, Tabletten, Kügeli und Salben vergessen. Er war einer, der nur Tigerbalsam in seiner Apotheke stehen hatte, eine Gemskugel in seinem Hosensack, und einer von der Sorte, die behaupteten, Baldachin komme von Bagdad, und alle lachten und dachten, er mache seltsame Etymologien, und als ich im Lexikon nachschaute, sah ich, dass Baldachin von Bagdad kommt, und ich staunte.

Mein Grossvater und meine Grossmutter hatten ein Service, das mit seiner Imposanz sogar dasjenige der Toni Mihels schlug. Ein Service mit Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Dieses unendliche Geschirr brachte es fertig, dass der Kaffee bei Grossvater und Grossmutter eine nebensächliche Bedeutung zu haben schien. Musste nicht jeder Dummkopf, der einmal bei meinem Grossva­ter, mei­ner Grossmutter zum Kaffeetrinken war, denken, der Kaffee sei nur ein schlechtes, schäbiges Wässerchen verglichen mit einer einzigen Tasse von Tausendundeiner Nacht? Und erst recht alle tausendundeine Tassen, die man in­einan­der schachteln konnte wie die Geschichten Schahrasads, so, dass am Ende nur eine gigantische Tasse da war, welche die ganze orientalische Welt zeigte: Kalifen und Sultane, Karawanen und Kamele, die Krümmung der Säbel und der schnabelartigen Pantoffeln, die Furchtbarkeit der Dschinnen, die aus Korbflaschen quollen und aus Flaschenhälsen rauchten, die Liebesstellungen von Schahriyar und Schahrasad.

Diese grazilen, zerbrechlichen Tassen, durch die man beinahe hindurchsah, erhielten einen schwarzen Farbton, wenn Kaffee darin war, und sie waren, man wusste nicht wie, alle ein bisschen anders. Man hielt auch jede ein bisschen anders. Eine nur leicht seitlich am Henkel, und sie kam leicht und mühelos zum Mund. Bei einer anderen ging man mit einem Finger in den Henkel und mit dem Daumen in die Tasse hinein, wie um Gegengewicht zu geben. Eine dritte fasste man nur oben am Tassenrand mit je zwei Fingern. Bei einer vierten machte man aus den Händen eine Schale, wie um die Wärme zwischen den hohlen Händen und der Tasse zu behalten, und mit dem Kinn streichelte man das Rund des Henkels. Wieder eine andere mit Spuren von Lippenstift am Rand von der Dame, die zuvor daraus getrunken hatte – denn je älter die Grossmutter wurde, desto schlechter wusch sie ab –, drehte man diskret, um am sauberen Rand zu nippen.

Und trotzdem, so mysteriös sie waren, die leeren Tassen erzählten nichts. Es musste Kaffee aus ihnen rauchen, damit sie erzählten. Der Rauch des Kaffees gab den Anfang der Geschichten. Da sah ich, dass man die Dinge dieser Welt nicht sauber voneinander trennen kann, ohne dumm zu werden. Alles geht ineinander und gehört zusammen: Tasse, Kaffee und Rauch.

Als die Amerikaner anfingen, gut und schlecht zu trennen und mit Tausenden von Bomben Bagdad und Basra bombardierten, die Orte von Tausendundeiner Nacht, waren Grossvater und Grossmutter tot. Ich glaube, sie haben sich im Grab umgedreht, die Tassen ihres Services begannen zu zittern und zerbrachen aus Protest. Die Geschichten sind geblieben. Weder Raketen noch Erdbeben können die Geschichten zerstören. Im Gegenteil: In der einen oder der anderen Form, ja sogar neu, kommen sie wieder hervor aus dem Rauch der zerbombten Städte.

Ja, die Geschichten steigen aus dem Rauch auf. Deshalb braucht es den Kaffee in den Tassen. Aus dem Feuerrauch der ersten Menschen sind die Geschichten entstanden: Die Geburt der Geschichten aus dem Geiste des Rauchs. Später haben andere Rauchschwaden Geschichten geboren: Der Dunst des Himmels und des Meeres, der Rauch von Kain, der Dunst des Weihrauchs, der Rauch von Scheiterhaufen und der aus Kaminen. Die «Nibelungen», die «Ilias», die Don Quichotterien kamen aus dem Nebel des Nordens, aus dem Staub des Sandes, aus dem Dunst Spaniens.

Im Anfang war der Rauch. Aus ihm sind die Geschichten gekommen. Der Rauch aber kommt bei uns aus den Tassen mit den Geschichten. Die Geschichten aber erwärmen das Gemüt des Menschen, sodass er früher einzig den Steinbock als Apotheke brauchte und heute, wie ich glaube, nur Tigerbalsam in seiner Apotheke bräuchte, eine Gemskugel in seinem Hosensack und Tausendundeine Ge­schichte im Rucksack, «sodass ihn keine Hinterlist mehr treffen kann».

Aus dem Rätoromanischen von Christina Tuor-Kurth

Surselva. Streiflichter

Bei gleicher Umgebung lebt
doch jeder in einer anderen Welt.

Arthur Schopenhauer

Die Wasser

Den Charakter geben dieser Landschaft die Wasser. Ich fantasiere, dass sie die Täler eingefressen haben, vielleicht mit Hilfe der Gletscher, die einmal da waren und mit Zungen die Täler ausfüllten, aber tatsächlich haben die Wasser gefressen, geschichtet, Kerben in die Felsen geschlagen, gespalten, gestemmt. So sind die Täler entstanden. Das wäre, kurz gesagt, schon die Surselva: Täler und Rheine. Die Wasser heissen hier Rheine: Rein da Medel, Rein da Sumvitg, denn rein heisst: «der Fliessende», ein altes vorrömisches Wort. Wenn sie klein sind, nennt der Rätoromane die Rheine einfach aua (Wasser): Aua da Ramosa. Toben sie, sind es darguns, Drachen, die Landschaft und Erde schlucken, die spritzen und schnauben, donnern. Sie ändern ihren Weg, wie sie wollen, dorthin, wo sie der Mensch nicht zwischen behauene Steine gezwängt oder mit Vorbausteinen bezwungen hat – und noch vor diesen Riesensteinen hat der Rhein wenig Respekt, wenn er sich in ein Ungeheuer verwandelt.

Der grosse Rhein wird alle vierzig bis sechzig Jahre ein Drache: 1888, 1927, 1987. Dann geraten auch die modernen Leute ausser sich. Die Fremden schimpfen, wenn sie auf der Strasse nicht weiterkommen. Die Einheimischen staunen, wenn ihre an Rheine gebauten Häuser überflutet werden. Dass die Alten lediglich Sägen, Stampfen und Mühlen an Wasser bauten, hat der Surselver vergessen wie all seine andern Landsleute.

Die Technik

Die Generation unserer Grossväter hat den Rhein in ein mehr oder weniger definitives Bett gezwungen. Vorher floss er hierhin und dorthin, überflutete Felder und Weiden, liess Steine zurück, Holz, Dreck, Sand. Die Generation unserer Väter hat dem Rhein die Wasser genommen, oder besser gesagt: sie nehmen lassen, für ein, zwei Goldvreneli und schlechte Verträge. (Die Zürcher zahlen für unseren elektrischen Strom weniger als wir. Wir subventionieren Zürich auf unsere Art.) So ist der Rhein heute bezwungen, ein Sklave. Riesige Staumauern, die den Bauch vor dem Betrachter nach innen pressen, spannen die Wasser zusammen, lassen sie nicht in ihr natürliches Bett fliessen. Die Wasser werden geleitet, gepumpt, durch künstliche, fast offizielle Wege gepeitscht: kilometer­lange Tunnels sind in die Felsen gesprengt. Oh, wie der Berg be­leidigt ist. Ah, wie die Wasser nur mit Widerwillen durch diese dunkelsten Felsröhren gehen, mürrisch, nervös. Sonst so lustig, hier gefangen, brausen sie wütend in die Seen, schäumen. Die künstlichen Seen Curnera, Nalps, Lukmanier, Zervreila fassen die Wasser von Tujetsch, fassen die Wasser von Medel, fassen die Wasser des Adula. Sie geben der Landschaft einen neuen Charakter. Wir waren an die Seen von Laax und Flims, an die Hunderte von alpinen Seelein gewöhnt: Tomasee, Lag Serein, Lag da Laus und wie sie alle genannt werden ihrem Aussehen entsprechend. Unsere neuen Seen, die unsere Väter mit den Italienern, welche sie geholt hatten, bauten, sind das Symbol der Kultur des Betons, Hunderttausender von Ku­bikmetern Beton. Es ist die Zeit der Geburt von Kies- und Sandwerken am Rhein, grauen Gebäuden, immer in Staub und Lärm gehüllt. Um sie herum Berge von Steinen, von Sand, von Steinchen in allen Grössen, und überall die riesigen Maschinen, die wühlen, schwarzen Rauch auspusten, nach Öl riechen. Es ist die Zeit des Fettes und des Diesels, der grauen, blauen Überkleider, der Kompressoren, der Steinbrecher, der Förderbänder, der Krane, die sich einer neben dem andern am Himmel drehen. Die Zeit, in der man erfunden hat, wie man aus Steinen Gold macht. Die Werke sind Geldgruben geworden. Die Zeit der Lastwagen mit den grossen Lenkrädern und den warmen, nach vorne gereckten Nasen.

Das ist das Goldene Zeitalter oder das Zeitalter des Betons, das lange, lange nach der Steinzeit und der Bronzezeit folgte. Statt der Saurier husteten die Saurer die Pässe hinauf, die Chauffeure mit hochgekrempelten Ärmeln. Sie fuhren der Hochkonjunktur entgegen.

Die Konjunktur beginnt also mit den Italienern, die man heute nicht mehr will, mit dem Beton, mit dem Diesel. Pompös stehen die Mauern hier, beeindruckende Riesen, die ein Tal beenden, wenn wir vor ihnen stehen. Sie zwingen uns, hochzuschauen, wenn wir vor ihnen stehen. (Ich stelle mir ein verbrecherisches Saxofon vor, ein Seepferdchen, aber riesig wie ein Rindvieh, das seine Schreie mit Beharrlichkeit schmettert. Die Hornstösse durchdringen Knochen und vibrierten Beton. Stelle mir vor, dass Jericho sei.)

Auf der Schulkarte des Kantons Graubünden haben diese Mauern eine gewisse Aggressivität: Als brauner Strich mit Zähnen nach vorne sind sie gezeichnet. In der romanischen Zeichenerklärung werden sie als Mir da levada bezeichnet. (Mit levada assoziiert der Romane «Auferstehung».) Warum levada? Weil die Mauern die halb tote Konjunktur in blühendes Leben erweckt haben?

Nicht alle Seen sind gebaut worden, wie sie wollten, die Bosse mit den Zigarren, mit den Mappen, die Herren von Baden. Unsere Schulkarte zeigte einen grossen blauen Fleck mit der Form einer Niere zwischen Pass Diesrut und Passo della Greina. Dieser See wurde nur gezeichnet, nie gebaut. – «Wohin wäre die Staumauer gekommen?», fragt der Fremde den Hirten. «Wo wär do d’Staumur cho?», grüsst der Schweizer den Hirten. Der Einheimische fragt nichts, ihm wäre die Mauer willkommen gewesen, egal an welchem Ort, Hauptsache die Gelder wären gekommen. Kurios, der Sursilvan der Generation meines Vaters ist sonst nicht derjenige, der Seen liebt, er fürchtet das Wasser, latscht nicht mit Schnorchel und Flosse, zeigt nicht gerne die weisse Haut, das Nabelloch mit womöglich ei­ner Fussel drin. Aber in der Ebene der Greina, sagen sie, wä­re ein See schön gewesen. Schön ist für den Philosophen, wie wir wissen, «was ohne Interesse wohlgefällt». Aber die Generation meines Vaters war ja interessiert, also musste «schön» für unsere Väter etwas mit dem Gebrauchswert einer Landschaft zu tun haben. Die Niere ist jedenfalls auf dem Papier geblieben, und in den Schädeln. Die Greina hat trotzdem ihren See bekommen. Unterhalb des Terri, dort, wo der Wanderer Gletscher erwartet, wenn er von Canal hinaufsteigt, steht er verblüfft vor einem Riesensee. Dumpf schlagen die Wellen gegen den Fels, Eis schwimmt in grauem Wasser. Der Gletscher ist ein sterbendes Tier. Das Weiss, das Blau des Berges weicht dem Wasser, dem Grau und bald schon dem Grün.

Die Gletscher

Die Gletscher sind oben in dieser Landschaft, auf den höchsten Bergen, unter den spitzen Gipfeln. Schon lange machen sie den braun gebrannten Führern mit ihren schwarzen Sonnenbrillen, Handys, Seilen und Pickeln keine Angst mehr. Ihre Pickel sind kürzer geworden und ihr Respekt vor dem Berg kleiner. Nur dem gemeinen Volk machen die Gletscher mit ihren offenen Spalten oder versteckten Klüften noch Angst. Die Zungen haben sie schon lange eingezogen. Der Tourist tut gut daran, sie von allen Seiten zu fotografieren: Glatscher da Medel, clic, clic, clic; Glatscher dalla Greina, clic; Glatscher da Gaglianera, existiert nicht mehr; Glatscher da Gliems, clic; Glatscher da Punteglias clicclic; Glatscher da Rialpe, nicht mehr; Gla­tscher da Frisal, clic; Glatscher dil Vorab, clic, clicadiclic. Die Zukunft zeigt die Gletscher nur noch auf den Abzügen der Touris, auf den Panoramen der Pioniere. Und ihre Seelen, wo sind ihre Seelen, wenn die Gletscher geschmolzen sind? Die Gletscher, die Tiere mit den grössten Seelen.

Die Himmel

Und die Sonne lacht. Nicht die wahre Sonne, die auf Prospekte und Logos gedruckte Comic-Sonne, diese mit ein paar gelben Strichen gezeichnete Sonne, die das Blaue vom Himmel herunterverspricht. Himmel der Surselva, immer blau, während der Himmel der anderen Landsleute, die wir instinktiv nicht allzu sehr lieben («Wer mit den Fremden ein Geschäft machen will, darf sie auch nicht besonders mögen.» Dürrenmatt), im Unterland in Nebel eingehüllt ist. Übrigens bestätigt auch das «Ferien- und Freizeitbuch Disentis-Sedrun Cadi»: «Nebel ist hier praktisch nie zu erdulden.»

Wie ist unser aktueller Himmel noch? Kreuz und quer eingeritzt von Flugzeugen, die mit der family in die Bahamas fliegen, weil die anderen das auch tun.

Wie wünschen wir uns unseren aktuellen Himmel noch? Manchmal grau-weiss voller Schneeflöckchen, die leicht mit dem Wind tänzeln. Lieber aber voller schwerer Schneeflocken, die ohne Unterlass fallen und Pisten und Dächer bedecken. Manchmal aber, wenn wir aufstehen ­mögen, ein rot vergoldeter Himmel, silbern und weiss ich noch was, wenn die Sonne aufgeht: feuriger Himmel zwar, aber nicht ohne etwas Diskretes, das daraus einen Akt macht. Einen religiösen Akt, pompös, meditativ, oder nach dem Geschmack eines jeden Bauches, wie er sich das zu fühlen vorstellt. Und was ist über dem Himmel der Surselva, über den Flocken, über den Wolken, über den Flugzeugen, über dem Blau, über der Morgenröte? Dort ist immer noch dieser Himmel, der früher voll von Heiligen war, Herrgöttern und Müttergottes, Avemarias und Vaterunser, mit goldenen Strahlen und glänzenden Heiligenscheinen, dort ist jetzt immer noch dieser himmlische Himmel, aber – leer.

Die Brücken

Von den Rheinen zu den Himmeln, eine waghalsige Reise. Ständig wird der durch die Surselva Reisende mit einem Rhein oder mit einem dieser Himmel konfrontiert. Auf den Brücken extremerweise mit beiden zusammen. Der Himmel ist wegen der Tiefe zu Füssen anders von ei­ner Brücke aus. Aber um das wahrzunehmen, ist es erforderlich, zu Fuss über die Brücke zu gehen. Der Rhein ist wegen der Tiefe anders von einer Brücke aus, schmäler, weisser und sein Rauschen ist irgendwie reiner, lädt vielleicht zum grossen Sprung ein; Lore, Lore, Loreley.

Die hohen Brücken bewirken, dass die tiefen Täler nicht mehr beachtet werden, dass sie schlussendlich nicht existieren. In Eile saust der Verkehr über die Brücken, weiss nichts von den Tälern und von der Mühe, Täler zu durchqueren. Will nichts wissen, will eiligst von einem Ort im andern sein. Die Brücken sind die grossen Hexerinnen: Sie verkürzen die Zeit, lassen die Täler verschwinden, verändern den Himmel. Beispiel Punt Gronda. (Offiziell, wenn ich mich nicht irre, heisst diese Brücke Punt Rus­sein, früher auch Punt Travaulta. Aber das Volk hat Namen, die es fallen lässt.) Diese Brücke, die drei Brücken ist, verbindet den Verkehr, trennt den Himmel vom Tal mit dem Rhein. Die Punt Gronda trennt weiter streng die Materialien: Brücke 1, Holz. Brücke 2, Beton. Brücke 3, Stein. Diese Brücke, die drei Brücken ist, trennt politisch die Cadi in Sursassiala, das sind die Gemeinden gegen Lukmanier und Oberalp hinauf, und in Sutsassiala, das ist der Rest der Cadi: Sumvitg, Trun, Breil, Schlans. Die Punt Gronda ist weiter die Grenze zwischen Sumvitg und Disentis. Doch dieser ganze Namenwirrwarr interessiert niemanden, der über ein von der Konsum- und Tempogesellschaft vergessenes Tal rast.

Der Zug

Am gemütlichsten schlängelt sich der Zug die Landschaft hinauf, zuerst lange dem Rhein entlang, dann, in Trun, schwenkt er langsam in die Wiesen und hinter ­Rabius tadác tadác in den Hang. Gewohnt, von Bahnhof zu Bahnhof anzuhalten, und gezwungen, sich an einen Fahrplan zu halten, fährt er im Rhythmus des Immergleichen, ohne den Stress des Wettbewerbes, der auf der Strasse herrscht. Er geht tadác immerfort einfach sein Tempo, zieht über Eisenbrücken, schleicht durch Galerien, verschwindet in Tunnels, fährt über elegante Viadukte, die da sind, ohne das Landschaftsbild allzu sehr zu stören, gibt dem Fahrgast die Möglichkeit anzuschauen, wo er ist und sich hinbewegt. Anders als aus dem Auto: «Was das eilige Auge aus dem Automobil gesehen hat, kann nicht behalten werden, und wie jede Spur in ihm verschwindet, so verschwindet es ohne jegliche Spur» (Adorno).

Disentis / Mustér ist Endstation zweier Eisenbahnen: der Rhätischen und der Furka-Oberalp-Bahn. In den Sech­ziger-, Siebzigerjahren war das leicht zu sehen. Die Züge der Rhätischen waren grün, die der Furka rot. Dann hat die Rhätische einen roten Zug bekommen, einen neuen und schnelleren, und alle wollten mit dem roten fahren, und irgendwann sind alle Züge rot gewesen, wie sie es jetzt sind.

Im Winter unterscheiden sich die Lokomotiven, die vom Berg herunterkommen, von den anderen, die von unten heraufkommen, dadurch, dass sie strapaziert, weiss vom Schneestieben sind, man sieht, dass diese Maschinen alles gegeben haben, um durch Sturm und Schneemassen zu kommen, und sie werden zu wohlwollenden Tieren, den Menschen sympathisch und von ihnen respektiert. Ohè, die schneeverstaubten Lokomotiven der Furka-Ober­alp sind der Beweis dafür, dass es Maschinen mit einer Seele gibt, selbstbewusste, solche, die wissen, dass sie unersetzlich sind.