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Gabriele Diechler

Geheime Liebe auf Sylt

Roman

 

 

Ausgewählt von Claudia Senghaas

 

 

 

 

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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos  von: © iStockphoto.com/Lars Johansson

ISBN 978-3-8392-4008-3

Die Wogen des Wassers, der Beginn einer Liebe it’s for you!

Erster Teil: Der Brief

 

Nicht die Dinge selbst verstören und beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen und Fantasien über die Dinge.

Epiktet

1.

 

Obwohl viele Inselbewohner Sylt der horrenden Preise wegen verlassen, um auf dem Festland ihr Leben zu bestreiten, haben Mathilde und Bastian es umgekehrt gemacht. Sie haben ihre Wohnung im quirligen Schanzenviertel in Hamburg gekündigt, um ans Meer zu ziehen.

Eines Montagabends erreichte Bastian der Anruf eines Anwalts, der ihn über den Tod seiner Tante Paddy in Kenntnis setzte. Bastian führte das Telefonat in der Küche, den Gemüseschäler und eine Stange Spargel in der Hand. In seinem Gesicht war nicht die kleinste Regung abzulesen. Doch kaum war das Telefonat beendet, ließ er Schäler und Spargel fallen, barg sein Gesicht in den Händen und begann zu zittern, als friere er fürchterlich. Mathilde beugte sich erschrocken über ihren Mann. So aufgewühlt hatte sie ihn noch nie gesehen.

»Was ist denn los?« Sie hob sein Gesicht vorsichtig mit ihren Händen und zwang ihn sie anzusehen.

»Paddy ist tot!«, sagte Bastian mit brüchiger Stimme. Dann sank sein Kopf in seinen Schoß.

Patricia, die von allen Paddy genannt wurde, war seit jeher Bastians Lieblingstante. »Ihr schrulliges Wesen und ihre hartnäckige Ehrlichkeit sucht man heutzutage«, behauptete er oft und klang stolz dabei. Bastian mochte Menschen mit Charakter. »Ecken und Kanten sind mir weit lieber als Herumgeschleime. Da weiß man wenigstens, woran man ist.« Mathilde fand Paddy unkonventionell, großzügig und immer für einen guten Witz zu haben. Die ganze Familie schätzte sie. Und das, obwohl man einige ihrer Entscheidungen nicht nachvollziehen konnte. Vor allem ihre regelmäßigen Fluchten nach Sylt blieben vielen ein Rätsel.

»Was glaubst du, steckte hinter diesen Auszeiten, zu denen niemand sie begleiten durfte?«

»Gute Frage, auf die ich leider keine vernünftige Antwort weiß«, seufzte Bastian jedes Mal. Doch Mathilde ließ nicht locker.

»Hast du wenigstens eine Ahnung, wieso wir lediglich ein unscharfes Foto ihres Hauses zu sehen bekommen? Und keine genaue Adresse wissen? Ich kann kaum etwas darauf erkennen, und vermutlich würde ich an dem Haus vorbeifahren, wenn ich danach suchte.« Mathilde knabberte versunken an ihrer Nagelhaut.

»Vielleicht ist das der Sinn der Sache. Paddy wollte ungestört sein.«

»Aber warum? Was hat sie zu verbergen?«

»Könnte doch sein, dass vor ewigen Zeiten Piraten einen Schatz auf ihrem Grundstück vergraben haben, den sie alleine heben will?« Mathilde unterbrach Bastian.

»Nein, ernsthaft«, forderte sie. »Ich tippe eher auf eine heimliche Affäre. Was hältst du davon?« Bastian schüttelte abwehrend den Kopf.

»Jetzt geht die weibliche Fantasie mit dir durch. Paddy und eine Affäre? Meines Wissens hat sie nie viel von Männern gehalten. Sie war immer Single.« Er fuhr Mathilde liebevoll mit dem Finger über die Nase. »Aber da Paddy uns freiwillig nichts sagt, schlage ich vor, wir lassen sie beschatten. Um Klarheit zu haben.« Nun lachte er fröhlich auf und Mathilde schenkte ihm einen warmen, zustimmenden Blick.

»So abwegig ist der Gedanke mit dem Beschatten gar nicht«, sagte sie später, als sie zu Bett gingen. Aber es war natürlich klar, dass es nur als netter Scherz gemeint war.

In ihren letzten Jahren war Paddy herzkrank. Man musste mit allem rechnen. Doch wie meistens, schaffte es der Tod auch dieses Mal, die Menschen zu überraschen. Bastian war ehrlich erschüttert, als er von ihrem Ableben erfuhr.

»Ich weiß, sie hat dir viel bedeutet und war immer für dich da. Aber der Tod ist sicher auch eine Erleichterung für sie gewesen.« Mathilde versuchte alles, um Bastian über den ersten Schmerz hinwegzuhelfen.

»Es war ihre Art für jemanden da zu sein. Ich bildete da keine Ausnahme. Unter anderem machte sie das ja so liebenswert«, sagte Bastian und lächelte bei der Erinnerung an viele schöne Momente. Mathilde nahm ihn in den Arm und küsste ihn sanft. Viele tröstliche Male.

Nach einer Weile blickte er hoch, schluckte trocken und sah sie mit einem Blick an, der an Energie gewonnen hatte. »Sie hat uns ihr Häuschen am Meer vererbt. Stell dir vor, jetzt kriegen wir es endlich mal zu sehen.« Mathilde konnte es kaum glauben. Das Haus war seit jeher ein Mysterium. Ein Ort, der vermutlich eine Geschichte barg, die Paddy allerdings für sich behielt. Und da niemand je nach Sylt eingeladen worden war, hatten die meisten irgendwann vergessen, dass sie an ein Geheimnis gedacht hatten. Bis zu Paddys Tod.

»Wieso hat sie ihr sagenumwobenes Haus ausgerechnet uns vermacht und niemand anderem aus der Familie?«

»Ich weiß nicht«, sagte Bastian ehrlich. Er hob fragend die Schultern, ließ sie wieder sinken und sprach weiter. Offenbar ging ihm etwas durch den Kopf. »Lass uns eine Spitzhacke mitnehmen, wenn wir auf die Insel fahren. Um nach dem Schatz zu suchen, den die schrecklichen Piraten im Sand verbuddelt haben.« Der Zorn war aus seiner Stimme verschwunden. Mathilde lächelte, froh darüber, dass es Bastian besser ging. Im Laufe des Abends entspannte sich die Situation immer mehr. Bastian gab lauter nette Begebenheiten rund um Paddys Leben zum Besten. Und so wandelte sich ein Tag, der den Tod gebracht hatte, in einen, der emotionale Erinnerungen hervorholte, die Glück und Freude beinhalteten.

Geradezu über Nacht wurden Mathilde und Bastian also Besitzer eines Hauses am Meer.

Schon wenige Tage nach der Beerdigung fuhren sie nach Sylt, um das Haus, das nun ihres war, in Augenschein zu nehmen. »Ich hab nie ihre Beweggründe verstanden, sich in dem Haus einzuigeln. Im Grunde war sie doch gastfreundlich und zugänglich. Zumindest, wenn sie in Hamburg war«, grübelte Mathilde, während sie die Straße, die unweit des Meeres entlangführte, nach Paddys Haus abfuhren. »Das Haus war nun mal ihr Heiligtum. Vielleicht finden wir irgendwo ein Tagebuch und erfahren endlich, weshalb sie dort so zurückgezogen lebte!«

Als sie das Haus fanden es lag geschützt zwischen Dünen und Meer, und es stumm begutachteten, waren sie gleich hingerissen. »Es ist ein kuscheliges Nest am Meer. Altmodisch und reizend zugleich.« Mathilde sah Bastian fasziniert an. »Weißt du was?«, sprach sie aufgeregt weiter. »Vermutlich hat Paddy es aus einem romantischen Grund wie ihren Augapfel gehütet. Jetzt, wo ich es sehe, bin ich mir ziemlich sicher.«

»Das ist allerdings eine kühne Behauptung. Ich für meinen Fall tippe noch immer auf den verborgenen Schatz.« Bastian öffnete schwungvoll das weißlackierte Holztor, das den Vorgarten von der Straße abschottete, und Arm in Arm schritt er mit Mathilde auf die einladende Haustür zu. Dort angekommen, kramte er nach dem Schlüssel und schloss auf. Mathilde konnte ihre Ungeduld kaum bezähmen. Aufgeregt wie ein Kind rannte sie ins Wohnzimmer, wo verwelkte Rosen und ein Zettel auf dem Tisch auf sie warteten.

»Komm her, Bastian«, rief sie laut. »Hier ist eine Nachricht von Paddy.« Bastian stürzte herbei, lugte über Mathildes Schulter und gemeinsam begannen sie zu lesen.

›Liebe Mathilde, lieber Bastian.‹ Mathilde hielt den Zettel fest in ihrer Hand. ›In diesem Haus habe ich die Liebe gelebt. Nicht irgendeine, sondern die einzige, wahre, von der so gern in Romanen und Filmen die Rede ist. Sein Name spielt keine Rolle. Lasst ihn bitte in Frieden ruhen und meine Geschichte auch. Nur so viel: Er war verheiratet, was ich toleriert habe, und nun ist er tot und ich bin es, wenn ihr diese Zeilen lest, vermutlich ebenfalls. Ich habe mein Ende kommen sehen, mein Arzt hatte mich gewarnt, oder sollte ich sagen, getröstet? Das Ende kommt schließlich für jeden von uns. Irgendwann. Ihr fragt euch sicher, warum ich über mein Glück geschwiegen habe. Ich fand es besser so, denn ich wollte mich nicht ständig irgendwelchen Fragen aussetzen, und noch weniger den darauffolgenden Urteilen. Aber nun solltet ihr wenigstens dieses Bisschen über mein Leben und dieses Haus, das nun eures ist, wissen. Vergesst mich nicht. Ich liebe dich seit jeher, Bastian. Du hast ein großes Herz und bist ein feiner Bursche. Manchmal stehst du dir allerdings selbst im Weg. Aber ich bin mir sicher, du arbeitest daran. Und dich liebe ich auch, Mathilde. Du bist einfach wunderbar. Eins noch zum Schluss: Traut eurem Leben ruhig etwas mehr zu. Ihr habt alles Glück dieser Welt verdient.‹ Bastian blickte mit fragenden Augen, die nun wächsern wirkten, ins Leere.

»Es ging also tatsächlich um einen Mann. Wie ich vermutet hatte«, sagte Mathilde tonlos. »Paddy wollte ihre große Liebe all die Jahre schützen. Oh Gott, ist das romantisch und tragisch ist es auch.« Sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszuheulen, weil Paddys Geschichte sie so rührte. Bastian nahm ihr den Brief aus der Hand, blickte auf die markante Schrift seiner Tante und drehte das Papier um.

»Hier steht noch was«, sagte er. Ohne zu zögern las er weiter. ›Für mich war es eine unmögliche Vorstellung, dass dieser Ort befleckt werden könnte, weil jemand über meine Gefühle richtet.‹ Bastian sah seine Tante plötzlich vor sich, den Zeigefinger forsch in die Luft gereckt. Mit einem Blick, der bestimmt war, aber keinesfalls unangenehm. ›Streit oder schiefe Blicke gehören nun mal nicht in diese vier Wände. Und zum Schluss, als der Mann meines Lebens von mir gegangen war, wollte ich hier allein sein, um der Vergangenheit nachzuhängen. Das war alles, was von meinem Glück übrig blieb.

Ich hoffe, ihr versteht mich ein bisschen. Aber natürlich ist es euch überlassen, alles aus eurem Blickwinkel zu betrachten.

Ich liebe euch sehr,

Eure Paddy.‹

»Ich weiß, wie wichtig Paddy dir war, aber darf ich den Brief behalten? Ich möchte einfach ab und zu einen Blick hineinwerfen. Er ist so schön, weißt du!« Bastian ergriff Mathildes Hand und drückte sie fest. »Also gut. Wenn es dir wichtig ist, behalte ihn«, erwiderte er. Und dann weinten sie beide stumm vor sich hin.

Endlich verstanden sie, was Paddy die ganzen Jahre über mit sich allein ausgemacht hatte. »Ich verstehe sie so gut, Bastian. Sie wollte nicht, dass jemand sie wegen ihrer Liebe verurteilt. Deshalb ist sie immer allein hierher gekommen. Vielleicht hätte ich es genauso gemacht.« Mathilde schaffte es kaum, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen.

»Ich geh mal hinaus, vor die Tür. Luft schnappen«, brachte Bastian nur heraus. Mathilde nickte stumm. Sie wusste, dass er ein bisschen Zeit brauchte, um sich zu beruhigen.

Nachdem sie eine Weile im Haus herumgekramt, aber nichts Wichtiges gefunden hatte, ging sie ebenfalls in den Garten. Bastian stand an der Rückseite des Hauses, die dem Meer zugewandt war. Er blickte auf den üppigen Wald an Dünengras und die grauen rollenden Wellen dahinter. Ein imposantes Naturschauspiel. Mathildes Haar wehte verwegen im Wind, als sie näher kam, und während sie den Arm um ihn legte, fragte sie: »Geht’s dir besser?«

»Ja!«, er drückte erneut fest ihre Hand und fühlte sich seiner Frau ganz nah. »Paddy hat immer zu mir gesagt, man muss das Leben lieben, auch, wenn es nicht perfekt ist. Jetzt verstehe ich, was sie damit meinte.«

»Das passte zu ihr und wenn man’s recht sieht, hat sie es auch getan.« Nach einer Weile fragte Mathilde: »Möchtest du das Haus heute noch in Augenschein nehmen? Vielleicht gibt es den Schatz, von dem du gesprochen hast, ja als Draufgabe?« Bastian sah sie an, dankbar für ihre Zuversicht und seine Augen blitzten kurz auf, als er zustimmend nickte.

»Die Spitzhacke liegt im Kofferraum«, erwiderte er und zwinkerte dabei mit den Augen.

2.

 

Das Haus hatte ein reetgedecktes Dach, das eine Sanierung nötig hatte, und einladende Sprossenfenster, durch die schräg die Sonne schien. »Die Räume sind klein, aber charmant. Wenn wir einen Wintergarten anbauen, könnten wir es zu einem behaglichen Zuhause machen«, schlug Mathilde gleich am nächsten Morgen vor. Ihre Stimme klang entwaffnend optimistisch.

Sie waren früh aufgestanden und mit ihren Bechern Kaffee in den Händen nach draußen gegangen, um das Haus zum wiederholten Mal von außen und innen zu begutachteten.

»Nach der ersten Freude über all das halten vermutlich zähe Verhandlungen mit den zuständigen Ämtern Einzug in unser Leben. Hier ist man penibel, was Bauauflagen und Denkmalschutz anbelangt.« Mathilde sah Bastian noch immer zuversichtlich an.

»Keine Sorge, das stehen wir zwei Dickschädel durch«, versprach sie.

Als die Genehmigung zum Um- und Zubau erteilt und der Kredit aufgenommen war, erschien ihnen alles nicht nur respektabel, sondern immer mehr wie ein Wunder. Ihr Leben war nun ordentlich und planbar. Die Last auf zwei Schultern verteilt. Monat um Monat wurde das Haus schöner und Mathilde fand das Ergebnis, als alles fertig war, großartig. »Siehst du, wie perfekt es geworden ist, Paddy?«, murmelte sie stolz vor sich hin, als sie durch die Räume ging. Vor den Fenstern hingen nun cremeweiße Vorhänge, und es gab überall bequeme Sessel, die mit robustem gelbem Stoff überzogen waren und in denen helle Kissen schlummerten. »In denen mache ich es mir am Abend, beim Lesen oder Fernsehen, gemütlich. Sicher hast du das auch getan.« Mathilde seufzte zufrieden.

Überall im Haus standen nun Vasen mit Blumen. Meist Anemonen und Ranunkeln, und im Kamin loderte oft ein Feuer, das Füße und Herzen wärmte ja, Mathilde war glücklich.

Das Haus wurde zu ihrem Heim, es bot eine wunderbar schützende Hülle für ihr Glück. »Es bleibt ein Liebeshaus, ganz im Sinne Paddys«, sagte sie, als sie endlich eingezogen waren.

Mit der Zeit füllten Mathilde und Bastian das Haus mit ihren eigenen Erinnerungen.

Im Frühling ging Mathilde morgens an den Strand und saugte den würzig-kräftigen Geruch des Dünengrases ein. Es roch nach Salz und Meer und ein bisschen nach Abenteuer und ungeplantem Leben, wie es die Jugend zu bieten hatte. Einige Jahre lang machte sie es sich zur Angewohnheit, sich mit einem Schlauchboot mit den Gezeiten weit nach draußen treiben zu lassen. Wenn sie bei den Seehundbänken ankam, einige Kilometer vom sicheren Strand entfernt, durchflutete sie jedes Mal ein Gefühl unsagbaren Glücks, nach dem sie geradezu süchtig wurde. Die Seehunde sahen sie mit großen Augen fragend an, und Mathilde musste sich zusammenreißen, um nicht haltlos loszuheulen. Um sich herum entdeckte sie riesige Taschenkrebse und Muscheln, alles beschirmt von der Unendlichkeit des Himmels. Die Seehunde wurden Mathildes Lehrer. Sie brachten ihr bei, dass es keine Zeit gab. Mathilde wusste nicht, weshalb, aber wenn sie bei den Seehunden war, fiel jedes Zeitgefühl von ihr ab. Sie begann die Tiere im Kopf zu malen und konnte sich kaum vorstellen, dass Bastians Urgroßvater sie einstmals mit einer Harpune gejagt und ihnen das Leben gestohlen hatte. Solange es warm war, hielt sie sich bei den Seehunden auf. Erst nach Stunden ließ sie sich von der Flut zurück an den Strand treiben.

Eines Tages, nach einer hartnäckigen Blasenentzündung, verlangte Bastian, sie möge mit den Ausflügen aufhören. »Du ruinierst deine Gesundheit. Und das ist nur meine kleinste Sorge. Niemand ist so lange draußen bei den Seehunden, wie du. Es ist gefährlich. Was glaubst du, passiert, wenn du mit dem Boot kenterst?« Bastian kaufte Filme und prächtige Bildbände über Seehunde. Er besorgte sogar CDs mit Seehundgeräuschen, um Trost zu spenden. Mathilde rührte sein Tun. Sie gab das Versprechen ab, nicht mehr zu den Seehundbänken aufzubrechen. Sie wollte vernünftig sein. »Du hast recht. Ich höre auf damit«, sagte sie tapfer.

Im Sommer schwamm sie nun in der grauen Brandung. Doch die Strecke bis zu den Seehundbänken nahm sie nie wieder in Angriff. Wenn sie aus den Fluten stieg, hüllte sie sich in einen riesigen Frotteebademantel, der ihr zwei Nummern zu groß war, und rubbelte sich die salzige Nässe und den Sand vom Körper.

Bei schlechterem Wetter joggte sie den Strand entlang. Schwere Schritte über matschig-feuchten Sand, jeder einzelne hart erkämpft.

Mathildes und Bastians Leben schien in Ordnung. Wenn nicht die stetig wachsende Leere gewesen wäre, deren Existenz Mathilde sich kaum einzugestehen traute. Sie wusste weder, wann sie angefangen hatte, noch, woher dieses Gefühl kam, es fehlte ihr etwas Entscheidendes zum Glück. Was sie allerdings wusste: Dieses Gefühl war ein gefräßiges Tier, und wenn es hervorkam, sorgte es dafür, dass das Feuer der Leidenschaft verglomm.

Vor vielen Jahren hatte alles mit einem viel versprechenden Start, mit ihrer Hochzeit, begonnen und nun fühlte es sich an, als käme ihr Leben nicht mehr in die Gänge. Immer öfter dachte Mathilde deshalb, sie müsse ihr Glück zurückerobern.

Wenn Bastian sie küsste, schaffte sie es nicht, ihren Körper zu spüren. Es war, als küsse er bloß ihre Seele. Doch so schön es auch war, seine Seele zu spüren, es fühlte sich an, als sei sie abgetrennt von ihren Lippen, dem Vibrieren ihrer Härchen auf den Armen und dem Sehnen danach, Bastian fest an sich zu ziehen. Das Küssen war zur Gewohnheit geworden. Doch es war keine friedliche, süße Gewohnheit, an die sie gern dachte, sondern eine beängstigende, die sie erschreckte.

3.

 

In den ersten Januartagen des neuen Jahres es war nun zwölf Jahre her, dass sie nach Sylt gezogen waren, ahnte Mathilde plötzlich, was sie dem Leben die ganze Zeit über abgenötigt hatte: Vorhersehbarkeit. Gottverdammte einlullende Sicherheit. Mit dem Eingeständnis kam ein ganzer Schwall schmerzhafter Erinnerungen zurück, die sie lange verdrängt hatte.

 

In einer dieser Erinnerungen war Mathilde fünf. Sie saß am Tisch in der Küche und starrte mit großen Augen auf das ausladende Gesäß ihrer Mutter, an dem die rote Schleife ihrer Schürze baumelte. Wie aus heiterem Himmel verwandelten sich die Pobacken in die Mähne eines Ungeheuers und die Schleife in ein aufgerissenes Maul. Mathildes kleine Finger begannen voller Unmut auf die Stuhllehne zu trommeln dum, dumdum, dum, dumdum und um dem Ungeheuer zu entkommen, blickte sie auf die Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Mathilde begann mit ihrem kleinen Zeigefinger hastig über die Buchstaben unterhalb zweier gezeichneter Fische zu fahren. »Fi Fische«, las sie laut vor. Regine, ihre Mutter, schob sich mit der Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte gerührt, als sie sich umdrehte. Vom Löffel, der wie ein Degen aussah tropfte es klebrig auf den Küchenboden. Plötzlich wurde Mathilde ein energischer Kuss auf die Wange gedrückt, und dann war das Ungeheuer weg und nur noch Mama war da.

»Du liest mein Horoskop?« Regine freute sich, als wäre Weihnachten. »Im Zentrum rotierender Planeten spielt sich das Leben von uns allen ab, weißt du? Was das bedeutet, erkläre ich dir, wenn du größer bist.«

»Ich bin schon groß. Ich bin bald sechs«, krähte Mathilde. Sie verstand nichts, wovon ihre Mutter sprach, doch nun lächelte Mama und hatte endlich Zeit für sie.

Als Mathilde älter wurde, begriff sie, dass ihre Mutter die meiste Zeit mit dem Erstellen und Analysieren von Horoskopen verbrachte. Sie zeichnete sie per Hand, rechnete, deutete und glaubte fest daran, dass das Leben vorherbestimmt war. War ein Horoskop fertig, fand ein Ritual statt. Regine trug Lippenstift auf und toupierte sich die Haare und hergerichtet, als handle es sich um einen Festtag war sie flugs in einer ihrer Missionen unterwegs. Die Ephemeriden fest unter den Arm geklemmt und den Radix einer ihrer vielen Freundinnen im Hinterkopf, stapfte sie, sommers wie winters, durch die Stadt, um in einer der vielen Wohnungen als Astrologin tätig zu sein. Alles gemütlich bei Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer. Mathilde war oft mit von der Partie, obwohl sie sich Spannenderes vorstellen konnte, als ihre Mutter zu lauter Erwachsenen zu begleiten. Sie saß an einem Tisch in der Küche oder im Büro und zeichnete, während sie darauf wartete, dass man ihr einen Riegel Milka-Schokolade oder Gummibären zusteckte, bis Mama mit dem fertig war, was sie tat. Doch wenn Regine mit Händen und Füßen und Schweißtropfen auf der gepuderten Stirn von Achsen und Häusern, Sektoren und Zonen, von Tierkreis und Erdraumfeld redete, konnte das dauern. »Als Tierkreis beinhaltet ein Sektor immer 30 Grade, gezählt ab null Grad Widder. Je 30 Graden der Sonnenlaufbahn wurde ein Name gegeben, der Tierkreisname. Ähnlich, wie man seinem Kind bei der Taufe den Rufnamen gibt«, erklärte sie den interessiert dreinblickenden Zuhörern.

Als Mathilde ins Gymnasium kam, begann sie sich ernsthaft Gedanken über Horoskope zu machen. Mit einer Mutter wie Regine kam man darum nicht herum. Sollte sie sich dem Faszinosum Astrologie mit Haut und Haar verschreiben oder war es vernünftiger, sich dem ganzen Hokuspokus gänzlich zu entziehen?

Schon in jungen Jahren war es also mehr als reiner Zeitvertreib, dem Lauf der Planeten zu folgen. »Oft lauern in den Ecken des Lebens seltsame Überraschungen, die man nur mit Hilfe der Astrologie bewältigen kann«, hörte Mathilde ihre Mutter oft kryptisch ins Telefon sprechen. Ratsuchende Menschen gingen ihr offenbar nie aus.

Alles, was das Leben Regine selbst und damit auch Mathilde an Überraschung bot, war einige Jahre später die Scheidung.

Wenn es nach Mathildes Vater gegangen wäre, hätte Regine etwas Vernünftiges gearbeitet. »Astrologie ist im besten Fall ein netter Zeitvertreib. Kein logisch denkender Mensch nimmt das Ganze ernst. Hast du dir je darüber Gedanken gemacht, wie dieses verrückte Hobby sich auf unsere Tochter auswirken könnte?« Nach einer ernsten Aussprache bemühte Regine sich, ihre Leidenschaft für Astrologie zu reglementieren.

Eines Abends, als Mathilde am Schlafzimmer ihrer Eltern vorbeihuschte, hörte sie, wie ihr Vater auf ihre Mutter einredete: »Seit wir uns kennen, lieben wir uns ausschließlich in der Missionarsstellung. Wieso habe ich ständig das Gefühl, wir hätten alles schon hinter uns?« Zwei Wochen später belauschte sie unfreiwillig ein Telefonat ihrer Mutter. »Wir haben jetzt öfter Sex«, vertraute Regine einer Freundin an. »Aber was mich angeht, ist es ein Bemühen ihm zuliebe. Und ja, ich glaube, er spürt es und es macht ihn verlegen.« Mathilde liebte ihre Eltern. Warum konnten die beiden nicht einfach glücklich miteinander sein?

»Weißt du, Mathilde!«, sagte Regine nach der Scheidung. »Der Astronom und Wissenschaftler Halley hat zum großen Isaac Newton einst gesagt: ›Ich verstehe nicht, dass sich ein großer Geist wie Sie für einen solchen Blödsinn wie Astrologie interessiert.‹«

»Und was hat Newton geantwortet?« Nun glitt ein triumphierendes Lächeln in Regines Züge.

»Er entgegnete: ›The difference between you and me is, I studied it and you didn’t.‹« Da war er, der Satz, den sie sich nie getraut hatte, ihrem Mann zu sagen und den nun Mathilde zu hören bekam.

Nach der Scheidung entwickelte Regine sich zu einer geradezu verbissenen Astrologin und Mathilde zu dem Typ Mädchen, das gern auf Partys ging und sich durchs Leben rockte. Ohne groß nachzudenken. »Das Leben ist meiner Meinung nach grundsätzlich ein suboptimaler Entwurf, dem ich mit Vehemenz meine eigene Vorstellung von Spaß entgegenhalte. Wer für den Spaß verantwortlich ist, ob irgendein Planet oder der Zufall, interessiert mich nicht die Bohne.« Solche Sätze spuckte sie plötzlich aus.

»Wo hast du nur diese schrecklichen Einsichten her? Kannst du das bitte für mich übersetzen?«, wunderte Regine sich. »Du hältst was von Sekundär-Progression und Sonnenbogendirektion und ich halte was vom Leben«, erwiderte Mathilde dann achselzuckend.

Es dauerte nicht lange, bis Regine klar war, dass ihre Tochter an Rum-Cola, Partys und einem jungen Mann namens Bastian Meysen interessiert war. Mit dem probierte sie aus, wie Sex funktionierte. Richtiger Sex.

Als Mathilde 21 wurde, zog sie mit Bastian zusammen, und kurz vor ihrer Verlobung stürmte Regine die Küche ihrer Tochter, breitete ein Blatt Papier vor ihr aus und deutete auf Mathildes Radix. Mathilde sah einmal mehr viele bunte Striche und Linien auf dem Blatt und kleine Zeichnungen, die die Planeten darstellten. »Du hast fast alle wichtigen Planeten im Schützen stehen, Kind«, erzählte Regine aufgeregt. Mathilde wusste nicht, wie oft ihre Mutter diesen Satz schon ausgesprochen hatte. Und sie wusste ebenso wenig, ob sie aufgrund der Häufung ihrer Planeten im Schützen zu beneiden oder zu bemitleiden war. Der Mann, mit dem sie in den sicheren Hafen der Ehe einlaufen wollte, Bastian, passe wie angegossen, hörte Mathilde ihre Mutter plappern. Zur Bestätigung legte sie Bastians Horoskop vor, das nicht minder ein Wirrwarr an roten und grünen Strichen, an Dreiecken und Kreisen war. »Bastian hat die Sonne im Widder stehen, was Geist und eifriges Wollen, sprich Begeisterung bedeutet, Kind. Das wird, klopf anständig auf Holz, eurer Beziehung enorme Stabilität geben. Ich sehe keine Scheidung in deinem Leben.« Das Wort ›Stabilität‹ und vor allem ›keine Scheidung‹ beflügelte Mathilde. Sie dachte an Bastians Ausdauer im Bett und nickte schmunzelnd. Ausnahmsweise behielt ihre Mutter recht, Bastian war begeisterungsfähig. Und wie. Regine murmelte noch etwas von einem Planeten, der sich in der Waage spiegele und gleichzeitig einen 150-Grad-Aspekt auf Waage werfe. »Zur Feier des Tages öffnest du jetzt aber eine Flasche Prosecco, gell?« Regine war krebsrot angelaufen, während sie Mathildes Horoskop deutete und lächelte nicht nur, nein, sie strahlte. An einmal getroffenen Aussagen hielt Regine stets eisern fest. Einzige Ausnahme: das Scheitern ihrer Ehe, das sie vorm Altar selbstverständlich nicht eingeplant hatte und das sie in den unbarmherzigen Malstrom des Lebens hineinzog.

Das Schicksal tat sich plötzlich wie ein riesiger Canyon vor Mathilde auf. Das Glück schien berechenbar alles wegen ein paar Planeten und lachte Mathilde fröhlich an. Spaßeshalber machte sie sich trotzdem ein paar Sorgen. Ob, zu einem leistbaren Preis, wohl ein anständiges Hochzeitskleid zu finden sei? So was in der Richtung. Ein paar kleine Sorgen hier und da seien zwar durchaus drin, aber ansonsten sehe sie Friede und Freude, prognostizierte Regine zwischen etlichen Schlucken Prosecco. »Ein Leben wie ein Soufflé«, kicherte sie. »Gelungen, auch, wenn’s nicht leicht herzustellen ist.« Mathildes Mutter war schon immer eine miserable Köchin gewesen. Der Vergleich mit dem Soufflé hätte Mathilde deshalb stutzig machen sollen.

 

Alles kam anders, als ihre Mutter es versprochen hatte. Zwischenzeitlich hatte der gute Bastian kalte Füße gekriegt und fremdgeküsst.

Es geschah eines Dienstagabends, vier Monate, bevor sie heiraten wollten. Bastian war mit seinem Freund Kai in einer Kneipe im Schanzenviertel verabredet. Doch Kai hatte an einer Ampel einen Auffahrunfall verursacht, und so stand Bastian zum verabredeten Zeitpunkt allein an der Theke. Er bestellte sich ein Bier, sah auf die Uhr, und danach schaute er sich gelangweilt um und kam mit einer hübschen Brünetten ins Reden, die faszinierende Augen hatte. Als das zweite Bier ausgetrunken war, bestellte Bastian Wein nach. Und futterte Chips. Schließlich hatte er sich erfolgreich davon überzeugt, dass er noch immer und durchaus flirttauglich war. Seit sie ihre Hochzeit planten, gingen ihm alle möglichen Gedanken im Kopf herum. Ob er sich genügend ausgetobt hatte oder noch einiges ausprobieren sollte. Ob er überhaupt bereit war, sich für immer zu binden. Er kämpfte gegen die Gedanken an, aber sie schienen resistent gegen seine Versuche sie zu unterdrücken zu sein und belästigten ihn geradezu.

Die hübsche Brünette hieß Inka und hatte sich auf den Hocker neben ihn gesetzt. Für die anderen im Lokal sah es ganz danach aus, als habe er beste Chancen bei ihr. Was folgte, war wenig rühmlich. Die beiden steuerten den Mönckebergbrunnen an, um Currywurst zu essen und sich ein letztes Bier zu genehmigen. Später gingen sie in Inkas Studentenbude und schliefen miteinander. Tage später gestand Bastian seinen Fehltritt, weil ihn das Gewissen plagte. Wie zu erwarten, kam es zum Streit mit Mathilde und Bastian gab sich die Kante vor Kummer wegen des Desasters, in das er geraten war. Als das Intermezzo mit Inka abgeschlossen war, war es Jahre später.

Doch das Schicksal war noch nicht fertig mit Mathilde und Bastian. Seit dem Streit wegen Inka hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, bis sie sich eines Tages völlig unerwartet in einem Kaufhaus in die Arme liefen. Wie Bastian so vor ihr stand, immer noch das Unbehagen im Gesicht, das ihm aus allen Poren drang, musste Mathilde völlig unerwartet lachen.

Nach Bastians Affäre, hatte sie anfangs sehr um ihn getrauert. Dann war eines Tages ein Anästhesist namens Erik dahergekommen und hatte ihr klargemacht, dass es nicht lohne um einen Frauenverschleißer, wie er Bastian mit viel Emotion titulierte, zu weinen. Mathilde hatte ihre Tränen schweren Herzens getrocknet, ihre Mutter und ihre im Schützen stehenden Planeten verteufelt und Eriks Lippen zwischen die ihren gelassen. Doch das mit Erik war ebenfalls zum Scheitern verurteilt, weil seine Eltern dazwischenfunkten. Sie hielten Mathilde für nicht gut genug für ihren Sohn, und eines Tages sagte Erik einen verhängnisvollen Satz: »Tut mir leid, Süße, aber seit ich mit dir zusammen bin, stockt meine Karriere. Irgendwie gerät mein ganzes Leben aus dem Tritt!« Welche Sternenkonstellation wohl damit zu tun hatte? Jupiter, Saturn, Mars oder Venus? Egal, irgendeiner dieser Planeten stand wohl ganz, ganz ungünstig für Mathilde.