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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2013

Copyright © 1988 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Renate Boldt

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke

Umschlagabbildung Amelie Glienke

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-499-20445-6 (13. Auflage 2006)

ISBN E-Book 978-3-644-46881-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-46881-8

Dieses Buch ist für Burghardt den Treuen,
mit dem das Leben ein Tal der Freude ist –
für Katja
und für alle treuen Fans des kleinen Vampirs

Angela Sommer-Bodenburg

Die Personen dieses Buches

Anton liest gern aufregende, schaurige Geschichten. Besonders liebt er Geschichten über Vampire, mit deren Lebensgewohnheiten er sich genau auskennt.

Antons Eltern glauben nicht recht an Vampire.

Antons Vater arbeitet im Büro, seine Mutter ist Lehrerin.

Rüdiger, der kleine Vampir, ist seit mindestens 150 Jahren Vampir. Dass er so klein ist, hat einen einfachen Grund: er ist bereits als Kind Vampir geworden. Seine Freundschaft mit Anton begann, als Anton wieder einmal allein zu Hause war. Da saß der kleine Vampir plötzlich auf der Fensterbank. Anton zitterte vor Angst, aber der kleine Vampir versicherte ihm, er habe schon «gegessen». Eigentlich hatte sich Anton Vampire viel schrecklicher vorgestellt, und nachdem ihm Rüdiger seine Vorliebe für Vampirgeschichten und seine Furcht vor der Dunkelheit gestanden hatte, fand er ihn richtig sympathisch. Von nun an wurde Antons ziemlich eintöniges Leben sehr aufregend: der kleine Vampir brachte auch für ihn einen Umhang mit, und gemeinsam flogen sie zum Friedhof und zur Gruft Schlotterstein. Bald lernte Anton weitere Mitglieder der Vampirfamilie kennen:

Anna ist Rüdigers Schwester – seine «kleine» Schwester, wie er gern betont. Dabei ist Anna fast so stark wie Rüdiger, nur mutiger und unerschrockener als er. Auch Anna liest gern Gruselgeschichten.

Lumpi der Starke, Rüdigers großer Bruder, ist ein sehr reizbarer Vampir. Seine mal hoch, mal tief krächzende Stimme zeigt, dass er sich in den Entwicklungsjahren befindet. Schlimm ist nur, dass er aus diesem schwierigen Zustand nie herauskommen wird, weil er in der Pubertät Vampir geworden ist.

Tante Dorothee ist der blutrünstigste Vampir von allen. Ihr nach Sonnenuntergang zu begegnen kann lebensgefährlich werden.

 

Die übrigen Verwandten des kleinen Vampirs lernt Anton nicht persönlich kennen. Er hat aber ihre Särge in der Gruft Schlotterstein gesehen.

Friedhofswärter Geiermeier macht Jagd auf Vampire.

Schnuppermaul kommt aus Stuttgart und ist Friedhofsgärtner.

O nein!

«Und Anton schläft immer noch?» Das war die Stimme von Antons Mutter.

Anton hörte sie merkwürdig gedämpft, wie aus großer Ferne.

«Ja! Wir sollten ihn ruhig noch ein bisschen schlafen lassen!», antwortete Antons Vater.

Anton schlug die Augen auf und blinzelte.

In seinem Kopf war eine eigenartige Leere und sekundenlang wusste er nicht, wo er sich befand und was geschehen war. Vor sich sah er eine runde Öffnung, durch die helles Sonnenlicht fiel. Und seltsamerweise lag er nicht im Bett, sondern auf dem Boden …

Aber dann erinnerte Anton sich an alles:

Vor drei Tagen war er mit seinem Vater ins Jammertal gekommen, um hier Urlaub zu machen – sogenannten Aktivurlaub. Zu Weihnachten hatte er nämlich ein Zelt und einen Schlafsack bekommen – und einen Gutschein, auf dem stand: Gutschein für einen Aktivurlaub. Einzulösen in den Frühjahrsferien. Das war eine Idee von dem Psychologen Schwartenfeger gewesen, damit Anton nicht immer nur an seine Freunde, die Vampire, denken sollte. Und Anton durfte sich sogar das Urlaubsziel aussuchen! Er hatte sich natürlich für das Jammertal entschieden; denn seit die Vampire von Friedhofswärter Geiermeier aus ihrer heimatlichen Gruft vertrieben worden waren, wohnten sie in der Ruine im Jammertal.

So waren Anton und sein Vater mit der Eisenbahn bis Langer Jammer gefahren und dann zu Fuß weitergegangen. Im Jammertal hatten sie eine Höhle – die Wolfshöhle – bezogen. Dreimal hatten sie dort nun schon übernachtet. Und vorgestern, beim ersten Rundgang durch die Ruine, hatte Antons Vater sich die Finger in der alten Orgel geklemmt. Mit Schaudern dachte Anton daran zurück, wie abscheulich dunkelviolett die Finger seines Vaters gestern Abend ausgesehen hatten …

Und die gequetschten Finger mussten auch der Grund sein, dass Antons Mutter, die sich für einen Urlaub ohne fließend warmes Wasser nicht begeistern konnte und die deshalb gar nicht erst mitgefahren war, jetzt auf einmal draußen vor der Höhle stand. Vermutlich waren die Schmerzen so schlimm geworden, dass Antons Vater zu Hause angerufen und sie gebeten hatte, ihn abzuholen – ihn und Anton!

«O nein!», stöhnte Anton leise und biss sich auf die Lippen. Er wollte nicht weg aus dem Jammertal – weg von Rüdiger und Anna!

Als er sich in der Höhle umsah, stellte er mit Schrecken fest, dass sie schon fast leer geräumt war – bis auf seinen Schlafsack, die Turnschuhe mit den Socken und das Buch «Der Vampir – Wahrheit und Dichtung». Offenbar hatten Antons Eltern in ihrem Eifer bereits seinen Pulli und die Jeans eingepackt!

Voller Ingrimm dachte Anton, dass er dann wohl im Nachtanzug draußen herumspazieren sollte – da spürte er unter seinen Fingern etwas Raues, Zerschlissenes, das ganz gewiss nicht sein Nachtanzug war.

Fast hätte Anton aufgeschrien: Es war der Vampirumhang, in dem er gestern Nacht, zusammen mit Anna, zur Ruine geflogen war!

Dort in der Ruine hatte ihm Rüdiger aus der Chronik der Familie von Schlotterstein vorgelesen – und anschließend, nachdem Anton allein zur Wolfshöhle zurückmarschiert war, hatte er vor lauter Erschöpfung vergessen, den Vampirumhang auszuziehen und in der Felsnische vor der Höhle zu verstecken. Mit all seinen Sachen war er einfach in den Schlafsack gekrochen und eingeschlafen.

Hastig zog Anton den Reißverschluss bis unter sein Kinn. Und nun? Sollte er versuchen, sich hier im Schlafsack den Umhang abzustreifen? Aber in dem engen, dick gepolsterten Schlafsack war das leichter gedacht als getan!

Der arme Junge!

Während Anton sich noch abmühte, schaute plötzlich ein Kopf durch die runde Öffnung zu ihm herein und mit freudiger Stimme sagte seine Mutter: «Anton!»

Dann kroch sie durch die Öffnung in die Höhle, kam auf ihn zu und wollte ihn umarmen. Doch krampfhaft hielt Anton von innen den Reißverschluss zu.

Sie stutzte: «Bist du krank?»

Schon legte sie ihm die Hand auf die Stirn. «Oh, Anton, du bist ja ganz heiß!»

Kein Wunder!, dachte Anton. Aber er schwieg und biss die Zähne zusammen.

«Der arme Junge! Er hat bestimmt Fieber!», rief sie zu Antons Vater hinaus.

«Ich … ich hab kein Fieber!», widersprach Anton – nicht sehr überzeugend, wie er selbst merkte.

«Aber du bist ganz verschwitzt!», sagte sie, offenbar ernsthaft besorgt.

«Ich hatte einen aufregenden Traum», versuchte er sich herauszureden.

«Bestimmt wieder einen deiner grässlichen Vampir-Alpträume!», meinte sie und fügte entschlossen hinzu: «Das ist noch ein Grund mehr, aus dieser grässlichen Höhle auszuziehen. Hier muss man ja Alpdrücken kriegen! Wie gut, dass ich zwei helle und saubere Zimmer in einem Landgasthof für uns gefunden habe!»

«Landgasthof? Ich will in keinen Landgasthof!», murrte Anton.

Seine Mutter lachte.

«Drei Tage als Höhlenmenschen und schon hat Vati eine schlimme Quetschung, du eine Grippe … Ich möchte nicht wissen, was noch alles passieren würde!»

«Vati hat sich die Finger nicht in der Höhle geklemmt!», entgegnete Anton.

«Und gewaschen habt ihr euch auch kein einziges Mal!», fuhr seine Mutter fort, ohne Antons Einwand zu beachten.

«Aus deinem Schlafsack kommt ein Geruch wie … na, ich weiß nicht, wie. Wahrscheinlich hältst du den Reißverschluss deshalb so fest zu! Jedenfalls wird es höchste Zeit, dass du ein Bad nimmst!»

«Ich habe mich gewaschen!», protestierte Antons Vater von draußen. «Im Fluss, wie sich das für einen Aktivurlaub gehört. Nur Anton nicht – dem war das Wasser zu kalt.»

«Nein, zu verschmutzt!», entgegnete Anton.

Dabei hatte er Mühe, nicht zu lachen. Wenn seine Mutter wüsste, dass es der Vampirumhang war, der so eigenartig roch!

«Na schön!», sagte sie. «Wenn du meinst, dass du kein Fieber hast, dann wirst du jetzt aufstehen, deinen Schlafsack nehmen und mitkommen! Vati wartet schon ungeduldig darauf, dass er zum Arzt gehen kann!»

Ihre Stimme klang gereizt, wie Anton mit Befriedigung feststellte. In seiner schwierigen Lage jedenfalls – mit dem Vampirumhang im Schlafsack – war ihm eine ungeduldige, entnervte Mutter viel lieber als eine überbesorgte, die kein Auge von ihm ließ!

Wenn er sie noch ein bisschen mehr ärgerte, würde sie bestimmt wütend aus der Höhle gehen und genau das konnte Anton im Augenblick am besten gebrauchen!

«Ungeduldig!», meinte er gedehnt. «Eben hat Vati gesagt, ihr solltet mich lieber noch ein bisschen schlafen lassen.» Er gähnte demonstrativ. «Wie immer hat Vati recht!», erklärte er dann und schloss die Augen. «Ich bin wirklich sehr müde!»

«Müde? Dass ich nicht lache!», sagte seine Mutter, nun richtig gereizt. «Sieh doch zu, wie du allein zurechtkommst! Ich gehe jetzt vor die Höhle. Aber wehe dir, wenn du nicht in zehn Minuten nachkommst. Dann werden wir ohne dich abfahren!» Damit rauschte sie nach draußen – soweit man in der niedrigen Höhle von «rauschen» sprechen konnte.

Anton grinste. Ohne ihn abfahren – das glaubte sie ja selbst nicht! Obwohl … ihm, Anton, würde das sogar sehr recht sein! Schließlich war er für heute Abend mit dem kleinen Vampir in der Burgkapelle verabredet, um mehr aus der Chronik der Familie von Schlotterstein zu erfahren.

Und Anton pflegte sich an seine Verabredungen zu halten – vor allem an die mit dem kleinen Vampir!

Er wartete, bis er seine Eltern leise miteinander sprechen hörte. Dann stand er auf, zog sich rasch den Vampirumhang aus und verstaute ihn im Schlafsack.

Aufatmend rollte er den Schlafsack zusammen. Er schlüpfte in die Turnschuhe, nahm sein Buch und den Schlafsack unter den Arm und kroch durch die Öffnung.

Kein Grund zum Weinen

Draußen sah er das Fahrrad, das sein Vater bei der Tankstelle in Langer Jammer geliehen hatte, bepackt mit ihren Rucksäcken am Baum lehnen.

Grinsend wandte er sich an seine Mutter. «Sagtest du nicht: abfahren!»

«Ja, wieso?», antwortete sie.

«Na, mit dem voll gepackten Rad!», sagte er. «Das kann man höchstens noch schieben.»

«Sehr lustig!», sagte seine Mutter spitz. «Vielleicht erklärst du mir mal, wie ich mit dem Auto bis zu eurer abgelegenen Höhle fahren sollte!»

«Sollte?», erwiderte Anton hinterhältig. «Wer spricht denn von ‹sollte›?»

«Anton!», ließ sich sein Vater vernehmen. «Ich kann ja verstehen, dass du enttäuscht bist. Aber der Urlaub ist doch noch gar nicht vorbei! Wir ziehen nur um in einen schönen Landgasthof, den Mutti für uns gefunden hat. Da gibt es morgens warmen Kakao, ein gekochtes Ei, Honig, Marmelade, frische Brötchen – alles, was du willst!»

«Alles, was ich will?», sagte Anton. «Ich will nur eins: hier bleiben!»

«Sei doch nicht so dickköpfig!», antwortete seine Mutter.

«Oder glaubst du etwa, Vati hätte sich mit Absicht die Finger gequetscht?»

«Nein», knurrte Anton. «Aber vielleicht denkt ihr auch mal an mich! Schließlich habt ihr mir das Zelt und den Schlafsack extra zu Weihnachten geschenkt – und jetzt soll ich anscheinend alles wegschmeißen …»

Er merkte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Hastig wandte er sich ab.

«Anton!», hörte er die Stimme seiner Mutter. «Das ist doch kein Grund zum Weinen! Und außerdem – wenn wir erst mal in dem Landgasthof sind, kannst du dein Zelt viel gefahrloser aufschlagen als hier in diesem –» sie stockte.

«– in diesem von Schauerlegenden umwobenen Jammertal!», sagte sie dann voller Abscheu.

«Schauerlegenden?» Gegen seinen Willen musste Anton grinsen.

«Ja! In Langer Jammer hört man die schrecklichsten Geschichten über dieses Tal – und vor allem über die Ruine! Deshalb werden wir auch nicht in Langer Jammer, sondern in Freudental wohnen.»

«In Freudental?»

«Ja, so heißt das Nachbarland, in dem der Gasthof ist. Du wirst dich dort bestimmt wohl fühlen!»

«Wohl fühlen?», sagte Anton gedehnt und blickte hinüber zur Ruine. «Und du sagst, ich könnte da wirklich mein Zelt aufschlagen?»

«Aber ja! Hinter dem Gasthof ist ein großer Garten mit alten Obstbäumen – wie geschaffen zum Zelten.»

«Hm … Und wie weit ist es bis zu diesem freudigen Tal?»

«Mit dem Auto eine Viertelstunde.»

«Eine Viertelstunde …», wiederholte Anton gedankenvoll.