Alfred Döblin
Der historische Roman und wir
FISCHER E-Books
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur
Mit Daten zu Leben und Werk
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Veröffentlicht als E-Book 2013.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402285-7
Wodurch unterscheidet sich der historische Roman von einem anderen Roman?
Ich habe hier den Beginn eines einfachen Romans: »Die Nacht war über den Garten gekommen. Aus der mächtigen Wand von Baumkronen hinter dem Haus, in deren dichtverschränktem Gezweig er seit Stunden langsam emporgeklettert war, löste sich jetzt in rötlichem Glühen der Mond. Klaus öffnete die Fenster und beugte sich hinaus zu dem nächtlichen Garten. Wie immer nahm der stille schweigsame Zauber seine Sinne gefangen. Ruth, die auf seine Bitten hin hatte spielen müssen, schloß mit einer heftigen Bewegung den Flügel, unwillig, daß er sie plötzlich vernachlässigte. Klaus wandte sich um.« usw.
Jeder von uns, der dies liest, weiß: dies ist nicht vorgekommen, und auch der Autor, als er dies schrieb, hat nicht einen Augenblick den Willen gehabt, uns vorzumachen, dieser Klaus und diese Ruth h[ätt]en gelebt, und es habe sich in jener Mondnacht, einer Nacht mit einem bestimmten Datum, das abgespielt, was er jetzt zu erzählen beginnt. Wir sind eben im Roman, im Bereich der Erfindung, wenngleich – das ist eine eigentümliche Sache – diese Vorgänge hier so vorgetragen werden, als ob sie sich real ereignet hätten und historische wären. Ja, es steht so, und ist außerordentlich kurios, aber wichtig, und muß nachdenklich machen: wenn im simplen Roman die Dinge nicht so erzählt werden, als ob sie sich richtig ereignet hätten, nicht so erzählt werden, daß sie sich haben ereignen können, wenn die Handlungen unglaubhaft, (verglichen mit der Realität) unwahrscheinlich sind, so lehnen wir diesen Roman ab. Es ist ein schlechter Roman.
In unserem Fall, wo der Klaus und die Ruth auftreten, sind wir bereit mitzumachen, und zwar warum? Solche Nächte, wo der Mond langsam im Gezweig von Baumkronen emporklettert – ein deutliches plastisches Bild – gibt es. Und einen Klaus, wohlgemerkt irgendeinen Klaus, der sich hinauslehnt, er kann auch Max oder Erich heißen, kann es auch geben. Und wir sind gar nicht erstaunt, daß sich unter diesen Umständen auch eine Ruth findet, die Klavier spielt und sich ärgert, daß er zum Fenster hinausblickt. Wir machen mit, weil dies alles möglich ist, und es braucht gar nicht vorgekommen zu sein. Wir akzeptieren die Spielregel: es braucht nicht vorgekommen zu sein, aber wir lassen das Spiel nur zu unter der Bedingung: es muß wenigstens möglich sein.
Der einfache erfundene Roman also, schon er hat, damit wir ihn überhaupt annehmen, einen Fonds Realität nötig. Und wenn wir fragen, woher das kommt und warum wir nicht einfach ein völlig und ganz unwahrscheinliches Spiel, eine 100prozentige Spielerei hinsetzen dürfen, so ist die Antwort: dieser unser heutiger Roman zeigt so seine Herkunft. Er ist ein Überbleibsel, besser gesagt: eine Entwicklungsstufe einer Erzählungsart, die wirklich von erfolgten Vorgängen berichtet. Ehemals war Epik überhaupt die Mitteilungsform, die Verbreitungsform und die Aufbewahrungsform für wirklich abgelaufene Vorgänge. Es war die Zeit, wo man noch nicht Schrift und Zeitung hatte. Da man nur mündlich überlieferte, konnte sich Fabelhaftes einmischen. Um besser aufzubewahren, fixierte man damals auch die Mitteilung in Ver