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Sven Friedrich

RICHARD WAGNERS
OPERN

Ein musikalischer Werkführer

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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C.H.Beck Wissen – Musik

Die C.H.Beck Wissen-Bände aus dem Themenbereich Musik wollen umfassende Informationen zum Werk bedeutender Komponisten der Musikgeschichte anhand einer für ihr Schaffen repräsentativen musikalischen Gattung bieten. Der Leser lernt auf diese Weise nicht nur Stil, Kompositionstechnik und Interpretation einzelner Werke kennen, sondern erhält die Möglichkeit, den betreffenden Komponisten, seine kompositorische Entwicklung und ebenso die jeweilige Gattung und ihre Entwicklung in der Musikgeschichte einzuordnen. Aspekte der Wirkungsgeschichte und der Aufführungspraxis runden die allgemeinverständlich gehaltenen Darstellungen ab. Die regelmäßig in der enzyklopädischen Reihe C.H.Beck Wissen erscheinenden Themenbände zur Musik sollen sich für Kenner und Liebhaber zu einer Bibliothek musikalischer Werkführer, nach zentralen Gattungen gegliedert, entwickeln.

Der Herausgeber

Siegfried Mauser, Jahrgang 1954, gibt in der Reihe C.H.Beck Wissen die Themenbände zur Musik heraus. Er hat an der Musikhochschule Würzburg und an der Universität ‹Mozarteum› in Salzburg gelehrt. Seit 2002 ist er Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater in München, seit 2003 auch deren Rektor. Er hat zahlreiche Publikationen zur Musik der Zweiten Wiener Schule sowie zur Musikgeschichte und Ästhetik des 18. bis 20. Jahrhunderts vorgelegt und ist Herausgeber der ‹Schriften zur musikalischen Hermeneutik› und des ‹Handbuchs der musikalischen Gattungen›. Als konzertierender Pianist ist er durch Auftritte im In- und Ausland und eine rege Aufnahmetätigkeit bekannt geworden.

Zum Buch

Wenig vermag die Gemeinde der Musikliebhaber so tief zu spalten wie eine Oper von Richard Wagner. Manch einer lehnt Wagner in Bausch und Bogen ab und begründet dies mit dessen Antisemitismus, während ein anderer es einfach nicht erträgt, von der romantisch-revolutionären Musik Wagners zutiefst gepackt zu werden. Doch gibt es auch jene Wagner-Gemeinde, die sich begeistert den Mythen, Bildern und zauberhaften Klangwelten des Komponisten hingibt. Mit Sven Friedrich stellt einer der kompetentesten Wagner-Spezialisten sine ira et studio die Musikdramen des Leipziger Komponisten vor, erhellt ihre Entstehungsgeschichte, ordnet sie musikhistorisch und geistesgeschichtlich ein und erläutert ihre Besonderheiten. Ein eigenes Kapitel ist der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Wagners und insbesondere den Bayreuther Festspielen gewidmet.

Über den Autor

Dr. Sven Friedrich ist Direktor des Richard-Wagner-Museums mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung in Wagners Bayreuther Wohnhaus Wahnfried. Er leitet darüber hinaus auch das Franz-Liszt- und das Jean-Paul-Museum der Stadt Bayreuth.

Inhalt

I. Orchestervorspiel: Wagners Leben und seine Zeit

«Wißt Ihr, wie das ward?» – Heldenleben oder Kolportageroman?

Wagners musik- und kulturhistorische Stellung

Wagners Ästhetik

Kunst als Weltanschauung – Weltanschauung als Kunst

II. Das Frühwerk

Die Feen

Das Liebesverbot oder Die Novize von Palermo

Rienzi oder Der letzte der Tribunen

III. Die romantischen Opern

Der Fliegende Holländer

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg

Lohengrin

IV. Das Musikdrama

Tristan und Isolde

Die Meistersinger von Nürnberg

V. Musikdrama und Politik

Das Bühnenfestspiel Der Ring des Nibelungen

Das Rheingold

Die Walküre

Siegfried

Götterdämmerung

VI. Musikdrama und Religion

Das Bühnenweihfestspiel Parsifal

VII. Orchesternachspiel: Wagner und die Folgen

Die Bayreuther Festspiele

Rezeptions- und Wirkungsgeschichte: Ideologie und Ideologisierung

«Wisst Ihr, wie das wird?» – Wagner heute und morgen

 

Literatur

I. Orchestervorspiel: Wagners Leben und seine Zeit

«Wisst Ihr, wie das ward?» – Heldenleben oder Kolportageroman?

Richard Wagners Leben und Werk erscheinen 130 Jahre nach seinem Tod auf beispiellose Weise vom eigenen Mythos überwachsen, ja gelegentlich überwuchert. Begründet in egomanischer Selbstinszenierung, von der Witwe Cosima zum Kult gesteigert, im Bayreuther Festspielhaus petrifiziert und durch den ‹Bayreuther Kreis› ideologisch fundamentiert, wurden Wagners Biographie und Œuvre zum Anlass und gelegentlich Vorwand für eine Kunst- und Kulturideologie, deren gefährliche Nähe zu den deutschnationalen, rechtsradikalen und antisemitischen völkischen Kreisen der Kaiserzeit und der Weimarer Republik im Dritten Reich schließlich zur scheinbar folgerichtigen Gleichschaltung von ‹Wagnergeist› und ‹Hitlergeist› gelangte, um sich dann in den erklärten Antithesen von ‹Neu-Bayreuth› der fünfziger und sechziger Jahre sowie den ideologiekritischen Wagner-Deutungen bis zur Gegenwart an eben dieser prekären Rezeptions- und Wirkungsgeschichte abzuarbeiten.

Das biographische ‹Phänomen Wagner› erscheint demnach zwangsläufig in der Optik seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, durch die der ‹Mythos Wagner› stets eine wie auch immer geartete Aufladung erfährt. Dieser Mythos umgibt seinen Gegenstand unentschälbar, der daher nur als Rückprojektion durch das rezeptions- und wirkungsgeschichtliche Prisma gesehen werden kann. Dadurch treten je nach Perspektive dessen durchaus gegensätzliche und widersprüchliche Aspekte einmal schärfer hervor, während sie ein anderes Mal diffuser verschwimmen. So entsteht eine eigentümliche Gleichzeitigkeit von schlaglichtartigem Kontrast, verklärender Überhöhung, pauschalierender Verallgemeinerung und Klischeebildung oder phrasenartiger Zusammendrängung des Komplexen ebenso wie dessen Deklination in extenso und ad absurdum.

Gleichwohl wollen wir hier ‹Wagners Opern› in gebotener Kürze werkgeschichtlich und inhaltlich darstellen, um einen zwar zwangsläufig schlagwortartigen Einstieg in Wagners Bühnenwerke zu ermöglichen, der durch das Gestrüpp und den Zaubergarten ihrer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte und der damit mehr oder gelegentlich auch weniger notwendig einhergehenden Literaturflut nur allzu oft versperrt erscheint.

Die Biographie Richard Wagners beginnt mit den autobiographischen Selbstdarstellungen der Mittheilung an meine Freunde von 1850, vor allem aber in Mein Leben, das er von 1865 bis 1880 Cosima in die Feder diktierte und damit den autobiographischen Mythos für die Zeit bis 1864 begründete. Im Zuge dessen rückten alle Selbstäußerungen Wagners trotz unbestreitbar subjektiver Tendenz in nahezu sakrosankte Autorität, die erstaunlicherweise bis heute nachwirkt. Dies gilt auch für die Tagebücher Cosimas als zentrale biographische Quelle für die Jahre von 1869 bis zu Wagners Tod 1883, obgleich sie erst 1976/1977 veröffentlicht werden konnten. Allerdings standen sie Wagners Hausbiographen Carl Friedrich von Glasenapp zur Verfügung, was dessen so grundlegende wie umfassende Wagner-Hagiographie in sechs Bänden einerseits auf eine auch danach zunächst unerreichbare Quellengrundlage stellte, diese aber damit zugleich der so eindeutigen wie beabsichtigten Tendenz eines mythisch überhöhten Wagner-Bildes unterwarf.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Biographie Wagners auch in der Folge stets im Lichte eines wie auch immer gearteten Zeitgeists und dessen jeweiligen Deutungs-Perspektiven und Darstellungs-Absichten. Auch ein vor allem seit den 1970er Jahren zunehmend kritisches Wagner-Verständnis, das sich über ideologische Verklärungs- wie Verdammungsabsichten hinaus um ein differenzierteres Bild bemühte, hat sich nichtsdestoweniger doch immer auch mit dem Wagner-Mythos und dessen Ideologiegeschichte zu befassen. Im Gegensatz zu dem üblichen biographischen Geschäft eines zumeist mühsamen archäologischen Sammelns und Zusammentragens von mehr oder weniger verstreuten dokumentarischen Puzzleteilen leidet die Wagner-Biographie dabei eher unter der Überhäufung durch die schon quantitativ überwältigenden Zeugnisse eines nahezu unbezwingbaren Selbstmitteilungs- und -darstellungsdrangs sowie erst recht der nachfolgenden Literatur. Es erscheint fraglich, ob dieser Umstand zugleich auch Objektivität verbrieft – oder vielleicht sogar im Gegenteil eher ein kultur-, geistes- und ideologiegeschichtliches Kaleidoskop erzeugt.

Die Frage, ob ‹Heldenleben› oder ‹Kolportageroman› die zutreffende Bezeichnung für Wagners Lebensgeschichte ist, kann vielleicht am Ende nicht mit ‹entweder – oder›, sondern nur mit ‹sowohl – als auch› beantwortet werden, da sich die Widersprüche nicht etwa ausschließen, sondern einander geradezu bedingen, ihren Gegenstand aber eben dadurch im Grunde ideologischer Eindimensionalität entziehen. Alle durchaus reichlichen Klischees der Biographie werden immer wieder durch nicht minder klischeehafte Widersprüche unterlaufen – und auf diese Weise geradezu dialektisch durch sich selbst aufgehoben. Nationalkonservativer und revolutionärer Geist schließen sich dabei ebenso wenig aus wie Wagners emotional-extrovertierter, gelegentlich regressiver Charakter und die autoritäre Strenge des eifernden Ideologen. Diese Widersprüche und Brechungen machen das manchmal an Richard Wagner schwer Erträgliche zumindest ein wenig menschlicher, gelegentlich gar allzu menschlich – und lassen uns in der erleichternden Gewissheit zurück, dass Genie und Werk nicht etwa das Produkt jener Gottähnlichkeit sind, welche die tendenziöse, hagiographische Wagner-Ideologie mit aller Macht aufzurichten beabsichtigte, sondern eben jenes «Allgemeinmenschlichen», das Wagner uns in seinem Werk als ästhetische wie politische Utopie hinterließ.

Wagners musik- und kulturhistorische Stellung

Wagners Kindheit und Jugend fallen in die Zeit massiver politischer, gesellschaftlicher und kultureller Umbrüche. Französische Revolution und napoleonisches Empire hatten Gesicht und Machtgefüge in Europa fundamental verändert. Die politische Identität Deutschlands und der Deutschen fand ihren Ausdrucknicht im Nationalstaat, sondern in der Idee der ‹Kulturnation›, die sich vor allem über die gemeinsame Sprache definierte. Die antiliberalen Kräfte der Reaktion hatten ein Klima der Unterdrückung und Verfolgung verursacht, was im frühbürgerlichen Biedermeier zu einem eher dekorativen Kulturselbstverständnis führte, das sich von einer politischen Relevanz im Sinne der Aufklärung weitgehend verabschiedet hatte.

In Frankreich entstand mit der ‹Grand Opéra› ein neues Genre, das im Gegensatz zu der noch vor dem Hintergrund des barocken Hofstaats spielenden italienischen Belcanto-Oper der adäquate Ausdruck eines sich selbst vergewissernden Bürgertums während der Juli-Monarchie wurde: Rückbindung und Verankerung des neuen politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses in geschichtlichen Stoffen, der Chor als machtvolle Stimme des ‹Volks› als politisch bestimmende Größe und die dazu scharf kontrastierende Individualszene als Manifestation des einzelnen, wohl auch vereinzelten Individuums in der modernen Gesellschaft, das alles in dem überaus prachtvollen Gewand der Ausstattung und des überwältigenden Schaueffekts als bürgerliche Okkupation der ehemals den barocken Fürsten vorbehaltenen Inszenierung eines ‹theatrum mundi›.

Dagegen brachten natursehnsüchtige Innerlichkeit und volksliedhafte Gefühlsseligkeit der deutschen Romantik mit ihrem Hang zum Pantheistischen wie Schaurigen einen eigenen neuen Operntyp hervor, der in der naiven Volksdichtung, der Sage und dem Märchen gründete, in der der Zeitgeist gleichsam in die Psychologie der Figuren hineinversetzt wurde und die mit der Uraufführung des Freischütz von Carl Maria von Weber 1821 ihren paradigmatischen Ausdruck fand. Das Lied als lyrische musikalische Form und der dramatische Furor der Symphonien Beethovens bilden auf diese Weise das musikalische Fundament Wagners, wie die französische Große Oper mit ihren Überwältigungswirkungen das theatrale Vorbild wird.

Auf dieser Grundlage entwickelte Wagner, ausgehend von den drei epigonalen Frühwerken, in denen er alle gängigen Genres mustergültig ausprobiert hatte, sein ‹Musikdrama› als Synthese von deutscher Sage, antikem Drama, Großer Oper, lyrisch-romantischer Innenschau der menschlichen Seele und symphonischer Wucht des großen Orchesters mit seinen so nuancenreichen wie expressiven Ausdrucksmöglichkeiten. Als Kapellmeister mit dem Repertoire zutiefst vertraut, wusste Wagner sehr gut um die kompositorischen Mittel und Wege, mit denen wirkungsvolle musikalische Effekte zu erzielen waren. Die Bindung der Phrase an den Ausdruck des Textes und den Gestus der Szene, die Semantisierung der Musik durch das sogenannte ‹Leitmotiv› und die kühne Fortentwicklung von Harmonik und Instrumentierung stellten die Musik zum einen ebenso vollständig in den Dienst des Dramas, wie sie andererseits bislang nie dagewesene emotionale Wirkungspotenziale offenbarte.

Schien die sogenannte ‹absolute Musik› und namentlich die Symphonie mit Beethoven zu einem vorläufigen Endpunkt gelangt zu sein, verstand Wagner sein Musikdrama als deren Fortsetzung mit anderen Mitteln. Zugleich verweigerte er sich der traditionellen ‹Oper› als vermeintlich politisch-ökonomisch korrumpierter Kunstform. Wagners Opern, die keine mehr sein wollten, wurden zum weitestgehend beherrschenden Solitär des deutschen Musiktheaters im 19. Jahrhundert.

Mit dem Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend Der Ring des Nibelungen schuf Wagner das inkommensurable Werk der Musiktheatergeschichte. In diesem Zusammenhang entwickelte sich auch die Festspiel-Idee. Nur im besonderen, herausgehobenen und exklusiven Rahmen festlicher Aufführungen konnte seiner Ansicht nach das sich seiner Natur nach dem bestehenden Repertoiretheater-Betrieb entziehende Kunstwerk angemessen dargestellt und wahrgenommen werden. In einem eigens hierfür zu errichtenden Theater und unter den bestmöglichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen konnte die große ästhetische Gemeinschaft von Schaffenden und Schauenden hergestellt werden. Realisiert wurde diese Idee 1876 in Bayreuth. Mit dem Bau des Festspielhauses und der ersten Gesamtaufführung des Ring war zugleich das Epizentrum der Kulturideologie Wagners definiert. Durch die Uraufführung des Bühnenweihfestspiels Parsifal 1882 wurde Bayreuth schließlich endgültig zum Wagner-Wallfahrtsort, zum sakralen und weltanschaulichen Zentrum, zum Gralsgebiet der selbsternannten Apostel eines ‹Meister›-Kults, der seinesgleichen nicht hatte und zum Ausgangspunkt jener Rezeption wurde, die weit über die Kunst hinaus in alle kulturellen, politischen und ideologischen Diskurse eindrang und so schließlich auch zum Inbegriff der Kunstvorstellungen des Wagnerianers Adolf Hitler wurde.

Wagners Ästhetik

Der deutsche Idealismus hatte mit der Weimarer Klassik die maßvolle Ausgewogenheit von Inhalt, Form und Ausdruck postuliert und die Kunst auf die höheren Werte von Gesellschaft und Menschheit verpflichtet. Unter dem Einfluss der Philosophie Kants wurde die Kunst ebenso Ausdruck und Erfahrung transzendentaler Geistigkeit wie Moral, Bildung und Sittengesetz, mit dem Ziel, den Menschen sowohl aus der Unmündigkeit wie zu sich selbst zu führen. Mit der Romantik wurde dagegen die Kraft des Subjektiven und Göttlichen gegen die als scheinhaft erkannte Objektivität des aufklärerisch-klassischen Kunstanspruchs gestellt. Die Natur und das Irrationale, die Seele und das Unsagbare gelangten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und wenn es zuvor um das Licht der Aufklärung ging, so feierte man nun die aus den tiefen Dunkelheiten des Gefühls entsteigenden Hymnen an die Nacht. Maß und Form lösten sich auf in Maß- und Formlosigkeit. Genie und Werk fanden sich nicht mehr in der harmonischen Begrenzung von «edler Anmut und stiller Größe», sondern in der Entgrenzung der Kunstformen und der Ästhetisierung aller Lebens- und Denkbereiche, von Religion, Politik, Philosophie und Gesellschaft zu einem fortwährenden Schaffensvorgang im Rahmen einer allumfassenden «progressiven Universalpoesie» (Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragment Nr. 116, Schriften zur Literatur, S. 37).

Die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Realitäten nach 1815 hatten damit freilich wenig zu tun. Wagner war jedoch ein ästhetischer Idealist, der meinte, dass die Kunst aus dem Leiden an der Realität die Welt erklären und kurieren könne. So entwickelten sich Wagners ästhetische Überzeugungen zunächst aus der Kritik der bestehenden Kunst- und Kulturzustände. Dies durchaus auch immer als eine Art Genieschutz in eigener Sache. Aber die Erkenntnis einer politischen Bedingtheit der Kunst führte auch Wagner zu dem Schluss, dass die in seinen Augen erbärmlichen Kulturverhältnisse vor allem Ausdruck und Indiz gesellschaftlichen Verfalls seien. Gegen den Opern- und Theaterbetrieb seiner Zeit betrieb Wagner die Kunst daher als politisches Geschäft mit religiösem Ernst und die Politik als Kunst zum Zwecke einer utopischen bürgerlichen Gesellschaftsordnung nach ästhetischen Kriterien. Von den linkshegelianischen Ideen namentlich Ludwig Feuerbachs zutiefst angesprochen, kritisierte er die ökonomischen und gesellschaftlichen Einflüsse und Bedingungen, durch welche die Kunst zur seelenlosen Handelsware, zum ‹Gewerbe› werde, zum Gegenstand vordergründiger, luxuriöser Unterhaltung und Zerstreuung, zur nur äußerlichen, zirkushaften Artistik eines effekthascherischen, profitorientierten Virtuosentums und eiferte daher gegen das verzopfte Biedermeier, die Herrschaft des Kapitals, die bürgerliche ‹Zivilisationsgesellschaft› und – last but not least – gegen das ‹jüdische Establishment›.

Schließlich gelangte er zu der Überzeugung, dass nur durch eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden politischen und ökonomischen Ordnungen und Verhältnisse das «Kunstwerk der Zukunft», wie er eine seiner zentralen Kunstschriften betitelte, hervorgebracht werden könne. Nach dem Vorbild der antiken griechischen Polis verstand er es als Gemeinschaftswerk aller in einer ästhetischen Öffentlichkeit schöpferisch tätigen Menschen. Durch die Verschmelzung der einzelnen Kunstarten und in der ästhetisch-sozialen Gemeinschaft von Schaffenden und Schauenden, wie sie sich exemplarisch in der vollständigen Gegenwart der Theater-Aufführung als Modell sozialer Selbstorganisation freier Menschen verwirkliche, sei es mithin der Endzweck künstlerischen Schaffens.

In Wagners Poetik bilden Musik und Drama demnach eine unauflösliche Einheit, Wagner selbst begriff sich als dramatischer Dichter, wobei die Musik dem Drama eine Ausdrucksund Bedeutungsdimension hinzufügt, die, über die Sprache hinausgehend, das Gefühl als gleichberechtigte ästhetische Kategorie des Dramas etabliert. Die Musik wird so zum Ausdruck des Epischen im Drama, während das Drama zum Ausdruck des Mythos wird, der verdichteten symbolischen, universalen Ur-Erzählung.

Nach dem Scheitern der Dresdener Maiaufstände und der Flucht ins Schweizer Exil sowie mit der Lektüre Schopenhauers 1854, der für ihn nunmehr einen ähnlich hohen Stellenwert einnahm wie zuvor Feuerbach, kam es zu einer Verschiebung des Verhältnisses zwischen Musik und Dichtung. Für Schopenhauer ist die Musik die höchste aller Kunstarten, da sie nie der Welt der Erscheinungen, also der Vorstellung entspringt, sondern immer und ausschließlich Ausdruck, Manifestation und damit «Quietiv des Willens» (Schopenhauer) sei. Unter diesem Paradigma erweiterte sich Wagners Musikpoetik um die Dimensionen einer psychologischen Wirkungsästhetik, deren zentraler Niederschlag sich in der Beethoven-Schrift von 1870 findet. Wagner billigte der Musik nunmehr eine höhere ästhetische Autonomie zu als zuvor. Die vergleichsweise strenge semantische Bindung an den dramatischen Text, wie sie noch für die ‹Leitmotive› im Ring vorherrschend waren, wurde in Tristan und Parsifal zugunsten einer größeren Freiheit der musikalischen Form aufgehoben, die aus der romantischen Theorie der Improvisation entspringt und gleichsam unwillkürlich als das Unterbewusste im Drama und dessen Figuren fungieren soll:

In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um uns das Unaussprechliche selbst schweigend sagen zu lassen; der Musiker ist es nun, der dieses Verschwiegene zum hellen Ertönen bringt, und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens ist die unendliche Melodie (Zukunftsmusik. An einen französischen Freund, SSD VII, S. 130).

Kunst als Weltanschauung – Weltanschauung als Kunst

Zwar hielt Wagner bis zum Lebensende an der dem linkshegelianischen Denken des Vormärz entspringenden Idee einer ästhetisch integrierten und sich nach genossenschaftlichen Prinzipien organisierenden Gesellschaft fest, doch das Schlagwort hierzu war in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr das der Revolution, sondern der «Regeneration» der Menschheit aus ihren «Naturkräften». Hierbei spielten auch der Darwinismus und namentlich die Rassenlehre Arthur de Gobineaus eine wesentliche Rolle. Vor diesem Hintergrund wandelte sich auch Wagners im Wesentlichen kulturtheoretisch-sprachlich begründeter Anti-Judaismus der Zürcher Zeit, wie er sich in der Schrift über Das Judenthum in der Musik niedergeschlagen hatte, in einen rassisch geprägten «Erlösungs-Antisemitismus» (Friedländer, S. 87 ff.), der als solcher vor allem Wagners spätes Denken in die völkischen und antisemitischen Tendenzen der Jahrhundertwende münden ließ.

Hatte Wagner bereits 1850 die Überwindung der Politik durch die Kunst propagiert, so schloss er am Ende seines Lebens den Kreis zu den romantischen Konzepten von «Sympoesie» und «Symphilosophie» (Friedrich Schlegel) mit der Vorstellung einer umfassenden «Kunstreligion» im Zusammenhang mit dem Bühnenweihfestspiel Parsifal. Hierbei wurde nun auch die Religion in den Kontext des Gesamtkunstwerks einbezogen und wurden die religiösen Inhalte in ein übergeordnetes, umfassendes ästhetisches Konzept integriert. Damit wurde die Kunst im Allgemeinen und das Kunstwerk Richard Wagners im Besonderen endgültig zur Weltanschauung, die mit Bayreuth, dem Festspielhaus und Wahnfried als ideologischer Schaltzentrale des ‹Bayreuther Kreises›, namentlich in Gestalt von Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain und dem Herausgeber der Bayreuther Blätter Hans von Wolzogen, ihr geistiges Zentrum besaß. Von hier nahm die prekäre Rezeptions- und Wirkungsgeschichte nicht nur des Werks Richard Wagners seinen Ausgang, sondern auch die seiner Ästhetik, die als «Bayreuther Gedanke» zur Weltanschauung erhoben und zur Weltbeglückungsideologie verbrämt wurde.

II. Das Frühwerk

Die Feen

Richard Wagner, der am 22. Mai 1813 in Leipzig geboren wurde, war noch keine 20 Jahre alt, als er sich seinem ersten ehrgeizigen Opernprojekt zuwandte. Dichter hatte er werden wollen und schon als 16-Jähriger, begeistert von der Lektüre Shakespeares, einen dramatischen Erstling Leubald und Adelaide produziert. Doch obgleich es darin mehr als 40 Tote gibt und sich so bereits hier der unbezwingbare Zug zur Größe offenbart, erntete er in der Familie Gelächterstürme – und war zutiefst frustriert. Der prägende Eindruck, den neben dem zeitlebens vergötterten Beethoven Carl Maria von Weber auf ihn machte, sollte indessen seine Hinwendung zur Musik maßgeblich bestärken.

Um komponieren zu lernen, entlieh sich Wagner aus der Leipziger Bibliothek die Kompositionslehre Johann Bernhard Logiers und machte durch das Anwachsen der Ausleihgebühren erstmals (jedoch bekanntlich durchaus nicht zum letzten Male in seinem Leben) Schulden, weil sich sein Vorhaben, aus diesem Buch das Komponieren zu erlernen – erstaunlicherweise! – doch als schwieriger erwies, als erwartet. Doch als er im April 1829 die große dramatische Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient als Romeo in Bellinis Romeo und Julia und später auch in ihrer Paraderolle, der Leonore in Beethovens Fidelio erlebte, war es endgültig um ihn geschehen: Er schickte der Primadonna einen enthusiastischen Verehrerbrief ins Hotel und beschloss auf der Stelle, Musiker zu werden. Ab Mitte des Jahres 1829 entstanden seine ersten Kompositionen. Er begann ein musikalisches Hirten- und Schäferspiel, gab dieses aber schon nach kurzer Zeit wieder auf. Allerdings vollendete er eine Ouvertüre in B-Dur, bei der nach jedem vierten Takt ein fünfter als Paukenschlag eingeschaltet ist. Die Uraufführung dieses Werks fand am 24. Dezember 1830 im Leipziger Theater in Gegenwart Richards und seiner Schwester Ottilie statt. Das Publikum war zunächst verblüfft, machte sich dann gegenseitig auf den zu erwartenden Paukenschlag aufmerksam und brach schließlich in Heiterkeit aus.

Beginnt so die Vita eines Genies? Obwohl ohne Schulabschluss, schrieb sich der schwärmerische Dilettant 1831 als Musikstudent an der Leipziger Universität ein. Während Goethe die Arbeit am Faust beendete, kneipte Wagner bei der Verbindung ‹Saxonia›, verfiel dem Kartenspiel, verspielte die Rente seiner Mutter, gewann jedoch mit dem letzten Taler alles zurück. Doch im Herbst fand er durch die Vermittlung seiner Mutter endlich einen gründlichen und verständnisvollen Musiklehrer: keinen Geringeren als den Leipziger Thomas-Kantor Theodor Weinlig, der als Erster das hervorragende Talent des jungen Wagner erkannte, kein Honorar von ihm annahm und schon nach einem halben Jahr erklärte, dass er ihn nun nichts mehr lehren und ihm nur noch als «ratender Freund» zur Seite stehen könne. Neben einigen Studienwerken komponierte Wagner unter Weinligs Aufsicht Sieben Kompositionen zu Goethes Faust.

Zu Beginn des Jahres 1832, ermutigt durch den Erfolg der Uraufführung der d-Moll-Ouvertüre im Leipziger Gewandhaus, komponierte Wagner weitere Werke: eine Sonate in A-Dur, eine Ouvertüre in e-Moll und die an Beethoven geschulte Ouvertüre zu Ernst Raupachs König Enzio, die unter anderem am 16. März im Gewandhaus gespielt wurde. Endlich erschien mit der Sonate in A-Dur auch erstmals eine Arbeit Wagners bei Breitkopf & Härtel im Druck. Es ist erstaunlich, wie genau der junge Wagner die verschiedenen Musikstile seiner Zeit beherrschte. So ist es unüberhörbar das große Idol Beethoven, das stilistisch Pate für sein Gesellenstück stand: eine veritable viersätzige Symphonie in C-Dur.

Unter dem Einfluss der intensiven Lektüre E. T. A. Hoffmanns wandte sich Wagner danach einem ersten Opernplan zu: Die Hochzeit,Die FeenLa Donna Serpente