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Die verspielte Gesellschaft

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Das Online-Magazin TELEPOLIS wurde 1996 gegründet und begleitet seither die Entwicklung der Netzkultur in allen Facetten: Politik und Gesetzgebung, Zensur und Informationsfreiheit, Schutz der Privatsphäre, wissenschaftliche Innovationen, Entwicklungen digitaler Kultur in Musik, Film, bildender Kunst und Literatur sind die Kernthemen des Online-Magazins, welche ihm eine treue Leserschaft verschafft haben. Doch TELEPOLIS hat auch immer schon über den Rand des Bildschirms hinausgesehen: Die Kreuzungspunkte zwischen realer und virtueller Welt, die »Globalisierung« und die Entwicklung der urbanen Kultur, Weltraum und Biotechnologie bilden einige der weiteren Themenfelder.

Als reines Online-Magazin ohne Druckausgabe nimmt TELEPOLIS damit eine einzigartige Stellung im deutschsprachigen Raum ein und bildet durch seine englischsprachige Ausgabe und seinen internationalen Autorenkreis eine wichtige Vermittlungsposition über sprachliche, geografische und kulturelle Grenzen hinweg. Verantwortlich für das Online-Magazin und Herausgeber der TELEPOLIS-Buchreihe ist Florian Rötzer.

Die TELEPOLIS-Bücher basieren auf dem Themenkreis des Online-Magazins. Die Reihe schaut wie das Online-Magazin über den Tellerrand eingefahrener Abgrenzungen hinaus und erörtert Phänomene der digitalen Kultur und der Wissensgesellschaft.

Eine Auswahl der bisher erschienenen TELEPOLIS-Bücher:

Craig Morris

Zukunftsenergien

Die Wende zum nachhaltigen Energiesystem

2005, 180 Seiten, 16 €

Alfred Krüger

Angriffe aus dem Netz

Die neue Szene des digitalen Verbrechens

2006, 220 Seiten, 19 €

Peter Bürger

Bildermaschine für den Krieg

Das Kino und die Militarisierung der Weltgesellschaft

2007, 224 Seiten, 18 €

Andreas Lober

Virtuelle Welten werden real

Second Life, World of Warcraft & Co: Faszination, Gefahren, Business

2007, 174 Seiten, 16 €

Stephan Schleim

Gedankenlesen

Pionierarbeit der Hirnforschung

2008, 184 Seiten, 18 €

Rainer Sommer

Die Subprime-Krise und ihre Folgen

Von faulen US-Krediten bis zur Kernschmelze des internationalen Finanzsystems

2009, 232 Seiten, 19 €

Stefan Weber

Das Google-Copy-Paste-Syndrom

Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden

2., aktualisierte Auflage

2009, 196 Seiten, 16 €

Klaus Schmeh

Versteckte Botschaften

Die faszinierende Geschichte der Steganografie

2009, 246 Seiten, 18 €

Matthias Brake

Mobilität im regenerativen Zeitalter

Was bewegt uns nach dem Öl?

2009, 154 Seiten, 16 €

Stefan Selke, Ullrich Dittler (Hrsg.)

Postmediale Wirklichkeiten

Wie Zukunftsmedien die Gesellschaft verändern

2009, 256 Seiten, 19 €

Matthias Becker

Datenschatten

Auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft?

2010, 182 Seiten, 16,90 €

Lothar Lochmaier

Die Bank sind wir

Chancen und Perspektiven von Social Banking

2010, 160 Seiten, 15,90 €

Harald Zaun

S E T I – Die wissenschaftliche Suche nach außerirdischen Zivilisationen

Chancen, Perspektiven, Risiken

2010, 320 Seiten, 19,90 €

Stefan Selke, Ullrich Dittler (Hrsg.)

Postmediale Wirklichkeiten aus interdisziplinärer Perspektive

Weitere Beiträge zur Zukunft der Medien

2010, 256 Seiten, 19,90 €

Stephan Schleim

Die Neurogesellschaft

Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert

2011, 218 Seiten, 18,90 €

Astrid Auer-Reinsdorff, Joachim Jakobs, Niels Lepperhoff

Vom Datum zum Dossier

Wie der Mensch mit seinen schutzlosen Daten in der Informationsgesellschaft ferngesteuert werden kann

2011, 182 Seiten, 16,90 €

Marcus B. Klöckner

9/11 – Der Kampf um die Wahrheit

2011, 218 Seiten, 16,90 €

Hans-Arthur Marsiske

Kriegsmaschinen – Roboter im Militäreinsatz

2012, 252 Seiten, 18,90 €

Weitere Informationen zu den TELEPOLIS-Büchern und Bestellung unter: → www.dpunkt.de/telepolis

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Nora S. Stampfl

studierte Wirtschaftswissenschaften an der Johannes Kepler Universität Linz in Österreich und erlangte einen Master of Business Administration (MBA) an der Goizueta Business School der Emory University in Atlanta, Georgia, USA. Nach beruflichen Stationen in den USA lebt sie seit 1999 in Berlin und ist als Unternehmensberaterin und Zukunftsforscherin tätig. Ihren Arbeitsschwerpunkten strategische Unternehmensführung, gesellschaftlicher Wandel und Zukunftsfragen widmet sie sich auch als Autorin.

www.f-21.de

nora.stampfl@f-21.de

Die verspielte Gesellschaft

Gamification oder Leben im Zeitalter des Computerspiels

Nora S. Stampfl

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Reihenherausgeber: Florian Rötzer, München, fr@heise.de

Lektorat: Dr. Michael Barabas
Copy-Editing: Susanne Rudi, Heidelberg
Herstellung: Birgit Bäuerlein
Umschlaggestaltung: Hannes Fuß, www.exclam.de
Druck und Bindung: M.P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, 33100 Paderborn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:
Buch 978-3-936931-77-8
PDF 978-3-936931-85-3
ePub 978-3-936931-86-0

1. Auflage 2012
Copyright © 2012 Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co KG, Hannover

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Inhaltsverzeichnis

1       Wann ist ein Spiel ein Spiel?

2       Gamification: Spiele schleichen sich in unser Leben

3       Wie Gamification wirkt: Bausteine und Ziele

4       Spiele sind überall: Utopie oder Dystopie?

5       Was Gamification antreibt: Warum spielen wir?

5.1 Evolution und Entwicklung: Wir sind geborene Spieler

5.2 Generation Gaming: Leben auf der virtuellen Spielwiese

5.3 Ökonomie der Partizipation: Mitmachen ist alles

6       Was die Zukunft bringt: Szenarien und Anwendungsbereiche

6.1 Spiele im Unternehmenskontext: Aus Spiel wird Ernst

6.2 Gamification und Crowdsourcing: Die verspielte Gesellschaft stellt ein Heer von Arbeitern

6.3 Spielerisch die Welt retten: Spiele sind mehr als Unterhaltung

7       Ausblick: Gamification oder »Pointsification«?

Literatur

1 Wann ist ein Spiel ein Spiel?

Es ist das Spiel und nur das Spiel, das den Menschen vollständig macht.

Johann Christoph Friedrich von Schiller, deutscher Dichter, 1759–1805

Schach, Dame und Backgammon; Mikado und Domino; die Olympischen Spiele, die Fußballweltmeisterschaft und Stierkämpfe; Pong, Tetris, Pacman und World of Warcraft. So vielfältig die Welt der Spiele ist, so wandlungsfähig ist sie auch. Immer wieder entsteht Neues, angepasst an den Lauf der Zeit. Kaum jemand, der nicht Teil dieser sich ständig neu erfindenden Welt ist. Wir alle spielen – und dennoch: Wer kann schon sagen, was genau ein Spiel ist?

Ernstgemeinte Versuche, das Phänomen des Spiels (be)greifbarer zu machen, gibt es überraschend wenige. Spiele sind keiner wissenschaftlichen Disziplin eindeutig zuzuordnen, und schon gar nicht gibt es eine allgemeingültige Definition. Psychologen sehen im Spiel vor allem eine Erscheinung der kindlichen Entwicklung, für Erwachsene ist das Spiel ins Reich des Privaten verbannt und tritt dann etwa als Hobby – in starrer, gesellschaftlich anerkannter Form innerhalb eng definierter Grenzen – auf den Plan. Anthropologen betrachten das Spiel im Kontext verschiedener Kulturen und fragen nach dessen Bedeutung für die kulturelle Entwicklung. Sogar die Mathematik befasst sich mit Spielen, denn als solche können die spezifischen Strategien und Dilemmata in Entscheidungssituationen aufgefasst werden, die die Spieltheorie zu beschreiben versucht. Erst gegen Ende der 1990er-Jahre bildete sich in Folge der Etablierung digitaler Spiele mit der Ludologie ein transdisziplinärer Forschungszweig heraus, dessen Betrachtungsschwerpunkt auf der Geschichte, Analyse und Theorie digitaler Spiele liegt. Jedoch auch von dieser Seite ist – zumindest bislang – keine wesentliche Erhellung zu erwarten: Die Ludologie ist ein noch junges Pflänzchen und deren Vertreter sind sich über die klare Abgrenzung des Begriffs ihres Forschungsgegenstands noch alles andere als einig.

Gemeinhin wird Spielen zum einen als Quelle menschlicher Kreativität gesehen, als Kulturtechnik, die unser Leben lang unsere Phantasie und Einbildungskraft nährt; zum anderen wird Spiel aber auch als etwas zu Überkommendes gesehen, als bloße Vorstufe zur Entwicklung des Verstands und des Selbst, als Trainingslager für höher bewertete, als wesentlich angesehene Leistungen und etwas, das es im Laufe unseres Heranwachsens über Bord zu werfen gilt. Spielen ist also nicht ohne Ambivalenz: Während es für die einen nützlicher Bestandteil des Lebens ist, gilt es anderen hingegen als pure Zeitverschwendung. Diese Gespaltenheit mag daher stammen, dass Spiel zumeist in Relation zur Arbeit bewertet wird: Spiel ist nicht Arbeit, so viel steht fest. Und diese Sichtweise ist historisch bedingt, denn erst in einer größeren, arbeitsteilig organisierten Gesellschaft, in der der Mensch nicht tagein, tagaus mit der Sicherung seiner Existenz und Stillung grundlegender menschlicher Bedürfnisse befasst ist, wird Spiel möglich. Erst mit der Möglichkeit, Waren zu tauschen und sich auf bestimmte Arbeiten zu konzentrieren, ergaben sich Freiräume von der Arbeit, die mit nicht zweckgebundenen Tätigkeiten wie etwa dem Spiel ausgefüllt werden konnten. Spiel war und ist somit durch die Abgrenzung zur Arbeit charakterisiert. Arbeit dient einem bestimmten Zweck, Spiel hingegen wird um seiner selbst willen unternommen.

Das Spiel erlaubt Abstecher von der Wirklichkeit, es öffnet die Augen für Visionen und ist dadurch Nährboden für Umgestaltungen. Es hat die Kraft, verfestigte Strukturen aufzubrechen und ist damit Treiber für Innovationen, weil es Spielern Kreativität entlockt durch die Möglichkeit zum Rollen- und Perspektivenwechsel – es nötigt geradezu, sich andere Blickwinkel und Sichtweisen anzueignen. Dogmen und Ideologien haben in Spielen keine Gültigkeit. So ist das Spiel immer auch gesellschaftliches Laboratorium gewesen, in dem ein gefahrloses Ausprobieren verschiedenster Alternativen möglich ist, ohne Konsequenzen, ohne den Ernst des Lebens fürchten zu müssen.

Schon Friedrich Schiller hat in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen aus dem Jahr 1795 die große Bedeutung des Spielens für den Menschen hervorgehoben, weil einzig das Spiel jene menschliche Leistung sei, die die Ganzheitlichkeit der menschlichen Fähigkeiten hervorbringen könne. Als einer der Ersten hat der deutsche Dichter die arbeitsteilige Gesellschaft untersucht und in seinem 6. Brief die damit verbundene Spezialisierung für eine »Zerstückelung« sowohl der Individuen als auch der Gesellschaft als Ganzes verantwortlich gemacht:

Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohr, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.

Für Schiller tut sich als Gegenpol zur Welt der Arbeit mit ihren Pflichten, Notwendig- und Ernsthaftigkeiten eine andere Welt auf: In einer eigenen Welt des zwanglosen Spiels kann der Mensch Erfahrungen machen, die ihn von den Zwängen der Arbeitswelt entlasten und die »Bruchstücke« der menschlichen Existenz zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. So kommt Schiller in seinem 15. Brief zum Schluss, dass das Spiel den Menschen befreit und ihn zu seinem wahren und ganzen Wesen formt:

Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.

Für den niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga sind sämtliche menschliche Handlungsfelder auf das Spiel gegründet: Der homo ludens (»spielender Mensch«) stellt für ihn eine unabdingbare Voraussetzung für Entstehung und Erhalt von Kultur dar. Seine Hauptthese, Kultur entstehe in Form von Spiel, ist darauf zurückzuführen, dass Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Politik, Religion, ja alle Kultur sich in rituellen Formen vollziehen, in denen Spielelemente enthalten sind, die sich im Laufe der Zeit zu kulturellen Elementen verfestigt haben. Kultur ist demnach Resultat spielerischer Verhaltensweisen einer Gemeinschaft, deren Gewohnheiten sich »eingespielt« und zu Normen entwickelt haben. Die ursprünglich im Spiel ersonnenen Regeln haben sich ritualisiert, aus dem Spiel wurde Ernst und die eingeschliffenen Regeln haben Zwangscharakter angenommen. (Vgl. Huizinga 1956)

Es gibt offensichtlich keinen Mangel an Funktionen und Zwecken, welche Spielen zugeschrieben werden. Spiele sind also Freiräume für menschliche Betätigung, um den allgegenwärtigen Zwängen zu entkommen? Eine Gegenwelt zur Arbeit? Vehikel, um die Ganzheitlichkeit der menschlichen Fähigkeiten an die Oberfläche zu bringen? Katalysatoren für die Herausbildung von Kultur? Aber was macht ein Spiel zu einem Spiel? Was kann als der kleinste gemeinsame Nenner gelten, der erfüllt sein muss, damit wir vom Vorliegen eines Spiels sprechen können?

Suche nach einer Definition

Wann ist ein Spiel ein Spiel? Johan Huizinga war es auch, der wohl als Erster eine Antwort auf diese Frage wusste; von ihm stammt die wahrscheinlich am häufigsten bemühte Begriffsbestimmung:

Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgelegter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des »Andersseins« als das »gewöhnliche Leben«. (Huizinga 1956: 37)

Spiel ist also immer freiwilliges Handeln; wird es befohlen, ist es kein Spiel mehr. Zudem ist Spiel durch das Heraustreten aus dem »gewöhnlichen« oder »eigentlichen« Leben gekennzeichnet: Der Spieler weiß, dass er »bloß so tut«. Trotzdem schließt das Bewusstsein, nur zu spielen, nicht aus, dass das Spiel mit größtem Ernst vor sich gehen kann. »Jedes Spiel kann jederzeit den Spielenden ganz in Beschlag nehmen.« (Huizinga 1956: 22) Das Spiel findet innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum statt. Es hat einen Anfang und ein Ende und läuft in einem abgesteckten Spielraum ab: In der Arena, auf dem Spieltisch, auf der Bühne gelten für gewisse Zeit besondere Regeln. Es entstehen »zeitweilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen« (Huizinga 1956: 18 f.). Die jedem Spiel eigenen Spielregeln bestimmen, was innerhalb der durch das Spiel geschaffenen zeitweiligen Welt gelten soll.

Worüber Huizinga in seiner Definition nichts sagt, ja nicht einmal eine Andeutung macht, ist die Art der Handlung oder Beschäftigung, die Gegenstand des Spiels ist. Daher sei den Gedanken Huizingas eine Begriffsbestimmung des kanadischen Philosophen Bernard Suits angefügt: »Playing a game is the voluntary attempt to overcome unnecessary obstacles.« (Suits 1978: 41) Es geht bei Spielen also darum, unnötige Hindernisse zu überwinden, und zwar freiwillig. Betrachtet man etwa das Fußballspiel, so wird schnell klar: Es gibt einfachere und effizientere Wege, das definierte Ziel zu erreichen, nämlich den Ball in das gegnerische Tor zu befördern, und zwar öfter, als dies der Gegenmannschaft gelingt. Aber würde ohne die spezifischen Regeln und Erschwernisse (Verbot von Hand- und Foulspiel, Abseitsregel, Spielfeldbegrenzungen, Torwart bewacht das Tor) die spielerische Aktivität überhaupt zustande kommen? Erst die »unnötigen Hindernisse« sorgen dafür, dass die Spieler die notwendige Haltung aufbringen, um sich auf das Spiel einzulassen. Suits konkretisiert seine Kurzformel und macht vier Wesenselemente von Spielen aus: Ein Spiel ist immer der Versuch, (1) einen bestimmten Zustand herzustellen (Ziel), und zwar (2) durch den Einsatz bestimmter durch Regeln festgelegter Mittel (Hilfsmittel), wobei (3) diese Regeln den effizientesten Weg, das Ziel zu erreichen, verhindern (Spielregeln) und (4) schlicht aus dem Grund akzeptiert und befolgt werden, weil sie die Spielaktivitäten möglich machen (Haltung). (Vgl. Suits 1978: 41)

Der französische Soziologe und Philosoph Roger Caillois wiederum nähert sich dem Thema aus soziologischer Perspektive an, da er viele Gesellschaftsstrukturen als ausgeklügelte Formen des Spiels und viele Verhaltensweisen als Spielarten betrachtet. In seiner Begriffsfindung baut er auf den Theorien von Johan Huizinga auf, betont ebenso wie dieser die Freiwilligkeit von Spielen, welche in eigens dafür bestimmten Räumen stattfinden und daher vom eigentlichen Leben abgetrennt sind. Dort aber, wo Huizinga die mannigfaltigen Arten des Spiels vernachlässigt und die verschiedenen Funktionen, denen Spielaktivitäten in unterschiedlichen kulturellen Kontexten dienen, ignoriert, geht Caillois über Huizingas Konzept hinaus. Anstatt eine Definition zu geben, beschreibt Caillois Spiele anhand von sechs Merkmalen: sie sind freiwillig; abgetrennt von der Lebensroutine und nehmen eigene Zeit und eigenen Raum in Anspruch; sie sind ungewiss, weil weder Verlauf noch Ergebnis von Beginn an feststehen; sie sind unproduktiv, da in ihrem Verlauf keine materiellen Güter geschaffen werden; ihr Ablauf ist durch Spielregeln festgelegt, die die üblichen Gesetze und Verhaltensnormen außer Kraft setzen und für alle Spieler bindend sind; sie finden in einer fiktiven Wirklichkeit statt.

Da die genannten Eigenschaften keine Rückschlüsse auf den Inhalt der Spiele zulassen, stellt Caillois die Verschiedenheiten einzelner Spielformen heraus und unterscheidet zwischen »Agon« (Wettkampf), »Alea« (Zufall, Glück), »Mimikry« (Maskierung) und »Ilinx« (Rausch). Im Zentrum von Agon steht das Verlangen von Menschen, ihr Können unter Beweis zu stellen und zu siegen. Im Spiel messen die Spieler ihr Können unter für alle gleichen Ausgangsbedingungen. Ein Sieg hängt daher einzig und allein vom eigenen Können ab. Beispiele für diese Spielkategorie sind etwa Schach, Billard oder Fußball. Als Sieger vom Platz zu gehen ist auch Triebfeder von Alea. Hierbei allerdings entscheidet nicht das Können, sondern einzig der Zufall über Sieg und Niederlage. Die Spieler geben sich, zum Beispiel beim Lotto, Roulette oder auch bei vielen Spielautomaten, ihrem Schicksal hin und entscheiden nicht willentlich über das Spiel. Bei der Mimikry lebt das Spiel von der Verwandlung, weil Menschen gerne etwas spielen, was sie in Wirklichkeit nicht sind, in Rollen schlüpfen, Persönlichkeiten darstellen oder illusionäre Figuren verkörpern. Auch passiv kann der Mensch an einer Verwandlung teilnehmen, etwa im Theater, wenn man sich mit dem handelnden Akteur identifiziert. Kindliche Nachahmungs- und Puppenspiele zählt Caillois ebenfalls zu dieser Kategorie. In die Sparte Ilinx fallen alle Spiele, welche auf dem Begehren nach rauschartigen Zuständen basieren. Dabei setzen sich Spieler freiwillig einer »angenehmen« Panik aus, stören ihre Wahrnehmung oder versetzen sich in einen tranceartigen Betäubungszustand, indem sie sich etwa großen Geschwindigkeiten, Stürzen oder kreisförmigen Bewegungen hingeben. Caillois nennt als Beispiele Walzer tanzen, Skifahren, Jahrmarktsattraktionen.

Neben dieser Einteilung nach Spielprinzipien schlägt Caillois eine Einordnung von Spielen auf einem Kontinuum zwischen den beiden Polen »Paidia« (unstrukturiertes und spontanes Spiel) und »Ludus« (strukturiertes Spiel mit expliziten Regeln) vor. Auf der einen Seite herrscht freie Improvisation. Paidia kommt ohne abgesprochene Regeln aus, wie dies typisch für viele Kinderspiele ist. Paidia ist gekennzeichnet durch unkontrollierte Phantasie und eine anarchistische Natur. Demgegenüber steht Ludus, bei dem durch Konventionen ein verlässlicher Rahmen hergestellt wird. Diese Spiele können nur durch die exakte Vorgabe und Kenntnis der Spielregeln gespielt werden. (Vgl. Caillois 1960)

Spiele im Informationszeitalter

Schiller, Suits, Huizinga, Caillois – keiner von ihnen hatte beim Philosophieren über das Spiel freilich Computerspiele1 im Sinn. Die Ausdifferenzierung der Welt der Spiele und ihre Anpassung an eine veränderte Gesellschaft haben es jedoch mit sich gebracht, dass Computerspiele in unserer digitalisierten, vernetzten Welt etabliert sind. Sie sind heute derart weit verbreitet, dass niemand mehr über Spiele nachdenken würde, ohne nicht – vielleicht sogar zuvorderst – an Computerspiele zu denken. Und sind nicht die unzähligen mit Computerspielen verbrachten Stunden der beste Beweis dafür, dass diese »den Spielenden ganz in Beschlag nehmen«, wie Huizinga meinte? Was könnte heute ein besseres Sinnbild für das Mitnehmen in »zeitweilige Welten« sein, die abseits des gewöhnlichen Lebens liegen, als Computerspiele? In ihnen tun sich heute virtuelle Welten auf, die parallel zur »echten« Welt existieren, aber ein völlig eigenständiges Leben mit den jedem Spiel eigenen Handlungsformen aufweisen. Dabei können auch Computerspiele auf einem breiten Kontinuum zwischen Paidia und Ludus verortet werden. Während insbesondere die Anfänge des Computerspiels mit Spielen wie Tetris oder Pacman in der regelgebundenen Welt des Ludus angesiedelt waren, findet man heute auch einen großen Anteil von Spielen, die Elemente des freien Spiels stärker betonen und Paidia zugeordnet werden können. So steht etwa in virtuellen Welten wie zum Beispiel Second Life oder SimCity das Improvisieren im Vordergrund. Dabei besteht bei Computerspielen und virtuellen Welten die Besonderheit, dass die Möglichkeit, Paidia-Aktivitäten auszuführen, zu einem großen Teil durch die Spielumgebung vorgegeben ist. Wenn Paidia dadurch definiert ist, ohne Regeln und Vorgaben auszukommen, so sind bei digitalen Spielen doch in jedem Fall, das heißt, auch wenn freies Spiel gewollt ist, gewisse Vorkehrungen notwendig, die freies Spiel und Improvisation zulassen. Das bedeutet für die Gestaltung solcher Spiele, dass die wahrscheinlichsten Formen der Selbstdarstellung und Interaktionen der Spieler vorausschauend erkannt werden müssen, um die Voraussetzung für deren Ausführung dann in der Spielwelt zu implementieren. Computerspiele, die vermeintlich vollkommen in die Welt von Paidia fallen, vermitteln daher immer nur eine Illusion von Wahlfreiheit und grenzenloser Umsetzung von Phantasien, weil der Spieler durch das spezifische Spieldesign auf vorgezeichnete Pfade geschickt wird. So ist der Spieler etwa bei SimCity, dessen Inhalt die Simulation einer Stadt und deren Entwicklung ausgehend von einer unbebauten Landschaft ist, an die zur Auswahl stehenden Gebäude oder Arten von Infrastruktur gebunden, die er in seiner Stadt einsetzen möchte. Auch auf die jeweiligen Kriterien, unter welchen die Stadt entweder floriert oder eine weniger gute Entwicklung nimmt, hat er keinen Einfluss. Auch wenn es anfänglich so scheint – Paidia in Reinform bieten solche Computerspiele und virtuellen Welten nicht, vielmehr hat man es hierbei mit Paidia innerhalb von Ludus zu tun. (Vgl. McGregor 2008)

Überhaupt eröffnet die digitale Technologie für die Entwicklung von Spielen viele neue Wege. Da es im Folgenden vorrangig um Computerspiele geht, wenn von Spielen die Rede ist, lohnt sich ein näherer Blick auf die Eigenheiten von digitalen Spielen. Welche besonderen Qualitäten zeichnen Spiele in digitalen Medien aus, die sie in anderen Medien nicht oder nicht so ausgeprägt haben? So ist etwa die Eigenschaft von digitaler Technologie, unmittelbar und interaktiv Feedback zu geben, für Spiele äußerst bedeutend. Es gehört zu den wesentlichen Spielvoraussetzungen vieler Computerspiele, dass das Spiel direkt auf Eingaben des Spielers antwortet. Im Unterschied zu vielen anderen Medien findet in der digitalen Sphäre daher Spiel in Echtzeit statt, das dynamisch auf Handlungen und Entscheidungen des Spielers reagiert. Zudem machen sich digitale Spiele die Kraft von Computern, riesige Datenmengen zu verarbeiten, zunutze. Kaum eine private Anwendung strapaziert die Datenverarbeitungskapazitäten sowie Grafik- und Audioqualitäten von Computern heute mehr als Computerspiele; der Wettlauf um die Aufrüstung von PCs wird stark durch die Entwicklung immer ausgefeilterer Spiele vorangetrieben. Spiele manipulieren die gespeicherten Datenmengen nun in ganz bestimmter Weise: So ist es beispielsweise Merkmal vieler Computerspiele, dass sie Informationen nur häppchenweise preisgeben, wenn etwa zusätzliche Figuren in das Spiel eintreten oder sich die räumlichen Gegebenheiten nur nach und nach dem Spieler erschließen. Auch laufen digitale Spiele automatisiert ab. In nicht digitalen Spielen liegt es immer an den Spielern, das Spiel voranschreiten zu lassen, indem sie den Regeln folgend Spielzüge bestimmen und Aktionen je nach Eintritt bestimmter Bedingungen ausführen. Der Komplexität der Regeln sind hierbei naturgemäß Grenzen gesetzt. Übernimmt der Computer hingegen die Berechnung der den Spielverlauf bestimmenden Prozeduren, so sind um vieles komplexere Regeln möglich. Auf der anderen Seite raubt diese Automatisierung des Spielgeschehens dem Spieler auch ein gutes Stück an Spielerfahrung, weil er ja nicht in jedem Fall weiß, wie gewisse Spielverläufe zustande kommen und diese dementsprechend nicht selbst manipulieren kann. Der Spieler steht – anders als beim »handgestrickten« Spiel – einer »Black Box« gegenüber. Schließlich ist die vernetzte Kommunikation über digitale Medien wie E-Mail, Chat, Videound Audiokommunikation in Echtzeit Teil vieler Computerspiele. Während natürlich die meisten Spiele, gleichgültig ob digital oder nicht, Kommunikation beinhalten, ja ohne Kommunikation zumeist nicht denkbar sind, so ist doch die Vernetzung Tausender – und in einigen Fällen wie etwa bei World of Warcraft Millionen – von Spielern über große Distanzen hinweg ein Spezifikum von Online-Computerspielen. In solchen Spielen kommen unzählige Menschen, die über den ganzen Erdball verstreut sind, zusammen, um sich an einer gemeinsamen Sache zu beteiligen. (Vgl. Salen/Zimmerman 2004: 87 ff.)

Besonders das letztgenannte Merkmal von Computerspielen, die Fähigkeit, eine Vielzahl von Menschen zu beteiligen, gehört heute zu den wesentlichen Erfolgsfaktoren digitaler Spiele. Mit der Verbreitung des Internets hat sich auch das Spielen im Mehrspielermodus durchgesetzt. In grafisch ausgereiften, Kinofilmen ähnlichen Welten kommen heute Unmengen von Personen auf der ganzen Welt zusammen, um Städte zu bauen, Monster zu bekämpfen, Schlachten zu schlagen, Volkswirtschaften zu simulieren, Abenteuer zu bestehen, zu lernen, Strategien zu entwickeln und in andere Rollen zu schlüpfen. Vergleicht man die heutigen Computerspiele mit ihren virtuellen (Parallel-)Welten mit den Anfängen des Computerspiels, so könnte der Weg kaum weiter sein. Eines der ersten Computerspiele, das Tischtennis-ähnliche Pong (1972), kam noch mit der einfachsten denkbaren Grafik aus: Zwei Striche und ein Punkt waren alles, was das Spiel benötigte.

2 Gamification: Spiele schleichen sich in unser Leben