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PINA BAUSCH

BILDER EINES LEBENS

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ANNE LINSEL

PINA BAUSCH

BILDER EINES LEBENS

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INHALT

 

 

VORWORT
PEDRO
ALMODÓVAR

EINS
KINDHEIT
IN SOLINGEN

ZWEI
STUDIUM
IN ESSEN

DREI
TANZEN
IN NEW YORK

VIER
CHOREOGRAPHIEREN
IN ESSEN

FÜNF
TANZTHEATER
IN WUPPERTAL

SECHS
BÜHNENBILDNER
PETER PAPST

KOSTÜMBILDNERIN
MARION CITO

SIEBEN
ERFOLG
IN ROM

ACHT
TOURNEE
DURCH INDIEN

NEUN
JUNGE UND ALTE
IN KONTAKTHOF

ZEHN
ABSCHIED

 

 

NACHWORT

BIOGRAFISCHE DATEN

WERKE

HINWEIS ZUM E - BOOK

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Mit Pedro Almodóvar

VORWORT
PEDRO
ALMODÓVAR

Ich lernte Pina Bausch in den Neunzigerjahren kennen, nach einer für das Publikum beschämenden Vorstellung von »Nelken« im Teatro Real. Ein Publikum, das nicht darauf eingestellt gewesen war, mit diesem Stück konfrontiert zu werden, und unter Pfiffen die beeindruckende Aufführung verließ. Ich vergaß diese leidvolle Anekdote rasch, denn jene Nacht war für mich eine Offenbarung. Von der ersten Umarmung an verband mich mit Pina eine innige Beziehung. Pina Bausch war mir eine konstante Quelle der Freude, die in mir die unterschiedlichsten Gefühle hervorrief und mich bis heute inspiriert. Es war wie in dem Lied der Chavela: »Ohne zu wissen, dass du existiert hast, habe ich mich nach dir gesehnt, und bevor ich dich kennenlernte, habe ich dich erahnt.«

Wir stimmten in vielem überein, sowohl in persönlicher als auch in künstlerischer Hinsicht, etwa wie wir Musik einsetzten oder Frauen zu Ikonen stilisierten. Unsere Freundschaft war fulminant und für immer. Pina war eine sehr feminine und sinnliche Frau, etwas, das man in all ihren Stücken erkennen konnte, selbst in ihren ersten, eher düsteren Werken, in denen noch die Einflüsse des deutschen expressionistischen Kinos zu spüren waren. Alle ihre Tänzerinnen hatten lange und wilde Mähnen und trugen auf der Bühne üppige, geblümte Kleider, hochhackige Schuhe und hielten Zigaretten in den Händen. Schon früh verband sie den Tanz mit dem Wasser, der Erde, den Blumen, dem Grün des Feldes und dem Sand des Strandes. Stets gab es Momente, in denen sich Paare aneinander klammerten und anfingen zu tanzen – wie bei dörflichen Volksfesten.

Der Augenblick am Ende von »Masurca Fogo«, in dem sich die Tänzer vermählen und paarweise zum Rhythmus der kapverdischen Musik bewegen, war einer dieser Momente, für den man nicht dankbar genug sein kann. Pina ermöglichte es mir, dass ich genau diese Magie auch am Ende meines Films »Hable con ella« (»Sprich mit ihr«) erschaffen konnte. Ich danke ihr auch sehr dafür, dass sie selbst, zusammen mit der geheimnisvollen Malou, »Café Müller« für mich tanzte. Unmöglich, mir einen besseren Anfang für einen Film vorzustellen – der die Geschichte von zwei Frauen im Koma erzählt –, als mit den Bildern von Pina und Malou. Wie sie mit geschlossenen Augen tastend umherwandeln und an die Tische und Stühle stoßen, mit denen die Bühne ganz vollgestellt war. Ich kann das Gefühl nicht erklären, das mich überkam, als ich es das erste Mal sah. Es gab so viel Bestimmtheit, Fragilität, Verwunderung, Schmerz und Zärtlichkeit in diesen beiden Frauen, mit ihren weißen Kleidern und ihren sich unaufhaltsam bewegenden Armen und Beinen.

Die Beziehung zwischen den Körpern war für Pina essenziell. Eine Beziehung, mal spielerisch, sinnlich, sich spiegelnd, mal gebieterisch oder schmerzvoll. Ihre Stücke quollen über vor Körperlichkeit, Empfindung und einer ungezähmten Sensibilität, zart und originell. Pina mochte es, jemanden zu umarmen und die Wange des anderen auf ihrer zu spüren. Ich glaube, Pina ist die Person, von der ich die meisten Fotos besitze, wie ich sie küsse oder umarme. Ich erinnere mich sehr gut an ihren Körper, ihre Hände, ihren Torso, so leicht, und ihre Arme, so sehnig. Sie erfand eine neue Art des Bewegens, wie die schwebenden Arme und Hände und noch vieles mehr.

Sie redete nicht gern über das, was hinter ihren Choreographien stand, sie ließ sie in dem jeweiligen Szenario stehen, sodass jeder Zuschauer sie auf seine Art erleben konnte. Alle Reaktionen waren legitim und sie akzeptierte jede mit ihrem einzigartigen und so charakteristischen Lächeln. Einschließlich der absurden Gewalt des herausgeputzten Publikums, das ins Teatro Real gekommen war, um sich »Nelken« anzuschauen – in der Annahme, dass sie eine Zarzuela zu sehen bekämen.

Pina Bausch – immer mit einer brennenden Zigarette in der Hand und diesem unbeschreiblichen Lächeln – schaffte im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts einen Wendepunkt für den zeitgenössischen Tanz. Seitdem gibt es ein Vor- und ein Nach-Pina. Ihre Choreographien sind lebendig und ich kann mir vorstellen, dass ihre Kompanie, wenn sie aufgehört hat, sich als Waise zu fühlen, sie fortführen und der staunenden Welt weiterhin zeigen wird.

Ah, sie liebte den Flamenco und die Welt des Flamencos liebte sie. In jener Nacht, in der sie verstarb, ging ich in die Bar Candela. Ich war mir sicher, dass ich dort jemanden treffen würde, mit dem ich über den Tod von Pina Bausch weinen könnte.

Pedro Almodóvar

EINS
KINDHEIT
IN SOLINGEN

Wer in Wuppertal, im Stadtteil Barmen, Ende der 1980er-Jahre an einem ganz gewöhnlichen Wochentag am späteren Morgen die Talstraße jenseits des Alten Marktes entlangging, dem konnte es passieren, dass er eine schmale, dunkel gekleidete Person aus einem Café kommen sah, ein kleines Tablett mit Kaffeekanne und Tasse in Richtung »Lichtburg« balancierend und in einem schmucklosen Eingang verschwindend. Die »Lichtburg« ist ein ehemaliges Kino. Bis heute beherbergt das Gebäude eine der berühmtesten Tanzkompanien der Welt: das Tanztheater Wuppertal. Die Kompanie hat dort ihre Probenräume.

Die Person mit dem Tablett in der Hand war niemand anderes als Pina Bausch, die damals gelegentlich ihren Kaffee eigenhändig über die Straße trug, als wär’s eine Szene aus einem ihrer Stücke. In jener Zeit waren in Wuppertal Abneigung, Ablehnung und Protest gegen Pina Bausch und das Tanztheater umgeschlagen – zuerst in vorsichtige, dann in stürmische Zuneigung. Bis dahin waren Pina Bausch und ihre Tänzer einen langen, oft sehr schmerzhaften Weg gegangen.

Pina Bausch wurde am 27. Juli 1940 in Solingen geboren. Sie hatte zwei Geschwister: einen Bruder, der zehn Jahre älter, eine Schwester, die neun Jahre älter war. Beide sind lange vor Pina Bausch gestorben. Als sie noch nicht richtig sprechen konnte, habe sie auf die Frage: »Wie heißt du denn?«, immer geantwortet: »Pina«. Eigentlich heißt sie Philippine, nach der Mutter ihres Vaters. So ist es, abgesehen von offiziellen Schreiben und Klausuren während ihres Studiums, bei »Pina« geblieben.

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Als Kind in Solingen

August und Anita Bausch betrieben eine Gastwirtschaft mit kleinem Hotel in Solingen, bekannt in aller Welt als »Klingenstadt« durch die hier hergestellten Messer, Scheren, Bestecke, Klingen. Die Familie Bausch wohnte nicht im Zentrum, sondern am Rand von Solingen in der Nähe einer Stahlwaren- und einer Schokoladenfabrik. Im Zweiten Weltkrieg wurde Solingen schwer bombardiert. Pina Bausch erinnerte sich, dass die Familie oft in einen kleinen Bunker im Garten Zuflucht suchen musste – einmal sei eine Bombe auf einen Teil des Elternhauses gefallen. Gott sei dank blieben alle unverletzt. Eine Zeitlang schicken die Eltern ihre kleine Tochter nach Wuppertal zu einer Tante, weil dort ein größerer Bunker steht. »Sie meinten, da sei ich sicherer gewesen. Ich hatte einen kleinen Rucksack mit weißen Pünktchen, aus dem eine Puppe herausguckte. Der stand immer fertig gepackt, so dass ich ihn mitnehmen konnte, wenn Fliegeralarm war.«

Der Garten hinter der Gastwirtschaft war nicht besonders groß. Aber er war ein Paradies für die Kinder: der Familienbunker, ein langes Gebäude mit einer Kegelbahn, eine runde Tanzfläche aus Beton (der erste Bauabschnitt für ein Gartenrestaurant, das nie gebaut wurde), ein verrostetes Treibhaus, dazwischen wild wachsende Gräser, Unkraut und »vereinzelt herrliche bunte Blumen«. Hier entfaltete sich die Phantasie. Im Sommer saßen Pina und ihre Freunde auf dem heißen Teerdach der Kegelbahn und aßen Sauerkirschen, die vom Nachbarn über das Dach ragten. Sie hüpften auf alten Sofas, die ebenfalls dort standen, wie auf einem Trampolin, und im Treibhaus wurde Theater gespielt – »vielleicht begannen dort meine ersten Inszenierungen«. Auf der Tanzfläche verwandelten sie sich in berühmte Schauspieler. Pina war meistens Marika Rökk. Und wenn sie Hunger hatten, dann stellten sich alle Kinder auf die Gullis in der Nähe der Schokoladenfabrik und atmeten die süßen warmen Dämpfe ein: »Geld hatten wir nicht, aber riechen konnten wir. Auch so konnte man satt werden.«

Das Spielen im Gartenparadies war die eine Seite der Kindheit, die andere hieß Mitarbeit im elterlichen Betrieb. Pina musste mit ihren Geschwistern helfen: stundenlang Kartoffeln schälen, die Treppe putzen, Betten machen, Waschbecken säubern, die Gastzimmer aufräumen. Als sie etwa zwölf Jahre alt war, wurde der Vater einmal sehr krank. Er musste eine Kur machen und nahm seine Frau mit. Da hat Pina zusammen mit zwei Nachbarn, die auf sie aufgepasst haben, das Lokal geschmissen. Sie hat Bier gezapft, die Gäste versorgt. Sie fand das »wichtig und schön – ich habe dabei viel gelernt«.

Viel Zeit für ihre Kinder hatten die Eltern Bausch nicht. So passierte es häufiger, dass Pina anstatt abends ins Bett zu gehen, sich unter den Tischen der Kneipe versteckte. Da blieb sie dann einfach hocken und hörte und sah so allerhand, was die Gäste taten und erzählten. »Das hat meine Phantasie ungeheuer angeregt.« Schon damals ist sie mit Leidenschaft Zuschauer gewesen: ein stiller und aufmerksamer Beobachter. Und sie war ein Zappelphilipp, wie ihre Mutter sie nannte. Konnte kaum still sitzen, war immer in Bewegung. Turnte und tanzte um die Tische und Stühle herum. »Pina muss unbedingt ins Kinderballett, die ist ja wahnsinnig gelenkig«, sagten einige Gäste immer wieder. Sie mussten es wissen: Es waren Chorsänger des nahen Theaters, die regelmäßig zum Essen in die Kneipe kamen. Und eines Tages haben sie Pina mitgenommen ins Theater, zum Kinderballett. Sie war fünf Jahre alt.

Gleich zu Beginn hatte Pina ein unvergessliches Erlebnis: »Alle Kinder mussten sich auf den Bauch legen, dann die Füße und Beine nach hinten hochnehmen und nach vorn stellen, rechts und links neben den Kopf. Das konnten nicht alle Kinder, bei mir aber war das überhaupt kein Problem. Und die Lehrerin hat damals gesagt: ›Du bist ja ein Schlangenmensch.‹ Ich wusste natürlich nicht, was das bedeutete. Aber ich spürte am Tonfall, dass das etwas Besonderes sein musste. Von da an wollte ich unbedingt zum Kinderballett gehen.«

Und noch ein frühes Erlebnis im Kinderballett blieb unauslöschlich in ihrer Erinnerung: Einmal sollten alle Kinder etwas nach Anweisung der Tanzlehrerin machen, was Pina allerdings nicht verstanden hatte. Sie schämte sich und sagte einfach, das könne sie nicht. »Die Lehrerin schickte mich nach Hause. Ich quälte mich wochenlang, ich wusste nicht, wie ich wieder ins Kinderballett zurückkommen konnte. Nach Wochen kam die Lehrerin zu uns nach Hause und fragte, warum ich nicht mehr komme. Da klärte sich dann alles auf. Den Satz ›das kann ich nicht‹ habe ich nie wieder gesagt.«

Das Kinderballett in Solingen wurde auch im Theater eingesetzt, bei Opern, Operetten und Balletten. Pina bekam gleich Kinderrollen, meistens musste sie Jungen spielen, weil es keine Jungen gab. Das erste Mal auf der Bühne: ein Ballettabend. Ein Harem, der Sultan und seine Lieblingsfrauen. Sie behielt das Bild in Erinnerung: »Der Sultan lag auf einem Diwan mit vielen exotischen Früchten. Ich war als Mohr geschminkt und gekleidet und musste mit einem großen Fächer die ganze Zeit über Luft zuwedeln.«

Ein anderes Mal Maske in Blau: »Ich musste einen Zeitungsjungen spielen. Immer rufen: ›Gazzetta San Remo, Gazzetta San Remo, Armando Celini preisgekrönt.‹ Mir bereitete es ein großes Vergnügen, alles sehr genau zu machen.« Das hieß: Pina nahm die Tageszeitung Solinger Tageblatt, überklebte den Titel und beschriftete jede einzelne Seite mit »Gazzetta San Remo«. Das konnte zwar keiner sehen, weder auf der Bühne noch im Zuschauer raum, »aber für mich war es unerhört wichtig«. Diese Genauigkeit sollte bleiben, ihr Leben lang.

Eine Zeitlang betrieben Solingen und Wuppertal ein gemeinsames Theater. Wenn eine Aufführung in Wuppertal mit dem Kinderballett anstand, musste Pina nach Wuppertal fahren, immer auch ein Stück mit der Schwebebahn. Hier sah sie die Welt von oben. Blickte in Wohnstuben, wenn die Bahn nicht über die Wupper fuhr, sondern sich in einem Streckenabschnitt durch enge Straßen an den Fenstern der Häuser vorbeidrängte. Ganz großartig habe sie das gefunden, die Leute in ihrem Alltag zu sehen. Diese flüchtigen, schemenhaften Eindrücke aus dem privaten Bereich, Fragmente von Alltagswirklichkeit, waren ebenso phantasieanregend wie die Blicke von unten in der elterlichen Kneipe. Fast schicksalhaft, dass die »Lichtburg« an der Wupper liegt und die Büroräume der Kompanie nur wenige Schritte weiter. Die Schwebebahn fuhr 30 Jahre quasi durch das Büro von Pina Bausch: ganz dicht an den Fenstern vorbei, im Drei- bis Fünf- Minuten-Takt.

Nach Kriegsende wurden, wie in vielen Häusern, amerikanische Soldaten in die Gaststätte einquartiert. Und mit dem Strom der Flüchtlinge kamen auch die Großeltern mütterlicherseits nach Solingen; Pina Bausch sah sie zum ersten Mal. Die Nachkriegsjahre waren auch die Zeit der Hamstertouren – immer zu Fuß. Züge, Straßenbahnen und Busse fuhren noch nicht. Oft gingen die Eltern und Geschwister weite Wege, um Lebensmittel zu organisieren, ein paar Eier, etwas Obst oder Fleisch von Bauernhöfen in naher oder weiterer Umgebung. Wer etwas zum Tauschen hatte, konnte sich glücklich schätzen. So tauschte Vater Bausch einmal zwei Oberbetten, ein Radio und ein paar Stiefel gegen ein Schaf, damit die Familie Milch hatte. Dieses Schaf wurde dann gedeckt – und das kleine Lämmchen nannten die Eltern »Pina«. Eines Tages – es war wohl zu Ostern – wurde das Lämmchen geschlachtet. »Pina« lag als Braten auf dem Tisch. »Ein Schock für mich. Seitdem esse ich kein Lammfleisch.«

Als Pina in die Schule kam, gab es – Nachkriegszeit war Notzeit – keine Schreibtafeln. Also wurde auf irgendwelche Papptafeln geschrieben. Bald gab es Hefte – und Pina machte mit großer Freude Hausaufgaben, vor allem Rechenaufgaben. Nicht das Rechnen selbst war der Spaß, sondern wie die Zahlen, Kästchen und Reihen, sorgfältig und sauber geordnet, auf dem Blatt Papier aussahen. Diese Freude empfand Pina auch beim Schreiben. Es war immer ein Schönschreiben für sie. Die Schulnoten lagen allgemein im Mittelfeld, »aber dann stand immer unten im Zeugnis: ›Anfertigung der schriftlichen Hausarbeiten: sehr gut‹. Warum ich dieses Vergnügen hatte, weiß ich nicht, aber es hatte irgendeine Sinnlichkeit für mich.«

In der Nachkriegszeit war alles knapp, auch Kleiderstoffe und Kinderbekleidung. Und wenn es etwas zu kaufen gab, dann war es meist zu teuer. So hat Mutter Bausch ihren beiden Töchtern Kleider aus Fahnenstoff genäht – den hatte jede Familie. Die Ältere war immer in Schwarz-Gold gekleidet und Pina immer in Rot. Schrecklich fand sie das. Schwierig war es manchmal auch mit den Kleidungsstücken, die ihr ihre Mutter schenkte: etwa eine lange karierte Hose, grüne viereckig-klobige Schuhe und mit zwölf Jahren einen großen Pelzmantel. Das alles wollte Pina nicht anziehen, weil sie nicht auffallen wollte.

Einmal hat ihre Schwester etwas an ihr ausprobieren wollen: Sie machte Pina eine Dauerwelle. »Ich sah furchtbar aus. Ich schämte mich schrecklich. Die Kinder in der Schule lachten mich aus«. Pina ist dann nur noch mit Mütze aus dem Haus gegangen, auch wenn es warm war. Bis die Dauerwelle herausgewachsen war.

Ihre Mutter war für sie eine Frau voller Energie, Lebensund Abenteuerlust sowie ungewöhnlichem Einfallsreichtum. Sie habe sich jedes Jahr auf den Winter gefreut und es geliebt, im Schnee barfuß zu laufen. Sie baute mit ihr Iglus und machte Schneeballschlachten. Und lachte, wenn die Tochter mit Genuss Schnee aß. Die Mutter kletterte auf Bäume und ging in den nahen Wald, um Pilze zu suchen. Die kannte sie alle und bereitete sie wohlschmeckend zu. Obwohl sie keine Ahnung von Technik hatte, gelang es ihr einmal, ein kaputtes Radio auseinander zu nehmen, es zu reparieren und wieder zusammenzusetzen. Sehr zum Erstaunen von Pina. Ihre Reisepläne waren überraschend für die ganze Familie. Einmal wollte sie unbedingt nach England – »zu Scotland Yard«. Selbstverständlich fuhr der Vater mit ihr nach England: »Er erfüllte ihr alle Wünsche. Auch die verrücktesten Ideen.«

Der Vater, so erinnerte sich Pina Bausch, war ein großer stattlicher Mann mit viel Humor und »die Geduld in Person«. Er liebte Geselligkeit und konnte seine Gäste in der Kneipe wunderbar unterhalten. Er stammte aus einer sehr armen Familie im Taunus, hatte mehrere Schwestern und verdiente sein Geld zunächst als Fuhrunternehmer mit Pferd und Wagen. Später kaufte er sich einen Lastzug und fuhr als Fernfahrer durch ganz Deutschland. »Er liebte es, von seinen Fahrten zu erzählen und das Fernfahrerlied laut zu singen mit vielen, vielen Strophen.« Er konnte nicht nur wunderbar singen, sondern auch pfeifen, eine Begabung, die für die Kinder besonders faszinierend war. Die schönste Erinnerung an ihren Vater aber war, dass er nicht ein einziges Mal mit ihr geschimpft hat. »Nur einmal, als es sehr ernst war, hat er nicht ›Pina‹, sondern ›Philippine‹ zu mir gesagt.

Der Vater war nicht nur ungewöhnlich groß, er hatte auch ungewöhnlich große Füße – Schuhgröße 50. Seine Schuhe mussten extra angefertigt werden. Auch die Füße seiner Tochter Pina wurden immer größer. Als sie etwa zwölf Jahre alt war, hatten sie Größe 42. Da bekam sie panische Angst, dass sie noch mehr wachsen könnten und sie deshalb das Tanzen aufgeben müsste. »Ich betete jede Nacht in meinem Bett: ›Lieber Gott, lass meine Füße nicht mehr wachsen‹.« Sie sind nicht mehr gewachsen. Als die Eltern alt wurden, verkauften sie die Gastwirtschaft und bauten sich ein Haus im Taunus, in der Heimat des Vaters. Pina Bausch war dort selten, meist nur in den Ferien. Es gab zwei Klingeln an der Tür. Auf der einen stand »August und Anita Bausch«, auf der anderen »Dozentin Pina Bausch«.