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1.

Die Glocke der Kirche St. Andrews läutete die zweite Morgenstunde. Ihr eherner Klang wirkte irgendwie beruhigend und signalisierte dem einsamen Mann, daß zumindest der Glöckner zu dieser Stunde noch wach war. Jedenfalls in diesem Teil von Plymouth.

Philip Hasard Killigrew tastete nach der Schnittwunde an seinem linken Unterarm. Der Kerl im „Queen’s Hotel“ hätte ihn um ein Haar mit dem Messer erwischt. Das der Mann jetzt vielleicht mit gebrochenem Genick unter dem Hotelfenster lag, sollte seine geringste Sorge sein – Hasard hatte ihn und seinen Kumpan schwungvoll durchs Fenster befördert. Und die schöne Lady, die ihn auf dem Fest von Sir Thomas Doughty umgarnt und ihm gesagt hatte, sie sei eine Lilie, die man pflücken müsse, hatte kreischend zugesehen. Lilienhaft hatte die Dame sich nun wirklich nicht gebärdet.

Philip Hasard Killigrew fluchte still vor sich hin und beschleunigte seine Schritte. Irgend etwas war hier faul, verdammt faul.

Hatte dieser geschniegelte Doughty seine Hände im Spiel? War die hübsche Lady ein Lockkätzchen gewesen? Hatte er, Hasard, ausgeschaltet werden sollen, damit man ungestört über die Ladung der „Isabella von Kastilien“ – seiner Silberprise – herfallen konnte?

Und wer waren die beiden Männer gewesen, die ihn fast in der Kutsche entführt hätten?

Fragen über Fragen, die im Augenblick nicht zu lösen waren. Nur eins stand fest: Hier im Hafen von Plymouth, wohin er die „Isabella“ nach abenteuerlicher Fahrt gesegelt hatte, war sie gefährdeter als im Atlantik. Dort auf der freien See erkannte man einen Feind – hier lauerte er im Dunkel, unberechenbar, unerkannt, unheimlich.

Kapitän John Thomas hätte die Prise übernehmen sollen. Das war die Order von Kapitän Francis Drake gewesen. Aber Kapitän Thomas, der bereits die Prise „Santa Cruz“ nach Plymouth gesegelt hatte, weilte bei seiner Familie in Exeter.

„Mist“, sagte Philip Hasard Killigrew und bog in die Citadel Road ein. Vom Plymouth Sound drang salzige Luft zu ihm, durch die Straßen wehten Nebelschwaden.

Unwillkürlich stoppte Hasard seinen Schritt, als auf einem Dach rechts von ihm der Kampfschrei eines Katers ertönte. Es klang, als greine ein Kind, aber doch war es wilder und erbitteterter. Ein zweiter Kater krakeelte dagegen an, und im Nu tobten die beiden Tiere dort oben im Dunkel fauchend und kreischend umeinander. Krallen kratzten über Ziegel. Knarzen, Zischen und wieder wildes Fauchen, und dann raste die wilde Jagd über die Dächer. Es war wie ein Spuk.

Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Er mußte an die Katze denken, die ihn damals im Oktober in der „Bloody Mary“ vor dem Schlaftrunk Nathaniel Plymsons bewahrt hatte.

Damals!

Jetzt ging es auf den Dezember zu. Die zurückliegenden Wochen waren wie Jahre, prall voller Ereignisse, voll Kampf und Tod und Stürmen. Mit einer Galeone – der „Santa Barbara“ – hatte ihn Kapitän Drake zurück nach Plymouth geschickt. Mit ihr hatte der Seewolf die „Barcelona“ gekapert. Und beide Schiffe hatte er geopfert, um die „Isabella von Kastilien“, die dreißig Tonnen Silber geladen hatte, zu erobern. Und er hatte es geschafft.

Die wilde Reise war zu Ende. Aber die Order Kapitän Drakes war immer noch nicht erfüllt. Und dann waren da noch die spanischen Seekarten der Neuen Welt – ein Schatz, noch kostbarer als die dreißig Tonnen Silber.

Hasard ging wieder schneller, ein großer, geschmeidiger Mann mit breiten Schultern, schmalen Hüften und einem harten, verwegenen Gesicht, das älter wirkte, als er tatsächlich war. Einige nannten ihn einen schwarzhaarigen Teufel. Aber war der Teufel blauäugig? Es waren eisblaue Augen, die aus dem braungebrannten scharfgeschnittenen Gesicht leuchteten – blaufunkelnde Feuer, die jäh intensiv grell werden konnten, wenn der Seewolf kämpfte.

Und kämpfen konnte er, dazu hatte ihn Sir John Killigrew, der alte Freibeuter, erzogen. So erzogen, daß er eines Tages seinem Alten und den drei Brüdern auf der Nase herumtanzte. Da hatte er selbst gemerkt, daß er auf Arwenack nichts mehr zu suchen hatte. Es war ihm zu eng geworden. Mochten sich die Brüder weiter von dem Alten tyrannisieren lassen oder sich gegenseitig belauern, wer was von Arwenack erbte – er hatte die Feste der Killigrews über Falmouth längst hinter sich gelassen.

Eigenartig war nur, wie leicht ihm das gefallen war …

Er bog nach links in die Leigham Street ein, wandte sich zweihundert Schritte weiter nach rechts in die Hoe-Promenade, überquerte die West Hoe Road und gelangte zu den Pieranlagen und Kais der Mill Bay.

Der Nebel war dichter geworden. Dicke Watteschwaden trieben vom Plymouth Sound heran, kalt, naß, salzig. Der Seewolf brauchte keinen Kompaß, er hatte die Richtung im Kopf. Leichtfüßig ging er über die Western Road und stieß genau auf der Pier, an der die „Santa Cruz“ und neben ihr die „Isabella“ lagen. Ihre Masten ragten über die Nebelschwaden hinaus. Ihre Rümpfe mit den Aufbauten der Vor- und Achterkastelle waren nur undeutlich erkennbar.

Nebel dämpfte jegliche Geräusche – das wußte der Seewolf. Oder er verzerrte sie, so daß man nie genau heraushören konnte, aus welcher Richtung sie ertönten. Aber die Stille bei den beiden Galeonen war absolut. Sie wirkten wie Geisterschiffe. Der Posten auf der „Santa Cruz“ hätte ihn längst anrufen müssen. Entweder schlief er, oder er war unter Deck gegangen.

Hasard schloß beide Möglichkeiten aus. Sein Instinkt sagte ihm, daß er mit etwas anderem rechnen mußte.

Hier war Gefahr im Verzug.

Wenn nur der verdammte Nebel nicht wäre. Lautlos glitt er auf der Pier entlang, an der die „Santa Cruz“ mit ihrer Steuerbordseite längsseits vertäut lag. Den Festmachern – dicken Trossen aus Kokostauwerk –, die wie mächtige Fußfallen wirken konnten, wich er geschickt aus. Am Laufsteg, der Pier und Schiff miteinander verband und schräg nach unten zur Kuhl der Galeone führte, verharrte er und lauschte.

Nichts.

Nur das Plätschern und Glucksen des Wassers an den Bordwänden der beiden Galeonen.

Dann teilte sich ein Nebelschwaden und gab den Blick zum Großmast mit den Nagelbänken frei.

Hasard riß die Augen auf.

Da lag ein Mann, lang ausgestreckt. Aus einer Kopfwunde war Blut auf die Planken gesickert und hatte eine dunkle Lache gebildet.

Geduckt schlich Hasard über den Laufsteg. Unter seinem Gewicht knarrte das Holz. Leichtfüßig sprang er auf die Kuhl, federte ab und bewegte sich lautlos zu dem Mann. Einen kurzen Moment kniete er nieder und tastete dessen Puls. Der klopfte noch, wenn auch ziemlich schwach. Die Kopfhaut, wo den Mann ein ziemlicher Schlag erwischt haben mußte, war aufgeplatzt und geschwollen. Hasard stellte es innerhalb von Sekunden fest. Er würde sich später um den bewußtlosen Mann – anscheinend der Wachtposten der „Santa Cruz“ – kümmern. Wichtiger war sein eigenes Schiff.

Leise huschte er zum Schanzkleid an der Backbordseite der „Santa Cruz“. Die brusthohen Holzplanken boten eine hervorragende Deckung über die Länge des gesamten Mitteldecks. Hinter den Backbordwanten zum Großmast richtete er sich vorsichtig auf und spähte zur „Isabella“ hinüber.

Zweierlei sah er: Lichtschein, der aus der Frachtluke der Galeone nach oben drang, und die hingestreckte Gestalt des Kutschers. Er lag neben dem Süll zur Frachtluke.

Hasard fluchte insgeheim.

Und dann entdeckte er den Mann, der hinter der Luke stand und zum Vorkastell lauschte. Aus dem Vorkastell erklangen murmelnde Stimme, zwar gedämpft, aber unverkennbar wütend. Auch ein Rumoren, als würde Holz herumgeschoben, war nicht zu überhören.

Die Situation war ziemlich klar.

Unbekannte hatten die Posten auf der „Santa Cruz“ und den Kutscher auf der „Isabella“ ausgeschaltet und waren in den Frachtraum der „Isabella“ eingedrungen. Und die Männer des Seewolfs waren im Vorkastell eingesperrt und schienen dabei zu sein, einen Ausbruch zu versuchen. Vielleicht montierten sie die massive Platte der Back ab – des Klapptisches, an dem die Backschaften ihre Mahlzeiten im Vordeck einnahmen.

Immerhin etwas, dachte der Seewolf erbittert. Mit so einer Platte konnte man vielleicht das Schott zum Vorkastell einrennen. Wenn kräftige Fäuste die Platte gegen das Schott donnerten, mußte es brechen.

Hasards Blick glitt zu dem lauernden Mann zurück, der sich jetzt in Bewegung setzte und mit vorgehaltener Pistole vier Schritte vor dem Schott stehenblieb.

Und dann feuerte er.

Natürlich blieb die Kugel in dem massiven Eichenholz des Schotts stecken. Hasard hörte die fluchende Stimme Ben Brightons, seines Bootsmanns.

Aus der Luke des Frachtraums tauchte ein Kopf auf.

„Ist was?“ fragte der Mann in der Luke.

„Sie versuchen anscheinend, auszubrechen, diese Hurensöhne“, sagte der Mann mit der Pistole. „Mir wird das hier zu mulmig. Könnt ihr euch nicht etwas beeilen?“

„Halt’s Maul und paß auf!“ fauchte der Mann in der Luke und verschwand wieder.

Der Pistolenmann murmelte etwas Unverständliches – sehr freundlich klang es nicht – und wandte sich wieder dem Schott zu, während er seine Pistole nachlud.

Hasard schwang sich lautlos aufs Schanzkleid. Er sprang hinüber aufs Schanzkleid der „Isabella“, balancierte auf ihm entlang, bis er in die Nähe des Mannes gelangt war, und landete lautlos auf allen vieren auf der Kuhl. Zwei ebenso lautlose Sätze, ein gewispertes „He!“

Als der Mann herumfuhr, explodierte Hasards Faust an seiner Schläfe.

Wo der Seewolf einmal hinschlug, da wuchs kein Gras mehr.

Der Mann hatte nicht mehr die Kraft, zu ächzen. Und sein Seufzer war auch sehr müde. Zugleich knickte er in den Knien ein und kippte vornüber.

Hasard packte ihn noch rechtzeitig am Genick und ließ ihn sachte auf die Planken nieder. Die Pistole steckte er in seinen Gürtel. Hastig durchsuchte er den Mann, fand noch ein Messer und warf es außenbords.

Mit einem Satz war er an der Frachtluke, wuchtete sie hoch, schob sie über die viereckige Öffnung und verkeilte sie. Von innen war sie nicht mehr zu knacken.

Er grinste, als die Kerle im Frachtraum losbrüllten. Eine Faust donnerte innen gegen die Luke.

„Bist du verrückt, Mac?“ brüllte eine Stimme. „Was soll der Quatsch? Du kannst uns hier doch nicht einsperren, du Ochse! Los, mach auf!“

„Mac hat sich schlafen gelegt!“ rief Hasard zurück. „Ihr könnt jetzt auch pennen.“

„Killigrew?“ fragte die Stimme unter der Luke.

„Wer denn sonst“, erwiderte der Seewolf.

Die Flüche unter der Luke waren ziemlich ordinär. Hasard lauschte kopfschüttelnd. Wer die Kerle auch immer sein mochten, als Gentlemen waren sie nicht anzusprechen. Aus der Gattung der Galgenvögel, entschied er und kümmerte sich nicht weiter um sie, denn aus dem Vorkastell dröhnte die Stimme Ben Brightons.

„Das war der Seewolf, Männer! Ich hab seine Stimme ganz deutlich gehört!“

Worauf du dich verlassen kannst, dachte Hasard. Er stieß den Pistolenmann mit dem Fuß an. Der rührte sich nicht. Mit ein paar Schritten war er am Schott zum Vorkastell und entriegelte es. Ben Brighton fiel ihm fast um den Hals.

„Na, na“, sagte Hasard mißbilligend. „Ihr habt euch, scheint’s, ganz schön aufs Kreuz legen lassen.“

Ben Brighton schnaufte. „Nach dem Branderangriff dachte ich, jetzt sei Ruhe …“

„Branderangriff? Bist du verrückt?“ fragte Hasard überrascht.

Seine Männer umringten ihn und redeten durcheinander.

„Nun mal langsam“, sagte Hasard, „eins nach dem anderen. Kümmert euch um den Kutscher und um den Posten drüben auf der „Santa Cruz“. Und fesselt diesen Kerl hier. Die anderen sitzen im Frachtraum fest. Schlagt noch Ketten über der Luke an, falls sie versuchen sollten, auszubrechen. So, Ben, was ist mit dem Branderangriff?“

Der Bootsmann räusperte sich.

„Ferris hat ihn im Alleingang abgewehrt – vor etwa drei Stunden. Das Ding trieb brennend auf uns zu, als er gerade mit dem Beiboot und ein paar Bootsgasten um die „Isabella“ herumpullte, um nachzusehen, ob alles klar sei. Dann entdeckten sie den Brander und pullten wie die Verrückten auf ihn zu. Ferris, dieser arme Irre, enterte alleine auf den brennenden Kasten, schlug mit der Axt die Bootsplanken zu Kleinholz und brachte den Brander zum Absaufen. Er sprang von dem brennenden Schiff, und das Beiboot nahm ihn auf. Und dann soff er sich hier die Hucke voll …“

Hasard blickte sich um und unterbrach ihn: „Wo steckt der Höllenhund?“

„In der „Bloody Mary““, sagte Ben Brighton und schien etwas schuldbewußt. „Ich konnte ihn nicht zurückhalten. Schließlich hatte er sich den Landgang verdient – ich meine, nach allem, was er für die alte „Isabella“ bisher getan hat. Und dann dachte ich, daß für die Nacht eigentlich Ruhe sein müßte. Vor etwa einer Stunde wachte ich von einem Schrei des Kutschers aud. Ich hatte ihn als Posten aufziehen lassen. Bevor ich am Schott war, wurde es dichtgerammelt. Genauso verriegelten sie das Schott zum Galionsdeck. Wir saßen so richtig in der Falle – bis du kamst.“

„Habt ihr feststellen können, wer den Branderangriff gefahren hat?“

Ben Brighton schüttelte den Kopf.

„Als Ferris enterte, war niemand mehr an Bord des Branders.“

Hasard zerbiß einen Fluch. Er blickte seinen Bootsmann vielsagend an.

„Vor etwa einer Stunde versuchten zwei Kerle im Queen’s Hotel, mich ins Jenseits zu befördern. Ihr Lockvogel war eine prächtige Lady.“ Er grinste auf seine Art, vor der es einem Teufel grausen konnte. „In ihrer Suite fielen sie über mich her …“

„Und?“ fragte Ben Brighton bestürzt.

„Sie flogen durchs Fenster auf die Straße“, sagte Hasard.

„Und die Lady?“

„Die schrie, als hätte sie Feuer unter dem Rock, dieses Luder.“

„Doughty“, sagte Ben Brighton. „Dahinter steckt dieser verdammte Doughty. Der hat die Lady auf dich gehetzt, klarer Fall …“

„Das ist irgendwie sinnlos“, unterbrach ihn Hasard und schüttelte den Kopf. „Der Branderangriff! Was ist mit dem Branderangriff? Was hätte Doughty davon gehabt, wenn er gelungen wäre? Die ‚Isabella‘ wäre mit der Silberladung verbrannt und auf Tiefe gegangen. Nein, Ben, da sind andere Zusammenhänge. Doughty, so scheint mir, ist ausschließlich an der Ladung der ‚Isabella‘ interessiert. Und irgend jemand anderes legt es darauf an, die ‚Isabella‘ zu vernichten – und mich auch.“

„Kapier ich nicht“, sagte Ben Brighton ratlos. Er nickte zur Frachtluke hin. „Und die Kerle dort?“

Hasard zuckte mit den Schultern.

„Wir lassen sie schmoren.“ Er überlegte einen Moment. Dann sagte er: „Ferris ist in der ‚Bloody Mary‘?“

Ben Brighton nickte.

„Als er loszog, hatte er schon ganz schön einen sitzen. Er sagte, er wolle beim dicken Plymson einen auf die Pauke hauen.“

Hasard seufzte. „Auch das noch. Ist jemand von unseren Männern bei ihm?“ Er blickte sich um. „Wo steckt Dan O’Flynn?“

Ben Brighton trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

„Der ist auch dabei – und Smoky sowie Lewis Pattern. Hätte ich sie zurückhalten sollen? Sie hatten Freiwache. Du hattest jeweils vier Männern von der Besatzung den Landurlaub freigegeben.“

„Schon gut, Ben. Ich reiß dir ja nicht den Kopf ab. Aber inzwischen ist mir klar geworden, daß Plymouth für die ‚Isabella‘ und uns kein sehr friedlicher Hafen ist. Seit wir eingelaufen sind, passiert mir hier zuviel.“ Er blickte zur Luke hinüber, wo sich Blacky um den Kutscher bemühte. „Moment, Ben, wir sprechen gleich weiter.“

Blacky richtete den Koch der Crew auf und stützte ihm das Kreuz. Der Kutscher schielte ziemlich unglücklich zu Hasard hoch.

Hasard grinste und kniete nieder. Mit flinken Fingern untersuchte er die Kopfwunde. Es war wie bei dem Posten drüben auf der „Santa Cruz“ – die Haut war geplatzt, die Schlagstelle verschwollen.

Hasard grinste immer noch.

„Soll ich dich zu Sir Freemont bringen lassen?“

Bei Sir Freemont – einem Arzt in Plymouth – war der blessierte Mann angestellt gewesen, bevor er mit Gewalt auf Drakes „Marygold“ rekrutiert worden war. Hasard hatte ihn dann in seine Crew übernommen. Sie nannten ihn alle den „Kutscher“, weil er nie seinen Namen gesagt hatte. Zuerst hatte er die Seefahrt verflucht, aber allmählich waren ihm Seebeine gewachsen, und er hatte eine Aufgabe, die von ihm hingebungsvoll wahrgenommen worden war. Über schlechten Fraß hatte sich jedenfalls noch keiner der Männer des Seewolfs beklagt.

Jetzt blickte er fast entsetzt zu Hasard hoch und geriet ins Stottern.

„Willst – willst du mich wegschicken, Sir?“

Auch Blacky, der sich zu einer Art Beschützer für den Kutscher ernannt hatte, sah ziemlich betreten aus. Er war ein kräftiger Kerl mit harten Fäusten. Wer seinen Kutscher attackierte, kriegte es mit ihm zu tun – wie Donegal Daniel O’Flynn, der ständige Raubzüge auf die Kombüse unternahm, um etwas gegen seinen unstillbaren Hunger zu tun.

Hasard lächelte die beiden an.

„Aber nein, wer spricht denn von wegschlicken? Ich meine nur, daß dich Sir Freemont vielleicht verarzten sollte.“

Der Kutscher stützte sich auf Blacky und stand mit wackligen Knien auf.

„Mach ich selbst“, sagte er und versuchte, sehr tapfer auszusehen.

„Ich regle das“, sagte Blacky sehr resolut. „Ich wasch ihm die Rübe und verbinde sie. Einen ordentlichen Verband kriegt er verpaßt, das verspreche ich dir, Sir.“

In Hasard stieg leise Wut hoch. Immer wieder dieses verdammte „Sir“. Er konnte das nicht mehr hören. Gut, sie hatten ihn als Kapitän anerkannt, aber auf „Sir“ konnte er verzichten.

Er funkelte den Kutscher an. Irgendein Ventil brauchte er.

„Deine Wunde ist am Hinterkopf, Kutscher. Wo hast du gestanden, als du sie verpaßt kriegtest?“

Der Kutscher schrumpfte wieder zusammen. Mit einer schwachen Handbewegung deutete er zur Nagelbank des Großmastes. „Da.“

„Hab ich mir gedacht“, sagte der Seewolf bissig. „Stell dich das nächstemal so hin, daß dich keiner von hinten anfallen kann. Diese Regel gilt für jeden Kampf, verdammt noch mal. Außerdem – hast du nicht gehört, wie sie den Posten auf der ‚Santa Cruz‘ flachgelegt haben?“

„Nein, da – da war es schon zu spät. Ich hörte zwar was, aber im selben Moment explodierte mein Kopf.“

Batuti, der schwarze Herkules, rückte heran und zeigte sein weißes Gebiß. Seine rechte Pranke hielt den bewußtlosen Pistolenmann am Genick gepackt. Der Kerl hing wie leblos in seiner Faust. Batuti schlenkerte ihn wie eine Stoffpuppe.

„Wohin mit dem Bastard?“ fragte er.

„Sperr ihn in die Vorpiek und schnür ihn ordentlich zusammen, klar?“

„Wie Paket?“

„Wie Paket“, sagte Hasard.

Batuti nickte, fletschte die Zähne und verschwand zum Vordeck. Den bewußtlosen Mann hielt er mühelos leicht von sich abgespreizt. Hasard blickte ihm nach und sah den geschmeidigen Gang des Negers. Der wiegt zehn Bullen auf, dachte er. Dann nickte er Blacky zu.

„Verarzte den Kutscher. Dann halte dich klar. Wir gehen noch einmal an Land. Du, Batuti und Pete. Sag ihnen Bescheid.“

„Aye, aye.“

Blacky schleppte den Kutscher in die Kombüse. Kurz darauf flammte dort Licht auf.

Ben Brighton trat auf Hasard zu.

„Was hast du vor?“

„Sofort auszulaufen“, erwiderte Hasard. „In diesem stinkigen Hafen bleibe ich keine Minute länger, als nötig ist. Gib an die Männer Waffen aus, Ben. Dann möchte ich, daß die ‚Isabella‘ seeklar gemacht wird. Inzwischen hole ich Ferris und die drei anderen aus der ‚Bloody Mary‘. Batuti, Blacky und Pete werden mich begleiten. Sobald wir sie an Bord verfrachtet haben, verlassen wir Plymouth.“

„Und wohin?“

„Nach Falmouth.“ Hasard räusperte sich. „Mein Alter ist zwar ein krummer Hund und meint, ich sei der Enkel von des Teufels Großmutter, aber wenn ich irgendwo Schutz finde, dann im Hafen der Killigrews. Wenn der Alte hört, daß mir eine Prise von Kapitän Drake untersteht, kriegt er sowieso einen Schlaganfall.“ Hasard grinste. „Vor Francis Drake hat er einen unheimlichen Respekt. Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich freue, sein dämliches Gesicht zu sehen, wenn wir einlaufen.“

„Hm“, sagte Ben Brighton. „Und was ist mit Kapitän Thomas? Sollten wir ihn nicht benachrichtigen, daß wir nach Falmouth ausgelaufen sind?“

„Nein“, entschied Hasard. „Wir brauchen jeden Mann hier an Bord, Ben. Außerdem will ich nicht, daß irgend jemand erfährt, wohin wir die ‚Isabella‘ bringen. Unsere unbekannten Gegner könnten einen Boten abfangen und ihn zu einer Aussage zwingen. Soll ich ein solches Risiko eingehen? Niemals. Wir können Kapitän Thomas auch von Falmouth aus benachrichtigen. Die Nachricht dauert dann eben etwas länger als von hier aus. Jedenfalls halte ich es für das Richtigste, aus Plympouth so schnell wie möglich zu verschwinden – und zwar für alle mit unbekanntem Ziel. Nur so haben wir eine Chance, die Silberladung entweder Kapitän Thomas oder Kapitän Drake unbeschadet zu übergeben.“

„In Ordnung“, sagte Ben Brighton. „Ich glaube, diese Entscheidung ist richtig. Gut, ich werde inzwischen die alte Tante ‚Isabella‘ seeklar machen zu lassen. An sich brauchten wir nur noch Proviant und Trinkwasser, aber das können wir auch noch in Falmouth erledigen.“

„Das holen wir uns beim alten John“, sagte Hasard, und so wie er es sagte, klang es ganz danach, als habe der Seewolf vor, den Alten ordentlich zu rupfen, natürlich, ohne einen Pence dafür zu bezahlen.

Ben Brighton grinste.

„Du reibst dich wohl gern an dem alten Sir John, wie?“

„Und ob. Lern ihn erst mal kennen, diesen alten Gauner. Er ist geizig, tyrannisch und mit hundert schmutzigen Wassern gewaschen.“

„Hoffentlich probiert er diese schmutzigen Wasser nicht bei uns aus“, sagte Ben Brighton skeptisch.

„Keine Sorge“ – der Seewolf kniff ein Auge zu –, „ich habe bei ihm gelernt, Ben!“

2.

Eine Viertelstunde später zogen die vier Männer los. Hasard schärfte Ben Brighton noch einmal ein, niemanden an Bord zu lassen, die „Isabella“ wie eine Festung zu bewachen und vor allem auf die Kerle im Frachtraum aufzupassen. Die hatten anfangs noch Lärm geschlagen und gedroht, das verdammte Schiff anzubohren, aber da hatte ihnen der Seewolf seelenruhig erklärt, das sollten sie getrost tun – wenn sie Lust hätten, abzusaufen. Er jedenfalls würde keinen Finger krümmen, sie herauszuholen. Von da an war Ruhe im Frachtraum gewesen.

Der riesige Batuti, den nur noch Philip Hasard Killigrew überragte, der breitschultrige Blacky, der Draufgänger Pete Ballie, Rudergänger an Bord der „Isabella“, der Fäuste so groß wie Ankerklüsen hatte, und schließlich der Seewolf. Diese vier Männer würden – wild genug waren sie – die Hölle mit einem Eimer Wasser angreifen. Das war keine leere Redensart. Sie alle konnten kämpfen, sie hatten es mehr als einmal bewiesen. Die See spuckte nur die Lauen aus und spülte sie wieder an Land – wenn überhaupt. Wen die See aber nicht zerschlagen hatte, den konnte überhaupt nichts zerschlagen. Die See war das Maß, Männer auf die Probe zu stellen. Jeder einzelne von ihnen war mehr als einmal auf die Probe gestellt worden – und hatte bestanden.