Sam Eastland

Roter Zar

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Sam Eastland

Sam Eastland ist das Pseudonym des amerikanischen Schriftstellers Paul Watkins, geboren 1964, der sich auch mit literarischen Werken einen Namen gemacht hat. Seinen ersten Roman veröffentlichte er im Alter von sechzehn Jahren. Mit seiner Familie lebt er in Hightstown, New Jersey.

Weitere Informationen unter www.inspectorpekkala.com

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Knaur Taschenbuch

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Claudia Alt

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: trevillion images, © Lee Avison / FinePic®, München

ISBN 978-3-426-41664-8

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


Noch mehr eBook-Programmhighlights & Aktionen finden Sie auf
www.droemer-knaur.de/ebooks.


Sie wollen über spannende Neuerscheinungen aus Ihrem Lieblingsgenre auf dem Laufenden gehalten werden? Abonnieren Sie hier unseren Newsletter.


Sie wollen selbst Autor werden? Publizieren Sie Ihre eBooks auf unserer Akquise-Plattform www.neobooks.com und werden Sie von Droemer Knaur oder Rowohlt als Verlagsautor entdeckt. Auf eBook-Leser warten viele neue Autorentalente.


Wir freuen uns auf Sie!

P. R. gewidmet

Prolog

Durch einen Schleier aus Blut sah der Zar, wie der Mann nachlud. Leere Patronenhülsen fielen aus der Revolvertrommel und landeten klirrend neben ihm auf dem Boden. Röchelnd atmete er ein und spürte die feinen Bläschen, die aus seiner zerschossenen Lunge schäumten.

Der Mann ging neben ihm in die Hocke. »Siehst du das?« Er packte den Zaren am Kinn und drehte ihm den Kopf von der einen Seite zur anderen. »Siehst du, was du dir eingebrockt hast?«

Der Zar sah nichts mehr, sein Blick hatte sich eingetrübt. Aber er wusste, dass auch seine Familie hier lag. Seine Frau. Seine Kinder.

»Mach schon«, sagte er zu dem Mann. »Erledige mich!«

Der Zar spürte, wie der andere ihm mit klebrigen, blutverschmierten Fingern das Gesicht tätschelte.

»Du bist schon erledigt«, sagte der Mann. Danach war das schwache Klicken der neuen Patronen zu hören, die in die Trommel gesteckt wurden.

Kurz darauf hörte der Zar weitere ohrenbetäubende Explosionen. »Meine Familie«, wollte er schreien, aber er keuchte nur noch. Er konnte ihnen nicht mehr helfen. Er konnte noch nicht einmal mehr den Arm heben, um sich selbst zu schützen.

Dann wurde er über den Boden geschleift.

Ächzend schaffte der Mörder ihn die Treppe hinauf und fluchte, als sich die Stiefelabsätze des Zaren auf jeder Stufe einhakten.

Draußen war es finster.

Der Zar spürte Regentropfen auf dem Gesicht. Kurz darauf hörte er, wie Leichen neben ihn geworfen wurden. Die leblosen Schädel knackten, als sie auf den steinigen Untergrund schlugen.

Ein Motor wurde angelassen. Ein Lastwagen. Quietschende Bremsen, dann eine Bordwand, die man herunterließ. Die Leichen wurden auf die Ladefläche geworfen. Dann der Zar, der auf den Toten landete. Die Bordwand wurde geschlossen.

Die Schmerzen in der Brust wurden schlimmer, als sich der Lastwagen in Bewegung setzte. Jeder Stoß auf der von Schlaglöchern übersäten Straße riss seine Wunden weiter auf. Die Schmerzen waren wie rings um ihn niedergehende Blitze in der Dunkelheit.

Plötzlich ließen die Schmerzen nach. Schwärze schien ihm wie eine Flüssigkeit durch die Augen zu sickern und ertränkte seine Ängste, seine Wünsche, seine Erinnerungen, bis nichts mehr da war außer einer bebenden Leere, in der alles ausgelöscht wurde …

Sibirien, 1929

Mit einem Aufschrei fuhr er hoch.

Er war allein im Wald.

Wieder hatte der Traum ihn aus dem Schlaf gerissen.

Er schlug die alte, taufeuchte Pferdedecke zurück. Steif richtete er sich auf, sah blinzelnd in den Morgennebel und die schräg zwischen den Bäumen einfallenden Sonnenstrahlen. Er rollte die Decke zusammen, schnürte die Enden mit einem Lederriemen fest und schulterte sie, so dass sie ihm über den Rücken und die Brust fiel. Er nahm ein verschrumpeltes Stück Räucherfleisch aus der Tasche und kaute langsam, lauschte auf das Rascheln der Mäuse unter dem Laubteppich, die zeternden Vögel in den Ästen und den Wind, der durch die Kiefern strich.

Er war groß, breitschultrig, hatte eine schiefe, mehrfach gebrochene Nase und kräftige, weiße Zähne. Seine Augen waren grünlich braun, die Iris hatte etwas seltsam Silbriges an sich, was anderen nur auffiel, wenn er ihnen direkt in die Augen sah. Vorzeitig ergraute Strähnen zogen sich durch die langen, schwarzen Haare, auf den wettergegerbten Wangen wucherte ein Vollbart.

Er hatte keinen Namen mehr. Er war nur noch der Gefangene 4745-P aus dem Arbeitslager Borodok.

Kurz darauf war er unterwegs, durchquerte ein Kieferngehölz und näherte sich auf leicht abschüssigem Gelände einem Bach. Er stützte sich auf einen kräftigen Knüppel, einen knorrigen Wurzelstock, aus dem Hufnägel mit Vierkantköpfen ragten. Sonst hatte er nur noch einen Eimer mit roter Farbe bei sich. Damit markierte er die Bäume, die von den Lagerinsassen gefällt würden – das war ihre Arbeit, das Holzfällen im Wald von Krasnagoljana. Er benutzte dafür keinen Pinsel, sondern hielt nur die Hand in die rote Farbe und hinterließ seinen Abdruck auf den Stämmen. Diese Abdrücke waren alles, was die anderen Insassen von ihm zu sehen bekamen.

Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Baummarkierers im Wald von Krasnagoljana betrug ein halbes Jahr. Diese Männer arbeiteten allein, fernab von anderen Menschen und ohne die geringste Fluchtmöglichkeit; sie erfroren oder verhungerten oder starben an Einsamkeit. Wer sich verirrte, wer stürzte und sich dabei ein Bein brach, fiel meist den Wölfen zum Opfer. Bäumemarkieren war die einzige Tätigkeit in Borodok, die noch gefürchteter war als die Todesstrafe.

Der Gefangene 4745-P, im neunten Jahr seiner dreißigjährigen Strafe, zu der er wegen Verbrechen gegen den Staat verurteilt worden war, hatte länger durchgehalten als jeder andere Baummarkierer im Gulag. Gleich nach seiner Ankunft in Borodok hatte der Lagerleiter ihn in die Wälder geschickt, aus Furcht, die anderen Insassen könnten seine wahre Identität herausfinden. Jeder ging davon aus, dass er nach einem Jahr tot sein würde.

Dreimal im Jahr wurden ihm am Ende eines Waldwegs Nahrungsmittel und andere Güter abgestellt. Petroleum, Dosenfleisch, Nägel. Um alles andere musste er sich selbst kümmern. Nur selten wurde er von den Holzfällern in den Wäldern gesichtet. Was sie erhaschten, war ein Wesen, das mit einem Menschen kaum mehr etwas gemein hatte. In seiner mit roter Farbe verkrusteten Gefängniskleidung, mit seinen langen Zottelhaaren glich er eher einem wilden Tier, dem das Fell abgezogen worden war und das man zum Sterben hatte liegen lassen – und das es trotzdem irgendwie geschafft hatte, zu überleben. Wilde Gerüchte umgaben ihn: Er esse Menschenfleisch, er trage einen Brustpanzer aus den Knochen derer, die in den Wäldern verschwunden waren, er habe eine Mütze aus zusammengenähten Skalps.

Sie nannten ihn den Mann mit den blutigen Händen. Keiner außer dem Kommandanten von Borodok wusste, woher dieser Gefangene gekommen oder wer er früher gewesen war.

Die gleichen Männer, die eine Heidenangst davor hatten, ihm über den Weg zu laufen, hatten nicht die geringste Ahnung, dass er Pekkala war – dessen Namen sie einst angerufen hatten wie ihre Vorfahren die Götter.

Er watete durch den Bach, stieg aus dem kalten, hüfthohen Wasser und verschwand zwischen den weißen Birken auf der anderen Uferseite.

Zwischen den Bäumen verborgen lag eine halb in den Boden gegrabene Erdhütte, eine Semljanka. Pekkala hatte sie eigenhändig errichtet. Dort drinnen überstand er die sibirischen Winter, an denen das Schlimmste nicht die Kälte war, sondern die Stille – eine Stille, so vollkommen, dass sie einen ganz eigenen, zischenden, rauschenden Klang zu haben schien.

Pekkala näherte sich der Hütte, blieb stehen und schnupperte angespannt. Er stand nun völlig reglos, wie ein Reiher im Wasser, während seine nackten Füße im moosigen Untergrund einsanken.

Er hielt den Atem an.

Auf dem Baumstumpf am Rand der Lichtung saß mit dem Rücken zu ihm ein Mann. Er trug eine olivbraune Uniform mit kniehohen schwarzen Stiefeln. Er war kein gewöhnlicher Soldat. Seine Uniform glänzte seidig wie Gabardine, sie war nicht aus dem kratzigen Stoff, den die Männer von der örtlichen Kaserne trugen, die bei ihren Patrouillen manchmal bis zum Ende des Weges kamen, aber niemals so tief im Wald auftauchten.

Er schien sich weder verirrt zu haben, noch schien er bewaffnet zu sein. Zumindest konnte Pekkala keine Waffe erkennen. Er hatte lediglich eine Aktentasche mitgebracht. Sie war von guter Qualität, mit glänzenden Messingschnallen, die hier im Wald völlig fehl am Platz wirkten. Der junge Mann schien zu warten.

In den folgenden Stunden, während die Sonne über die Baumwipfel stieg und der Geruch des Kiefernharzes die Luft erfüllte, betrachtete Pekkala den Fremden, prägte sich ein, wie er den Kopf neigte, wie er die Beine übereinanderschlug und wieder löste, wie er sich räusperte, um den Blütenstaub im Rachen loszuwerden. Einmal erhob er sich, ging auf der Lichtung umher und schlug hektisch nach den Mücken. Als er sich umdrehte, sah Pekkala die rosigen Wangen eines jungen Mannes, der kaum älter als zwanzig sein konnte. Er war von schmächtiger Statur, mit dünnen Beinen und zarten Händen.

Unwillkürlich musste Pekkala sie mit seinen eigenen schwieligen Händen vergleichen, seinen schorfigen, aufgerissenen Knöcheln und muskulösen Beinen.

Pekkala bemerkte den roten Stern, der jeweils auf dem Unterarm seiner Gymnastiorka, des Waffenrocks, aufgenäht war. Der Fremde hatte also den Rang eines Kommissars inne; er war Politoffizier der Roten Armee.

Den ganzen Tag wartete der Kommissar auf der Lichtung, gequält von Insekten, bis das letzte Tageslicht verschwunden war. In der Dämmerung zog er eine langstielige Pfeife heraus und stopfte sie mit Tabak aus einem Beutel, den er um den Hals trug. Er entzündete sie mit einem Messingfeuerzeug, paffte zufrieden vor sich hin und hielt damit die Mücken auf Abstand.

Langsam atmete Pekkala ein. Der würzige Tabakgeruch überflutete seine Sinne. Er sah, wie der junge Mann häufig die Pfeife aus dem Mund nahm, sie betrachtete und sich daraufhin wieder zwischen die Zähne schob, was mit einem leisen Klacken einherging, als würde ein Schlüssel in einem Schloss umgedreht.

Er hatte die Pfeife noch nicht lange, mutmaßte Pekkala. Er zog die Pfeife den Zigaretten vor, weil er glaubte, er würde dadurch älter wirken.

Hin und wieder sah der Kommissar auf die roten Sterne an den Unterarmen, als erstaunte ihn ihr Anblick. Wahrscheinlich lag seine Beförderung noch nicht lange zurück.

Je mehr er über diesen Mann erfuhr, umso weniger erschloss sich Pekkala, was dieser im Wald tat. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass ihm der Kommissar sogar so etwas wie Bewunderung abnötigte: Er drang nicht in seine Hütte ein, sondern blieb eisern auf dem harten Baumstumpf sitzen.

Die Nacht brach herein, Pekkala lehnte sich gegen einen Baum, hielt sich die Hände vor den Mund und wärmte sie mit seinem Atem, merkte, wie er schläfrig wurde, wie er mit einem Ruck erwachte und feststellte, dass Nebel aufgezogen war, der den Geruch von totem Laub und Erde mit sich gebracht hatte.

Er sah zur Hütte. Der Kommissar hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Mit verschränkten Armen saß er auf dem Stumpf, das Kinn ruhte auf der Brust. Seine leisen Schnarchgeräusche hallten über die Lichtung.

Am Morgen wird er fort sein, dachte sich Pekkala. Er zog den ausgefransten Kragen seines Mantels hoch und schloss erneut die Augen.

Am Morgen allerdings, stellte Pekkala überrascht fest, war der Kommissar immer noch da. Er war von seinem Baumstumpf gefallen und lag auf dem Rücken, ein Bein ruhte noch auf dem Stumpf, als wäre er eine von ihrem Podest gestürzte Statue in Siegerpose.

Jetzt, dachte sich Pekkala, wird er hoffentlich bald zu Verstand kommen und mich in Ruhe lassen.

Der Kommissar erhob sich, griff sich mit den Händen in den Rücken und stöhnte. Und plötzlich drehte er sich um und starrte unumwunden zu der Stelle, wo Pekkala sich versteckte. »Kommen Sie jetzt endlich da raus?«, rief er.

Pekkala war, als wäre ihm Sand ins Gesicht geworfen worden. Zögernd trat er aus dem Schutz des Baumes und stützte sich auf seinen nagelbewehrten Stock. »Was wollen Sie?« Er sprach so selten, dass sich seine Stimme in seinen Ohren fremd anhörte.

Die roten Beulen im Gesicht des Kommissars zeigten deutlich, wo die Mücken ihn gestochen hatten. »Sie sollen mit mir kommen«, sagte er.

»Warum?«, fragte Pekkala.

»Wenn Sie gehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe, werden Sie freiwillig mitkommen.«

»Sie geben sich sehr optimistisch, Kommissar.«

»Die Leute, die mich geschickt haben …«

»Wer hat Sie geschickt?«

»Sie werden Sie früh genug kennenlernen.«

»Und haben Ihnen diese Leute auch gesagt, wer ich bin?«

Der junge Kommissar zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur, dass Ihr Name Pekkala lautet und dass Ihre wie auch immer gearteten Fertigkeiten jetzt anderweitig vonnöten sind.« Er sah sich auf der fahlen Lichtung um. »Ich hätte mir gedacht, Sie würden vor Freude in die Luft springen, wenn Sie von diesem gottverlassenen Ort fortkönnten.«

»Sie und Ihre Leute haben Gott verlassen.«

Der Kommissar lächelte. »Man sagte mir, Sie seien ein schwieriger Mensch.«

»Man scheint mich zu kennen«, erwiderte Pekkala. »Wer immer diese Leute auch sind.«

»Man sagte mir auch«, fuhr der Kommissar fort, »dass Sie mich wahrscheinlich töten, bevor ich Sie überhaupt zu Gesicht bekommen habe, falls ich mit einer Waffe hier aufkreuze.« Der Kommissar hob die offenen Hände. »Wie Sie sehen, habe ich mich an diesen Ratschlag gehalten.«

Pekkala trat auf die Lichtung. In seinen zusammengeflickten Lumpen ragte er wie ein prähistorischer Riese über dem herausgeputzten Kommissar auf. Zum ersten Mal seit Jahren wurde ihm der Geruch seines ungewaschenen Körpers bewusst. »Wie heißen Sie?«, fragte Pekkala.

»Kirow.« Der junge Mann streckte den Rücken durch. »Kommissar Kirow.«

»Und wie lange sind Sie schon Kommissar?«

»Einen Monat und zwei Tage.« Leise fügte er hinzu: »Heute eingeschlossen.«

»Wie alt sind Sie?«, fragte Pekkala.

»Fast zwanzig.«

»Leutnant Kirow, Sie müssen jemanden ziemlich verärgert haben, wenn Sie mit der Aufgabe betraut wurden, mich zu holen.«

Der Kommissar kratzte sich an den Mückenstichen. »Sie müssen selbst ein paar Leute ziemlich verärgert haben, sonst wären Sie nicht in Sibirien gelandet.«

»Gut, Leutnant Kirow«, sagte Pekkala. »Sie haben Ihre Botschaft überbracht. Jetzt können Sie wieder nach Hause gehen und mich allein lassen.«

»Man wies mich an, Ihnen das hier zu geben.« Kirow hob die Aktentasche neben dem Baumstumpf auf.

»Was ist da drin?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Pekkala packte den Ledergriff. Die Tasche war schwerer als erwartet.

Der junge Kommissar drehte sich um. »Sie haben Zeit bis morgen zum Sonnenuntergang. Am Ende des Weges wartet ein Wagen auf Sie.«

Pekkala sah Kirow nach, der den Weg zurückging, den er gekommen war. Lange hörte er noch das Knacken der Zweige. Irgendwann war es still, und Pekkala war wieder allein.

Mit der Aktentasche trat er in seine Erdhütte, setzte sich auf die mit Kiefernnadeln gefüllten Säcke, auf denen er schlief, und legte sich die Aktentasche auf die Knie. Der Inhalt rutschte schwer in der Tasche hin und her. Pekkala löste die beiden Messingschnallen.

Als er den Deckel anhob, schlug ihm durchdringender Schimmelgeruch entgegen.

Darin lag ein schwerer Ledergürtel, der um ein dunkelbraunes Holster mit einem Revolver gewickelt war. Er löste den Gürtel und nahm die Waffe: ein englischer Webley-Revolver in gewöhnlicher Militärausführung, nur dass der Griff nicht aus Holz, sondern aus Messing gefertigt war.

Pekkala hielt ihn am gestreckten Arm vor sich und visierte an. Das bläuliche Metall schimmerte im schwachen Licht der Hütte.

In der Ecke der Aktentasche lag eine Munitionsschachtel mit englischer Beschriftung. Er riss den altersschwachen Pappkarton auf und klappte den Rahmen des Revolvers nach oben, so dass die sechs Patronenkammern offen vor ihm lagen. Die Munition war so alt wie der Revolver; Pekkala wischte die Patronen ab, bevor er sie in die Kammern schob.

Daneben fand sich in der Tasche ein zerschlissenes Buch. Auf dem runzligen Rücken stand nur ein einziges Wort: Kalevala.

Er legte die Sachen zur Seite und fand als Nächstes einen kleinen, von einem dünnen Lederriemen zusammengebundenen Baumwollbeutel. Er löste das Band und leerte den Beutel.

Beim Anblick des Inhalts schnappte er nach Luft.

Vor ihm lag eine schwere Goldscheibe, deren Durchmesser so groß war wie sein kleiner Finger. In der Mitte befand sich eine ovale weiße Emaille-Einlage, in der wiederum ein großer runder Smaragd saß. Zusammen ergaben die Goldscheibe, das ovale weiße Emaille und der Smaragd die unverkennbare Gestalt eines Auges. Pekkala strich mit dem Finger über die Scheibe und ertastete wie ein Blinder die sanfte Erhebung des Edelsteins.

Damit wusste er, wer nach ihm geschickt hatte; es war ein Aufruf, dem er sich nicht widersetzen konnte. Er hatte nicht erwartet, diese Dinge noch einmal in seinem Leben zu sehen.

Bis zu diesem Augenblick hatte er gedacht, sie gehörten zu einer Welt, die es nicht mehr gab.

Er wurde in Finnland geboren, damals, als das Land noch zum Russischen Reich gehörte. Er wuchs in der Nähe der Stadt Lappeenranta inmitten tiefer Wälder und zahlloser Seen auf.

Sein Vater war Leichenbestatter, der einzige in der Gegend. Im Umkreis von vielen Kilometern brachten die Menschen ihre Toten zu ihm. Sie mühten sich über Waldwege, brachten die Leichname auf klapprigen Karren oder schafften sie im Winter auf Schlitten über die gefrorenen Seen, so dass die Leichen bei ihrer Ankunft hart waren wie Stein.

Im Schrank seines Vaters hingen drei gleiche schwarze Röcke, dazu drei passende schwarze Hosen. Selbst die Handschuhe waren schwarz. Und er duldete unter keinen Umständen, dass irgendetwas an seiner Kleidung metallisch glänzte. So waren die Messingknöpfe an den Röcken durch Knöpfe aus Ebenholz ersetzt. Er lächelte selten, und wenn er es tat, legte er die Hand vor den Mund wie jemand, der sich seiner Zähne schämte. Sorgfältig pflegte er seine Trübsinnigkeit, die sein Beruf seiner Ansicht nach von ihm verlangte.

Seine Mutter stammte aus der lappländischen Stadt Rovaniemi. Eine Rastlosigkeit trieb sie um, die nie nachließ. Immer hatte es den Anschein, als spürte sie ein seltsames Zittern der Erde, von dem sie glaubte, sie hätte es am Polarkreis, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, hinter sich gelassen.

Er hatte einen älteren Bruder, Anton, der auf Wunsch ihres Vaters mit achtzehn Jahren nach Petrograd abreiste, um sich zum Finnischen Garderegiment des Zaren zu melden. Für Pekkalas Vater gab es keine größere Ehre, als in dieser zur zaristischen Leibgarde gehörenden Eliteeinheit zu dienen.

Als Anton den Zug bestieg, weinte sein Vater vor Stolz und trocknete sich mit seinem schwarzen Taschentuch die Augen. Seine Mutter war wie betäubt und schien kaum zu begreifen, dass ihr Kind weggeschickt wurde.

Anton beugte sich aus dem Fenster des Eisenbahnwaggons, er hatte die Haare ordentlich gekämmt, und ihm war deutlich anzusehen, wie sehr er hin- und hergerissen war zwischen seinem Wunsch, zu bleiben, und dem Wissen, dass er fortmusste.

Der damals erst sechzehnjährige Pekkala, der mit seinen Eltern auf dem Bahnsteig stand, spürte da bereits die Abwesenheit seines Bruders, als wäre er schon lange fort.

Als der Zug außer Sichtweite war, legte Pekkalas Vater den Arm um seine Frau und seinen Sohn. »Das ist ein großer Tag«, sagte er mit tränengeröteten Augen. »Ein großer Tag für unsere Familie.«

In der Folgezeit vergaß sein Vater bei seinen Gängen durch die Stadt nie zu erwähnen, dass Anton bald zum Finnischen Garderegiment gehören würde.

Pekkala als der jüngere Sohn hatte immer gewusst, dass er zu Hause bleiben und als Lehrling seinem Vater dienen würde. Und irgendwann würde er das Familiengewerbe übernehmen. Pekkala eignete sich die ruhige Zurückhaltung seines Vaters an, während er ihn bei dessen Arbeit unterstützte, und alles ging Pekkala ganz selbstverständlich von der Hand – das Ableiten der Flüssigkeiten, ihre Ersetzung durch Konservierungsmittel, das Ankleiden, das Herrichten der Haare, das Einsetzen von Nadeln und das Modellieren des Gesichts, damit der Leichnam friedlich und entspannt aussah.

Auf diesen friedlichen Gesichtsausdruck legte sein Vater größten Wert. Eine Aura der Ruhe müsse den Toten umgeben, so, als heiße er den nächsten Abschnitt seines Daseins willkommen. Ein schlecht präparierter Leichnam könne sorgengeplagt oder verängstigt aussehen oder, schlimmer noch, gar nicht mehr der Person gleichen, die er einst gewesen war.

Pekkala faszinierte es, dass er an den Händen und Gesichtern der Toten ablesen konnte, wie sie ihr Leben verbracht hatten. Wie Kleidungsstücke verrieten ihre Körper, ob die Betreffenden pfleglich mit ihnen umgegangen waren oder sie vernachlässigt hatten. An der Hand eines Lehrers spürte er den Höcker am Mittelfinger, wo der Füllfederhalter aufgelegen hatte. Die Hände eines Fischers waren überzogen mit Schwielen und vernarbten Schnittwunden, die die Haut wie ein zerknülltes Blatt Papier aussehen ließen. Falten um Augen und Mund wiesen darauf hin, ob es sich eher um einen optimistischen oder pessimistischen Menschen gehandelt hatte. Die Toten hatten für Pekkala nichts Erschreckendes an sich, sie waren nur ein Rätsel, das es zu lösen galt.

Die Arbeit eines Leichenbestatters konnte man nicht unbedingt als angenehm bezeichnen, es war keine Arbeit, von der man sagen konnte, dass man sie liebte. Aber ihm gefiel, wie bedeutsam sie war. Nicht jeder war für sie geschaffen, und dennoch musste sie getan werden. Sie war notwendig, nicht nur für die Toten, sondern auch für die Hinterbliebenen und deren Erinnerung.

Seine Mutter war anderer Meinung. Nie ließ sie sich im Keller blicken, wo die Toten hergerichtet wurden. Sie blieb immer auf halber Höhe der Treppe stehen, wenn sie eine Nachricht überbrachte oder sie zum Essen rief. Pekkala gewöhnte sich an den Anblick ihrer Beine auf den Stufen, die weiche Rundung ihrer Knie, während ihr übriger Körper außer Sichtweite blieb. Er prägte sich den Klang ihrer Stimme ein, die gedämpften Laute, die sie in das mit Lavendelöl getränkte Tuch sprach, das sie sich immer vors Gesicht hielt, wenn sie den Keller betrat. Sie schien sich vor dem Formaldehyd zu fürchten; als würde es in ihre Lungen sickern und sie ihrer Seele berauben.

Seine Mutter glaubte an solche Dinge. Ihre Kindheit in der Tundra hatte sie gelehrt, Nichtigkeiten wie dem aufsteigenden Rauch eines Feuers eine Bedeutung beizumessen.

Pekkala würde nie vergessen, wie sie die Tarnung eines Moorschneehuhns beschrieb, das sich zwischen flechtenbewachsenen Felsen versteckte, oder die geschwärzten Steine eines Feuers, dessen Asche schon tausend Jahre zuvor verglüht war, oder die kaum wahrnehmbare Senke im Boden, die erst erkennbar wurde, wenn die abendlichen Schatten darauf fielen, und die den Ort eines Grabes markierte.

Von seiner Mutter lernte Pekkala, auf die unscheinbarsten Kleinigkeiten zu achten – sogar auf jene, die er selbst nicht sehen konnte und die er nur unbewusst wahrnahm – und sich an sie zu erinnern. Von seinem Vater lernte er Geduld und die Fähigkeit, sich unter den Toten wohl zu fühlen.

Das war die Welt, in der er einmal leben würde, wie er glaubte; eine Welt, deren Grenzen bestimmt waren von den ihm vertrauten Straßen und von teebraunen Seen, auf denen sich der blassblaue Himmel spiegelte und der schartige Horizont, den die scheinbar endlosen Kiefernwälder bildeten.

Aber so sollte es nicht kommen.

Am Morgen nach dem Besuch des Kommissars steckte Pekkala seine Erdhütte in Brand.

Er stand auf der Lichtung, während der schwarze Rauch in den Himmel aufstieg. Die brennenden Balken knackten und knisterten, Hitze schlug ihm entgegen. Auf seiner Kleidung landeten Funken, die er wegwischte. Die Farbeimer, die er seitlich an der Hütte aufgestellt hatte, loderten auf, als sich der Inhalt entzündete. Er sah mit an, wie das Dach auf das sorgfältig gemachte Bett, den Stuhl und den Tisch krachte, die so lange seine einzigen Gefährten gewesen waren, dass ihm die Welt draußen mittlerweile eher als ein Traum erschien und nicht als die Wirklichkeit.

Das Einzige, was er vor dem Feuer bewahrt hatte, war ein Tragebeutel aus hirngegerbtem Elchleder. Darin hatte er die Waffe in ihrem Holster, das Buch und das Smaragdauge verstaut.

Als von der Hütte nur noch rauchende Balken übrig waren, wandte sich Pekkala ab und machte sich auf den Weg. Kurz darauf war er zwischen den Bäumen verschwunden und strich lautlos durch das Gehölz.

Stunden später trat er aus dem unwegsamen Wald auf den Holzweg. Gefällte Bäume, in Zehnerreihen aufgeschichtet, warteten auf ihren Abtransport zum Sägewerk des Gulag. Rindenstücke bedeckten den Boden, der eindringliche Geruch frisch geschnittenen Holzes erfüllte die Luft.

Pekkala entdeckte den Wagen – genau, wie der Kommissar versprochen hatte. Das Fabrikat hatte er noch nie gesehen. Mit seiner abgerundeten Motorhaube, der schmalen Windschutzscheibe und dem hochgezogenen Kühlergrill hatte das Fahrzeug etwas Hochnäsiges an sich. Die blau-weiße Plakette am Kühler wies den Wagen als einen »Emka« aus.

Die Türen waren geöffnet. Leutnant Kirow lag auf der Rückbank, seine Beine ragten heraus. Er schlief.

Pekkala packte Kirow am Fuß und schüttelte ihn.

Kirow schrie auf, kam taumelnd aus dem Wagen und zuckte im ersten Augenblick vor der bärtigen und in Lumpen gehüllten Gestalt zurück. »Sie haben mich zu Tode erschreckt!«

»Bringen Sie mich ins Arbeitslager zurück?«, fragte Pekkala.

»Nein. Nicht ins Lager. Ihre Tage als Gefangener sind gezählt.« Kirow wies ihn an, hinten einzusteigen. »Vorerst zumindest.«

Kirow wendete den Emka und trat die lange Rückfahrt zur Ortschaft Oreschek an. Nach einer Stunde auf dem holprigen, ausgewaschenen Weg verließen sie den Wald und gelangten in die offene Landschaft, deren Weite Pekkala namenlose Angst einjagte.

Kirow sprach nicht, sondern behielt lediglich Pekkala im Rückspiegel im Auge, wie ein Taxifahrer, der sich darum sorgte, ob sein Gast auch den Fahrpreis bezahlen konnte.

Sie kamen durch ein verlassenes Dorf. Die strohgedeckten Dächer der Isba-Hütten hingen wie gebrochene Pferderücken durch. Unter dem alten Kalkanstrich der Wände kam der Erdbewurf zum Vorschein. Fensterläden hingen lose an ihren Angeln, über den Boden zogen sich kreuz und quer die Spuren von nahrungssuchenden Tieren. Die Felder in der Umgebung lagen brach. Einzelne Sonnenblumen erhoben sich über hohe, alles überwuchernde Gräser.

»Was ist hier passiert?«, fragte Pekkala.

»Das ist das Werk der Konterrevolutionäre und Profitmacher des Amerikanischen Hilfswerks, die vom Westen eingeschleust wurden, um die Neue Wirtschaftspolitik zu sabotieren.« Die Worte kamen Kirow so geschwind über die Lippen, als hätte er noch nie etwas von Punkt und Komma gehört.

»Aber was ist passiert?«, wiederholte Pekkala.

»Sie leben jetzt alle in Oreschek.«

Als sie schließlich Oreschek erreichten, fiel Pekkalas Blick auf die hastig errichteten Holzbaracken am Straßenrand. Die Gebäude waren anscheinend noch neu, aber schon jetzt wellte sich die Dachpappe. Die meisten dieser Bauten standen leer, dennoch schien die einzige Tätigkeit in der Ortschaft darin zu bestehen, noch mehr davon zu errichten. Die Arbeiter, Männer wie Frauen, blieben stehen und sahen dem Wagen hinterher. Ihre Hände und Gesichter waren verdreckt, manche standen hinter Schubkarren, andere hatten mit Ziegeln beladene Tragegestelle geschultert.

Auf den Feldern wuchsen Weizen und Gerste, aber sie waren zu spät ausgesät worden. Die Pflanzen, die um diese Jahreszeit eigentlich kniehoch stehen sollten, gingen einem kaum über den Knöchel.

Der Wagen hielt vor einer kleinen Polizeidienststelle. Es war das einzige aus Stein errichtete Gebäude, hatte schmale, vergitterte Fensteröffnungen und eine schwere, mit Eisenstangen verstärkte Holztür.

Kirow stellte den Motor ab. »Wir sind da«, sagte er.

Pekkala stieg aus. Einige Leute betrachteten ihn und sahen schnell wieder weg, als könnten allein durch seinen Anblick seine Verbrechen auf sie übergehen.

Er näherte sich den drei Holzstufen zum Eingang und musste zur Seite springen, als ein Mann in schwarzer Uniform und mit dem Abzeichen der Geheimpolizei aus der Dienststelle gestürmt kam und einen alten Mann am Kragen mit sich schleifte. Um die Füße des Alten waren Lapti gewickelt, Sandalen aus Birkenrinde. Der Polizist stieß den Alten die Treppe hinunter, so dass dieser der Länge nach im Staub landete. Aus seiner geballten Faust sprangen eine Handvoll Maiskörner. Der Alte hob sie auf, und erst jetzt bemerkte Pekkala, dass es sich um ausgeschlagene Zähne handelte.

Mühsam kam der Alte auf die Beine und starrte, sprachlos vor Zorn und Angst, den Polizeibeamten an.

Kirow legte Pekkala die Hand auf den Rücken und schob ihn sacht in Richtung Treppe.

»Noch einer?«, kam es dröhnend vom Polizeibeamten. Seine Finger gruben sich tief in Pekkalas Bizeps. »Wo habt ihr den denn aufgegabelt?«

Ein halbes Jahr nach der Abreise von Pekkalas Bruder traf ein Telegramm aus Petrograd ein. Es war an Pekkalas Vater adressiert und vom befehlshabenden Offizier der Finnischen Kaserne unterzeichnet. Das Telegramm lautete: Pekkala, Anton aus Kadettenkader relegiert.

Pekkalas Vater las den dünnen gelben Zettel. In seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Regung. Dann reichte er die Notiz an seine Frau weiter.

»Aber was heißt das?«, fragte sie. »Relegiert? Ich habe das Wort noch nie gehört.« Das Telegramm zitterte in ihrer Hand.

»Es heißt, dass sie ihn aus dem Regiment geworfen haben«, sagte sein Vater. »Er wird jetzt nach Hause kommen.«

Am Tag darauf spannte Pekkala eines der familieneigenen Pferde vor das zweisitzige Karriol, fuhr zum Bahnhof und wartete auf den Zug.

Das tat er auch am Tag darauf und am übernächsten Tag. Eine ganze Woche fuhr Pekkala zum Bahnhof, ließ den Blick über die ausgestiegenen Fahrgäste schweifen und fand sich schließlich allein auf dem Bahnsteig wieder, nachdem der Zug weitergefahren war.

In seinem Vater ging in diesen Tagen des Wartens eine anhaltende Veränderung vor sich. Er war wie eine Uhr, deren Laufwerk plötzlich kaputtgegangen war. Nach außen hin hatte sich kaum etwas verändert, innerlich aber war er zerbrochen. Es spielte keine Rolle, warum Anton zurückkehrte. Es zählte einzig und allein die Tatsache, dass er zurückkehrte, wodurch der so sorgfältig ausgearbeitete Plan, den der Vater für die Familie entworfen hatte, hinfällig geworden war.

Nach zwei Wochen ohne jedes Lebenszeichen von Anton fuhr Pekkala nicht mehr zum Bahnhof, um dort auf seinen Bruder zu warten.

Nach einem Monat war klar, dass Anton nicht zurückkehren würde.

Pekkalas Vater telegrafierte an die Finnische Kaserne und fragte nach seinem Sohn.

Man antwortete, diesmal in Briefform, dass Anton an dem und dem Tag zum Kasernentor geführt worden sei, man habe ihm eine Zugfahrkarte für die Heimfahrt und Geld für Verpflegung gegeben, seitdem habe man ihn nicht mehr gesehen.

Auf ein weiteres Telegramm, diesmal, um sich nach dem Grund für Antons Entlassung zu erkundigen, wurde nicht mehr geantwortet.

Pekkalas Vater hatte sich mittlerweile so sehr in sich zurückgezogen, dass er kaum noch wiederzuerkennen war. Seine Mutter beharrte weiter darauf, dass Anton schon zurückkehren werde, wenn er dazu bereit sei. Diese Überzeugung, an die sie sich geradezu verzweifelt klammerte, wurde für sie im Lauf der Zeit zu einer großen Belastung, die sie vorzeitig verschliss und auszehrte.

Eines Tages, nachdem Anton fast drei Monate fort war, legten Pekkala und sein Vater letzte Hand an einen für die Aufbahrung hergerichteten Leichnam. Sein Vater war über den Toten gebeugt und strich mit den Fingerspitzen die Wimpern zurecht. Plötzlich atmete er scharf ein und richtete sich abrupt auf. »Du fährst«, sagte er.

»Wohin?«, fragte Pekkala.

»Nach Petrograd. Zum Finnischen Regiment. Ich habe bereits die Bewerbungsunterlagen ausgefüllt. In zehn Tagen meldest du dich in der Kaserne. Du wirst seinen Platz einnehmen.« Er konnte noch nicht einmal mehr Antons Namen aussprechen.

»Was ist mit meiner Lehrzeit hier? Was ist mit dem Geschäft?«

»Damit hat es sich. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Eine Woche darauf beugte sich Pekkala aus dem Fenster eines nach Osten fahrenden Zuges und winkte seinen Eltern zu, bis deren Gesichter in der Ferne verschwunden waren und sich die dichten Kiefernreihen vor den kleinen Bahnhof geschoben hatten.

Pekkala sah dem Polizeibeamten in die Augen.

Kurz zögerte dieser. Wie konnte ein Gefangener es wagen, ihn so herausfordernd anzusehen? Er malmte mit dem Kiefer. »Es wird Zeit, dass man dir ein wenig Respekt einbleut.«

»Er steht unter dem Schutz des Büros für besondere Operationen«, sagte Kirow.

»Schutz?«, lachte der Polizist. »Dieser Landstreicher? Wie heißt er?«

»Pekkala«, erwiderte Kirow.

»Pekkala?« Der Polizist zog abrupt seine Hand weg, als hätte er sich verbrannt. »Was soll das heißen? Der Pekkala?«

Auch der noch immer im Staub kniende Alte bekam das Gespräch mit, das sich auf den Stufen zur Polizeidienststelle abspielte.

»Scher dich fort!«, brüllte der Polizist ihn an.

Der Alte rührte sich nicht. »Pekkala«, murmelte er nur. Ein Blutrinnsal troff ihm aus dem Mundwinkel.

»Ich sagte, scher dich fort, verdammt noch mal!«, schrie der Polizist mit hochrotem Kopf.

Der Alte rappelte sich auf und ging die Straße hinunter. Alle paar Schritte drehte er sich zu Pekkala um.

Kirow und Pekkala schoben sich an den Polizisten vorbei und gingen durch einen Gang, der nur durch das fahle Tageslicht beleuchtet wurde, das durch die vergitterten, glaslosen Fenster sickerte.

Kirow drehte sich zu Pekkala um. »Wer zum Teufel sind Sie?«

Pekkala antwortete nicht. Er folgte dem jungen Kommissar zu einer halb offen stehenden Tür am Ende des Gangs.

Der junge Mann trat ein.

Pekkala folgte.

An einem Schreibtisch in der Ecke saß ein Mann. Neben seinem Stuhl war der Tisch das einzige Möbelstück im Raum. Sein Uniformrock wies ihn als Kommandeur der Roten Armee aus. Sein dunkles Haar war ordentlich gekämmt und längs des messerscharfen Mittelscheitels glatt nach hinten gestrichen. Er hatte die Hände gefaltet auf dem Tisch liegen, als wartete er darauf, dass ihn jemand fotografierte.

»Anton!«, entfuhr es Pekkala.

»Willkommen«, erwiderte er.

Pekkala starrte den Mann an, der den Blick geduldig erwiderte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihm seine Wahrnehmung keinen üblen Streich spielte, machte Pekkala auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte Kirow, der ihm hinterherlief.

»Irgendwohin, nur weg von hier«, erwiderte Pekkala. »Sie hätten so viel Anstand haben und es mir sagen können.«

»Ihnen was sagen?«

Der Polizist stand immer noch in der Eingangstür und sah nervös die Straße auf und ab.

Kirow legte Pekkala die Hand auf die Schulter. »Sie haben ja noch nicht einmal mit Kommandeur Starek gesprochen.«

»So nennt er sich jetzt?«, erwiderte Pekkala.

»Jetzt?« Verwirrt verzog der Kommissar das Gesicht.

»Starek ist nicht sein richtiger Name. Er hat ihn erfunden. Genau wie Lenin und Stalin! Als ob das irgendwas ändern würde, außer dass es besser klingt als Uljanow oder Dschughaschwili.«

»Ihnen ist klar«, blaffte der Kommissar, »dass ich Sie für diese Äußerung erschießen lassen könnte.«

»Es würde mich mehr beeindrucken, wenn Sie etwas finden, wofür Sie mich nicht erschießen lassen könnten«, antwortete Pekkala. »Oder besser noch, Sie überlassen das meinem Bruder.«

»Ihrem Bruder?« Kirow klappte der Mund auf. »Kommandeur Starek ist Ihr Bruder?«

Anton trat jetzt in die Tür.

»Das haben Sie mir nicht gesagt«, sagte Kirow. »Sie hätten mich darüber in Kenntnis setzen sollen.«

»Ich setze Sie jetzt darüber in Kenntnis.« Anton wandte sich an Pekkala.

»Er ist es nicht, oder?«, fragte der Polizist. »Sie wollen mich nur auf den Arm nehmen, ja?« Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Das ist nicht das Smaragdauge. Der ist doch seit Jahren tot. Ich habe gehört, dass es ihn gar nicht gegeben haben soll, er ist nur eine Legende.«

Anton beugte sich zum Polizisten und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Der Polizist musste husten. »Aber was hab ich getan?« Er sah zu Pekkala. »Was hab ich getan?«, wiederholte er.

»Wir könnten den Mann fragen, den Sie auf die Straße geworfen haben«, erwiderte Pekkala.

»Aber das ist meine Dienststelle«, flüsterte der Polizist. »Ich habe hier das Sagen.« Er sah zu Anton und flehte ihn wortlos um Hilfe an.

Antons Miene blieb ungerührt. »Ich schlage vor, Sie schaffen sich hier fort, solange Sie dazu noch in der Lage sind«, sagte er leise.

Der Beamte trat demütig zur Seite.

Den Blick auf Pekkala gerichtet, wies Anton mit einem Nicken zu seinem Büro am Ende des Gangs. »Bruder«, sagte er, »es ist an der Zeit, dass wir miteinander reden.«

Es war zehn Jahre her, dass sie sich zum letzten Mal gesehen hatten – auf einem öden, vereisten Bahnsteig, auf dem Gefangene nach Sibirien abtransportiert wurden.

Mit geschorenem Kopf, in den fadenscheinigen beigefarbenen Baumwollsachen, die ihm im Gefängnis gegeben worden waren, kauerte sich Pekkala an die anderen Verurteilten und wartete auf das Eintreffen des Konvois ETAP-61. Niemand sprach. Immer mehr Gefangene kamen an, nahmen ihren Platz auf dem Bahnsteig ein und legten sich wie die Schalen einer Zwiebel um die durchgefrorenen Männer.

Die Sonne war bereits untergegangen. Beinlange Eiszapfen hingen vom Bahnhofsdach. Der Wind fegte über die Gleise und wirbelte Schnee auf. An beiden Enden des Bahnsteigs standen Wachen mit geschulterten Gewehren an Ölfässern, in denen Feuer entfacht worden waren. Funken stoben in die Luft und erhellten ihre Gesichter.

Irgendwann in der Nacht traf endlich der Zug ein. Zwei Wachen standen an jeder geöffneten Waggontür. Als Pekkala einstieg, fiel sein Blick zufällig auf das Bahnhofsgebäude. Und dort, im Licht eine Ölfasses, hielt ein Soldat seine geröteten Hände über die Flammen.

Ihre Blicke trafen sich.

Pekkala hatte gerade noch Zeit, um Anton zu erkennen, bevor er von einer Wache in die Dunkelheit des eisigen Waggons gestoßen wurde.

Pekkala hielt sich das Rasiermesser an die bärtige Wange und überlegte, wie er anfangen sollte.

Früher hatte er sich einmal im Monat rasiert, aber die alte, wohlgehütete Klinge war eines Tages zerbrochen, als er sie an der Innenseite seines Gürtels abgezogen hatte. Das war Jahre her.

Seitdem hatte er sich manchmal mit einem Messer über die Haare hergemacht, hatte sie büschelweise abgesägt, während er nackt im eiskalten Wasser des Baches unterhalb seiner Erdhütte saß. Jetzt aber, als er auf der verdreckten Toilette der Polizeidienststelle stand, eine Schere in der einen und ein Rasiermesser in der anderen Hand, erschien ihm die vor ihm liegende Aufgabe als unüberwindlich.

Fast eine Stunde lang fuhrwerkte er mit den Gerätschaften herum, biss vor Schmerz die Zähne zusammen und rieb sich das Gesicht mit der grobkörnigen Wäscheseife ein, die man ihm zusammen mit dem Rasiermesser gegeben hatte. Er versuchte den Uringestank auszublenden, den abgestandenen Tabakrauch, der in den Fugen zwischen den blassblauen Kacheln hing, und den aseptischen Geruch des von der Regierung gestellten Toilettenpapiers.

Allmählich tauchte im Spiegel ein Gesicht auf, das Pekkala kaum mehr kannte. Blut rann ihm von Kinn, Oberlippe und der Stelle unterhalb der Ohren, nachdem der Vollbart endlich entfernt war. Er griff sich einige Spinnweben aus einer verstaubten Ecke und legte sie zum Stillen der Blutung auf die Wunden.

Als er aus der Toilette trat, bemerkte er, dass seine alten Sachen fort waren. An ihrer Stelle fand er andere Kleidung vor, die Sachen, die er getragen hatte, als er damals verhaftet worden war. Sogar sie hatte man aufbewahrt. Er zog das graue, kragenlose Hemd an, schlüpfte in die schwere Moleskin-Hose und die schwarze, mit vier Taschen versehene Weste. Unter dem Stuhl standen seine schweren knöchelhohen Stiefel, in denen jeweils, ordentlich zusammengerollt, die Fußlappen, Portjanki, gestopft waren.

Er legte das Holster an, schloss den Riemen über der Hüfte und justierte alles so, dass der Revolvergriff genau links unterhalb des Brustkorbs saß und er den Webley in einer einzigen fließenden Bewegung ziehen und abfeuern konnte – was ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte.

Das letzte Kleidungsstück war ein enganliegender Mantel aus dem gleichen schwarzen Wolltuch wie die Weste. Er war geknöpft wie ein zweireihiges Jackett, reichte eine Handbreit unter die Knie, und im Unterschied zu den russischen Armeemänteln mit ihrem breiten Revers hatte er einen schmalen Kragen, unter dem er das Smaragdauge befestigte.

Erneut betrachtete er sich im Spiegel. Vorsichtig berührte er mit rauhen Fingerspitzen die wettergegerbte Haut unterhalb der Augen, als wäre er sich unsicher, wer ihn hier anstarrte.

Dann kehrte er ins Büro zurück. Die Tür war geschlossen. Er klopfte an.

»Herein!«, kam die scharfe Antwort.

Anton hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und rauchte eine Zigarette.

Der Aschenbecher war voll. Mehrere Kippen glühten noch vor sich hin. Im Raum hing eine blaue Rauchwolke.

Da es nur einen Stuhl gab – den, auf dem sein Bruder saß –, blieb Pekkala stehen.

»Besser«, sagte Anton und stellte die Füße auf den Boden, »aber nicht viel.« Er faltete die Hände und legte sie auf den Schreibtisch. »Du weißt, wer nach dir geschickt hat?«

»Genosse Stalin«, sagte Pekkala.

Anton nickte.

»Stimmt es«, fragte Pekkala, »dass er der rote Zar genannt wird?«

»Das sagt ihm keiner ins Gesicht«, erwiderte Anton, »nicht, wenn er noch eine Weile leben möchte.«

»Wenn er der Grund für mein Hiersein ist«, fuhr Pekkala fort, »dann möchte ich mit ihm reden.«

Anton lachte. »Wenn du mit Genosse Stalin reden möchtest, dann wartest du gefälligst, bis er mit dir reden will. Und erst dann wirst du dein Gespräch bekommen. Bis dahin gibt es einiges zu tun.«

»Du weißt, was mir zugestoßen ist, damals im Butyrka-Gefängnis?«

»Ja.«

»Dafür ist Stalin verantwortlich. Er persönlich ist dafür verantwortlich.«

»Seitdem hat er Großes für das Land geleistet.«

»Du«, fuhr Pekkala fort, »bist auch verantwortlich.«

Anton ballte die Fäuste. »Das kann man so und so sehen.«

»Du meinst, der Unterschied liegt nur darin, wer gefoltert wurde und wer gefoltert hat?«

Anton räusperte sich, bemüht, Ruhe zu bewahren. »Ich meine, dass wir verschiedene Wege eingeschlagen haben, du und ich. Meiner hat mich hinter diesen Schreibtisch geführt.« Er klopfte gegen das Holz. »Und deiner hat dich dazu geführt, dass du jetzt davorstehst. Ich bin jetzt ein Offizier im Büro für besondere Operationen.«

»Was wollt ihr von mir?«

Anton erhob sich und schloss die Tür. »Wir wollen, dass du in einem Verbrechen ermittelst.«

»Sind dem Land die Polizisten ausgegangen?«

»Du bist genau derjenige, den wir dafür brauchen.«

»Geht es um Mord?«, fragte Pekkala. »Um vermisste Personen?«

»Vielleicht«, erwiderte Anton leise, das Gesicht noch immer zur Tür gerichtet. »Vielleicht auch nicht.«

»Muss ich, bevor ich den Fall löse, erst deine Rätsel lösen?«

Anton drehte sich jetzt zu ihm um. »Ich rede von den Romanows. Dem Zaren, seiner Frau und seinen Kindern. Von ihnen allen.«

Dunkle Erinnerungen wurden wieder wach, als Pekkala den Namen hörte. »Aber sie wurden hingerichtet«, sagte er. »Der Fall wurde vor zehn Jahren abgeschlossen. Die Revolutionsregierung hat die Verantwortung dafür übernommen!«

Anton kehrte zum Schreibtisch zurück. »Es stimmt, wir haben behauptet, sie hingerichtet zu haben. Aber wie du vielleicht weißt, wurden niemals Leichen präsentiert, um die Behauptungen zu beweisen.«

Der Lufthauch, der durch die Fensteröffnungen strich, brachte den schweren Geruch kommenden Regens mit sich.

»Du meinst, ihr wisst nicht, wo die Leichen sind?«

Anton nickte. »Genau.«

»Dann handelt es sich also um einen Vermisstenfall?«, fragte Pekkala. »Willst du mir sagen, der Zar könnte noch am Leben sein?« Wieder überkamen ihn Schuldgefühle, weil er die Romanows ihrem Schicksal überlassen hatte. Alles, was Pekkala über die Hinrichtungen gehört hatte, hatte seine Zweifel nie ganz auslöschen können. Aber er hatte nicht damit gerechnet, sie jemals aus dem Mund eines Soldaten der Roten Armee zu hören.

Nervös sah sich Anton im Zimmer um, als fürchtete er, in der rauchgeschwängerten Luft jemanden zu entdecken, der sie belauschte. Er stand auf, ging zum Fenster und spähte in die Gasse neben dem Gebäude. Dann schloss er die Fensterläden. Der Raum wurde in rötlich fahles Licht getaucht. »Der Zar und seine Familie sind nach Jekaterinburg gebracht worden – das jetzt Swerdlowsk heißt.«

»Das liegt nur ein paar Tage Fahrt von hier.«

»Ja. Swerdlowsk ist wegen seiner abgeschiedenen Lage ausgewählt worden. Keiner würde dort versuchen, sie zu befreien. Das haben wir uns zumindest gedacht. Die Familie wurde nach ihrer Ankunft im Haus eines Kaufmanns namens Ipatjew einquartiert.«

»Was hattet ihr mit ihnen vor?«

»Es war nicht klar, wie mit ihnen verfahren werden sollte. Die Familie Romanow war vom Zeitpunkt ihrer Verhaftung in Petrograd zu einer Belastung geworden. Solange der Zar lebte, hatten die Konterrevolutionäre einen Grund, ihren Kampf fortzuführen. Aber hätten wir sie andererseits einfach liquidiert, hätte sich die Weltöffentlichkeit möglicherweise gegen uns gewandt. So wurde beschlossen, die Romanows am Leben zu lassen, bis sich die neue Regierung gefestigt hatte. Dann sollte dem Zaren der Prozess gemacht werden. Richter sollten von Moskau anreisen. Alles hätte so öffentlich wie möglich stattfinden, Zeitungen hätten darüber berichten sollen. In den ländlichen Gebieten sollten Bezirkskommissare der Bevölkerung das juristische Vorgehen erklären.«

»Und der Zar würde für schuldig befunden werden.«