Zwei lange Unterhosen der Marke Hering

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Im Interview, das sie der Shoah-Stiftung gab, sagt Oma, Mengele habe sie gestoßen. Der Interviewer fragt sie, woher sie wisse, dass es Mengele gewesen sei, und sie sagt, sie habe es nicht gewusst. Doch später besteht sie wieder darauf, er sei es gewesen. Als ich sie danach fragte, sagte sie mir, Mengele habe die Auswahl an der Rampe gemacht, wenn die Züge kamen, deshalb habe sie gedacht, es müsse Mengele gewesen sein, der sie gestoßen hat.

  2. Einer der sogenannten Todesmärsche, die aus den Konzentrationslagern loszogen, als die Russen den Vormarsch begannen. Es waren etwa 100 und in ihnen zogen etwa 700 000 Gefangene, von denen die Hälfte nirgends ankam.

  3. Kurz für Escuela Mecánica de la Armada, Geheimgefängnis und Folterzentrum während der argentinischen Militärdiktatur (A. d. Ü.)

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Die Übersetzung der Interviewpassagen folgt den Originalbändern des Gesprächs (auf Deutsch) und kann in einigen Details von der spanischen Fassung abweichen.

Es gibt reichlich Literatur von den und über die Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungslager. Dieses Buch ist nicht aus dieser Literatur hervorgegangen und möchte ihr auch kein weiteres Werk hinzufügen. Ich habe nicht vor, über den Holocaust zu reflektieren oder für die Annalen die Geschichte einer weiteren Überlebenden zu erzählen. Stattdessen geht es um eine Großmutter und ihren Enkel, in diesem Fall um meine Oma (die Auschwitz überlebt hat) und um mich (der ich manchmal über Dinge reflektiere, von denen ich wenig Ahnung habe). Meine Oma zu porträtieren heißt nicht nur, ihre Geschichte zu erzählen, sondern vor allem, die Art und Weise abzubilden, wie sie diese Geschichte erzählt. Daher geben die zeugnishaften Kapitel, deren Grundlage ein ebenso ausgedehntes wie schwieriges Interview im südlichen Sommer 2002 war, ihre Sprechweise so getreu wie möglich wieder und auch ihre Art, die Informationen zu ordnen oder eher durcheinanderzubringen. Auch wenn ihre Erzählung zu Beginn etwas

Sie stieg als Letzte aus, in Begleitung einer Lufthansa-Stewardess, die ihr Gehör schenkte, und eines Flughafenangestellten, der ihr mit den Koffern half. Die Verzögerung hatte mich schon fürchten lassen, sie könne den Flug verpasst oder ich mich bei der Ankunftszeit vertan haben – wenn ich auch nicht glaube, dass ihr Erscheinen mich nur darum mit Erleichterung und sogar mit einem gewissen Frohlocken erfüllte. Ich hatte Oma nie öfter als ein oder zwei Mal pro Jahr gesehen, wenn sie uns in Buenos Aires besuchte oder wir sie in Brasilien, und so genau ich auch wusste, was dann folgte, sosehr mich auch schon im Vorhinein die Vorstellung schreckte, sie bei uns zu Hause oder mit am Strand dabeizuhaben, die erste Empfindung beim Wiedersehen war stets Freude. Weder besonders intensiv noch dauerhaft, jedoch ehrlich in ihrer Fragilität.

Sie entdeckte mich hinter der Scheibe, wir lächelten uns zu und winkten. Schon seit einiger Zeit sackte ihr Körper, der von jeher winzig gewesen war, immer mehr

Nachdem sie mich begrüßt hatte, sprach sie weiter mit der Stewardess, die sich fast um die Hälfte ihrer

Auf dem Weg zum Ausgang erzählte mir Oma, wie nett der Mann, der den Gepäckwagen für sie geschoben hatte, zu ihr gewesen sei. Vom Passagiertor bis zum nächsten Ausgang sind es im Flughafen Tegel nicht mehr als zehn Meter, Oma schaffte es jedoch, mir so oft zu sagen, wie nett der Mann mit den Koffern zu ihr gewesen sei, dass ich, als wir draußen ankamen, nicht

Ich ließ Oma bei dem netten Mann und bei Ray und ging zum Parkplatz. An diesem Morgen hatte ich für die Zeit ihres Besuchs ein Auto gemietet, eine Idee, die Oma sehr begrüßte und komplett zu finanzieren versprach. Inspiriert worden dazu war ich von meinem Onkel, der in Brasilien lebt und, so die Vermutung meiner Mutter, nicht heiraten wird, bis Oma nicht gestorben ist. Ihm zufolge ist Oma wie ein Hund, man muss sie nur auf den Beifahrersitz setzen und sie ist glücklich. Mein Onkel wird nicht müde, sich über Oma lustig zu machen, über sie zu meckern, gegebenenfalls auch mit ihr zu streiten. Sie hingegen spricht nur selten schlecht von ihrem Sohn, wie sie es aber sehr wohl von ihrer Tochter tut. Den Onkel mag sie wegen irgendeiner Liebschaft kritisieren, weil er zu viel arbeitet und vielleicht wegen seines Umgangs mit Geld, ich habe sie ihn aber nie wegen irgendetwas Ernsthaftem schikanieren hören, wie sie es mit meiner Mutter manchmal macht. Und ich glaube, so wie meine Mutter versucht, die positive Seite ihrer Mutter zu sehen, weil sie im Grunde das Gefühl hat, Oma habe ihr die Jugend ruiniert, zieht mein Onkel unaufhörlich über sie her, weil er sie im Grunde abgöttisch liebt.

Sie redete die ganze Fahrt über, unmöglich, sich zu erinnern, worüber. Üblicherweise hat sie ein Hauptthema und verschiedene Unterthemen, die sie mit umständebedingten Fragen und Kommentaren verflicht, bei dieser Gelegenheit vermutlich zum Verkehr oder zu irgendwas, was sie durchs Fenster sah. Wahrscheinlich hat sie mich gefragt, was ich studiere, denn daran kann sie sich nie

Bevor wir nach Hause fuhren, wollte sie zur Bank, um Geld abzuheben, einer Bank, so sei am Rande erwähnt, die heute im Verdacht steht, den Bau der Öfen von Auschwitz finanziert zu haben (»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mein Geld dort nicht angelegt«, versicherte mir Oma, als ich ihr davon erzählte. »Na ja«, stellte ich

Omas Geld war immer ein Familiengeheimnis gewesen. Sie machte äußerst großzügige Geschenke, borgte bereitwillig Geld und knauserte zugleich an den lachhaftesten Kleinigkeiten. Sie war imstande, die Tickets für die ganze Familie in den Sommerurlaub zu zahlen und uns mit abgelaufener Schokolade zu empfangen. Da die großen Geschenke Angelegenheit meiner Eltern waren und für mich nur Bedeutung hatte, was ich bekam, und da Oma mir statt Spielzeug lieber Anziehsachen schenkte, hielt ich sie als kleiner Junge immer für geizig. Vielleicht wusste unser Onkel besser Bescheid (auch das ist ein Geheimnis), auf unserer Seite jedenfalls wurde ich in einer Atmosphäre groß, die geprägt war von der Meinung »Oma hat Geld, nicht viel, aber sie hat welches«. Wir wussten, dass sie eine Rente aus Deutschland bekam, dass sie einige Ersparnisse hatte und nicht viel ausgab, aber wir wussten nicht, wie viel sie tatsächlich besaß.

Seit mein Großvater gestorben war, ein barscher Mann, von dem ich nur noch weiß, dass er beim Essen sehr laut war, so sehr, dass ich am Tisch nur ungern in seiner Nähe saß, lebte Oma allein in Südbrasilien. Ihre Freundinnen waren alle deutsche Jüdinnen in ihrem Alter oder noch älter (»Zusammen sind wir tausend Jahre alt, wir sind das Tausendjährige Reich«, scherzte Oma), an Kameradinnen fehlte es ihr also allem Anschein nach nicht (sie hatte sich sogar einen Anrufbeantworter gekauft und filterte die Anrufe), doch im Grunde war sie allein. Alle Versuche, sie nach Buenos Aires zu verpflanzen oder in einem Altenheim einzuquartieren, waren gescheitert; ihr gefiel eins in ihrer Stadt, doch da es kein jüdisches Altenheim war, ging sie dort lieber nicht hin, sie fürchtete das Gerede in der Community. Auch ihren Sohn in São Paulo besuchte sie nicht sehr oft, denn ihr zufolge war seine Freundin sehr eifersüchtig: Du weißt, wie die Weiber sind, suchte sie stets meine Komplizenschaft. Als Kind war es für mich schwer, zu verstehen, dass Mutter und Kinder Hunderte Kilometer entfernt voneinander lebten. Nun bin ich es, der Tausende Kilometer von meiner Familie entfernt lebt.

Als sie mit der Transaktion fertig war, verabschiedete sie sich mit einem überraschenden »Frohes neues Jahr!«. Ich rechnete mir aus, dass es bis 2004 noch vier Monate waren, und sagte ihr das. »Die Zeit vergeht im Flug«, antwortete sie mir ernsthaft. Während ihres Aufenthalts würde sie (erfolglos) versuchen, einen Stoffkalender für 2004 zu erwerben. Immer wieder erinnerte sie sich daran und wir mussten in die ungeeignetsten Läden gehen, um zu fragen, ob sie nicht einen von diesen schon an sich ziemlich anachronistischen Ulklappen hätten, und das zu einem Zeitpunkt, der selbst hierzulande, wo man zuerst an die Pensionierung denkt und dann erst an das Leben, das man bis dahin ertragen muss, verfrüht war. Oma hat wohl kein Jahr ihres Lebens ohne Stoffkalender verbracht. Ich meine mich zu erinnern, dass meine Mutter mehrere Exemplare vergangener Jahre hatte, umfunktioniert zu Küchendekoration oder Handtüchern. Oma