[1]
Im Interview, das sie der Shoah-Stiftung gab, sagt Oma, Mengele habe sie gestoßen. Der Interviewer fragt sie, woher sie wisse, dass es Mengele gewesen sei, und sie sagt, sie habe es nicht gewusst. Doch später besteht sie wieder darauf, er sei es gewesen. Als ich sie danach fragte, sagte sie mir, Mengele habe die Auswahl an der Rampe gemacht, wenn die Züge kamen, deshalb habe sie gedacht, es müsse Mengele gewesen sein, der sie gestoßen hat.
[2]
Einer der sogenannten Todesmärsche, die aus den Konzentrationslagern loszogen, als die Russen den Vormarsch begannen. Es waren etwa 100 und in ihnen zogen etwa 700 000 Gefangene, von denen die Hälfte nirgends ankam.
[3]
Kurz für Escuela Mecánica de la Armada, Geheimgefängnis und Folterzentrum während der argentinischen Militärdiktatur (A. d. Ü.)
Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Die Übersetzung der Interviewpassagen folgt den Originalbändern des Gesprächs (auf Deutsch) und kann in einigen Details von der spanischen Fassung abweichen.
Es gibt reichlich Literatur von den und über die Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungslager. Dieses Buch ist nicht aus dieser Literatur hervorgegangen und möchte ihr auch kein weiteres Werk hinzufügen. Ich habe nicht vor, über den Holocaust zu reflektieren oder für die Annalen die Geschichte einer weiteren Überlebenden zu erzählen. Stattdessen geht es um eine Großmutter und ihren Enkel, in diesem Fall um meine Oma (die Auschwitz überlebt hat) und um mich (der ich manchmal über Dinge reflektiere, von denen ich wenig Ahnung habe). Meine Oma zu porträtieren heißt nicht nur, ihre Geschichte zu erzählen, sondern vor allem, die Art und Weise abzubilden, wie sie diese Geschichte erzählt. Daher geben die zeugnishaften Kapitel, deren Grundlage ein ebenso ausgedehntes wie schwieriges Interview im südlichen Sommer 2002 war, ihre Sprechweise so getreu wie möglich wieder und auch ihre Art, die Informationen zu ordnen oder eher durcheinanderzubringen. Auch wenn ihre Erzählung zu Beginn etwas verwirren mag, lässt sich die Stimme meiner Oma nur so in ihrer ganzen Vitalität übermitteln, die sie auf gewisse Weise vor dem sicheren Tod rettete: Mit 22 Jahren hatte sie sich auf der Suche nach ihrer blinden Mutter freiwillig ins Konzentrationslager Theresienstadt deportieren lassen, folgte ihr später nach Auschwitz und wäre ihr bis in die Gaskammer gefolgt, wenn nicht die Nazis selbst sie daran gehindert hätten. In den Kapiteln, in denen nicht meine Oma über ihre Vergangenheit spricht, spreche ich über ihre Gegenwart, in Form eines Berichts über die zehn Tage, die sie im nördlichen Sommer 2004 mit mir in Deutschland verbrachte. Ich erzähle also von der Gegenwart einer Person, von der vermeintlich nur die Vergangenheit interessant ist. Dabei bewegt mich in erster Linie die literarische Intuition, dass meine Oma eine bemerkenswerte Figur ist, und außerdem der journalistische Instinkt, dass die seltsame Beziehung, die sie noch immer zum Land ihrer Henker unterhält, viel über diese schreckliche Vergangenheit sagt, die sie lieber vergessen würde und die ich hier rekonstruieren möchte.
Sie stieg als Letzte aus, in Begleitung einer Lufthansa-Stewardess, die ihr Gehör schenkte, und eines Flughafenangestellten, der ihr mit den Koffern half. Die Verzögerung hatte mich schon fürchten lassen, sie könne den Flug verpasst oder ich mich bei der Ankunftszeit vertan haben – wenn ich auch nicht glaube, dass ihr Erscheinen mich nur darum mit Erleichterung und sogar mit einem gewissen Frohlocken erfüllte. Ich hatte Oma nie öfter als ein oder zwei Mal pro Jahr gesehen, wenn sie uns in Buenos Aires besuchte oder wir sie in Brasilien, und so genau ich auch wusste, was dann folgte, sosehr mich auch schon im Vorhinein die Vorstellung schreckte, sie bei uns zu Hause oder mit am Strand dabeizuhaben, die erste Empfindung beim Wiedersehen war stets Freude. Weder besonders intensiv noch dauerhaft, jedoch ehrlich in ihrer Fragilität.
Sie entdeckte mich hinter der Scheibe, wir lächelten uns zu und winkten. Schon seit einiger Zeit sackte ihr Körper, der von jeher winzig gewesen war, immer mehr in sich zusammen. Die Arme ließen die Knochen durchscheinen, die Schultern endeten in spitzen Punkten, das Gesicht stand nicht mehr im Verhältnis zum Bauchumfang, der ebenfalls geschrumpft war. Am eindrucksvollsten war die Reduzierung ihres Busens – einst so üppig, dass er Anlass zu Witzeleien in der Familie gegeben hatte, und nun mager, flach, kaum mehr als eine dicke Hautfalte. An ihrem 80. Geburtstag hatte Oma erzählt, bei der Befreiung habe sie so wenig Brust gehabt, dass sie keinen BH brauchte, während ihres Aufenthalts in Schweden habe sie dann Monat für Monat die Größe wechseln müssen und später sei die Angelegenheit so ausgeufert, dass sie Schwierigkeiten hatte, einen in ihrer Größe zu finden. Es war die einzige Bemerkung zu ihrer Vergangenheit als Überlebende, die wir an diesem Abend von ihr hörten, und eines der ersten Male, dass ich sie in der Öffentlichkeit von diesem Thema sprechen hörte. Schon damals, oder vielleicht ein wenig später, begann dieses allmähliche Schrumpfen, das bei jedem Wiedersehen erkennbar war. Nach 25 Jahren, in denen sie für mich immer gleich ausgesehen hatte, klein und rund und gesund, war diese Veränderung umso eindrucksvoller. Sie wusste das, kommentierte ihr Welken sogar. »Das sind die Knochen«, sagte sie gern, »ich schrumpfe.« Doch das milderte nicht den Schrecken, mitanzusehen, wie ihr Körper langsam zu der Konstitution zurückkehrte, die er wohl im Alter von 25 gehabt hatte, als sie den Tod von Nahem kennenlernte.
Nachdem sie mich begrüßt hatte, sprach sie weiter mit der Stewardess, die sich fast um die Hälfte ihrer Körpergröße hinunterbeugen musste, um in einer dem Dialog zuträglichen Entfernung zu bleiben. Während ich ihr beim Plaudern mit einer Unbekannten zusah – einer ihrer Lieblingsdisziplinen –, wurde mir bewusst, dass Oma gekommen war. Nicht ins Haus meiner Eltern in Buenos Aires, nicht in ein Hotelzimmer, wie damals, als sie mich 2001 in Heidelberg besucht hatte, sondern in die Wohnung, die meine ebenfalls argentinische Frau und ich gerade in Berlin bezogen hatten, unser erstes wirkliches Zuhause in Deutschland. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht ganz abschätzen können, welche Verantwortung das bedeutete. Mein Onkel hatte im Scherz gesagt, wenn es uns gelänge, dass seine Mutter nicht bei uns zu Hause stürbe, sei das schon ein Erfolg; meine Mutter wiederum hatte darauf bestanden, wir sollten ihr nicht allzu sehr nach der Pfeife tanzen und dass man trotz allem mit ihr eine gute Zeit haben könne. Doch es stimmte: Seit Oma angefangen hatte, ihren Besuch bei uns anzudrohen, und nicht nur für ein paar Tage, sondern über eine Woche lang (»Sonst ist es zu kurz, das hätte keinen Sinn, oder?«), waren sowohl mein Onkel als auch meine Mutter von einer Mischung aus Freude, Rührung und Schrecken eingenommen worden, die sie unweigerlich auf mich übertrugen, vor allem, was den Schrecken anging. Nachdem die Angst, sie könne nicht ankommen, und die schüchterne Freude der ersten Begrüßung vorüber waren, begann nun das Tagezählen: Es galt, zehn Tage zusammen mit Oma zu überleben. Eine Verantwortung. Eine schreckliche Verantwortung.
Mit einem Blick auf sie konnte ich mich überzeugen, dass sie weniger abgemagert war, als ich befürchtet hatte, vielleicht lag es auch daran, dass der Rest genauso war wie immer: die dicke Brille, das aufgeföhnte Haar, eines dieser Hängekleider in schaurigen Farben und mit unmöglichen Mustern, welche die alten Damen in Deutschland im Sonderangebot kaufen, die Handtasche mit irgendeinem goldenen Schnickschnack und die braunen Lederschühchen, schmale Basis für die unruhigsten, schnellsten und unermüdlichsten Beine der Familie. Endlich tauchte sie neben dem Mann mit dem Wägelchen auf und Ray schenkte ihr eine gelbe Rose. Beim ersten und letzten Mal, als sich Ray und Oma in Deutschland gesehen hatten, vor etwa 20 Jahren, hatte er ihr eine gelbe Rose geschenkt. Mir schien es weniger unglaublich, dass er das wieder tat, als dass Oma sich daran erinnerte. »Ray immer mit seinen gelben Rosen«, lachte sie. Ein ermutigender Anfang. Ein anderes Mal, als sie in Buenos Aires angekommen war und uns nicht direkt fand (ihr Flugzeug war zu früh gelandet), sagte sie zur Begrüßung als Erstes: »Ich hätte lieber nicht kommen sollen.«
Auf dem Weg zum Ausgang erzählte mir Oma, wie nett der Mann, der den Gepäckwagen für sie geschoben hatte, zu ihr gewesen sei. Vom Passagiertor bis zum nächsten Ausgang sind es im Flughafen Tegel nicht mehr als zehn Meter, Oma schaffte es jedoch, mir so oft zu sagen, wie nett der Mann mit den Koffern zu ihr gewesen sei, dass ich, als wir draußen ankamen, nicht umhinkonnte, dem netten Mann dafür zu danken, wie nett er zu meiner Oma gewesen war. »Sehen Sie, wie gut mein Enkel Deutsch spricht?«, sagte Oma daraufhin zu dem netten Mann. »Und das, obwohl er nicht hier geboren ist, sondern in Argentinien.« »Ich bin auch nicht hier geboren«, stellte der nette Mann in perfektem Deutsch klar.
Ich ließ Oma bei dem netten Mann und bei Ray und ging zum Parkplatz. An diesem Morgen hatte ich für die Zeit ihres Besuchs ein Auto gemietet, eine Idee, die Oma sehr begrüßte und komplett zu finanzieren versprach. Inspiriert worden dazu war ich von meinem Onkel, der in Brasilien lebt und, so die Vermutung meiner Mutter, nicht heiraten wird, bis Oma nicht gestorben ist. Ihm zufolge ist Oma wie ein Hund, man muss sie nur auf den Beifahrersitz setzen und sie ist glücklich. Mein Onkel wird nicht müde, sich über Oma lustig zu machen, über sie zu meckern, gegebenenfalls auch mit ihr zu streiten. Sie hingegen spricht nur selten schlecht von ihrem Sohn, wie sie es aber sehr wohl von ihrer Tochter tut. Den Onkel mag sie wegen irgendeiner Liebschaft kritisieren, weil er zu viel arbeitet und vielleicht wegen seines Umgangs mit Geld, ich habe sie ihn aber nie wegen irgendetwas Ernsthaftem schikanieren hören, wie sie es mit meiner Mutter manchmal macht. Und ich glaube, so wie meine Mutter versucht, die positive Seite ihrer Mutter zu sehen, weil sie im Grunde das Gefühl hat, Oma habe ihr die Jugend ruiniert, zieht mein Onkel unaufhörlich über sie her, weil er sie im Grunde abgöttisch liebt.
Ich holte also das Auto, der nette Mann lud die Koffer ein, wurde von Oma mit ein paar Münzen belohnt und wir fuhren los. Schon an der Brücke bei der Ausfahrt wollte Oma wissen, welcher Fluss darunter fließt. Ich, der ich kaum die Namen von Städten behalten kann, nannte irgendeinen nach dem Zufallsprinzip und wurde sofort vom Rücksitz aus von Ray korrigiert. Vor zwei Jahren, als mich Oma in Heidelberg besucht hatte, war ihr einziger ausdrücklicher Wunsch eine langweilige Schifffahrt auf dem Fluss gewesen, der durch die Stadt fließt, eine Fahrt, die sie vor Langem schon einmal mit dem Onkel gemacht hatte. Bei unserem Besuch im Hauptsitz der Deutschen Welle, am letzten Tag ihres diesmaligen Aufenthalts bei uns, wird sich Oma beim Leiter des Senders beschweren, dass die Namen der Flüsse beim Erscheinen auf dem Bildschirm nicht ausgewiesen werden. Oma weiß von jeder deutschen Stadt, welcher Fluss hindurchfließt, in manchen Fällen kann sie die Information sogar in Form der Eselsbrücken aufsagen, die sie in der Schule gelernt hat. Geografie sei ihre Leidenschaft, wiederholt sie unermüdlich. Deutsche Geografie, müsste man hinzufügen.
Sie redete die ganze Fahrt über, unmöglich, sich zu erinnern, worüber. Üblicherweise hat sie ein Hauptthema und verschiedene Unterthemen, die sie mit umständebedingten Fragen und Kommentaren verflicht, bei dieser Gelegenheit vermutlich zum Verkehr oder zu irgendwas, was sie durchs Fenster sah. Wahrscheinlich hat sie mich gefragt, was ich studiere, denn daran kann sie sich nie erinnern. »Du musst mir mal aufschreiben, was du studierst, damit ich es meinen Freundinnen erzählen kann«, sagte sie von ihrer Ankunft bis zur Abreise ein Dutzend Mal zu mir. Da sie von der Idee besessen ist, ihr ganzer Körper leide an Kalziummangel (den Ärzten zufolge ist, wie sie sagt, schon die ganze Wirbelsäule angegriffen), muss sie mir wohl auch von ihrem großen Glück erzählt haben, dass dies bislang nicht ihr Gehirn betreffe, auch wenn sie jedes Mal, wenn sie etwas vergisst, sagt: »Jetzt hat es mich erwischt, siehst du?« Um das Gehirn fit zu halten, machte sie die Kreuzworträtsel in den Zeitschriften, so sagt sie, auch wenn ich ihr einmal ein riesiges Buch nur mit Kreuzworträtseln geschenkt habe und sie nicht mal hineingeschaut hat, weshalb ich fürchte, das mit den Kreuzworträtseln ist nur ein Vorwand, um sich ohne Schuldgefühle ihre deutschen Klatschzeitschriften zu kaufen. Man muss ihr nicht die ganze Aufmerksamkeit schenken, wenn sie dieses Zeug wiederholt, wohl aber genug, um schnell auf ihre Fragen reagieren zu können, die nicht immer rhetorisch sind. Dass sie viel spricht, ist, auch wenn das Zuhören ermüdet, immer ein gutes Zeichen. Problematisch ist eher, wenn sie nicht spricht. Wenn Oma schweigt, dann ist sie eingeschnappt.
Bevor wir nach Hause fuhren, wollte sie zur Bank, um Geld abzuheben, einer Bank, so sei am Rande erwähnt, die heute im Verdacht steht, den Bau der Öfen von Auschwitz finanziert zu haben (»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mein Geld dort nicht angelegt«, versicherte mir Oma, als ich ihr davon erzählte. »Na ja«, stellte ich maliziös fest, »es ist immer noch Zeit, es dort wegzuholen.« »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich es nicht dort angelegt, aber ich wusste es nicht …«). Ich schlug vor, dass Ray sie begleitete, während ich aufpasste, dass wir kein Knöllchen bekamen, doch keiner von beiden schien von der Idee begeistert. »Ich möchte nicht, dass Ray weiß, wie viel Geld ich habe«, sagte Oma zu mir, kaum waren wir in der Bank. »Ich glaube nicht, dass sie möchte, dass ich weiß, wie viel sie auf dem Konto hat«, sagte Ray zu mir, als wir wieder allein waren. Ich ließ das Auto mit Ray darin im Parkverbot stehen – doppeltes Risiko – und begleitete Oma, ihre Geschäfte zu machen.
Omas Geld war immer ein Familiengeheimnis gewesen. Sie machte äußerst großzügige Geschenke, borgte bereitwillig Geld und knauserte zugleich an den lachhaftesten Kleinigkeiten. Sie war imstande, die Tickets für die ganze Familie in den Sommerurlaub zu zahlen und uns mit abgelaufener Schokolade zu empfangen. Da die großen Geschenke Angelegenheit meiner Eltern waren und für mich nur Bedeutung hatte, was ich bekam, und da Oma mir statt Spielzeug lieber Anziehsachen schenkte, hielt ich sie als kleiner Junge immer für geizig. Vielleicht wusste unser Onkel besser Bescheid (auch das ist ein Geheimnis), auf unserer Seite jedenfalls wurde ich in einer Atmosphäre groß, die geprägt war von der Meinung »Oma hat Geld, nicht viel, aber sie hat welches«. Wir wussten, dass sie eine Rente aus Deutschland bekam, dass sie einige Ersparnisse hatte und nicht viel ausgab, aber wir wussten nicht, wie viel sie tatsächlich besaß. Darin – wie in fast allem – war und ist meine Oma eine äußerst unabhängige Frau, sie fragt nie um Rat oder teilt nie Neuigkeiten mit, bevor es nicht vollendete Tatsachen sind. Ihre Besessenheit, keine Last für ihre Kinder zu sein, schließt ihren eigenen Tod mit ein, sie hat schon Geld für die Beerdigung beiseitegelegt und alle Papiere vorbereitet, damit es keine Probleme mit dem Erbe gibt.
Seit mein Großvater gestorben war, ein barscher Mann, von dem ich nur noch weiß, dass er beim Essen sehr laut war, so sehr, dass ich am Tisch nur ungern in seiner Nähe saß, lebte Oma allein in Südbrasilien. Ihre Freundinnen waren alle deutsche Jüdinnen in ihrem Alter oder noch älter (»Zusammen sind wir tausend Jahre alt, wir sind das Tausendjährige Reich«, scherzte Oma), an Kameradinnen fehlte es ihr also allem Anschein nach nicht (sie hatte sich sogar einen Anrufbeantworter gekauft und filterte die Anrufe), doch im Grunde war sie allein. Alle Versuche, sie nach Buenos Aires zu verpflanzen oder in einem Altenheim einzuquartieren, waren gescheitert; ihr gefiel eins in ihrer Stadt, doch da es kein jüdisches Altenheim war, ging sie dort lieber nicht hin, sie fürchtete das Gerede in der Community. Auch ihren Sohn in São Paulo besuchte sie nicht sehr oft, denn ihr zufolge war seine Freundin sehr eifersüchtig: Du weißt, wie die Weiber sind, suchte sie stets meine Komplizenschaft. Als Kind war es für mich schwer, zu verstehen, dass Mutter und Kinder Hunderte Kilometer entfernt voneinander lebten. Nun bin ich es, der Tausende Kilometer von meiner Familie entfernt lebt.
In der Bank und noch bevor sie sich orientiert hatte, welcher Schalter frei war, wollte Oma sofort mit dem Geschäftsführer der Filiale sprechen (oder, sollte der nicht da sein, mit dem Bankdirektor). Nur durch hartnäckiges Beharren konnte ich sie bis zum Schreibtisch einer Frau lotsen, die an ihrem Computer so tat, als sei sie sehr beschäftigt. Vor dieser Frau breitete Oma ihre Papiere aus, insbesondere die, die sie nicht brauchte und die auch keiner von ihr verlangt hatte, und erzählte ihr (neben ihrer langjährigen Beziehung zu der Bank und von Leuten, die sie in allen möglichen Filialen bedient hatten), dass ihr auf der Flughafentoilette die Handtasche heruntergefallen sei. »Hier, fühlen Sie mal, die Papiere sind ganz nass«, sagte sie, während sie sie ausbreitete. Die Frau vermied die Berührung, erschauderte lächelnd. Von ebendieser Frau, die mir ziemlich unangenehm war, würde sich Oma die persönliche Visitenkarte einstecken, weil sie sie so nett fand. An der Kasse hingegen behandelte man sie schlecht. Da ich zwischen der Bank und dem Auto hin- und herging, verstand ich nicht ganz, was passiert war. Vermutlich gar nichts. Oma behandelt man entweder sehr gut oder sehr schlecht und man versteht nie so ganz, warum. Trotz ihrer Vorurteile, oder vielmehr, weil diese alle menschlichen Typen gleichermaßen betreffen (ein Nichtjude, ein Goi, kann bei ihr Anstoß erregen, weil er ein Goi ist, ein Jude, weil er ein Jude ist), tritt Oma fast allen Menschen mit der Grundhaltung entgegen, sie seien nett und sympathisch, und gegebenenfalls ändert sie ihre Meinung später. Nur was genau eine Abkehr von diesem Urteil bewirkt, kann ich unmöglich sagen. Ich habe gesehen, wie sie ganz hin und weg sein kann von unerträglichen Personen und andere verachtet, die ihr nichts Böses getan haben, blind für konkrete Tatsachen und sehr empfänglich für Signale, die nur in ihrer Fantasie stattfinden. Manchmal denke ich, ihre Urteile über andere Menschen gehorchen nicht einem für mich zu entziffernden gesunden Menschenverstand, sondern einem willkürlichen Faktor: So und so viele Leute pro Tag muss sie mögen, so und so viele nicht. Ist die Quote für die einen erfüllt, geht sie zu den anderen über.
Als sie mit der Transaktion fertig war, verabschiedete sie sich mit einem überraschenden »Frohes neues Jahr!«. Ich rechnete mir aus, dass es bis 2004 noch vier Monate waren, und sagte ihr das. »Die Zeit vergeht im Flug«, antwortete sie mir ernsthaft. Während ihres Aufenthalts würde sie (erfolglos) versuchen, einen Stoffkalender für 2004 zu erwerben. Immer wieder erinnerte sie sich daran und wir mussten in die ungeeignetsten Läden gehen, um zu fragen, ob sie nicht einen von diesen schon an sich ziemlich anachronistischen Ulklappen hätten, und das zu einem Zeitpunkt, der selbst hierzulande, wo man zuerst an die Pensionierung denkt und dann erst an das Leben, das man bis dahin ertragen muss, verfrüht war. Oma hat wohl kein Jahr ihres Lebens ohne Stoffkalender verbracht. Ich meine mich zu erinnern, dass meine Mutter mehrere Exemplare vergangener Jahre hatte, umfunktioniert zu Küchendekoration oder Handtüchern. Oma hatte noch weitere Wünsche dieser Art, die ich jedes Mal befriedigen sollte, wenn ich nach Lateinamerika kam: diese Marke von Fleckentferner, jene eines Reinigungsmittels für die Zahnprothese, jene zur Mottenbekämpfung, diese für Brillenreinigungstücher (»Hier in Brasilien versuchen sie diese Dinge nachzumachen, aber die taugen nix«, rechtfertigte sie sich). Zu diesen Markenprodukten – immer die teuersten, denn Oma mag sparsam sein, weiß deshalb aber nicht weniger genau, was gut ist – kamen die Klatschzeitschriften über die europäische Aristokratie, die Oma »wegen der Kreuzworträtsel« orderte. Eine Ecke der Koffer ihrer Enkel war immer für Omas Capricen reserviert. Über ein halbes Jahrhundert nach ihrem erzwungenen Exil hielten diese Dinge sie physisch in Kontakt mit ihrem Heimatland. Sie waren ihr kleines Deutschland im Taschenformat.