Julia starrte auf die vorbeiziehenden Serpentinen der schwach beleuchteten Peak Road hinaus und unterdrückte ein Gähnen. Simon nahm die Kurven viel zu schnell, doch sie lehnte es ab, darauf nervös oder beeindruckt zu reagieren. Sie wusste, dass er bereits den ganzen Weg von Aberdeen über seinen nächsten Schritt nachdachte, und bis zu einem gewissen Grad konnte sie sogar erraten, was das sein würde: die Hand–auf–Oberschenkel–Nummer. Bislang war er absolut vorhersehbar gewesen. Wie die meisten Männer.
Sie in die derzeit angesagte neue Bar und anschließend in den Aberdeen Marina Club zu schleifen, waren plumpe Versuche gewesen, sie zu beeindrucken – wirklich ausgesprochen blöd. Sie stand schon nicht mehr auf Nachtclubs, seit sie alt genug war, legal hineinzukommen, und dem Marina Club gehörte sie seit frühester Kindheit an. Verdammt, dachte sie, wenn ich mit den alten Stockfischen hätte reden wollen, zu denen sich Simon unbedingt an die Theke setzen musste, hätte ich genauso gut zu Hause bleiben können. Waren sowieso alles Freunde ihrer Eltern.
Öde.
Die Dreiervorstellung war das Einzige, was er an diesem Abend richtig hingekriegt hatte, denn nicht jeder ihrer Verehrer würde sich hintereinander drei Folgen Nightmare on Elm Street reinziehen, nur um ihr Herz zu erobern. Zu dem Zeitpunkt hatte sie noch gedacht, es gäbe vielleicht doch ein paar Hoffnungsschimmer, dass er kein komplettes Arschloch war. Selbst seine beknackten Kommentare während der drei Filme, mit denen er beweisen wollte, wie obercool er war, hatten ihr den Spaß nicht völlig verderben können. Hätte er auch nur einen Funken Verstand besessen, dann hätte er unmittelbar nach dem Kino versucht, sie zu verführen.
Im gelblichen Schein der Straßenlaternen warf sie einen Blick auf sein Profil – selbstgefällig. Einen Augenblick später fiel auch schon wie zufällig eine Hand auf ihren Schenkel.
»Die brauchst du doch fürs Schalten, oder nicht?«, fragte Julia gelassen.
»Oh, tut mir leid.« Die Hand verschwand. Kurzes Schweigen, und dann Simons unverzagte, aber immer noch hoffnungsvolle Stimme: »Weißt du, ich bin gern im Dunkeln mit dir allein.« Wieder senkte sich die Hand auf Julias Oberschenkel, und diesmal machten sich die Finger sofort auf die Suche nach empfindlicheren Gefilden.
Julia verzog das Gesicht. Sie wusste noch nicht, ob sie mit ihm schlafen würde, auch wenn das durchaus möglich war – er wäre nicht der erste Idiot, den sie in ihr Bett steigen ließ, und es gab keinerlei Grund zu der Annahme, dass er der letzte sein würde. Die Frage war nur, wie weit wollte sie ihn bei diesem ersten Date gehen lassen? Oder, um es anders auszudrücken, wie viel Dressur brauchte er vorher?
Die Finger begannen ihren Schenkel zu massieren und näherten sich der Gefahrenzone. Julia seufzte. Er konnte ja nicht wissen, wie sehr sie es hasste, befummelt zu werden, andererseits nervte es aber auch gewaltig, ständig darauf hinweisen zu müssen.
»Die Hände aufs Lenkrad, Simon. Es ist eine kurvenreiche Strecke.«
»Vielleicht sollten wir links ranfahren?« Fummel.
»Vielleicht solltest du mich nach Hause bringen.«
Daraufhin nahm er zögernd die Hand weg und trat das Gaspedal durch. Sie konnte seine Zähne schimmern sehen, als er nun lächelte – mein Gott, dachte sie, der bildet sich tatsächlich ein, ich würde ihn einladen, noch mit reinzukommen. Dieses Mal gähnte sie unverhohlen.
»Julia?«
»Fahr einfach«, sagte sie, »und sei leise, wenn wir ankommen. Ich möchte meine Eltern nicht wecken.«
Sie fuhren schweigend weiter, bis Simon mit dem Porsche in die dunkle Toreinfahrt einbog und die Allee zum Haus hinauffuhr, wobei er den Motor fast im Leerlauf schnurren ließ, um so wenig wie möglich Lärm zu machen. Im Schatten der Bäume an der Seite des Hauses ließ er den Wagen ausrollen.
»So«, meinte er zuversichtlich, »da wären wir.«
»Sehe ich, ja.« Julia war immer noch unschlüssig. Sie beugte sich hinüber und gab ihm versuchsweise einen Kuss. Er reagierte, indem er ihr sofort seine ziemlich feuchte Zunge zwischen die Lippen schob und mit einer Hand die Brust knetete, was sie vermutlich anturnen sollte. Sie versteifte sich.
Er beendete den Kuss und schob seinen Mund an ihr Ohr. Heißer, feuchter Atem kitzelte ihr Trommelfell. »Oh Babe«, hauchte er, »ich könnte so gut für dich sein.«
Oh Gott, dachte sie, das war’s dann. Damit hatte sich Simon ihr Bett verscherzt, zumindest was die unmittelbare Zukunft betraf. Er hätte nicht so dumm sein sollen, sie »Babe« zu nennen oder einer Frau mit dieser »Gut für dich«–Geschmacklosigkeit zu kommen.
»Eigentlich«, sagte sie frostig, »stehe ich mehr auf Männer, die schlecht für mich sind.«
Sie entfernte seine Hand von ihrer Bluse, lächelte dabei aber, um dem Stachel etwas an Schärfe zu nehmen – schon möglich, dass er ein Idiot war, aber er war ein Idiot, der gerade den Freddy–Test bestanden hatte und außerdem reich und vorzeigbar genug, um für die Tochter eines der stinkreichsten Männer Hongkongs einen brauchbaren Begleiter abzugeben. Er glotzte sie fassungslos an; jetzt kam die Feuerprobe. Würde er wie ein ausgemachtes Arschloch reagieren oder wie eines, das man noch abrichten konnte? Julia drückte ihm einen Kuss auf die Wange und strahlte ihn an.
»Weißt du, es ist schon ziemlich spät. Danke für den tollen Abend, Simon. Das Filmfestival war echt super.«
»Ach ja?«, erwiderte er unterkühlt.
»Klar. Die gute alte Elm Street.«
Simon fing sich wieder. Seine Hand wanderte abermals Richtung Bluse. »Warum komm ich nicht einfach mit rauf und vergewissere mich, dass Freddy nicht in deinem Schlafzimmer lauert?«
»Nein, danke. Was würde mein Vater denken, wenn er dich morgens um« – sie sah auf ihre Uhr – »zwanzig nach vier in meinem Schlafzimmer entdeckt?«
»Aber ich dachte …«
»Gute Nacht, Simon.«
»Aber …«
»Wir sehen uns. Ruf mich an.«
Sie gab ihm noch einen trockenen Schmatzer auf die Wange, öffnete in einem fließenden Bewegungsablauf die Beifahrertür, stieg aus und drückte sie mit einem leisen Klick zu. Seine Lippen bewegten sich hinter der Scheibe, und er lächelte jetzt nicht mehr – Männer aufgeilen? Sah aus, als hätte er das gesagt. Tja, schon möglich, dass sie das machte, vielleicht auch nicht, jedenfalls sah es ganz danach aus, als würde Freund Simon nur so gerade eben den definitiven Idiotentest bestehen. Sie drehte sich um und ging an der Hausseite vorbei zum Hintereingang – das verringerte die Wahrscheinlichkeit, ungewollt einem schlaflosen Elternteil in die Arme zu laufen –, erstarrte dann jedoch entsetzt, als sie hörte, wie Simon den Motor aufheulen und abrupt die Kupplung kommen ließ. Mit durchdrehenden Reifen raste er die Zufahrt hinunter und schleuderte Kies gegen die Bäume.
»Mein Gott, was für ein ausgemachtes Arschloch«, brummte sie. »Warum hat er sich nicht noch ein paarmal auf die Hupe gelegt und gleich den ganzen Peak geweckt?«
Sie vermutete, dass Diskretion jetzt sinnlos war, aber zur Hintertür war es bereits näher als zum Vordereingang, also ging sie weiter und kramte in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. Ihre Finger schlossen sich genau in dem Moment um das Schlüsselbund, als sie die Tür erreichte. Immer noch sauer über Simons Verrat, versuchte sie den Schlüssel ins Schloss einzuführen, als sie bemerkte, dass dies nicht mehr nötig war. Die Tür war bereits offen. Durch den Druck des Schlüssels gegen das Schloss schwang sie ein paar Zentimeter auf, und ein kalter Luftzug wirbelte heraus.
Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Einbrecher, Vergewaltiger, Mörder … Freddy. All die zahllosen Horrorfilme und Slasher–Videos, die sie je gesehen hatte, eine breite Palette der ekelhaftesten Szenarien stürmte auf sie ein. Sie dachte kurz daran, zurück zur Straße zu laufen, um Simon noch zu erwischen, doch der war inzwischen wahrscheinlich längst fort.
Jetzt mal ganz langsam, dachte sie. Die Vernunft verschaffte sich wieder Geltung. Ihre Eltern hatten jemanden auf ein paar Drinks eingeladen, was einer der Gründe gewesen war, weswegen sie alles andere als begeistert reagiert hatten, als Julia ihnen mitteilte, sie werde ausgehen und abends nicht da sein. Sie hatten gewollt, dass sie zu Hause blieb und ihren Gast kennen lernte, aber Julia roch es eine Meile gegen den Wind, wenn sie verkuppelt werden sollte, und die Männer, die ihre Eltern für sie aussuchten, waren ausnahmslos gigantische Arschlöcher.
Der springende Punkt aber war – und sie spürte auch noch den letzten Rest ihrer Panik schwinden –, dass sie getrunken hatten, und sie wusste genau, wie gern ihre Eltern dem Wein zusprachen, genau wie Whiskey, Gin, Rum, Brandy und Wodka. Julia trank auch ganz gerne mal einen, doch sie genehmigten sich ungefähr sechsmal mehr, als gut für sie war. Wahrscheinlich hatten sie den Abend mit reichlich Alk verbracht und waren aus den Latschen gekippt, ohne sich vorher zu vergewissern, dass alles richtig abgeschlossen war. Das war schon zweimal passiert, und nur Demmy, die einzige Angestellte, die auch im Haus wohnte, hatte eine mögliche Katastrophe verhindert, indem sie noch einmal aus dem Bett gestiegen war, nachdem die letzten Gäste gegangen waren, und aus eigener Initiative alles abgeschlossen hatte. Die gute alte zuverlässige Demmy.
Also, wo steckte Demmy heute Abend? Julia durchzuckte ein unsicheres Gefühl, das sie allerdings mühelos verdrängte. Sie war viel zu müde, um richtig Angst zu haben. Trotzdem schlich sie auf Zehenspitzen in die Küche.
Der dunkle Raum war friedlich, und über der Stille lag nur das beruhigende, beinahe unterschwellige Summen des Kühlschranks. Julia blieb neben der offenen Tür stehen und lauschte – nichts rührte sich in den dunklen Winkeln des Hauses. Sie seufzte und drehte sich um, weil sie die Tür schließen wollte.
Ein heftiger, kalter Luftschwall packte sie von hinten und zerzauste ihr das Haar. Erschreckt spannte sie sich an. Die Luft umhüllte sie wie ein eisiges Futteral und blieb ein paar Sekunden. Dann schnappte Julia nach Luft, als sie einen kalten, festen Druck auf ihren Brüsten spürte, ein Kneten, als würde jemand sie in die hohle Hand nehmen, die Brustwarzen finden, drücken, ziehen, nicht zärtlich, und dann war es wieder weg. Mit einem lauten Aufschrei stürzte sie sich auf den Lichtschalter neben der Tür und tauchte den Raum in grelles Neonlicht. Die Küche war leer.
Julia holte tief Luft.
Natürlich war sie leer. Was erwartete sie denn? Die Eskapaden von Freddy und seinen kleinen Freunden hatten die Fantasie mit ihr durchgehen lassen … Geschickt hatten sich ihre versoffenen Eltern genau diesen Abend ausgesucht, die Hintertür nicht abzuschließen … Mehr steckte nicht dahinter. So konnte sich ein schlichter kalter Luftzug in einen Phantomgrapscher verwandeln. Sie ließ einen letzten Blick über die Küche wandern, fluchte über sich selbst und drehte sich dann um, um die Tür zu schließen. Ein Nebelschwaden waberte durch den Garten. »Toll«, flüsterte sie. »Genau das hat mir noch gefehlt. Gespenstische Special Effects. Vielen Dank, lieber Gott.« Sie zog die Tür zu und schloss ab.
Er schwebte als Nebel im Garten und beobachtete die lilitak durch den Kristall der Tür, bis sie verschwand; dann ließ er sich durch die Blätter eines großen Baums weiter hinauftreiben, teilte sich, wirbelte und formte sich um, bis er auf das Dach dieses seltsamen kleinen Palastes mit seinen fahlen Statuen und dem hellblauen Teich hinab lächeln konnte. Ein guter Ort, der in seiner Erinnerung positive Bilder weckte – Blut auf Seide, Blut auf Marmor, mit Gold eingefasste Kehlen. Und mehr noch, der unverwechselbare Geschmack von Macht und Stolz in diesem Blut, so anders als der Geschmack der erbärmlichen bhutiks, an denen er sich zuvor gütlich getan hatte. Ja, ein guter Ort.
Ihn verblüffte nur, dass dieser Palast so klein war.
Nachdenklich schwebte er in der Luft. Es wäre überhaupt kein Problem, wegen der Weichhäutigen jetzt noch einmal zurückzukehren, dieser kleinen lilitak. Und es würde sich ebenfalls lohnen, in körperlicher Gestalt zu ihr zurückzukehren, denn ihr Körper besaß für ihn einen Wert über das Blut hinaus, das er enthielt, seidig würde sie sein, innen wie außen …
Aber seinen Hunger hatte er bereits gestillt, und es war angenehm hier oben in den Wipfeln, war doch eine unschätzbar lange Zeit vergangen, seit er das letzte Mal bei Mondschein im Freien geschwebt hatte. Vielleicht fiel ihm ja sogar sein Name wieder ein. Die lilitak konnte warten.
Leise durchquerte Julia die Küche ins Esszimmer und zwang sich, im Vorbeigehen das Licht in der Küche auszuknipsen. Dies war mit Sicherheit nicht der richtige Augenblick, Angst vor der Dunkelheit zu entwickeln. Außerdem war das Esszimmer alles andere als pechschwarz. Das Licht der Außenbeleuchtung wurde von den pastellfarbenen Wänden zurückgeworfen; tagsüber ein geschmackvolles Apfelgrün, im Augenblick ein mattes Grau, das von den Schatten sich bewegender Blätter im Garten verschmiert wurde; Schatten, die Händen überraschend ähnlich waren, als sie jetzt hinsah, Phantomhände, die sich blind die Wände hinauftasteten und ihr sich entgegenstreckten, ein ausgesprochen effektvolles Bild, das in einen Hitchcock–Film gepasst hätte …
Dann überlegte sie, das Licht doch einzuschalten.
Sie kalkulierte schnell. Der nächste Schalter befand sich hinter ihr neben der Küchentür. Das dürfte genügen, um durchs Esszimmer zum Schalter neben der Tür zum Salon zu kommen. Von dort aus würde sie wiederum die Schalterleiste in der Eingangshalle mit ihrem Marmorboden erreichen. Damit hätte sie genug Licht für die Treppe, die hinauf zu den Schlafzimmern und in Sicherheit führte.
In Sicherheit? Sie wusste genau, warum ihr dieses Wort in den Sinn gekommen war. Diese verdammten Schatten an der Wand, natürlich, und die Nachwirkungen einer dreifachen Dosis von dem alten Pizzagesicht. Ihr Bett und eine Mütze voll Schlaf waren genau das, was sie jetzt brauchte. Sollten ihre Eltern neugierige Fragen stellen, wo sie bis tief in die Nacht gesteckt hatte, oder meinen, ihr Vorwürfe machen zu müssen, weil sie im Erdgeschoss alle Lampen hatte brennen lassen, dann hatten sie ihr bereits die perfekte Gegenmunition geliefert. Säufer. Schluckspechte. Wer hatte denn vergessen, die Hintertür abzuschließen? Bestärkt durch Empörung tapste Julia zurück zum Lichtschalter.
Irgendetwas erregte ihre Aufmerksamkeit, als sie die Hand ausstreckte. Etwas am Esszimmertisch. Sie drehte sich um, runzelte die Stirn, linste einen Moment angestrengt durch das Dämmerlicht und versuchte, etwas zu erkennen. Ein Stapel Servietten, die verkrumpelt über die Tischkante hingen …
Nein: ein weißes Hemd. Und jemand trug es.
Ein Schrei aus dem kleinen Palast. Interessant. Die lilitak? Temutma löste sich aus seinen Träumereien, war immer noch schläfrig und trieb hinunter zu den mondbeschienenen Dachziegeln.
»Oh verdammte Scheiße!« Als Julia wieder zu Atem kam und ihr Herz aufhörte, Rumba zu tanzen, war sie wütend. Ein wildfremder Mensch lag zusammengesackt über dem Esszimmertisch, sabberte die polierte Teakholz–Oberfläche voll und hatte einen Arm ausgestreckt, als greife er nach der Kristallvase mit Rosen in der Mitte des Tisches. Offensichtlich der Saufkumpan ihrer Eltern und viel zu besoffen, um nach Hause fahren zu können. Und ihre hochverehrten Eltern waren ebenfalls zu betrunken gewesen, um etwas anderes tun zu können, als ihn einfach dort liegen zu lassen, wo er aus den Latschen gekippt war. Reizend.
»Ich hoffe, du hast einen fetten Kater, wenn du aufwachst, du dummer Mistkerl«, flüsterte sie. »Mir so einen Scheißschrecken einzujagen!« Sie starrte ihren unfreiwilligen Hausgast an und fragte sich beiläufig, welches grässliche Exemplar ihre Eltern ihr diesmal vorzusetzen versucht hatten. Das Gesicht hatte sie noch nie gesehen, doch sie erkannte den Typ. Irgendein ehrgeiziger, noch ziemlich junger Geschäftsmann, dessen größter Wunsch darin bestand, genau so zu werden wie ihr Vater. Der sich, falls sie ihn heiratete, die größte Mühe geben würde, aus ihr jemanden genau wie ihre Mutter zu machen.
Ein Arschloch. Ein Idiot.
Und noch dazu kein besonders gesund aussehender Idiot. Genau genommen sah er ziemlich tot aus. Julia runzelte die Stirn, als sie seine Hautfarbe registrierte, ein teigiges Weiß, ein kranker Farbton, der sie an schmutzige Kreide erinnerte. Und so einen hielten ihre Eltern für einen geeigneten Heiratskandidaten? »Oh verdammte Scheiße«, wiederholte sie angewidert, denn plötzlich war ihr aus Richtung des Fremden der strenge Geruch von Exkrementen in die Nase gezogen – der Kerl war nicht nur zu besoffen zum Autofahren, sondern auch noch zu besoffen, um es bis zur Toilette zu schaffen.
Sie hatte sich bereits abgewandt, als ihr ein schrecklicher Gedanke kam. Angenommen, er sah nicht nur tot aus – angenommen, er war tot. Angenommen, er war im Schlaf gestorben, erstickt an seinem eigenen Erbrochenen, war an einem Herzinfarkt gestorben oder an einem geplatzten Äderchen im Gehirn. So was kam vor, ja, musste angesichts der exzessiven Trinkgewohnheiten ihrer Eltern und ihres Freundeskreises früher oder später passieren. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Tisch, rümpfte über den Gestank die Nase, als sie näherkam, und griff nach der schlaffen Hand.
Kalt.
Julia sprang zurück und riss erschrocken die Hände zur Brust. Eiskalt und klamm.
Der Fremde war tot.
Julia wischte sich die Hand am Kleid ab und versuchte, die ansteckende Berührung mit dem toten Fleisch ungeschehen zu machen.
Ihr Verstand arbeitete inzwischen fieberhaft. Mutter. Vater. Sie musste sie wecken und es ihnen sagen. Sie drehte sich um und stürmte durch den Salon zur Treppe. Als sie die Eingangshalle erreichte, blieb sie abrupt stehen und griff nach dem Lichtschalter. Aber das Licht aus dem Esszimmer schwappte durch den Salon und ergoss sich durch die zweiflügelige Tür.
0 mein Gott!
Irgendetwas lag über der untersten Treppenstufe, etwas, das zu begreifen sich ihr Gehirn einen Moment weigerte, denn es war so offenkundig absurd. Es war Demmy, das Hausmädchen, so weit war es schon in Ordnung. Aber sie lag halb auf dem Boden und halb auf der untersten Stufe, so als hätte sie nur eine Pause eingelegt, um ein Nickerchen zu machen, als sie gerade damit beschäftigt war, die Teppichstangen aus Messing zu polieren.
»Demmy? Demmy? Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Demmy, ich brauche Ihre Hilfe!«
r schwebte in ein Gerät schnatterte, dessen Zweck er nicht verstand. Davon gab es in dem kleinen Palast mehrere, und er erinnerte sich, wie sich der unten verzweifelt auf ein solches Gerät gestürzt hatte, als wäre es eine Waffe oder ein Machtinstrument, mit dessen Hilfe sich der Eindringling abwehren ließ. Verwirrend. Er hatte keinerlei Macht in dem Gegenstand entdecken können, als er ihn später von der Wand riss und näher untersuchte.
Er dachte über diese lilitak nach, fühlte sich nicht versucht, unmittelbar etwas zu unternehmen. Auch das war verwirrend. Ihre Haut war sehr glatt; warum sie nicht jetzt sofort nehmen? Was hielt ihn zurück? Vielleicht war sein Hunger nicht mehr so intensiv wie zuvor, aber das war nicht alles. Es gab noch einen zweiten guten Grund, zu zögern. Die Worte waren da, wenn er sie nur packen könnte.
Ein Spiel spielen.
Ein Spiel spielen? Das waren die Worte. Er untersuchte sie, folgte den Fäden ihrer Assoziationen zurück zu anderen Bildern von lilitaks, die auch nicht sofort genommen worden waren, sorgfältig vorbereitete lilitaks. Erregung wogte durch seine Essenz, als er sich zu erinnern begann. Umwerbungsspiele, Jagdspiele. Spiele, um das Blut einer lilitak zu würzen und dank einer umsichtigen Verzögerung sein eigenes Vergnügen zu steigern. Spiele, die die Mahlzeit am Ende interessanter machten.
Ja. Er würde mit dieser hier ein Spiel spielen.
Und er würde jetzt damit beginnen.
Immer noch vor dem Fenster schwebend, formte er ein Gesicht, das die lilitak sehen konnte, und wartete darauf, dass sie aufschaute.
Julia schaute auf.
Der Tagesanbruch rückte näher. Das Spiel hatte einen guten Anfang genommen, das Spielfeld war vorbereitet, den nächsten Schritt hob er sich lieber für ein anderes Mal auf. Temutma schoss hoch in die Luft und streifte über den erwachenden Straßen, über das dunkle Wasser, folgte mühelos seiner eigenen ätherischen Spur durch die Wolke der bhutik–Ausdünstungen, die über der Stadt wirbelte.
Dann erwischte ihn ein jäher Lärm wie ein körperlicher Schlag. Etwas flog über ihm vorbei, etwas, das kreischte und mit mächtigem Wind die Luft zerfetzte, auf ihn eindrosch, ihn bis dicht über die Dächer abstürzen ließ. Wütend schraubte er sich wieder hinauf in den Himmel und bereitete sich auf den Kampf vor.
Hinter ihm fiel kreischend ein großes Schiff aus den Wolken: weiß, mit Augen auf dem Bauch. Im nächsten Augenblick berührte es die Erde und flüchtete vor ihm auf einer Straße so gerade wie ein Messerschnitt und so breit wie die Prachtstraße eines Barbarenkönigs. Er brüllte, wirbelte triumphierend herum und machte sich auf die Rückkehr zu den Türmen, die das Nest verbargen.