Temutma

Temutma

Roman

Rebecca Bradley

Stewart Sloan

Übersetzt von Jürgen Bürger

Inhalt

Impressum

Prolog

1. Das Erwachen

2. Julia Ralston

3. Michael Scott

4. Die Presse

5. Kein Blut

6. Näher

7. Alles passt

8. Stress

9. Alpträume

Das Originalcover

10. Neue Zeiten

11. Fortsetzungen

12. Einer geht

13. Perspektiven

14. Oh mein Gott

15. Lehrzeit

16. Verwundet

17. Opfer

18. Nicht fair

19. Kein Blick zurück

Epilog : 1997

Über die Autorin

Über den Autor

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Prolog

Satt und zufrieden, gewindelt in Zerfall, beruhigt durch Stille, umhüllt von Dunkelheit, Fäulnis und dem Gestank tropfenden Mauerwerks, schlief er etwas länger als vier Dekaden. War von Zeit zu Zeit etwas so unvorsichtig, nahe genug zu kommen, um sich ohne die Anstrengung eines vollen Erwachens davon nähren zu können, nuckelte er im Schlaf, nachdem er die Ranken seines Willens ausstreckte und die Nahrung zu sich zog. Dann wurden seine blutigen Träume durch echte purpurne Ströme und Festgelage echter panischer Angst mit Leben erfüllt. Geborgen und bei Kräften gehalten durch solche zufälligen sowie gewisse andere regelmäßige Gaben, hätte er problemlos weitere vierzig Jahre schlafen können.

Doch ein über Hunderte von Dekaden entwickelter Instinkt reagiert sehr empfindlich auf Veränderungen in der Umgebung des Nests – Dezimierungen oder Zerstörung, das Prasseln von Feuer, das Geschrei von Seuche oder Pogrom, das Keuchen von Flüchtlingen und die Jagdrufe ihrer Verfolger, das Grollen von Erdbeben, Überschwemmung oder marschierenden Armeen, all die feinen oder groben Verschiebungen in der Balance des Äthers, die eine Flut an Blut und erfreuliche Gelegenheiten ankündigen. Durch den roten Schimmer seiner Träume spürte er jetzt dieses erste Beben einer sich ändernden Struktur des Nests. Er rührte sich im Schlaf.

Das Gleichgewicht schwankte und verschob sich hin zum Wandel. Er spürte es wie ein klares Hornsignal, wie das dumpfe Schlagen von Kriegstrommeln, wie einen Schrei. Hinter seinen Lidern preschte die letzte Armee seines Traumzyklus auf stattlichen Pferden durch die Tore einer brennenden Stadt, teilte sich um eine hoch aufgetürmte Pyramide aus Schädeln und fiel hinter schwarzen wogenden Wolken unter ihm zurück, während er von seinen Instinkten hoch über die Steppen des Schlafs hinausgehoben wurde. Zum ersten Mal seit ungefähr vierzig Jahren öffneten sich seine Lider, aber noch stand er nicht auf. Er wartete, dass die Worte zurückkehrten.

1

Das Erwachen

Kwong Liu–So fühlte sich ungeschützt. Ihm war es egal, dass sein strapazierfähiger Overall sicher in kniehohen Gummistiefeln steckte, seine Lederhandschuhe anderthalb Zentimeter dick gepolstert waren und die Gazemaske ihr Bestes tat, die faulige Luft erträglicher zu machen. Bei solchen Gelegenheiten wünschte er sich, die Stadtwerke würden etwas diesen altmodischen Tauchanzügen Vergleichbares zur Verfügung stellen, mit einer schönen großen Metallkugel als Helm, der den Gestank fernhielt, und am liebsten auch noch mit einer zusätzlichen Panzerung, damit sich die Dunkelheit hinter seinem Rücken leichter ignorieren ließ.

Er atmete durch den Mund, meinte, den Gestank buchstäblich schmecken zu können, und fluchte hinter seiner Gesichtsmaske. Hier unten war’s schlimmer als in den Abwasserkanälen.

Wenn er es sich recht überlegte, war’s sogar noch schlimmer als der letzte Job, den Mr. Chu ihm gegeben hatte, als er aufspüren musste, was einen abgedeckten Entwässerungsgraben in Mong Kok verstopfte. Das Hindernis stellte sich als Hundekadaver in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung heraus, der sich im Abflussrohr verkeilt hatte, wodurch sich dahinter das Wasser aufstaute und die Gasse in einen stinkenden Morast mit einer breiten Palette giftiger Industrieabfälle verwandelte. Ausgesprochen ekelhaft und ein absolut unvergesslicher Geruch, aber es dauerte nur fünf Minuten, den Hundekadaver in Einzelteilen herauszubekommen, während der aktuelle Job hier ihn locker mehrere Wochen in diesem Stinkloch festhalten konnte.

Kwong schnaubte verächtlich. Sechs Tage, so lautete die Schätzung. Sechs Tage. Welcher blöde Schreibtischhengst auch immer für die Arbeitspläne verantwortlich zeichnete, er war offensichtlich noch nie in – oder besser unter – dem dreidimensionalen Labyrinth gewesen, das als Kowloon Walled City oder Ummauerte Stadt bekannt war. Und egal wie lange es am Ende wirklich dauerte, Kwong konnte sich darauf verlassen, dass er dank Mr. Chu bis zu den Achseln in der denkbar miesesten aller möglichen Aufgaben steckte. Wieder zog er die Möglichkeit in Erwägung, dass sein direkter Vorgesetzter ihn auf dem Kieker hatte. Die Anhaltspunkte dafür schienen deprimierend eindeutig.

Trotz Maske war der Gestank bestialisch und schlug den letztwöchigen Cocktail aus verfaulendem Hundefleisch und unverdünntem Industriemüll auf Kwongs persönlicher Gestankhitparade noch um Längen. Er verzog das Gesicht hinter seiner Baumwollmaske, richtete den Strahl der Taschenlampe nach oben und ließ ihn über die feucht glänzenden Steinwände gleiten.

Wie viel tiefer konnte dieser verfluchte Keller denn noch gehen? Er befand sich bereits zwei Ebenen unter dem offiziell untersten Kellergeschoss mit Wänden aus sauber gearbeitetem Backsteinmauerwerk, und es störte ihn, dass die Wände hier unten stattdessen wie in einer Höhle aus grob behauenem Fels bestanden. Zögernd ging er weiter und ließ den Lichtkegel von einer Seite zur anderen schnellen.

Es war gewaltig, richtig gewaltig. Er blieb stehen und schwenkte die Taschenlampe langsam einmal im Kreis. Er staunte, wie weit zurück die Treppe bereits lag, während sich die dunkle Kammer vor ihm in eine pechschwarze und stinkende Unendlichkeit zu erstrecken schien. Die Decke wurde von offenbar aus dem rohen Fels zu alptraumhaften Gestalten geschlagenen Säulen getragen, die beinahe menschlich wirkten, bis er den Lichtstrahl direkt auf sie richtete, die auf ihren gekrümmten Rücken und missgebildeten Schultern das auf ihnen lastende Gewicht zu tragen und nur darauf zu warten schienen, sich wieder zu bewegen, sobald er sie aus dem paralysierenden Strahl seiner Taschenlampe befreite.

Er zwang sich weiterzugehen, ließ die Taschenlampe vor und zurück pendeln, blieb erneut stehen, bewegte den Lichtstrahl langsam zu etwas zurück, das er fast übersehen hätte. Ja, da war’s, knapp fünf Meter vor ihm und ein wenig zur Seite: ein Spalt im Boden, wie der Rand einer Grube oder – er stöhnte – womöglich das Kopfende einer weiteren Treppe, die sich noch tiefer in diesen infernalischen Steinhaufen grub. Er ging ein paar Schritte, bis er sehen konnte, dass es nur eine Grube war, ein Tümpel der Finsternis mit schartigen Kanten, der alles Licht verschluckte und nichts zurückgab.

Das Geräusch und der neuerlich intensivierte Geruch erreichten ihn fast gleichzeitig: ein Geräusch wie eine zaghafte Bewegung, gedämpft und schwerfällig, gerade so, als mühte sich etwas kraftlos unter einem feuchten Gewicht ab; der Geruch war mit Abstand die unübertroffene Nummer eins auf Kwongs persönlicher Gestankhitparade und intensiv genug, um beinahe eine eigene Substanz zu besitzen, die sich wie drahtige schwarze Finger durch die Poren seiner Maske bohrte, ein so übler und erstickender Geruch, dass Kwong der bisherige Gestank vergleichsweise wie Weihrauch und Kirschblüten vorkam. Er würgte und sank auf die Knie, behielt dabei instinktiv die Taschenlampe fest umklammert – doch dann kam wieder das Geräusch, lauter diesmal und gar nicht mehr so kraftlos, zusätzlich durchdrungen von einer gewissen Entschlossenheit, die an schierer Bösartigkeit durchaus dem Geruch in Kwongs Nase gleichkam.

Es kam aus der Grube.

Kwong war bereits halb die erste Treppe hinauf, bevor er überhaupt begriff, dass er sich bewegte. Diese Erkenntnis bremste ihn allerdings nicht – fieberhaft stolpernd nahm er die restlichen Stufen, stürmte durch den oberen, aus dem Fels gehauenen Keller und kämpfte sich gerade auf die Ebene hinauf, wo das Mauerwerk begann, als er Hals über Kopf gegen einen dunklen, unförmigen Gegenstand krachte, der sofort aufjaulte, auf ihn eindrosch und ihn der Länge nach seitlich zu Boden schleuderte.

»Kwong, du verfluchter Idiot«, dröhnte Mr. Chus Stimme aus der Dunkelheit, »willst du mich umbringen, oder was?«

Bei dem Geräusch fliehender Schritte rührte er sich: Das Tempo interessierte ihn, weil es Angst erkennen ließ, und Angst war ein Wort, an das er sich schnell wieder erinnerte. Angst: ihr intensiver Geschmack, die Hitze, die sie in den Herzen der niederen Rasse entfachte, die dichte Konsistenz, die sie ihrem Blut verlieh. Angst war gut.

Er bewegte sich erneut, erinnerte sich und wischte die leeren Hülsen aus vierzig Jahren gelegentlicher Nahrung von sich, manche klein und pelzig, andere größer und unbehaart, aber alle schon lange ohne jeden Wert für ihn.

Wo war er? Was war er? Irgendwo in seinem Verstand verborgen lagen andere Worte, Worte, mit deren Hilfe er sich definieren konnte, aber vorläufig waren sie nur Schemen und noch nicht der Mühe wert, sie weiter zu verfolgen. Er ließ die Geister in einem chaotischen Bilderwirbel davontanzen.

Das Erwachen jedoch war eine vertraute Handlung, etwas, von dem er spürte, es schon viele Male zuvor getan zu haben. Er untersuchte seine Erinnerungsbilder des Erwachens, sah sich selbst geborgen tief im Schoß der Erde liegen, zugedeckt von Knochen und immer wieder aus seinen Blutträumen gerissen von neuen Barbarenkönigen, denen man folgen, neuen Schlachtfeldern, die abgegrast werden konnten. Ja, dieses Aufwachen war nichts Neues für ihn. Doch nach und nach nahmen andere Bilder Gestalt an – so viele und so verschieden, dass er von der Last und Fülle seiner Erinnerungen verwirrt war. Langsam setzte er sich auf und empfand beinahe so etwas wie Schmerz, als sich die lange nicht benutzte Muskulatur zu erinnern begann, wie man sich streckte – wessen Armee war er zuletzt gefolgt? Und spielte es irgendeine Rolle? Die letzten paar tausend Jahre hatten ihn gelehrt, dass sich ein Blutbad kaum vom anderen unterschied.

Als er sich aufrichtete, wogte unter ihm das Bett bestehend aus den Knochen anderer Lebewesen. Als er sich in der Dunkelheit zu voller Größe streckte, flatterten die Fetzen seiner Uniform zusammen mit den Geistern anderer Gewänder um ihn – wallende Umhänge und federgeschmückte Helme, Panzerhandschuhe mit Eisendornen, Kettenhemden, verwobene Lederriemen und Silberfäden, blaue und ockerfarbene Pigmentschichten.

Für einen Moment erinnerte er sich fast an sich.

Ein Jammer, dass er diesem ersten warmen Ding zu entkommen erlaubt hatte, doch schon bald würde sich etwas anderes ergeben. So war es immer.

Tatsächlich fand Mr. Chu nicht, dass er den jungen Kwong auf dem Kieker hatte, wenngleich er keine besonders hohe Meinung von der Intelligenz seines Untergebenen hegte. Schon früh war er zu der Überzeugung gelangt, dass Kwong eines Tages ein geschickter und durchaus wertvoller Arbeiter werden könnte, allerdings nur, wenn er sorgfältig beaufsichtigt und in kurzen Abständen gemaßregelt wurde, und so hatte sich Mr. Chu pflichtbewusst der Aufgabe verschrieben, Kwongs Fähigkeiten zur vollen Blüte zu bringen. Wenn ihm dies zuweilen sogar Spaß machte, wenn es ihm Vergnügen bereitete, Kwong zu demütigen, indem er ihm zusätzlich Pflichten aufbürdete oder die eher unerfreulicheren Aufgaben der Bauarbeiten zuwies, mit denen Mr. Chus Abteilung betraut war, dann konnte er sich stets damit rechtfertigen, dies alles geschehe allein und ausschließlich zum Besten der weiteren Karriere des jungen Kwong.

Mit anderen Worten: Mr. Chu hatte Kwong auf dem Kieker.

Er knipste seine Taschenlampe wieder an und richtete sie voll in Kwongs Gesicht. Kwong zog seine Gazemaske herunter und schirmte die Augen mit der Hand ab.

»So … und jetzt steh gefälligst auf, du Idiot! Was ist nur los mit dir? Und wo führt diese Treppe hin? Die geht doch nicht …« Verärgert ließ Chu seinen Satz unvollendet stehen und richtete den Lichtstrahl auf das Klemmbrett in seiner anderen Hand, an dem mehrere Blätter weiter unten der beste Plan der untersten Ebenen dieses Abschnitts der Ummauerten Stadt in Kowloon hing, der den Behörden zur Verfügung stand.

Langsam rappelte Kwong sich auf. »Mr. Chu?«

»Halt den Mund.« Chu war in Gedanken – dieser Keller war zwar mit dicken Strichen auf dem Plan verzeichnet, die Treppe weiter hinunter jedoch nicht, und es gab auch sonst keine Hinweise auf noch tiefer liegende Keller. Er fixierte Kwong anklagend über die Oberkante des Klemmbretts, als wären diese Auslassung des Vermessungstrupps und die bloße Existenz der Treppe einzig und allein Kwongs Schuld.

»Dumme Vermesser, die haben alle nur Melonen als Kopf«, maulte er verbittert.

»Sir?«

»Was ist?«

Kwong räusperte sich nervös und richtete seine Taschenlampe auf das dunkle Loch in der Wand, das die Treppe markierte. Direkt daneben stand in spitzem Winkel zur Wand ein großer, halb verfallener altmodischer chinesischer Schrank, dessen von Würmern zerfressene Gittertüren die beiden Männer wie ein Mund voller messerscharfer Zähne angrinste.

»Und?«, fauchte Mr. Chu.

»Als ich runtergekommen bin, stand der Schrank vor dem Zugang, Sir. Ich habe den Spalt dahinter bemerkt, aber ich denke, der Vermessungstrupp muss ihn wohl übersehen haben …«

»Nicht denken«, unterbrach Mr. Chu. »Ich bin hier der Vorgesetzte. Das Denken übernehme ich.« Er richtete die Taschenlampe nach unten und starrte auf die Schleifspuren des Schranks, vermischt mit den Abdrücken von Kwongs Stiefeln in der dicken Staubschicht auf dem Boden. Kwong hielt den Mund und trat sich in den Hintern, nicht dem guten Beispiel des Vermessungstrupps gefolgt zu sein. Dann grunzte Mr. Chu, ging zu dem Durchgang und hockte sich an den Rand der Treppe. Erstaunt ließ er dicht über dem Boden eine Hand über die Kante des Türpfostens gleiten.

»Sieh dir das an, Kwong«, sagte er. »In die Seite des Durchgangs hat jemand eine nette kleine Nische gehauen.«

»Ich glaube, da steckt was drin, Mr. Chu.«

»Sehe ich selbst«, erwiderte Mr. Chu scharf. »Hol’s raus!«, befahl er. »Aber sei vorsichtig, es könnte wertvoll sein.«

Gehorsam zog Kwong seinen dicken Handschuh aus, um an dem Kerzenwachs zu knibbeln, das die winzige Nische verschloss. Nach wenigen Minuten konnte Mr. Chu hineingreifen und den Gegenstand herausnehmen: eine etwa zehn Zentimeter hohe, primitive Tonfigur, die über und über mit winzigen, eingeritzten schwarzen Schriftzeichen bedeckt war. Mr. Chu drehte sie auf seiner Handfläche und betrachtete nachdenklich die Schriftzeichen. Nachdem er einige Minuten herumgerätselt hatte, begriff er, dass sie für seine beschränkte Bildung zu alt waren.

»Was bedeuten sie?« Kwong reckte den Hals über Mr. Chus Schulter.

»Geht dich nichts an.« Mr. Chu stand auf und schob das herausgebrochene Wachs mit der Stiefelspitze in die leere Nische zurück. »Ist sowieso wertlos«, fügte er angewidert hinzu und warf die Figurine achtlos fort. Kwong hörte sie auf dem Steinboden zerbrechen.

»Ich denke, das hätten Sie nicht tun sollen, Sir«, meinte er beklommen. »Für mich sieht das wie eine Art Schrein aus.«

»Ich hab’s dir schon mal gesagt, Junge, ich übernehme hier das Denken. Und jetzt gehen wir runter und werfen mal einen Blick auf die Kanalisation.« Mr. Chu stapfte die ersten paar Stufen hinunter, blieb dann stehen und drehte sich um. Kwong, ein von seiner nach unten gehaltenen Taschenlampe schwach umrissener Schatten, hatte sich nicht gerührt.

»Nein«, sagte Kwong. »Ich will da nicht runter.«

Mr. Chu schnaufte, als er die Treppe wieder heraufkam. Er hatte hundert verschiedene Möglichkeiten, den jungen Kwong wegen Gehorsamsverweigerung zu bestrafen, falls es so weit kommen sollte, aber er hoffte, es würde nicht nötig sein; erheblich befriedigender war es, den Burschen vor der rohen Gewalt der Persönlichkeit seines Vorgesetzten kriechen zu sehen. »Ich sagte, komm!«

»Nein.« Kwong räusperte sich und fügte entschuldigend hinzu: »Ich hab da unten was gehört, Sir – und es hat fürchterlich gestunken …«

»Ach ja? Es hat fürchterlich gestunken? Du meine Güte«, sagte Mr. Chu trügerisch sanft. Dies, um die Wirkung seiner nächsten Äußerung zu verstärken, die er aus Leibeskräften herausbrüllte. Echos hallten den Keller hinauf und hinunter. »Du bist ein Rosengärtner, kleiner Kwong, was? Du verkaufst den tai tais in Central womöglich Parfüm, ja? Oder vielleicht bist du ja auch selbst ein kleines Blümchen?«

Kwong ließ den Kopf hängen.

»Und? Und? Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen? Ein fürchterlicher Gestank, ja? Wir sind Kanalarbeiter, mein kleines Blümchen, fürchterliche Gerüche sind unser Job, und unser momentaner Job besteht darin, in diesem Loch hier die Kanalisation zu überprüfen, bevor die Bulldozer kommen. Sollte es später zu einer Absenkung kommen und denen sackt ihr heiß geliebter neuer Park einfach weg, dann weißt du ja, wem sie die Schuld in die Schuhe schieben werden, oder? Uns! Und ich werde dir die Schuld geben! Also« – er schob sein wütendes Gesicht Zentimeter vor Kwongs Nase – »gehen wir jetzt da runter und erledigen unseren Job. Sofort

Mr. Chu drehte sich um und setzte sich wieder, die Treppe hinunter, in Bewegung. Kwong blieb immer noch unschlüssig stehen. Als Mr. Chu hinter sich keine Schritte hörte, blieb er stehen und wirbelte erneut schnaufend herum.

»Was ist mit dem Geräusch?«, fragte Kwong kleinlaut.

Mr. Chu seufzte mit Unheil verkündender Geduld. »Ratten«, antwortete er. »Ratten hast du doch schon mal gesehen, oder, mein kleiner Kwong?«

Kwong nickte stumm. Natürlich hatte er. Dafür hatte Mr. Chu vor ungefähr drei Monaten schon gesorgt, als er Kwong allein und nur mit einer Schaufel bewaffnet in eine Senkgrube unter Kwai Chung geschickt hatte, die von den Ratten zu einer Art Rattenmetropole ernannt worden war. Das hatte Kwong Mr. Chu immer noch nicht ganz verziehen. Stur schlurfte er einen weiteren Schritt von der Treppe zurück.

Es folgte ein langes Schweigen.

»Schön«, sagte Mr. Chu. »Ich hatte sehr viel Geduld mit dir, kleiner Kwong, aber jetzt ist meine Geduld zu Ende. Falls du nicht gleichzeitig mit mir am Fußende dieser Treppe stehst, ist dein Job beendet. Aus und vorbei. Verstanden?«

Kwong ließ den Kopf hängen und blieb, wo er war. Der Gedanke, seinen Job zu verlieren, erschien ihm irgendwie reizvoller als die Vorstellung, Mr. Chu die Treppe hinunter in diese dunklen, eklig stinkenden Grabgewölbe zu folgen, in diesen Sumpf unterhalb der Ummauerten Stadt, nur um dort – was? – gegenüberzutreten. Was immer diese Geräusche verursacht hatte, diesen widerlichsten aller widerlichen Gerüche … Er wandte sich ab.

»In Ordnung«, schimpfte Mr. Chu. »Ich werde dafür sorgen, dass du das noch bitter bereuen wirst, kleiner Kwong.« Er drehte sich um und stapfte wütend weiter die Treppe hinunter.

Etwas kam. Etwas Warmes. Er hob den Kopf, um im Äther zu schnuppern, um zu erspüren, was für eine Art Mahlzeit es wohl sein würde. Ein kashlik? Ein lilitak?

Eingehüllt in erfreuliche Assoziationen kehrten die Worte zurück. Mit einem kashlik musste man zuerst im Kampf spielen, und das würde gut sein; ein lilitak besaß eine weiche, glatte Haut und war dafür da, penetriert zu werden, und auch das würde gut sein. Als er jedoch die ätherische Spur dieses warmen Dings schmeckte, erkannte er Enttäuschung wieder. Diese Beute war weder kashlik noch lilitak – einfach nur ein Beutel voll Blut, ein geistloser bhutik und nur zu einem zu gebrauchen: als Nahrung.

Trotzdem – er hatte Hunger, ja, war nach seinem langen Schlaf geradezu ausgehungert, und ein bhutik würde vorläufig genügen. Der Spaß konnte bis später warten. War er bereit? Noch nicht ganz, denn ein kleiner bhutik stellte keine echte Herausforderung dar und rechtfertigte nicht die Mühe, ihm in körperlicher Gestalt gegenüberzutreten. Ohne das behindernde Fleisch konnte sich die Essenz erheblich effizienter ernähren.

Die zerlumpte Uniform knitterte und fiel als leere Hülle zu Boden. Ein unsichtbarer Nebel hing in der Dunkelheit.

Jetzt war er bereit.

Kwong rührte sich nicht, bis er Mr. Chus Schritte und Gemurmel durch die Kammer dort unten hallen und allmählich die unterste Treppenflucht hinunter schwinden hörte. Dann schlich er zum Kopfende der Treppe und spitzte die Ohren.

Eine lange Stille.

Und dann, gedämpft aufgrund der Entfernung und der dazwischenliegenden Felsmassen, Mr. Chus erhobene Stimme … zuerst in einer Frage und dann in einem Schrei, einem sehr kurzen Schrei, der abrupt endete.

Wieder Stille.

Kwong verharrte und dachte scharf nach. Er sollte wirklich hinuntergehen und nachsehen, ob sein Vorgesetzter vielleicht Hilfe benötigte, aber andererseits besaß sein Schwager ein Antiquitätengeschäft an der Cat Street, und es ging ihm inzwischen so gut, dass er einen Angestellten suchte. Die Bezahlung war bestimmt miserabel, aber wenigstens würde er nicht mehr unter der Erde arbeiten müssen.

Geräusche von unten. Wieder spitzte er die Ohren. Schlurfende, stockende Schritte. Stiefel? Vielleicht – vielleicht sogar Mr. Chus schwere Gummistiefel mit den unverwechselbaren Absatzeisen. Aber etwas an diesem Gang war merkwürdig. Als steckten die Stiefel an Füßen, die aus irgendeinem Grund das Gehen verlernt hatten und sich erst langsam wieder erinnerten, wie es zu machen war.

»Mr. Chu?«

Stille.

»Mr. Chu?«

Und irgendwo in dieser Stille das leise Zischen von Luft, die eingeatmet wurde. Dann wieder die Stiefel, ein wenig schneller jetzt und bereits merklich sicherer. Näher. Kwong holte tief Luft und richtete seine Taschenlampe in die Dunkelheit am Fußende der Treppe. Die Stiefel verharrten.

»Mr. Chu?«

Und es war Mr. Chu. Sein Gesicht schob sich ins Licht. Er lächelte. Seine Augen hoben sich zu Kwong, und er schnupperte in der Luft. Das Lächeln wurde breiter.

»Lilitak«, sagte er.

»Mr. Chu?«

Später war von dem lilitak nicht mehr genug übrig, um es sich zu borgen, die Hülse des bhutik jedoch war noch zu gebrauchen. Also die Treppe hinauf. Und noch mehr Treppen; und schließlich erreichte er eine mit Schutt gefüllte Kammer, und dann noch einige weitere Treppen, und dann einen Raum voller alter Gerüche nach Nahrung, sowohl seiner als auch ihrer Art. Er füllte die Nase seines geborgten Körpers mit der Geruchsspur von lebendem Fleisch und schaute sich mit den Augen des bhutik um. Der Raum war im Moment leer, aber er spürte, dass hier manchmal etwas Warmes lebte und vielleicht auch wieder zurückkehrte. Falls nicht – auf der anderen Seite des Raumes befand sich eine weitere Tür und dann noch eine stabilere und dann ein langer, schmutziger Korridor in grauem Dämmerlicht und die Geräusche von bhutik–Schritten, die sich schnell einer nahe gelegenen Biegung näherten …

Temutma, immer noch unbeholfen auf seinen geborgten Füßen, bewegte sich ebenfalls auf diese Biegung zu.

2

Julia Ralston

Julia starrte auf die vorbeiziehenden Serpentinen der schwach beleuchteten Peak Road hinaus und unterdrückte ein Gähnen. Simon nahm die Kurven viel zu schnell, doch sie lehnte es ab, darauf nervös oder beeindruckt zu reagieren. Sie wusste, dass er bereits den ganzen Weg von Aberdeen über seinen nächsten Schritt nachdachte, und bis zu einem gewissen Grad konnte sie sogar erraten, was das sein würde: die Hand–auf–Oberschenkel–Nummer. Bislang war er absolut vorhersehbar gewesen. Wie die meisten Männer.

Sie in die derzeit angesagte neue Bar und anschließend in den Aberdeen Marina Club zu schleifen, waren plumpe Versuche gewesen, sie zu beeindrucken – wirklich ausgesprochen blöd. Sie stand schon nicht mehr auf Nachtclubs, seit sie alt genug war, legal hineinzukommen, und dem Marina Club gehörte sie seit frühester Kindheit an. Verdammt, dachte sie, wenn ich mit den alten Stockfischen hätte reden wollen, zu denen sich Simon unbedingt an die Theke setzen musste, hätte ich genauso gut zu Hause bleiben können. Waren sowieso alles Freunde ihrer Eltern.

Öde.

Die Dreiervorstellung war das Einzige, was er an diesem Abend richtig hingekriegt hatte, denn nicht jeder ihrer Verehrer würde sich hintereinander drei Folgen Nightmare on Elm Street reinziehen, nur um ihr Herz zu erobern. Zu dem Zeitpunkt hatte sie noch gedacht, es gäbe vielleicht doch ein paar Hoffnungsschimmer, dass er kein komplettes Arschloch war. Selbst seine beknackten Kommentare während der drei Filme, mit denen er beweisen wollte, wie obercool er war, hatten ihr den Spaß nicht völlig verderben können. Hätte er auch nur einen Funken Verstand besessen, dann hätte er unmittelbar nach dem Kino versucht, sie zu verführen.

Im gelblichen Schein der Straßenlaternen warf sie einen Blick auf sein Profil – selbstgefällig. Einen Augenblick später fiel auch schon wie zufällig eine Hand auf ihren Schenkel.

»Die brauchst du doch fürs Schalten, oder nicht?«, fragte Julia gelassen.

»Oh, tut mir leid.« Die Hand verschwand. Kurzes Schweigen, und dann Simons unverzagte, aber immer noch hoffnungsvolle Stimme: »Weißt du, ich bin gern im Dunkeln mit dir allein.« Wieder senkte sich die Hand auf Julias Oberschenkel, und diesmal machten sich die Finger sofort auf die Suche nach empfindlicheren Gefilden.

Julia verzog das Gesicht. Sie wusste noch nicht, ob sie mit ihm schlafen würde, auch wenn das durchaus möglich war – er wäre nicht der erste Idiot, den sie in ihr Bett steigen ließ, und es gab keinerlei Grund zu der Annahme, dass er der letzte sein würde. Die Frage war nur, wie weit wollte sie ihn bei diesem ersten Date gehen lassen? Oder, um es anders auszudrücken, wie viel Dressur brauchte er vorher?

Die Finger begannen ihren Schenkel zu massieren und näherten sich der Gefahrenzone. Julia seufzte. Er konnte ja nicht wissen, wie sehr sie es hasste, befummelt zu werden, andererseits nervte es aber auch gewaltig, ständig darauf hinweisen zu müssen.

»Die Hände aufs Lenkrad, Simon. Es ist eine kurvenreiche Strecke.«

»Vielleicht sollten wir links ranfahren?« Fummel.

»Vielleicht solltest du mich nach Hause bringen.«

Daraufhin nahm er zögernd die Hand weg und trat das Gaspedal durch. Sie konnte seine Zähne schimmern sehen, als er nun lächelte – mein Gott, dachte sie, der bildet sich tatsächlich ein, ich würde ihn einladen, noch mit reinzukommen. Dieses Mal gähnte sie unverhohlen.

»Julia?«

»Fahr einfach«, sagte sie, »und sei leise, wenn wir ankommen. Ich möchte meine Eltern nicht wecken.«

Sie fuhren schweigend weiter, bis Simon mit dem Porsche in die dunkle Toreinfahrt einbog und die Allee zum Haus hinauffuhr, wobei er den Motor fast im Leerlauf schnurren ließ, um so wenig wie möglich Lärm zu machen. Im Schatten der Bäume an der Seite des Hauses ließ er den Wagen ausrollen.

»So«, meinte er zuversichtlich, »da wären wir.«

»Sehe ich, ja.« Julia war immer noch unschlüssig. Sie beugte sich hinüber und gab ihm versuchsweise einen Kuss. Er reagierte, indem er ihr sofort seine ziemlich feuchte Zunge zwischen die Lippen schob und mit einer Hand die Brust knetete, was sie vermutlich anturnen sollte. Sie versteifte sich.

Er beendete den Kuss und schob seinen Mund an ihr Ohr. Heißer, feuchter Atem kitzelte ihr Trommelfell. »Oh Babe«, hauchte er, »ich könnte so gut für dich sein.«

Oh Gott, dachte sie, das war’s dann. Damit hatte sich Simon ihr Bett verscherzt, zumindest was die unmittelbare Zukunft betraf. Er hätte nicht so dumm sein sollen, sie »Babe« zu nennen oder einer Frau mit dieser »Gut für dich«–Geschmacklosigkeit zu kommen.

»Eigentlich«, sagte sie frostig, »stehe ich mehr auf Männer, die schlecht für mich sind.«

Sie entfernte seine Hand von ihrer Bluse, lächelte dabei aber, um dem Stachel etwas an Schärfe zu nehmen – schon möglich, dass er ein Idiot war, aber er war ein Idiot, der gerade den Freddy–Test bestanden hatte und außerdem reich und vorzeigbar genug, um für die Tochter eines der stinkreichsten Männer Hongkongs einen brauchbaren Begleiter abzugeben. Er glotzte sie fassungslos an; jetzt kam die Feuerprobe. Würde er wie ein ausgemachtes Arschloch reagieren oder wie eines, das man noch abrichten konnte? Julia drückte ihm einen Kuss auf die Wange und strahlte ihn an.

»Weißt du, es ist schon ziemlich spät. Danke für den tollen Abend, Simon. Das Filmfestival war echt super.«

»Ach ja?«, erwiderte er unterkühlt.

»Klar. Die gute alte Elm Street.«

Simon fing sich wieder. Seine Hand wanderte abermals Richtung Bluse. »Warum komm ich nicht einfach mit rauf und vergewissere mich, dass Freddy nicht in deinem Schlafzimmer lauert?«

»Nein, danke. Was würde mein Vater denken, wenn er dich morgens um« – sie sah auf ihre Uhr – »zwanzig nach vier in meinem Schlafzimmer entdeckt?«

»Aber ich dachte …«

»Gute Nacht, Simon.«

»Aber …«

»Wir sehen uns. Ruf mich an.«

Sie gab ihm noch einen trockenen Schmatzer auf die Wange, öffnete in einem fließenden Bewegungsablauf die Beifahrertür, stieg aus und drückte sie mit einem leisen Klick zu. Seine Lippen bewegten sich hinter der Scheibe, und er lächelte jetzt nicht mehr – Männer aufgeilen? Sah aus, als hätte er das gesagt. Tja, schon möglich, dass sie das machte, vielleicht auch nicht, jedenfalls sah es ganz danach aus, als würde Freund Simon nur so gerade eben den definitiven Idiotentest bestehen. Sie drehte sich um und ging an der Hausseite vorbei zum Hintereingang – das verringerte die Wahrscheinlichkeit, ungewollt einem schlaflosen Elternteil in die Arme zu laufen –, erstarrte dann jedoch entsetzt, als sie hörte, wie Simon den Motor aufheulen und abrupt die Kupplung kommen ließ. Mit durchdrehenden Reifen raste er die Zufahrt hinunter und schleuderte Kies gegen die Bäume.

»Mein Gott, was für ein ausgemachtes Arschloch«, brummte sie. »Warum hat er sich nicht noch ein paarmal auf die Hupe gelegt und gleich den ganzen Peak geweckt?«

Sie vermutete, dass Diskretion jetzt sinnlos war, aber zur Hintertür war es bereits näher als zum Vordereingang, also ging sie weiter und kramte in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. Ihre Finger schlossen sich genau in dem Moment um das Schlüsselbund, als sie die Tür erreichte. Immer noch sauer über Simons Verrat, versuchte sie den Schlüssel ins Schloss einzuführen, als sie bemerkte, dass dies nicht mehr nötig war. Die Tür war bereits offen. Durch den Druck des Schlüssels gegen das Schloss schwang sie ein paar Zentimeter auf, und ein kalter Luftzug wirbelte heraus.

Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Einbrecher, Vergewaltiger, Mörder … Freddy. All die zahllosen Horrorfilme und Slasher–Videos, die sie je gesehen hatte, eine breite Palette der ekelhaftesten Szenarien stürmte auf sie ein. Sie dachte kurz daran, zurück zur Straße zu laufen, um Simon noch zu erwischen, doch der war inzwischen wahrscheinlich längst fort.

Jetzt mal ganz langsam, dachte sie. Die Vernunft verschaffte sich wieder Geltung. Ihre Eltern hatten jemanden auf ein paar Drinks eingeladen, was einer der Gründe gewesen war, weswegen sie alles andere als begeistert reagiert hatten, als Julia ihnen mitteilte, sie werde ausgehen und abends nicht da sein. Sie hatten gewollt, dass sie zu Hause blieb und ihren Gast kennen lernte, aber Julia roch es eine Meile gegen den Wind, wenn sie verkuppelt werden sollte, und die Männer, die ihre Eltern für sie aussuchten, waren ausnahmslos gigantische Arschlöcher.

Der springende Punkt aber war – und sie spürte auch noch den letzten Rest ihrer Panik schwinden –, dass sie getrunken hatten, und sie wusste genau, wie gern ihre Eltern dem Wein zusprachen, genau wie Whiskey, Gin, Rum, Brandy und Wodka. Julia trank auch ganz gerne mal einen, doch sie genehmigten sich ungefähr sechsmal mehr, als gut für sie war. Wahrscheinlich hatten sie den Abend mit reichlich Alk verbracht und waren aus den Latschen gekippt, ohne sich vorher zu vergewissern, dass alles richtig abgeschlossen war. Das war schon zweimal passiert, und nur Demmy, die einzige Angestellte, die auch im Haus wohnte, hatte eine mögliche Katastrophe verhindert, indem sie noch einmal aus dem Bett gestiegen war, nachdem die letzten Gäste gegangen waren, und aus eigener Initiative alles abgeschlossen hatte. Die gute alte zuverlässige Demmy.

Also, wo steckte Demmy heute Abend? Julia durchzuckte ein unsicheres Gefühl, das sie allerdings mühelos verdrängte. Sie war viel zu müde, um richtig Angst zu haben. Trotzdem schlich sie auf Zehenspitzen in die Küche.

Der dunkle Raum war friedlich, und über der Stille lag nur das beruhigende, beinahe unterschwellige Summen des Kühlschranks. Julia blieb neben der offenen Tür stehen und lauschte – nichts rührte sich in den dunklen Winkeln des Hauses. Sie seufzte und drehte sich um, weil sie die Tür schließen wollte.

Ein heftiger, kalter Luftschwall packte sie von hinten und zerzauste ihr das Haar. Erschreckt spannte sie sich an. Die Luft umhüllte sie wie ein eisiges Futteral und blieb ein paar Sekunden. Dann schnappte Julia nach Luft, als sie einen kalten, festen Druck auf ihren Brüsten spürte, ein Kneten, als würde jemand sie in die hohle Hand nehmen, die Brustwarzen finden, drücken, ziehen, nicht zärtlich, und dann war es wieder weg. Mit einem lauten Aufschrei stürzte sie sich auf den Lichtschalter neben der Tür und tauchte den Raum in grelles Neonlicht. Die Küche war leer.

Julia holte tief Luft.

Natürlich war sie leer. Was erwartete sie denn? Die Eskapaden von Freddy und seinen kleinen Freunden hatten die Fantasie mit ihr durchgehen lassen … Geschickt hatten sich ihre versoffenen Eltern genau diesen Abend ausgesucht, die Hintertür nicht abzuschließen … Mehr steckte nicht dahinter. So konnte sich ein schlichter kalter Luftzug in einen Phantomgrapscher verwandeln. Sie ließ einen letzten Blick über die Küche wandern, fluchte über sich selbst und drehte sich dann um, um die Tür zu schließen. Ein Nebelschwaden waberte durch den Garten. »Toll«, flüsterte sie. »Genau das hat mir noch gefehlt. Gespenstische Special Effects. Vielen Dank, lieber Gott.« Sie zog die Tür zu und schloss ab.

Er schwebte als Nebel im Garten und beobachtete die lilitak durch den Kristall der Tür, bis sie verschwand; dann ließ er sich durch die Blätter eines großen Baums weiter hinauftreiben, teilte sich, wirbelte und formte sich um, bis er auf das Dach dieses seltsamen kleinen Palastes mit seinen fahlen Statuen und dem hellblauen Teich hinab lächeln konnte. Ein guter Ort, der in seiner Erinnerung positive Bilder weckte – Blut auf Seide, Blut auf Marmor, mit Gold eingefasste Kehlen. Und mehr noch, der unverwechselbare Geschmack von Macht und Stolz in diesem Blut, so anders als der Geschmack der erbärmlichen bhutiks, an denen er sich zuvor gütlich getan hatte. Ja, ein guter Ort.

Ihn verblüffte nur, dass dieser Palast so klein war.

Nachdenklich schwebte er in der Luft. Es wäre überhaupt kein Problem, wegen der Weichhäutigen jetzt noch einmal zurückzukehren, dieser kleinen lilitak. Und es würde sich ebenfalls lohnen, in körperlicher Gestalt zu ihr zurückzukehren, denn ihr Körper besaß für ihn einen Wert über das Blut hinaus, das er enthielt, seidig würde sie sein, innen wie außen …

Aber seinen Hunger hatte er bereits gestillt, und es war angenehm hier oben in den Wipfeln, war doch eine unschätzbar lange Zeit vergangen, seit er das letzte Mal bei Mondschein im Freien geschwebt hatte. Vielleicht fiel ihm ja sogar sein Name wieder ein. Die lilitak konnte warten.

Leise durchquerte Julia die Küche ins Esszimmer und zwang sich, im Vorbeigehen das Licht in der Küche auszuknipsen. Dies war mit Sicherheit nicht der richtige Augenblick, Angst vor der Dunkelheit zu entwickeln. Außerdem war das Esszimmer alles andere als pechschwarz. Das Licht der Außenbeleuchtung wurde von den pastellfarbenen Wänden zurückgeworfen; tagsüber ein geschmackvolles Apfelgrün, im Augenblick ein mattes Grau, das von den Schatten sich bewegender Blätter im Garten verschmiert wurde; Schatten, die Händen überraschend ähnlich waren, als sie jetzt hinsah, Phantomhände, die sich blind die Wände hinauftasteten und ihr sich entgegenstreckten, ein ausgesprochen effektvolles Bild, das in einen Hitchcock–Film gepasst hätte …

Dann überlegte sie, das Licht doch einzuschalten.

Sie kalkulierte schnell. Der nächste Schalter befand sich hinter ihr neben der Küchentür. Das dürfte genügen, um durchs Esszimmer zum Schalter neben der Tür zum Salon zu kommen. Von dort aus würde sie wiederum die Schalterleiste in der Eingangshalle mit ihrem Marmorboden erreichen. Damit hätte sie genug Licht für die Treppe, die hinauf zu den Schlafzimmern und in Sicherheit führte.

In Sicherheit? Sie wusste genau, warum ihr dieses Wort in den Sinn gekommen war. Diese verdammten Schatten an der Wand, natürlich, und die Nachwirkungen einer dreifachen Dosis von dem alten Pizzagesicht. Ihr Bett und eine Mütze voll Schlaf waren genau das, was sie jetzt brauchte. Sollten ihre Eltern neugierige Fragen stellen, wo sie bis tief in die Nacht gesteckt hatte, oder meinen, ihr Vorwürfe machen zu müssen, weil sie im Erdgeschoss alle Lampen hatte brennen lassen, dann hatten sie ihr bereits die perfekte Gegenmunition geliefert. Säufer. Schluckspechte. Wer hatte denn vergessen, die Hintertür abzuschließen? Bestärkt durch Empörung tapste Julia zurück zum Lichtschalter.

Irgendetwas erregte ihre Aufmerksamkeit, als sie die Hand ausstreckte. Etwas am Esszimmertisch. Sie drehte sich um, runzelte die Stirn, linste einen Moment angestrengt durch das Dämmerlicht und versuchte, etwas zu erkennen. Ein Stapel Servietten, die verkrumpelt über die Tischkante hingen …

Nein: ein weißes Hemd. Und jemand trug es.

Ein Schrei aus dem kleinen Palast. Interessant. Die lilitak? Temutma löste sich aus seinen Träumereien, war immer noch schläfrig und trieb hinunter zu den mondbeschienenen Dachziegeln.

»Oh verdammte Scheiße!« Als Julia wieder zu Atem kam und ihr Herz aufhörte, Rumba zu tanzen, war sie wütend. Ein wildfremder Mensch lag zusammengesackt über dem Esszimmertisch, sabberte die polierte Teakholz–Oberfläche voll und hatte einen Arm ausgestreckt, als greife er nach der Kristallvase mit Rosen in der Mitte des Tisches. Offensichtlich der Saufkumpan ihrer Eltern und viel zu besoffen, um nach Hause fahren zu können. Und ihre hochverehrten Eltern waren ebenfalls zu betrunken gewesen, um etwas anderes tun zu können, als ihn einfach dort liegen zu lassen, wo er aus den Latschen gekippt war. Reizend.

»Ich hoffe, du hast einen fetten Kater, wenn du aufwachst, du dummer Mistkerl«, flüsterte sie. »Mir so einen Scheißschrecken einzujagen!« Sie starrte ihren unfreiwilligen Hausgast an und fragte sich beiläufig, welches grässliche Exemplar ihre Eltern ihr diesmal vorzusetzen versucht hatten. Das Gesicht hatte sie noch nie gesehen, doch sie erkannte den Typ. Irgendein ehrgeiziger, noch ziemlich junger Geschäftsmann, dessen größter Wunsch darin bestand, genau so zu werden wie ihr Vater. Der sich, falls sie ihn heiratete, die größte Mühe geben würde, aus ihr jemanden genau wie ihre Mutter zu machen.

Ein Arschloch. Ein Idiot.

Und noch dazu kein besonders gesund aussehender Idiot. Genau genommen sah er ziemlich tot aus. Julia runzelte die Stirn, als sie seine Hautfarbe registrierte, ein teigiges Weiß, ein kranker Farbton, der sie an schmutzige Kreide erinnerte. Und so einen hielten ihre Eltern für einen geeigneten Heiratskandidaten? »Oh verdammte Scheiße«, wiederholte sie angewidert, denn plötzlich war ihr aus Richtung des Fremden der strenge Geruch von Exkrementen in die Nase gezogen – der Kerl war nicht nur zu besoffen zum Autofahren, sondern auch noch zu besoffen, um es bis zur Toilette zu schaffen.

Sie hatte sich bereits abgewandt, als ihr ein schrecklicher Gedanke kam. Angenommen, er sah nicht nur tot aus – angenommen, er war tot. Angenommen, er war im Schlaf gestorben, erstickt an seinem eigenen Erbrochenen, war an einem Herzinfarkt gestorben oder an einem geplatzten Äderchen im Gehirn. So was kam vor, ja, musste angesichts der exzessiven Trinkgewohnheiten ihrer Eltern und ihres Freundeskreises früher oder später passieren. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Tisch, rümpfte über den Gestank die Nase, als sie näherkam, und griff nach der schlaffen Hand.

Kalt.

Julia sprang zurück und riss erschrocken die Hände zur Brust. Eiskalt und klamm.

Der Fremde war tot.

Julia wischte sich die Hand am Kleid ab und versuchte, die ansteckende Berührung mit dem toten Fleisch ungeschehen zu machen.

Ihr Verstand arbeitete inzwischen fieberhaft. Mutter. Vater. Sie musste sie wecken und es ihnen sagen. Sie drehte sich um und stürmte durch den Salon zur Treppe. Als sie die Eingangshalle erreichte, blieb sie abrupt stehen und griff nach dem Lichtschalter. Aber das Licht aus dem Esszimmer schwappte durch den Salon und ergoss sich durch die zweiflügelige Tür.

0 mein Gott!

Irgendetwas lag über der untersten Treppenstufe, etwas, das zu begreifen sich ihr Gehirn einen Moment weigerte, denn es war so offenkundig absurd. Es war Demmy, das Hausmädchen, so weit war es schon in Ordnung. Aber sie lag halb auf dem Boden und halb auf der untersten Stufe, so als hätte sie nur eine Pause eingelegt, um ein Nickerchen zu machen, als sie gerade damit beschäftigt war, die Teppichstangen aus Messing zu polieren.

»Demmy? Demmy? Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Demmy, ich brauche Ihre Hilfe!«

r schwebte in ein Gerät schnatterte, dessen Zweck er nicht verstand. Davon gab es in dem kleinen Palast mehrere, und er erinnerte sich, wie sich der unten verzweifelt auf ein solches Gerät gestürzt hatte, als wäre es eine Waffe oder ein Machtinstrument, mit dessen Hilfe sich der Eindringling abwehren ließ. Verwirrend. Er hatte keinerlei Macht in dem Gegenstand entdecken können, als er ihn später von der Wand riss und näher untersuchte.

Er dachte über diese lilitak nach, fühlte sich nicht versucht, unmittelbar etwas zu unternehmen. Auch das war verwirrend. Ihre Haut war sehr glatt; warum sie nicht jetzt sofort nehmen? Was hielt ihn zurück? Vielleicht war sein Hunger nicht mehr so intensiv wie zuvor, aber das war nicht alles. Es gab noch einen zweiten guten Grund, zu zögern. Die Worte waren da, wenn er sie nur packen könnte.

Ein Spiel spielen.

Ein Spiel spielen? Das waren die Worte. Er untersuchte sie, folgte den Fäden ihrer Assoziationen zurück zu anderen Bildern von lilitaks, die auch nicht sofort genommen worden waren, sorgfältig vorbereitete lilitaks. Erregung wogte durch seine Essenz, als er sich zu erinnern begann. Umwerbungsspiele, Jagdspiele. Spiele, um das Blut einer lilitak zu würzen und dank einer umsichtigen Verzögerung sein eigenes Vergnügen zu steigern. Spiele, die die Mahlzeit am Ende interessanter machten.

Ja. Er würde mit dieser hier ein Spiel spielen.

Und er würde jetzt damit beginnen.

Immer noch vor dem Fenster schwebend, formte er ein Gesicht, das die lilitak sehen konnte, und wartete darauf, dass sie aufschaute.

Julia schaute auf.

Der Tagesanbruch rückte näher. Das Spiel hatte einen guten Anfang genommen, das Spielfeld war vorbereitet, den nächsten Schritt hob er sich lieber für ein anderes Mal auf. Temutma schoss hoch in die Luft und streifte über den erwachenden Straßen, über das dunkle Wasser, folgte mühelos seiner eigenen ätherischen Spur durch die Wolke der bhutik–Ausdünstungen, die über der Stadt wirbelte.

Dann erwischte ihn ein jäher Lärm wie ein körperlicher Schlag. Etwas flog über ihm vorbei, etwas, das kreischte und mit mächtigem Wind die Luft zerfetzte, auf ihn eindrosch, ihn bis dicht über die Dächer abstürzen ließ. Wütend schraubte er sich wieder hinauf in den Himmel und bereitete sich auf den Kampf vor.

Hinter ihm fiel kreischend ein großes Schiff aus den Wolken: weiß, mit Augen auf dem Bauch. Im nächsten Augenblick berührte es die Erde und flüchtete vor ihm auf einer Straße so gerade wie ein Messerschnitt und so breit wie die Prachtstraße eines Barbarenkönigs. Er brüllte, wirbelte triumphierend herum und machte sich auf die Rückkehr zu den Türmen, die das Nest verbargen.