Erstes Kapitel
18. März 1848

Der achtzehnte März

Seitdem ich das Nachstehende schrieb, hat die fünfzigjährige Wiederkehr des achtzehnten März eine ganze Literatur gezeitigt, Altes ist neu hervorgesucht, Neues von damals Beteiligten niedergeschrieben worden. Aber von einem Aufhellen der Ereignisse keine Rede; das Dunkel und die Widersprüche werden auch bleiben. Schon der gegenseitige Parteistandpunkt schließt das Licht aus; man will dies Licht nicht einmal.

Die Jungsche Apotheke, Ecke der Neuen Königs - und Georgenkirchstraße, darin ich den „18. März“ erleben sollte, war ein glänzend fundiertes Geschäft, aber von vorstädtischem Chrakter, so daß das Publikum vorwiegend aus mittlerer Kaufmannschaft und kleineren Handwerkern bestand. Dazu viel Proletariat mit vielen Kindern. Für letztere wurde seitens der Armenärzte meist Lebertran verschrieben, – damals, vielleicht auch jetzt noch, ein bevorzugtes Heilmittel – und ich habe während meiner ganzen Apothekerlaufbahn nicht halb soviel Lebertran in Flaschen gefüllt wir dort innerhalb weniger Monate. Dieser Massenverbrauch erklärt sich dadurch, daß die durch Freimedizin bevorzugten armen Leute gar nicht daran dachten, diesen Lebertran ihren mehr oder weniger verskrofelten Kindern einzutrichtern, sondern ihn gut wirtschaftlich als Lampenbrennmaterial benutzten. Außer dem Tran wurde noch abdestilliertes Nußblätterwasser, das kurz vorher durch Dr. Rademacher berühmt geworden war, ballonweise abgegeben; ich kann mir aber nicht denken, daß dieses Mittel viel geholfen hat. Wenn es trotzdem noch in ansehen stehen sollte, so will ich nichts gesagt haben.

Der Besitzer der Jungschen Apotheke, der bekannten gleichnamigen Berliner Familie zugehörig, war ein älterer Bruder des um seiner vorzüglichen Backware willen in unserer Stadt in freundlichem Andenken stehenden Bäckers Jung, Unter den Linden. Beide Brüder waren ungewöhnlich schöne Leute, schwarz, dunkeläugig, von sofort erkennbarem französischem Typus; sie hießen denn auch eigentlich Le Jeune, und erst der Vater hatte den deutschen Namen angenommen. Es ließ sich ganz gut mit ihnen leben, soweit ein Verirrter, der das Unglück hat, sich für das „Percy’s Relics of ancient English Poetry“ (Sammlung altenglischer Gedichte) mehr als für Sarsaparillawurzel zu interessieren, mit Personen von ausgesprochener Spießbürgergesinnung überhaupt gut leben kann. Aber freilich, mit der Kollegenschaft um mich her stand es desto schlimmer, die Betreffenden wußten nicht recht, was sie mit mir anfangen sollten, und als in einem damals erscheinenden liberalen Blatte, das die „Zeitungshalle“ hieß, ein paar mit meinem Namen unterzeichnete Artikel veröffentlicht wurden, wurde die herrschende Verlegenheit nur noch größer. Im ganzen aber verbesserte sich meine Stellung dadurch doch um ein nicht Unbeträchtliches, weil die Menschen mehr oder weniger vor jenem, der zu Zeitungen irgendwelche Beziehungen unterhält, eine gewisse Furcht haben, Furcht, die nun mal für Übelwollende der beste Zügel ist. Wer glaubt, speziell hierlandes, sich ausschließlich mit „Liebe“ durchschlagen zu können, der tut mir leid.

Die grotesk komische Furcht vor mir steigerte sich selbstverständlich von dem Tag an, wo die Nachricht von der Pariser Februarrevolution eintraf, und als in der zweiten Märzwoche kaum noch ein Zweifel darüber sein konnte, daß sich auch in Berlin irgendwas vorbereitete, begann sogar die Prinzipalität mich mit einer gewissen Auszeichnung zu behandeln. Man ging davon aus, ich könnte eine verkappter Revolutionär oder auch ein verkappter Spion sein, und das eine war geradeso gefürchtet wie das andere.

So kam der achtzehnte März.

Gleich nach den Februartagen hatte es überall zu gären angefangen, auch in Berlin. Man hatte hier die alte Wirtschaft satt. Nicht, daß man sonderlich unter ihr gelitten hätte, nein, das war es nicht, aber man schämte sich ihrer. Aufs Politische hin angesehen, war in unserm gesamten Leben alles veraltet, und dabei wurden Anstrengungen gemacht, noch viel weiter zurückliegende Dinge heranzuholen und all dies Gerümpel mit einer Art Heiligenschein zu umgeben, immer unter der Vorgabe, „wahrer Freiheit und gesundem Fortschritt dienen zu wollen“. Dabei wurde beständig auf das „Land der Erbweisheit und der folgerichtigen Entwicklung“ verwiesen, wobei man nur über eine Kleinigkeit hinwegsah. In England hatte es immer eine Freiheit gegeben, in Preußen nie; England war in der Magna-Charta-Zeit (erste englische Verfassung im Jahre 1215) aufgebaut worden, Preußen in der Zeit der blühendsten Willkürherrschaft, in der Zeit Ludwigs XIV., Karls XII. und Peters des Großen. vor dieser Zeit staatlicher Gründung, beziehungsweise Zusammenfassung, hatten in den einzelnen Landesteilen allerdings mittelalterlich ständische Verfassungen existiert, auf die man jetzt, vielleicht unter Einschiebung einiger Standesherren, zurückgreifen wollte. Das war dann, so hieß es, etwas „historisch Begründetes“, viel besser als eine „Verfassung“, von der es nach königlichem Ausspruche feststand, daß sie was Lebloses sei, ein bloßes Stück Papier. Alles berührte, wie wenn der Hof und die Personen, die den Hof umstanden, mindestens ein halbes Jahrhundert verschlafen hätten. Wiederherstellung und Erweiterung des „Ständischen“, darum drehte sich alles. In den Provinzialhauptstädten, in denen sich bis in die neueste Zeit hinein ein Rest schon erwähnten ständischen Lebens tatsächlich – aber freilich nur schattenhaft – fortgesetzt hatte, sollten nach wie vor die Vertreter des Adels, der Geistlichkeit, der städtischen und ländlichen Körperschaften tagen, und bei bestimmten Gelegenheiten – das war eine Neuerung – hatten dann Erwählte dieser Provinziallandtage zu einem großen „Vereinigten Landtag“ in der Landeshauptstadt zusammenzutreten. Eine solche Vereinigung sämtlicher Provinzialstände konnte nach Meinung der maßgebenden, d. h. durch den Wunsch und Willen des Königs bestimmten Kreise dem Volke bewilligt werden; in ihr sah man einerseits die Überlieferung gewahrt, andrerseits – und das war die Hauptsache – dem Königtum seine Macht und sein Ansehen erhalten.

König Friedrich Wilhelm IV. lebte ganz in diesen Vorstellungen. Man kann zugeben, daß in der Sache Methode war, ja mehr, auch ein gut Stück Ehrlichkeit und Wohlwollen, und hätte die ganze Szene hundertunddreißig Jahre früher gespielt, – wobei man freilich von der unbequemen Gestalt Friedrich Wilhelm I. abzusehen hat, der wohl nicht dafür zu haben gewesen wäre – so hätte sich gegen ein solches Zusammenziehen der „Stände“, die zu jener Zeit, wenn auch angekränkelt und eingeengt, doch immerhin noch bei Leben waren, nicht viel sagen lassen. Es gab noch kein preußisches Volk. Unsere ostelbischen Provinzen, aus denen im wesentlichen das ganze Land bestand, waren Ackerbauprovinzen, und was in ihnen neben Adel, Heer und Beamtenschaft noch so umherkroch, etwa vier Millionen Seelen ohne Seele, das zählt nicht mit. Aber von diesem absolutistisch patriarchalischen Zustand der Dinge zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war beim Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV. nichts mehr vorhanden.