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ISBN 978-3-7751-7178-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5498-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:

© der deutschen Ausgabe 2013

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen

Inhalt

Inhalt

Gottes unbegreiflicher Plan

I. Die Kindheit in der Beje

Meine Eltern

Die ersten Ehejahre meiner Eltern

Eine arme Kreatur

»… dass ich guck ins Vaterhaus«

Die Welt außerhalb des Hauses

Meine erste Berührung mit dem Geheimnis des Todes

In der Schule

Spiele in der Kathedrale

Ein Taugenichts

II. Frühe Prägungen für ungeahnte Dienste

Mutter und die Tanten

Seelsorge

Teenagerzeit

Musik

Die ewigen Arme

Der Tod kommt in die Familie

Tuberkulose?

Betsie

III. Ich werde Uhrmacherin und noch einiges mehr

Vaters Gesellin

Rempli de tendresse

Drei bilden einen Chor

Mutter

Sadhu Sundar Singh

Verliebt

IV. Für andere da sein

Kinder bevölkern unser Haus

Die Einfachheit der evangelischen Botschaft

V. Man muss erfinderisch sein

Die Jugendklubs entstehen

Unser gemischter Chor

Zurüstung der Leiter

Das Gebetsleben ist gestört

Der Rhein – ein Reiseerlebnis

Gott kann auch unsere Fehler segnen

Meine erste Berührung mit internationaler Jugendarbeit

Weibliche Pfadfinder

Klubmädchen

VI. Betsies Vision wird Wirklichkeit

Wie wir Schapenduinen bekamen

Der Krieg ist zu Ende!

VII. »Landstreicherin« des Herrn

Ich lerne, aus dem Koffer zu leben

Auf den Bermudas

Flüchtlingslager in Darmstadt

Berlin – Ein alter Bekannter

Carl

Neuseeland – Ein Arzt als Zeuge Jesu Christi

Das Montinlupa-Gefängnis

Nollies Heimgang

Eine glückliche Erfahrung

VIII. Gott schenkt mir eine Gehilfin

Wie ich Conny fand

Der Anfang war schwer

»Im Licht leben«

Chile – Conny vertritt mich

Vollmacht in Jesu Namen

Ein ungewöhnlicher Platz zur Verkündigung des Evangeliums

Verkündigung an afrikanische Gefangene

Eine Mutter in Israel

Jerusalem

Jungenklub

Gespräch mit einer Senatorin

Wen habe ich erreicht?

Gottes Zusagen

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Gottes unbegreiflicher Plan

Drei Stock hoch, zwei Zimmer tief und ein Zimmer breit war unser Haus in Haarlem, wenn man es von der Barteljorisstraat aus betrat, dort, wo der Uhrenladen war, der neben dem schmalen Schaufenster gerade noch Platz für die ebenfalls schmale Ladentür hatte. Es gab aber eine zweite Tür. Eine steile Wendeltreppe führte zu diesem Ausgang. Sie verband das Vorderhaus mit einem noch kleineren Haus nebenan. Großvater hatte angesichts der wachsenden Familie dieses Haus dazugekauft – es war ebenfalls dreigeschossig, war auch nur ein Zimmer breit und im Unterschied zum Vorderhaus nur ein Zimmer tief. Doch für unsere Familie war’s noch immer eng, da außer unserer sechsköpfigen Familie noch Tante Bep, Tante Anna und die sehr respektierte Tante Jans das Haus bevölkerten, weshalb Papa die oberen zwei Zimmer teilte. So hatte jeder sein kleines Reich. Nur Papa und Mama, Nollie und ich hatten ein gemeinsames Zimmer – dafür hatte Tante Jans die ganze Beletage, und wir gönnten sie ihr.

Hier lebten wir glückliche Jahre, bis das geschah, was nie hätte geschehen dürfen.

Vom einen wie vom anderen will ich erzählen.

Wie alles zusammenhängt, zeigt ein Besuch, den ein Pfarrer im Jahre 1844 bei meinem Großvater machte. Großvater Willem ten Boom hatte vor sieben Jahren mit einem Anfangskapital von hundert Gulden seine Uhrmacherwerkstatt eröffnet und wurde schnell bekannt als einer, der »Gottes altes Volk« liebte. Nun sollte er Christen zu einer Gebetsgemeinschaft sammeln, um für den Frieden Jerusalems und für das Heil der Juden zu beten. Er tat es mit großer Freude.

Das war damals etwas Neues – auch später noch für mich, als Vater mir das erzählte, sonst wäre mir die Jahreszahl 1844 gewiss nicht im Gedächtnis geblieben. Gott erhörte diese Gebete im alten Haus in der Barteljorisstraat auf eine göttliche und uns unbegreifliche Weise: Hundert Jahre später machte er das Haus mit seinen verwinkelten Räumen zu einer Zufluchtsstätte, zumindest für einige Angehörige seines Volkes – und uns, die ten Booms selbst, ließ er etwas teilhaben an jenen Leiden, die über sein Volk gekommen waren.

In meinem Buch »Dennoch« habe ich berichtet, was sich während des Krieges ereignet hat. Nun fragen mich aber Menschen, die das Buch gelesen haben, was ich denn vorher und nachher erlebt hätte. In diesem Buch will ich auf diese Frage Antwort geben. Es erzählt aus meinem Leben, und zwar von meinen frühesten Erinnerungen an.

Schaue ich zurück, so sehe ich Erfahrungen innerer und äußerer Unsicherheit. Ich will in diesem Buch erzählen, wo ich Geborgenheit fand. Erst kam das Lernen, dann kamen die Prüfungen und danach durfte ich in aller Welt erzählen, wie Gott rettet und befreit.

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I. Die Kindheit in der Beje

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Meine Eltern

Meine Mutter stammt aus einer großen Familie, in der der Vater nach der Geburt des achten Kindes starb. Großmutter betrieb dann ein Kolonialwarengeschäft in Amsterdam; aber es reichte immer nur knapp, sodass die Kinder schon in jungen Jahren ihren Lebensunterhalt verdienen mussten: Die eine Tochter, Jans, richtete einen Kindergarten ein; zwei andere Töchter, Cor (meine Mutter) und Anna, wurden dabei ihre Gehilfinnen. Vater hat später oft gesagt: »Wie schön, dass Mutter diese gute Erfahrung im Umgang mit Kindern gehabt hat!« Als wir noch klein waren und schrien oder in anderer Weise Schwierigkeiten machten, wusste Mutter, dass das immer einen Grund haben musste. Sie und Tante Anna hatten dann Geduld und sagten wohl: »Es soll uns gar nicht wundern, wenn wir es bald mit Masern (oder etwas Ähnlichem) zu tun haben«, und in den meisten Fällen behielten sie recht.

Tante Jans begann später damit, in ihrem Kindergarten eine Sonntagsschule zu gründen. Dort begegnete sie auch ihrem späteren Mann, Hendrik Wildeboer, einem Theologiestudenten. Ein anderer Lehrer der Sonntagsschule, Casper ten Boom, war sehr an Cor, seiner Klassenhelferin, interessiert, die genau am selben Tag wie er Geburtstag hatte, nämlich am 18. Mai.

Als Cor sich einmal auf den Weg machte, um ihre Großmutter in Harderwijk zu besuchen, einem alten holländischen Dorf an den Ufern der Zuiderzee, fuhr Casper am nächsten Tag auch dahin. Etwa fünfzig Jahre später besuchte ich mit Vater zusammen Harderwijk. In der Bruggestraat sagte er:

»Hier machte ich deiner Mutter den Heiratsantrag …«

»Hat Mutter sofort Ja gesagt?«, fragte ich.

»Nein, erst am nächsten Tag. Das gab eine unruhige Nacht. Ich war ja so ungeduldig.«

»Hast du deinen Schritt jemals bedauert, Papa?«

»Nein, niemals. Ich habe deine Mutter bis zu ihrem letzten Lebenstag geliebt wie damals in Harderwijk. Wir hatten kein leichtes Leben. Aber Gott hat uns ganz besonders geleitet und beigestanden.«

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Die ersten Ehejahre meiner Eltern

Die Großmutter in Harderwijk starb, kurz bevor Casper und Cor heirateten. Vater hatte mitten im jüdischen Teil von Amsterdam ein Uhrengeschäft eröffnet. Schon dies war ein schmales Haus mit nur einem Zimmer in jeder Etage.

Eines Tages betrat ein Pfarrer aus Ladysmith in Südafrika das Geschäft. Er fragte: »Können Sie uns eine Uhr und eine Glocke für unseren Kirchturm liefern?«

»Gewiss«, sagte Vater.

Dieses Geschäft war einfach. Vater reiste zu einer Fabrik nach Brabant, bestellte die Uhr, erhielt das Geld von dem Pfarrer, und der Fabrikant konnte alles Weitere ausführen. Vater verdiente bei dem Verkauf dieser Uhr so viel, dass er nun genug Geld zum Heiraten besaß. Das Haus wurde mit dem möbliert, was Großmutter hinterlassen hatte: abgenutzte, hässliche Möbel.

Arme Mutter! Sie hatte von einem Haus mit einem kleinen Garten geträumt. Sie liebte schöne Dinge und auch den weiten Blick. »Ich sehe so gern viel Himmel«, hat sie oft gesagt. Und nun war sie hier gelandet: in einer schmalen Straße, in einem alten Haus, umgeben von alten Möbeln, und sie hatten sehr wenig Geld. Aber sie waren dennoch glücklich.

»Wo Jesus ist, da ist der Himmel«, hörte ich einst in einer elenden Hütte in Korea singen; sie war aus Schrott gebaut und ließ bei mir keine Vorstellung vom Himmel aufkommen. Doch bei meinen Eltern war Himmel – trotz aller Enge und Einschränkungen. Sie lebten in ihren ersten Ehejahren im jüdischen Teil von Amsterdam, und sie lebten wirklich fast ärmlich. Aber Glücklichsein hängt eben nicht in erster Linie von äußeren, sondern von inneren Bedingungen ab. Ihr Verhältnis zum Herrn und zueinander war innig, und das gab ihnen Kraft.

Mit den in der Nachbarschaft lebenden Juden kam Vater in engeren Kontakt. Er nahm mit Freuden am Sabbat und an anderen Festen teil, studierte mit ihnen den Tenach1, das Alte Testament, aber er tat es im Lichte des Neuen Testaments, der Erfüllung des Alten.

Bald wurde das erste Kind erwartet. Es war ein Segen, dass Mutter das Nähen gelernt hatte. Sie hatte eine alte Nähmaschine von ihrer Mutter geerbt und nutzte jeden freien Augenblick, den sie nur finden konnte, um die Sachen für das Kind zu nähen.

Judenfrauen sind ebenso neugierig wie andere Frauen, und so fragte eines Tages eine Nachbarin die Mutter, ob sie Näherin sei. »Nein«, antwortete Mutter stolz, »aber ich erwarte mein erstes Kind. Schauen Sie sich einmal das Kleidchen hier an, das ich genäht habe.«

Da sagte die Jüdin erstaunt: »Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie, bevor das Kind da ist, die Babykleider nähen! Das bedeutet doch Gott versuchen!«

In diesem Augenblick verstand Mutter, warum Maria für das Jesuskind nur Windeln besaß. Nicht weil sie arm war, sondern es war eben jüdische Sitte, keine Kinderkleidung zu nähen, bevor das Kind geboren war. Bei portugiesischen Juden fand ich diese Sitte heute noch.

Mutter und ihre jüngste Schwester Anna waren immer zusammen gewesen. In diesem ersten Ehejahr Mutters ging Anna zu ihrer Schwester Jans. Jans, eine sehr begabte Frau, hatte ihren Pfarrer Wildeboer in Rotterdam geheiratet und arbeitete mit ihm dort treulich Seite an Seite.

Aber Anna bekam großes Heimweh nach ihrer Schwester Cor, mit der sie von ihrer Kindheit an gute und schwere Tage gemeinsam erlebt hatte. Sie war darum glücklich, als Mutter sie einlud, für sechs Wochen zu ihr zu kommen, um zur Zeit der Geburt und auch später, wenn das Kind da sein würde, zu helfen.

Mutter war nach Betsies Geburt ziemlich krank, und Tante Anna blieb nicht sechs Wochen, sondern vierzig Jahre bei uns.

Innerhalb von sieben Jahren wurden nun vier weitere Kinder geboren. Ein kleiner Junge starb. Zweimal musste Vater nach einem billigeren Haus Ausschau halten. So wohnten sie, als ich geboren wurde, in der Korte Prinsengracht, an einem der vielen Amsterdamer Kanäle, aber dort am äußersten Ende. Hier kamen nur wenige Menschen vorbei, und das Geschäft ging schlecht.

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Eine arme Kreatur

Ich wurde zu früh geboren. Meine Haut war blau. Als mein Onkel Hendrik, der Mann von Tante Jans, mich sah, sagte er: »Ich hoffe, der Herr wird diese arme Kreatur bald in sein himmlisches Haus nehmen.« Aber meine Eltern und Tante Anna waren anderer Meinung. Sie umgaben mich mit Liebe und sorgfältiger Pflege. Es war schwierig, mich warm zu halten. In unserer Zeit würde man ein solches Kind in einen Brutkasten legen. Aber so etwas gab es damals noch nicht.

Ich schrie und schrie während des ganzen Tages vor Kälte, bis endlich Tante Anna die Lösung fand: Sie wickelte mich in ihre Schürze und band mich fest an ihren Leib. Da war ich still. Ähnliches beobachtete ich in Afrika. Eine Missionarsfamilie hatte ein Baby, das sich nicht trösten ließ, bis es sich eine Afrikanerin an ihren Rücken band. War es das Gefühl der Sicherheit, dem Leib eines Menschen, der einen liebt, so nahe zu sein? Ich muss in Tante Annas Schürze dasselbe Gefühl gehabt haben.

Trotzdem blieb ich während meines ersten Lebensjahres ein armseliges, kränkliches Kind. Mutter erzählte mir, dass sie einmal mit ihrer Freundin zusammen im Zug saß. Die hatte ihr schönes, strammes Baby Rika auf ihrem Schoß. Die Leute im Abteil schauten alle interessiert nach dem niedlichen Kind, aber für Mutter und mich hatten sie nur einen mitleidigen Seitenblick übrig. Mutter erzählte mir später, dass sie damals zuerst ein wenig eifersüchtig gewesen sei, aber dann habe sie mich an sich gedrückt und geflüstert: »Für kein Kind in der ganzen Welt würde ich dich, du liebes, unansehnliches Baby mit deinen wunderbaren Augen, eintauschen.«

Die kleine Rika wurde im zweiten Lebensjahr epileptisch. Schon bald machten sich Veränderungen im Verhalten und auch in dem lieblichen kleinen Gesicht bemerkbar, die auch mir auffielen. Aber da unsere Mutter immer auch die arme Rika in ihre Fürsorge einbezog, begegneten auch wir Kinder ihr mit größter Selbstverständlichkeit, und ich habe während meiner ganzen Kindheit mit ihr gespielt. Mutter hat uns ihr Leben lang gelehrt, gegenüber schwachen und abnormen Menschen hilfreich und liebevoll zu sein.

Ich war ein halbes Jahr alt, als wir nach Haarlem umzogen. Großvater war gestorben, und Vater hatte Großvaters Geschäft übernommen.

Das Haus bot etwas mehr Platz; zwar umgab auch hier kein Garten mit Blumen das Haus, wohl aber gab es einen kleinen Dachgarten, von dem aus Mutter die Weite ihres geliebten Himmels sehen konnte.

Wir waren in vielerlei Weise reich, wenn auch nicht an Geld. Vater wusste viel Grundsätzliches über das Wirtschaftsleben und schrieb Artikel in der Zeitschrift für Uhrmacher. Er war auch ein Künstler in seinem Beruf, verstand es aber nicht, Geld zu verdienen. Er konnte eine wertvolle Uhr so gut reparieren, dass sie wie neu war, aber dann vergessen, die Rechnung zu schreiben.

Während der ersten Ehejahre muss die finanzielle Situation sehr angespannt gewesen sein. Tante Anna arbeitete Tag und Nacht, um Mutter in ihrer Krankheit zu pflegen und die vier kleinen Kinder zu versorgen. Sie verdiente die hohe Summe von einem Gulden pro Woche. Treulich gab Vater ihr das Geld an jedem Samstag, aber oft wurde die Lage schon mittwochs kritisch, dass Vater in die Küche ging und fragte: »Anna, hast du noch deinen Gulden?«

Der Gulden war stets noch da, und so haben wir nie gehungert; es soll mir also keiner erzählen, dass es nicht gesegnetes Geld gäbe! Wenn ich auf das Leben unserer Familie zurückschaue, dann muss ich schon sagen, dass alle Glieder der Familie »die Kunst zu leben« verstanden. Sie freuten sich am Leben, und sie freuten sich besonders an den Kindern. »Wir haben niemals so viel gelacht wie damals, als ihr Kinder klein wart«, hat Tante Anna später oft gesagt.

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»… dass ich guck ins Vaterhaus«

Meine früheste Erinnerung aus meiner Kindheit ist ein Augenblick der Angst. Unser Hausarzt war gekommen und untersuchte mich. Ich wollte wieder zu meiner Mutter laufen, aber er sagte, ich solle bleiben, wo ich sei. Mutter hätte mir helfen können, das Ungewohnte einer ärztlichen Untersuchung leichter zu überstehen. Ich glaube, ich habe geschrien. Dass ich mich daran noch erinnere, ist jedenfalls ein Zeichen dafür, dass ich diesen Augenblick sehr eindrücklich erlebte. Ich muss damals zwei oder drei Jahre alt gewesen sein. Ich sehe noch das dunkle Schlafzimmer vor mir, auch den Tisch mit der blauweißen Waschschüssel.

Ich erinnere mich aber auch an eine große Freude. Eine meiner Tanten gab mir eine Fibel. Ich fand es absolut nicht schwierig, die Buchstaben lesen zu lernen und herauszufinden, was die gedruckten Worte bedeuten. Als ich nun in der Lage war, das ganze Büchlein zu lesen, war ich begeistert. Ich glaube, ich muss damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein. Ich saß auf einem alten Fußschemel zwischen Mutter und Tante. Wenn ich aufschaute, sah ich das Tischbein und hoch über mir die lächelnden Gesichter dieser beiden freundlichen Menschen. Mutter schälte gerade Kartoffeln.

Ich habe mich als Kind oft gefürchtet. Da ich neben meiner Schwester Nollie schlief, die eineinhalb Jahre älter war als ich, bettelte ich immer darum, ihre Hand halten zu dürfen; aber sie erlaubte es nicht. Sie gab mir dafür einen Zipfel von ihrem Nachthemd. Aber auch das liebte sie auf die Dauer nicht, denn sie warf sich in der Nacht oft von der einen Seite auf die andere. Sie sann auf Abhilfe und überzeugte mich eines Tages, ich sei genauso sicher, wenn ich einen Zipfel vom Nachthemd meiner Puppe in der Hand hielte. Dieser Rat der sechs Jahre alten Schwester war gar nicht so schlecht, denn er half.

Der Herr Jesus war damals schon eine Wirklichkeit für mich. Unsere Mutter erzählte uns immer wieder eindrücklich, wie sehr Jesus Kinder liebt und wie gern er in unseren Herzen wohnen möchte. Ich muss ihn dann auch darum gebeten haben – wie, weiß ich nicht mehr. Immerhin: Ein Gefühl von Sicherheit und Frieden trat an die Stelle der Furcht, die mich so oft bedrängt hatte. Ich war sicher, dass Jesus nun immer bei mir bleiben würde. Ich hörte so gern die Geschichten von Jesus und besonders auch die vom Himmel und habe damals die holländische Version des Kinderverses gebetet:

Müde bin ich, geh zur Ruh,

schließe beide Augen zu.

Vater, lass die Augen dein

über meinem Bette sein.

Nachdem ich wusste, dass Jesus in meinem Herzen war, wurden meine Gebete mehr eine Art Gespräch mit ihm.

Meine Tante hatte ein Kinderliedchen verfasst. Ich erinnere mich noch an zwei Liedzeilen:

Ik zou zoo graag enns komen, Heiland,

In dat heerlijk Vaderhuis.

Anstatt »kommen« sang ich »gucken«. Die Menschen lachten über meinen Fehler, aber ich hielt sie für sehr töricht. Denn ich sehnte mich wirklich von ganzem Herzen danach, einmal für einen Augenblick in den Himmel hineingucken zu können. Das musste doch Spaß machen, den herrlichen Platz zu schauen, wo ich einmal wohnen würde!

Der Augenblick höchsten Glücks und größter Geborgenheit war es, wenn Vater mich abends zudeckte, seine große Hand auf mein Gesicht legte und mir Gute Nacht sagte. Ich empfand dann immer eine große Liebe zu Vater, sodass ich es auch wagte, ihm von den Problemen zu erzählen, die mich beschäftigten. Er beantwortete mir viele meiner Fragen. Für manche hielt er mich noch für zu jung, besonders wenn ich wiederholt von ihm Auskunft erbat, wo denn die Babys herkämen. In der damaligen Zeit war man es noch nicht gewohnt, so einfach und offen mit Kindern über diese Dinge zu sprechen, wie das heute üblich ist. Ich erinnere mich an Vaters Antwort:

»Stell dir einmal vor, dass ich einen schweren Koffer zu schleppen hätte und ich würde ihn dir zu tragen geben. Deine Arme wären noch nicht stark genug dazu. So trage ich ihn für dich. Und so gibt es manchmal Dinge, die für kleine Mädchen noch zu schwer zu verstehen sind. Solange du noch nicht groß und stark bist, lass Vater und Mutter diese Dinge tragen. Später aber will ich dir gern mehr darüber erzählen.«

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Die Welt außerhalb des Hauses

In dem überfüllten Haus war nicht viel Platz zum Spielen. Darum gingen wir, wenn das Wetter nicht zu schlecht war, viel auf die Straße, besonders auf die »Allee«, jene schmale Gasse, die längs unseres Hauses auf die Barteljorisstraat stieß und die ihren vielversprechenden Namen sicher holländischem Humor zu verdanken hat.

Eines Tages sah unsere Nollie hier ein kleines Kind, einen jüdischen Jungen, Sammy Staal. Ich glaube, sein Herz war nicht gesund. Seine Haut war bläulich und seine Nase immer rot. Er konnte nicht gehen und saß deshalb stets in einem Rollstuhl. Nollie gewann seine Freundschaft, und so konnte sie ihn stundenlang fahren. Mutter ermutigte sie auch dazu. Ihr war wichtig, dass wir Kinder uns fremder Nöte annahmen, und sie half uns auch, dies mit schlichter Selbstverständlichkeit zu tun. Als Sammy später starb, war Nollie untröstlich.

Hinter dem Häuserblock, in dem wir wohnten, lag die Smedestraat, eine Straße mit vielen Gastwirtschaften. Dort wurden immer wieder Betrunkene aufgelesen und zur Polizeistation gebracht, die sich in derselben Straße befand. Wenn ich dann beobachtete, wie rau sie dort zur Tür hineingestoßen wurden, dann tat mir das immer im Herzen weh, und ich rannte nach Hause und weinte in Mutters Schoß. Es war dieselbe Polizeistation, auf die 1944 Vater, alle seine Kinder und ein Enkel gebracht wurden. Aber die Polizisten gingen mit uns nicht so unfreundlich um, denn die Umstände, unter denen wir verhaftet wurden, gingen ihnen selbst zu Herzen.

In Haarlem gab es damals einen Schwachsinnigen, der viel in den Straßen der Stadt herumlief. Jeder kannte ihn. Er hatte den Spitznamen »Gekke Thys« (»Verrückter Thys«). Mir tat er sehr leid. Ich muss damals wohl fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als ich in meiner kindlichen Weise anfing, »über die Sache mit dem Herrn zu sprechen«. War es Mutter oder war es die Tante gewesen – eine von beiden hatte mir den Rat gegeben, alles, was mich bedrückte, mit dem Herrn zu bereden. Oder hat mir das der Herr selbst gesagt? Ich erinnere mich jedenfalls, dass jedes Abend- und Morgengebet mit der wichtigen Bitte endete: »Und, Herr, bekehre und rette all die Menschen in der Smedestraat und auch Gekke Thys.« Es mag schon sein, dass Gott gelächelt hat, aber er hat mein Gebet nicht verachtet.

Es war viele Jahre später. Ich war mit Mädchen aus Haarlem zum Camping unterwegs. Am Lagerfeuer hatte ich ihnen von dem Herrn Jesus erzählt. Die meisten dieser Mädchen gehörten zu meinen Klubs, von denen ich noch erzählen werde. Mit achtzehn Mädchen schlief ich zusammen in einem Zelt. Wir erzählten uns an dem Abend noch fröhlich dies und das und erinnerten uns noch einmal an all das, was der Tag gebracht hatte.

»Weißt du eigentlich, Tante Kees (mein Spitzname), dass ich beinahe deine Nachbarin bin? Ich wohne in der Smedestraat.«

»Und ich habe da bis vor fünf Jahren gewohnt.«

»Und meine Mutter hat auch dort gewohnt.«

Es stellte sich heraus, dass alle Mädchen einmal in dieser Straße gewohnt hatten, oder sie wohnten noch dort, oder aber ihre Eltern hatten dort gelebt. Das fanden sie doch sehr drollig. Aber ich sagte: »Hört einmal zu: Ich erinnere mich jetzt an etwas, was ich ganz und gar vergessen hatte. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, habe ich jeden Tag für die Errettung aller Menschen in der Smedestraat gebetet. Die Tatsache, dass ihr alle oder eure Eltern dort gewohnt habt, verstehe ich als eine Antwort Gottes auf das Gebet eines kleinen Kindes. Wir sollten wirklich nicht daran zweifeln, dass Gott unsere Gebete erhört, selbst ein so naives, aber doch ehrlich gemeintes Gebet eines Kindes.«

Nun staunten auch sie.

Einmal ging ich mit Nollie die Smedestraat entlang. »Sieh mal dort, der Gekke Thys«, sagte Nollie. Kinder schrien hinter ihm her und neckten ihn. Er tat mir sehr leid, und ich war voller Ärger über die grausamen Kinder. Ob Thys wohl meine Gedanken von meinem Gesicht abgelesen hatte? Ob es wohl sein umwölktes Herz erwärmt haben mag, dass ein kleines Mädchen Mitleid mit ihm hatte? Plötzlich kam er auf mich zu, beugte sich herab und küsste mich auf beide Wangen. Da ergriff Nollie schnell meine Hand und rannte mit mir sofort nach Hause. »Tante, Tante, der dreckige Gekke Thys hat Corrie geküsst. Wir wollen schnell ihre Wangen abwaschen!«

Mein Gesicht wurde gründlich geschrubbt, und ich hörte, wie jemand sagte: »Solche gefährlichen Landstreicher sollte man nicht frei auf den Straßen herumlaufen lassen.«

Ich ging dann zu Mutter, die krank im Bett lag.

»Mutti, warum war das denn so schlimm, dass Gekke Thys mich geküsst hat? Er ist doch ein solch armer und unglücklicher Kerl. Alle Leute und auch die Kinder hacken immerfort auf ihm herum.«

Mutter nahm mich in ihr Bett und sprach sehr ernst mit mir. Ich kuschelte mich ganz nahe an sie heran, und ich erinnere mich gut an das, was sie sagte. Es war etwa Folgendes:

»Correman (Mutters spezieller Kosename für mich), es ist schon gut, dass dir dieser Mann leidtut. Der Herr Jesus, der in deinem Herzen wohnt, schenkt dir diese Liebe für Gekke Thys und auch für die betrunkenen Männer in der Smedestraat. Jesus liebt die Sünder. Aber ehe diese Männer bekehrte Menschen sind, können sie sehr böse sein. Da hält man klugerweise ein bisschen Abstand. Doch eine wichtige Sache gibt es, die du und ich tun können – und du tust sie ja schon: treulich für sie beten.«

Gekke Thys verschwand kurze Zeit darauf von unseren Straßen. Er war in eine Anstalt gebracht worden.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Meine erste Berührung mit dem Geheimnis des Todes

Ein kleines Kind war gestorben. Mutter nahm Nollie und mich mit, um die Mutter des Kindes zu besuchen. Diese war eine von Mamas »lahmen Enten«. So nannten Willem und Betsie, die älteren Geschwister, Mutters Schützlinge.

Wir stiegen eine schmale Treppe hoch und betraten den ärmlich möblierten Raum. Da lag im Babybettchen ein kleines Kind. Es bewegte sich nicht. Seine Haut war weiß. Nollie berührte die Wange des Kindes.

»Fühl nur, wie kalt das Kind ist!«

Ich berührte die kleine Hand und vergrub mein Gesicht in Mutters Rockfalten. Ich hatte zum ersten Mal den Tod berührt.