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Das Buch: Ein Manuskript, das von dem Theologie-Professor Stephan D’Aubert zu seinen wissenschaftlichen Forschungen verfasst wurde, enthält hochbrisante Entdeckungen. Eine Veröffentlichung würde die dogmatischen und hierarchischen Strukturen der Weltreligionen ad absurdum führen.

Die großen Kirchen fühlen sich existenziell bedroht und viele Staaten fürchten um die soziale Stabilität. Sie beschließen, den Autor zum Schweigen zu bringen. Fortan machen CIA, MI6, Mossad, der russische FSB, die ‚Ndrangheta und mächtige Geheimbünde Jagd auf das – in der Zwischenzeit – im Kloster Mariawald sicher verborgene Manuskript.

Doch es taucht ein imposanter Gegenspieler auf, der die Jagd nach dem begehrten Manuskript zu einer echten Herausforderung macht. Es entwickelt sich ein rasanter Thriller, der durch seine Sprachvielfalt besticht und die Spannung bis zum Schluss durch einige famose Wendungen hochhält.

Der Autor: In seiner biographischen Erzählung „Die wundersame Holzbank“ schildert der 1935 in Bonn geborene Autor die durch ein spirituelles Erlebnis bedingte Metamorphose seines noch jungen Lebens. Aus einem dicken und miserablen Schüler, verlacht, verspottet und ausgegrenzt, wurde ein sportlicher und erfolgreicher junger Mann. Nach Abitur, Staatsexamen und Promotion begann die berufliche Karriere. Als Ärztlicher Direktor leitete er bis zu seinem Ruhestand eine Klinik. In dieser Zeit schrieb er mehrere Fachbücher. Er wurde in den Prüfungsausschuss der Ärztekammer Münster und in den Landesfachbeirat in Düsseldorf berufen und moderierte Gesundheits-Beiträge für das ZDF.

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Manuskript des Teufels

von Bert Saurbier

Thriller

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Anmerkung

Der vorliegende Roman erzählt eine frei erfundene Geschichte. Alle vorkommenden Personen sind in der Fantasie des Verfassers entstanden und in fiktives Geschehen eingefügt. Die beschriebenen Handlungen im Kloster Mariawald, im Jesuiten-Noviziat in Nürnberg, im Hotel-Restaurant Ritterstuben in Hergarten, im Sheraton Tel Aviv, im Hilton München oder im Hotel Maritim Köln haben nie stattgefunden. Die geschichtlichen, wissenschaftlichen und geografischen Darstellungen sind weitgehend an die Realität angelehnt.

Copyright © 2013 mainbook Verlag, alle Rechte vorbehalten

ISBN 9783944124322

Lektorat: Gerd Fischer

Layout: Olaf Tischer

Titelbild: © Bert Saurbier

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de

Widmung

In meiner Erzählung „Die wundersame Holzbank“ beschreibe ich die erste Begegnung mit meiner Frau Gabriele als ein Wunder. Bis heute erlebe ich jeden Tag mit ihr als ein Geschenk Gottes.

Danksagung

Meiner lieben Frau Gabriele danke ich für ihre unermüdliche Unterstützung bei den umfangreichen Recherchen. Hildegard Burfeid und Bernd Kramer bin ich großen Dank schuldig für ihre professionellen Korrekturarbeiten.

Inhalt

Danksagung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

1

Mein lieber Alois,

seit über drei Jahren lebst du nun schon als Pater Aloisius im Trappistenkloster Mariawald. Leider haben wir in dieser Zeit nichts mehr voneinander gehört. Ja, ich weiß, Eure strengen Ordensregeln mit Schweigegelübde und völliger Abgeschiedenheit von der Außenwelt.

Ich hoffe, nein, ich bin überzeugt, es gibt jetzt einen triftigen Anlass dafür, dass wir beide uns bald wieder sehen werden.

In dem beiliegenden Manuskript sind meine, mit modernsten wissenschaftlichen Methoden erarbeiteten Forschungsergebnisse der letzten Jahre niedergeschrieben.

Mein lieber Freund, ich bin bei diesen Untersuchungen auf Dinge gestoßen, die mich als gläubigen Christen erschüttert haben. Diese Entdeckungen haben mich veranlasst, dich vor der Veröffentlichung meines Werkes um Deine von mir sehr hoch geschätzte Meinung zu bitten. Von klein auf waren wir unzertrennliche Freunde und haben gemeinsam in Bonn Theologie studiert. Alois, du genießt mein volles Vertrauen. Mit Spannung erwarte ich Deine Beurteilung.

Bitte, lass dir nicht zu viel Zeit mit dem Lesen. Ich kann unser Wiedersehen kaum erwarten.

Innige Grüße.

Dein Stephan

2

Seinen geliebten Wagen, ein in die Jahre gekommener E 220 CDI, stellte er in der Garage des elterlichen Hauses ab. Gern hätte er Mutter und Vater noch einen kurzen Besuch abgestattet. Da aber beide für ein paar Tage verreist waren, musste er heute auf diese liebevolle Begegnung verzichten.

An diesem Abend kam ihm das gerade recht.

Den gesamten Samstagnachmittag hatte er hart trainiert und sehnte sich danach, die Füße in aller Ruhe hochzulegen. Doch Dusche und Liegestuhl auf der Dachterrasse seines kleinen Holzhauses mussten noch eine gute Stunde warten. Ein hartes Stück Trainingsarbeit lag noch vor ihm. Es war zu einer überwindungsbedürftigen Gewohnheit geworden, den Weg von Gemünd bis hinauf nach Hergarten joggend zurückzulegen. Zu bewältigen waren etwa acht Kilometer bergauf mit einem Höhenunterschied von über hundert Metern.

Als er los lief, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt. Aber das beunruhigte ihn keineswegs. Die Laufstrecke war ihm vertraut, und er konnte sich auf sein überdurchschnittliches Sehvermögen verlassen. Sogar nachts, bei nur mäßigem Mond- oder Sternenschein, hatte er keine Probleme mit der Orientierung.

Er legte das Törchen des Spriegelzaunes ins Schloss und trat auf die Straße. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, etwa zwanzig Meter entfernt, fiel ihm ein anthrazitfarbener VW Polo mit Siegburger Kennzeichen auf. Er hatte das Gefühl, hinter den spiegelnden Scheiben bewege sich etwas. Einen Moment lang war er versucht, stehen zu bleiben und genauer hinzuschauen, doch dann überlegte er es sich anders und lief los.

Nach fünfhundert Metern löste der festgewalzte, rotbraune, feinkörnige Schotter der Spazierwege durch den Gemünder Kurpark den Asphalt der Urftseestraße ab. Wenige hundert Meter weiter begann der naturbelassene Waldweg. Doch seine Gedanken wanderten zurück an den Ausgangspunkt. Wer hatte in dem Kleinwagen gesessen? Weshalb versteckte sich diese Person in dem Wagen? Beobachtete sie etwas, ohne selbst bemerkt werden zu wollen? Hätte jemand in diesem kleinen Fahrzeug schlafen wollen, wäre der Sitz zurückgeschoben und die Rückenlehne flachgestellt gewesen.

Plante jemand einen Einbruch in das zurzeit unbewohnte Haus seiner Eltern? Wie gut, dass sie im vergangenen Jahr das Haus einbruchsicher hatten ausrüsten lassen. Eine hochmoderne Alarmanlage hätte sofort jeden Einbruchversuch der nur zwei Kilometer entfernten Polizeistation gemeldet.

Er beendete seine Grübeleien mit dem Vorsatz, sich morgen eine Auskunft einzuholen. Das Kennzeichen war in seinem fotografischen Gedächtnis gespeichert.

Erschöpft, aber auch stolz auf diese außergewöhnliche Trainingseinheit, hatte er in der vorgesehenen Zeit sein Schmuckkästchen, sein trautes Zuhause erreicht. Hinter ihm lagen sechs Stunden eines bis an die Grenzen seiner physischen und psychischen Belastbarkeit reichenden, hochspezialisierten Trainingsprogramms. Er musste lächeln, als er die letzte Stunde des beinharten Berganlaufes in Gedanken als Nachtisch bezeichnete.

D’Aubert schob den großen schmiedeeisernen Schlüssel ins Schloss der hölzernen Haustür mit dem kleinen Sprossenfenster und genoss es, wie jedes Mal, in eine Welt einzutreten, die ihn mit Vertrautheit, Geborgenheit und erholsamer Ruhe umschmeichelte.

Üblicherweise hätte er sich jetzt als erstes von seinen leicht verschwitzten Trainingssachen befreit und genussvoll erlebt, wie die heiße Dusche die Anstrengungen des Tages von Leib und Seele schwemmte und ein anschließender kneippscher Kaltwasser-Ganzkörper-Guss die müden Lebensgeister auffrischte.

Heute Abend jedoch störte etwas diesen gewohnten Rhythmus. Da war noch immer das Bild der sich im Auto versteckenden Person.

Eine Warnlampe in seinem Kopf ließ ihn darauf verzichten, das Licht anzuschalten. Er stieg die Treppe hinauf, öffnete geräuschlos die Glastür zur Dachterrasse und legte sich vorsichtig in den Liegestuhl. Das Terrassengeländer bestand aus massivem Holz und bot ihm somit kompletten Sichtschutz.

Er versuchte, sich zu entspannen und genoss die klare, erfrischende Eifelluft, den natürlichen Duft des Waldes, die schmeichelnde Musik, die beim Spiel des leichten Windes mit den Blättern der Baumwipfel entstand und die Dunkelheit, die besucht wurde vom dezenten Licht aus den ehrfurchtgebietenden Unendlichkeiten des Alls.

Dieses entspannende Erleben der hier draußen noch puren Natur leitete über zur Sehnsucht nach der Gnade eines wohltätigen Schlafes. Die Muße des Augenblicks ließ seine traumnahen Gedanken schweben: Vor ein paar Jahren hatte er auf ausdrücklichen Wunsch seiner Freundin Maria, der Tochter des Landespolizeipräsidenten, an einem Eignungstest teilgenommen, der Voraussetzung für die Zulassung junger Polizeibeamter zu einem GSG 9-Ausbildungsprogramm war. Dr. Bergter, der die Testuntersuchungen leitete und die Ergebnisse auswertete, hatte damals seine Hand auf D’Auberts Schulter gelegt und ihn kopfschüttelnd angelächelt. „Mensch, Stephan, alter Hugenotte, der liebe Gott hat wohl bei deiner Erschaffung kräftig übertrieben. Hör zu: Deine Reflexe sind das Beste, was mir je begegnet ist. Bei dir kann man nicht von einer Schrecksekunde, sondern eher von ein paar Schreckzehntelsekunden sprechen. Du hast Augen wie ein Adler, deine Sehschärfe liegt bei 160 %, und du kannst hören wie ein Luchs. Dein Hörvermögen übertrifft alles Dagewesene, deine Hörleistungen sind, wie hier das Audiogramm zeigt, in allen Frequenzbereichen mit denjenigen von zehn bis zwölfjährigen Kindern zu vergleichen. Mir scheint, du hast bei der Verteilung der Talente am lautesten hier gerufen. Junge, Junge, werd mir nur nicht größenwahnsinnig!“

Diesen feinen Ohren war es zu verdanken, dass in D’Aubert urplötzlich alle Alarmglocken läuteten. Eine riesige Portion Adrenalin überflutete von einer Sekunde auf die andere seinen durchtrainierten Körper. Alle Müdigkeit, alle Erschöpfung waren wie weggezaubert. Ein kurzes Schleifen, das entsteht, wenn gewebtes Material einen Zweig streift, hob sich für sein feines Gehör deutlich von dem zarten und gleichmäßigen Windspiel der Blätter ab.

Er, der die virtuose Musik der Natur genau kannte und liebte, war sich sicher, ein derartiges Geräusch konnte nicht vom Vorbeigleiten eines Tierfelles verursacht worden sein. Sofort hatte er wieder das Bild der Haarspitzen hinter dem Armaturenbrett vor Augen. Scheinbar waren die Ermahnungen seines besten Freundes, des Trappisten-Paters Aloisius, nicht unbegründet gewesen. Ihm hatte er vor kurzem ein Manuskript zur Kenntnisnahme und Beurteilung geschickt. Warum musste er in diesem Moment an die völlig unerwartete Reaktion dieses frommen und studierten Ordensmannes denken? „Sorge bloß dafür“, hatte Aloisius ihn gewarnt, „dass dein Manuskript von niemandem gelesen wird, am besten wir verstecken oder vernichten es sofort. Deine Ausführungen sind brisant, darin steckt die Explosionskraft einer Atombombe. Und glaube mir, du würdest dich mit einer Veröffentlichung im wahrsten Sinne des Wortes selber in Teufels Küche begeben. Komm bitte in den nächsten Tagen hier bei uns im Kloster vorbei. Unser Abt hat mir wegen des dringenden Gesprächsbedarfes mit dir die Erlaubnis zu einem Treffen erteilt.“

D’Auberts Verstand schaffte es nicht, die Alarmglocke abzuschalten. Sein Kopf warnte und steuerte ihn, was weniger logischen Verdachtsmomenten, sondern eher unbewussten Überlebensinstinkten entsprang.

3

Um 0.30 Uhr klingelte etwa acht Kilometer entfernt das Telefon.

„Polizeiwache Schleiden, Oberwachtmeister Pütz, was kann ich für Sie tun?“

„Gehen Sie hinaus“, meldete sich eine forsche Männerstimme, „auf der Gartenbank gegenüber sitzt ein Mann in einem Goretex-Tarnanzug mit Sturmhaube. Er ist zurzeit noch benommen, wird aber in etwa einer halben Stunde wieder ansprechbar sein. Er ist völlig unverletzt und steht auch nicht unter Drogen. Es besteht keine Gefahr für seine Gesundheit. Wenn Sie mir nicht glauben, rufen Sie Notarzt und Rettungswagen.“

Oberwachtmeister Pütz hatte auf Mithören geschaltet und sein Kollege war bereits zur Tür hinaus. Nach dem Namen des Anrufers konnte er nicht mehr fragen, der Teilnehmer hatte bereits aufgelegt.

Die Rückverfolgung des Gespräches hatte ergeben, dass das Telefonat von der einzigen öffentlichen Telefonzelle, die es noch in der näheren Umgebung gab, geführt worden war.

Als die Polizisten an die beschriebene Stelle kamen, wollten Sie ihren Augen nicht trauen. Die von dem unbekannten Anrufer beschriebene Person hing zusammengesunken auf der Bank.

„Hallo! Können Sie mich hören?“, rief Pütz und schüttelte den Mann vorsichtig an der Schulter. Der seltsame Fremde reagierte mit einem Brummeln, dem vergeblichen Versuch einer Antwort.

Nach wenigen Minuten traf der Rettungswagen ein. Der Unbekannte wurde von seiner Sturmhaube befreit. Das Alter des Mannes, schätzungsweise um die Dreißig.

Nach einer gründlichen Untersuchung stellte Dr. Moscovici im Stenostil die vorläufige Diagnose: „Herz-Kreislauf okay, Blutdruck niedrig normal, keine auffallenden äußeren oder inneren Verletzungen, Reflexverhalten regelrecht, wenn auch im Augenblick noch etwas verlangsamt. In spätestens einer Viertelstunde wird der Patient wieder ansprechbar sein. Dennoch nehme ich ihn mit ins Krankenhaus zur weiteren Beobachtung.“

„Können wir in einer Stunde zur Befragung vorbeikommen?“, erkundigte sich Oberwachtmeister Pütz.

„Das geht in Ordnung, bis dann.“

Die Befragung des ominösen Mannes durch die zwei Beamten fand im Besucherzimmer statt. Der Unbekannte, jetzt mit einem weißen Bademantel bekleidet, saß an einem ungastlich einfachen Plastik-Metall-Tisch und wirkte erschöpft.

Beim Eintreten der Polizeibeamten erhob er sich mühsam, und lächelte verlegen: „Bitte nehmen sie Platz“, empfing er die Beamten. „Unsere Unterhaltung wird sehr kurz ausfallen. Ich werde ihnen keine Fragen beantworten. Aber hier haben sie eine Telefonnummer, bitte rufen sie dort an. Sie werden alles Wissenswerte erfahren. Es handelt sich um eine Telefonnummer des BfV.“

Oberwachtmeister Pütz staunte: „Bundesamt für Verfassungsschutz, Köln? Sollen wir wirklich da anrufen?“ Die beiden Polizisten schauten sich überrascht an, zuckten ratlos mit den Achseln, und Pütz‘ Kollege meinte: „Versuchen können wir’s. Hoffentlich erlauben Sie sich keinen Scherz mit uns.“

Pütz begab sich hinaus, um das Gespräch ungestört vom Streifenwagen aus zu führen. Nach zehn Minuten kam er zurück, nickte seinem Kollegen zu und gab dem Fremden die Hand. „Sie können gehen, wir haben keine weiteren Fragen. Können wir etwas für Sie tun.“

Der zweite Polizist schaute Pütz ungläubig an und richtete seine Augen dann wieder auf den Überraschungsgast. Sein Gesichtsausdruck zeigte eine gelungene Kombination aus Verwunderung und Misstrauen.

„Ich nehme ihr Angebot gerne an“, antwortete der Mann. „Dürfte ich sie bitten, mich im Bademantel, so wie ich hier bin, nach Hergarten zu fahren? Dort steht mein Wagen mit all meinen Papieren. Auf der Fahrt dorthin bin ich gerne bereit, ihnen einiges über mich zu erzählen.“

„Okay, wir müssen nur eben noch unsere Dienststelle informieren.“

„Danke sehr.“ Das ernste, männlich eindrucksvolle Gesicht des Fremden zeigte plötzlich ein gewinnendes Lächeln. „Ich schätze ihr ausgesprochen faires und professionelles Verhalten mir gegenüber.“

Er reichte den beiden verdutzt dreinschauenden Beamten mit einem freundlichen „Hallo Kollegen“ die Hand, und sie stiegen wenig später in den Dienstwagen.

Die erste neugierige Frage stellte Oberwachmeister Pütz gleich zu Beginn der zwanzigminütigen Fahrt nach Hergarten: „Was ist denn eigentlich passiert? Sie sahen auf der Bank geradezu erbärmlich aus.“

„Ich bin Spezialagent Jon Murrey vom MI6. Ihr werdet es nachher in meinen Papieren bestätigt finden. In Abstimmung mit dem BfV hatte ich in dieser Region einen streng geheimen Auftrag zu erledigen. Sicher versteht ihr, dass ich nichts weiter sagen kann und darf. Zurzeit wohne ich in einer kleinen Pension in Hergarten. Die Wirtsleute glauben, dass ich ein begeisterter Wanderer bin und die einmalige Schönheit des Nationalparks mit den herrlichen Wäldern und den bezaubernden Seen kennen lernen möchte.“ Murreys Mimik nahm einen skeptischen Ausdruck an. „Vorhin ist etwas Merkwürdiges passiert. Mitten im Wald dort draußen nahm ich plötzlich ein leises Zischen wahr, wie der Flügelschlag eines großen Vogels. Als ich nach oben schaute, sah ich etwas Riesiges auf mich zu stürzen und hatte keine Chance mehr, es abzuwehren. Auf der linken Seite, genau zwischen den beiden Ansätzen des Kopfnickermuskels, verspürte ich einen grellen Schmerz, der sich tief in meinen Körper bohrte. Im nächsten Augenblick konnte ich mich nicht mehr bewegen, war völlig paralysiert. Dann schwanden mir die Sinne.“ Ungläubig und andächtig staunend hörten die beiden Beamten zu. „Bei meinem Verein in England, dem MI6, zähle ich zu den besten Spezialagenten und habe eine exzellente Nahkampfausbildung genossen. Aber mein Gegner war mir haushoch überlegen. Wer auch immer das gewesen sein mag?“ Murrey schaute geistesabwesend aus dem Fenster. „Er muss ein Großmeister der Nahkampfkunst sein. Jedenfalls beherrschte er die Vitalpunktkampftechnik perfekt. Und das bei fast völliger Dunkelheit.“ Der MI6-Mann schüttelte den Kopf. „Ich muss leider zugeben, dass ich ihn bewundere, obwohl er mir eine bittere Niederlage bereitet hat. Den möchte ich zu gern kennenlernen.“

Als sie den anthrazitfarbenen VW Polo mit dem SU-Kennzeichen erreicht hatten, stieß der Kollege aus England einen Fluch aus. „Verdammt, der Wagenschlüssel ist verschwunden. Er war in der Brusttasche meines Goretexanzuges.“ Er zog den Tarnanzug aus der Plastiktüte, um noch einmal genauer nachzusehen.

Oberwachtmeister Pütz inspizierte inzwischen das am Wegrand geparkte Auto. „Hier, im Schloss der linken Tür steckt doch der Schlüssel, Mister Murrey.“

„Jetzt weiß ich, wie ich von hier oben nach Schleiden auf die Bank gekommen bin“, geriet er in bewunderndes Staunen. „Er hat geahnt, dass ich meinen Wagen in der Nähe des Waldes abgestellt habe. Dann hat er mich dort hingetragen, als wäre ich ein Leichtgewicht. In meinem eigenen Wagen hat er mich zu ihnen gefahren, auf die Bank vor ihrer Wachstation gesetzt und ist wieder hierher zurückgekehrt. Mein Widersacher muss ein Gentleman sein, fair und clever. Er hat mich direkt vor ihre Nase gesetzt, damit ich möglichst bald gefunden werde und Hilfe erhalte. Er hat ihnen Bescheid gegeben und meine Karre wieder an die Stelle zurückgebracht, an der ich sie abgestellt hatte. Mit Sicherheit hat er sich auch meine Papiere im Handschuhfach angesehen und weiß jetzt über mich Bescheid. Morgen werde ich abreisen. Ich habe versagt. Aber was soll’s! Es wird immer Gegner geben, die besser sind.“ Jon Murrey schüttelte den beiden Beamten freundschaftlich die Hände, klopfte ihnen aufmunternd auf die Schulter und rief ihnen ein heiteres „Bye-bye, Boys“ zu, während er sich hinters Lenkrad zwängte. „Ach so, beinahe hätte ich es vergessen. Sagen sie im Krankenhaus Bescheid, dass sie den Bademantel zurückbekommen.“

Kopfschüttelnd bestiegen Oberwachtmeister Pütz und sein jüngerer Kollege den Streifenwagen und hatten noch lange das Gefühl, die Rollen zweier Nebenfiguren in einem skurrilen Krimi-Märchen gespielt zu haben.

Jon Murrey fuhr zu seiner kleinen, einfachen aber pik-sauberen Pension zurück. Auf dem Gästeparkplatz nutzte er die Gelegenheit, ungestört ein klärendes Telefonat zu führen. Er wählte die in seinem Handy gespeicherte und ihm vertraute Nummer.

„Vauxhall London, Secret Intelligence Service, Vorzimmer Direktor John Flowers, Maggie Woodfort am Apparat.“

„Hallo, Maggie. Du lernst es nie, schau doch auf dein Display, dann kannst du dir all die Förmlichkeiten sparen.“

„Sorry Jon, aber ich hatte einen anderen Anruf erwartet. Jon ohne -h-, du willst sicher den John mit -h- sprechen, ich verbinde.“

Keine zehn Sekunden später hörte er eine vertraute Stimme. „Mein lieber Jon, was läuft denn schief bei deinem Erholungsurlaub in der Eifel? Du hast doch hoffentlich im Nationalpark in Old Germany keinen Bock geschossen?“

„Bestimmt nicht, Chef. Aber möglicherweise ihr an der Themse.“

„Wie meinst du das? Lass hören!”

„Okay. Gestern Nacht wollte ich das Haus unserer Zielperson unter die Lupe nehmen und herausfinden, wie man am besten hineingelangen kann, um unser Zielobjekt, das Manuskript, sicherzustellen. Dabei muss mich jemand bemerkt haben. Und zwar ein hochqualifizierter Profi, Großmeister in Kyusho Jitsu, dem japanischen Sekundenkampf. Er hat mich exakt am Vitalpunkt erwischt und…“

„Gut, gut“, unterbrach ihn John Flowers, „bevor du ausschweifst: alles weitere später hier bei mir. Ich werde jetzt in Köln beim BfV anrufen und nachfragen, warum die mir nichts von einem professionellen Personenschutz der Zielperson gesagt haben. Bis bald.“

Jon Murrey packte seine Siebensachen, duschte ausgiebig, als wolle er sich die erlittene Niederlage vom Leibe spülen, kleidete sich an und sah wieder aus wie ein typisch konservativer, eleganter Englishman.

„Glauben Sie mir“, sagte er vor seiner Abreise zu der Wirtin, „es hat mir bei ihnen sehr gut gefallen. Leider muss ich aus beruflichen Gründen sofort los.“

„Das tut uns leid“, antwortete sie und nickte ihrem Mann zu, der eine Schublade am Tresen öffnete: „Dann bekommen Sie noch…“

„Nein, nein“, winkte Murrey ab, „ich hatte für eine Woche bezahlt und das steht ihnen voll und ganz zu. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder. Nochmals vielen Dank. Das gute deutsche Frühstück werde ich vermissen.“

Nach einer knappen Stunde Fahrt, vorwiegend über Autobahnen und Schnellstraßen, erreichte er Köln-Bonn-Airport. Er stellte den VW Polo im Parkhaus 1 auf der AVIS-Parkfläche ab und übergab vor Ort den Leihwagen einem Mitarbeiter der Firma. Noch im Parkhaus meldete sich sein Handy.

„Hey, Jon. Ich bin wie immer nett zu dir, dein Flug geht um 12.40 Uhr, Terminal 1, mit Germanwings. Ankunft nach einer Flugdauer von 1 Stunde und 25 Minuten um 13.05 Uhr in London Heathrow. Guten Flug. Wir sehen uns nachher. Moment, der Chef will dich noch mal haben.“

„Jon, hör zu! Die Kollegen aus Köln haben mir glaubhaft versichert, dass sie nichts von einem Personenschutz wissen. Aber sie sind wie ich der Überzeugung, dass noch andere an dieser Geschichte dran sind. Ich möchte dich sofort nach deiner Landung sehen. Guten Flug.“

4

Den Höhenzug Kermeter bezeichnete man schon immer als das Schmuckstück des Nationalparks Eifel. Seine beliebten Wanderwege durchzogen ein 33 Quadratkilometer großes zusammenhängendes Hochwaldgebiet. An der Westseite des Kermeters konnten Wanderer die Edelsteine dieser von der Natur verwöhnten Region bewundern: den Urftsee, den Obersee und den Rursee.

Mitten in dieser mit herberfrischender Eifelschönheit reich gesegneten Landschaft lag in etwa 400 m Höhe das einzige deutsche Trappistenkloster Mariawald.

Das Telefon im Sekretariat klingelte. „Abtei Mariawald, Albrecht am Apparat.“

„Grüß Gott“, war eine jugendlich freundliche und heitere Damenstimme zu vernehmen, „pardon, spreche ich mit Bruder oder Pater Albrecht?“

„Nein, nein, weder noch, ich bin kein Ordensmitglied, sondern als Laie in der Klosterverwaltung tätig.“

„Ja, dann also, Herr Albrecht. Ich rufe im Auftrag meines Chefs, Ferdinand Feldkamp, an. Mein Name ist Hannelore Fischer. Herr Feldkamp betreibt hier in Nürnberg eine große Unternehmensberatung. Er ist das Musterbeispiel eines Workaholics und steht kurz vorm Burnout. Sein Hausarzt hat ihm dringend geraten, sich kurzfristig eine totale Auszeit von mindestens zwei Wochen zu nehmen.“ Albrecht holte tief Luft, um ein paar Fragen zu stellen, aber seine Gesprächspartnerin ließ sich nicht unterbrechen. „Erst nach einer Phase der absoluten Ruhe, Stille und Besinnlichkeit werde er soweit sein, einen anschließenden Urlaub genießen zu können.“

Die sympathische, anschmiegsame, samtweiche und heitere Stimme, die nur einer hübschen Frau gehören konnte, war für Albrecht ein wohltuendes Kontrasterlebnis zu der an dieser Stelle üblichen knorrigen und mürrischen Telefonsprache älterer Männer, und so hörte er weiter zu.

„Übrigens, der Pastor einer kleinen Gemeinde im Allgäu ist ein guter Freund vom Chef. Und der war der Meinung, dass ihm nur noch zu helfen sei, wenn er sich für ein oder zwei Wochen der Kontemplation eines abgeschiedenen Klosters mit strengen Ordensregeln hingeben würde. Und hierfür, so meinte Pastor Angenmüller, käme am besten die Trappistenabtei Mariawald in Frage. Deshalb wollte ich mich bei ihnen erkundigen, ob kurzfristig ein Gastaufenthalt von 14 Tagen möglich wäre.“

„Da gibt es allerdings ein Problem“, schränkte Albrecht ein. „Grundsätzlich sollte hier im Kloster ein beiderseitiges Kennenlerngespräch stattfinden, bevor jemand einen Gastaufenthalt in unserer Gemeinschaft antritt.“

Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, bediente sich die Gesprächspartnerin unerwartet eines bestimmenden und harten Tonfalls, der den gutmütigen Albrecht zusammenzucken ließ. „Hören Sie jetzt bitte genau zu! Mein Chef ist ein netter, ehrenwerter und gebildeter Herr und wird am kommenden Montag auf jeden Fall anreisen. Die Überweisung der Kosten für einen 14-tägigen Aufenthalt mit voller Verpflegung plus einer Spende von 1000 Euro wird heute noch erfolgen. Der gesamte Betrag bleibt auch dann auf ihrem Konto, wenn mein Chef nicht die komplette, vorgesehene Zeit im Kloster verweilen sollte. Ist das okay? Oder sollten wir uns mit dem zuständigen Bischöflichen Generalvikariat in Aachen in Verbindung setzen?“

„Nein, nein, das geht schon in Ordnung“, machte Albrecht einen Rückzieher. „Ich habe zwar keinerlei Entscheidungsbefugnis, aber ich glaube, dass sich alles am Montag bei der persönlichen Begegnung zwischen Herrn Feldkamp und unserem für Gäste zuständigen Pater Raimund klären lässt. Ich danke Ihnen im Namen unseres Abtes Dom Domenic und wünsche Ihrem Chef eine gute Anreise. Ach so, Frau Fischer, darf ich Ihnen noch eine Frage stellen? Und das nur, weil mich Pater Raimund, wenn ich ihn nachher über unser Gespräch informiere, darauf ansprechen wird. Können Sie mir verraten, warum Pastor Angenmüller und Ihr Chef sich ausgerechnet unser Mariawald ausgesucht haben, wo es doch nirgendwo so viele schöne und traditionsreiche Klöster gibt, wie bei Ihnen in Bayern? Ich denke da zum Beispiel an das namhafte Kloster Benediktbeuern“, ereiferte sich Albrecht. „In seiner Nähe liegen zahlreiche Seen, das Loisach-Kochelsee-Moor oder die bekannte Benediktenwand. Geradezu ideale Wanderziele. Oder an das älteste Kloster Bayerns, die Abtei Weltenburg, unmittelbar in der herrlichen Flusslandschaft der Donau gelegen. Nicht zu vergessen Kloster Andechs mit seiner weitbekannten Bierbrauerei?“

„Sie scheinen sich ja wirklich auszukennen, Herr Albrecht“, nun war wieder das erotisch anregende Timbre ihrer Stimme zurückgekehrt, „aber all diese Ordenshäuser bieten nicht das, was Mariawald auszeichnet und was mein Chef dringend braucht. Die maximale Abkehr von allem Weltlichen. Er weiß, dass ihm weder Radio noch Fernsehen zur Verfügung stehen werden. Und das ist gut so. Er braucht absolute Stille, um zu sich selbst und zum Sinn des Lebens zurückzufinden. Übrigens Herr Albrecht, da fällt mir noch etwas ein, und ich bitte Sie, dafür zu sorgen, dass das in Ordnung geht. Mein Chef möchte bei ihnen genau so leben wie die Trappisten-Mönche. Das heißt, er möchte mit ihnen um 3.15 Uhr aufstehen und um 19.30 Uhr mit dem Nachtgebet zu Bett gehen. Er wird auf jeden Fall an allen täglich stattfindenden Gebeten, Lesungen, Meditationen, Andachten und Gottesdiensten teilnehmen. Und er bittet darum, ihn auch zu körperlichen Arbeiten einzuteilen. Auch würde er gerne mit den Patres und Brüdern gemeinsam die kargen, fleischlosen Mahlzeiten einnehmen, auch wenn es für Gäste ein eigenes Speisezimmer gibt. Dass er als Nicht-Mönch Zivilkleidung tragen muss, damit hat er sich abgefunden. Soll ich Ihnen, lieber Herr Albrecht, etwas verraten? Der Chef hat mir sogar gestanden, dass er in der Zeit bei ihnen am liebsten den weißen Habit mit dem schwarzen, schürzenartigen Überwurf und dem breiten Ledergürtel tragen würde. Aber das steht einem Laien nicht zu. Er wird sich aber dem Schweigegelübde der Trappisten anschließen und zumindest vierzehn Tage lang jeden Kontakt nach draußen unterlassen.“

Ein wohltuend warmherziges – „ Dankeschön, es war nett mit ihnen zu plaudern“ – beendete abrupt das Telefongespräch und ließ einen verunsicherten und sich überrumpelt fühlenden Albrecht zurück.

Welch ein Telefonat!

So besonders, so anders. So aufwendig, als ginge es um mehr als nur um eine Zimmerreservierung. Albrecht hatte in den vielen Jahren, in denen er für die wirtschaftliche Klosterverwaltung zuständig war, unzählige Gastanfragen bearbeitet. Aber die heutige stellte eine seltsame Ausnahme dar.

So viel Detailwissen, gepaart mit einem, in einer warmherzigen Frauenstimme versteckten, autoritären Bestimmtheit, war ihm bisher noch nicht begegnet. Etwas in seinem Inneren mahnte ihn zu Vorsicht und Misstrauen. Ach, Unsinn, wischte er diese Bedenken weg, doch nahm er sich vor, diesem Herrn Feldkamp auf den Zahn zu fühlen. Im Internet stieß er auf eine aktuelle umfangreiche Präsentation des Feldkamp’schen Unternehmens. Das dort gezeigte Foto von Ferdinand Feldkamp überraschte ihn sehr. Albrecht hatte das Gesicht eines mit allen Wassern gewaschenen Geschäftsmannes erwartet, in dem es einem verbindlichen Lächeln nicht völlig gelang, einen Hauch von ‚über Leichen gehen‘ zu verbergen. Statt dessen schaute er in ein energisch wirkendes, aber äußerst sympathisches Antlitz eines Mannes, den er vom ersten Eindruck her, dank der hohen Stirn und der klugen Augen, als Schriftsteller, Wissenschaftler oder sogar als geistlichen Würdenträger eingestuft hätte. Dieser Mann, der sich Ferdinand Feldkamp nannte, schien alles zu sein, nur kein skrupelloser Geschäftsmann.

Diese durch seine lange Lebenserfahrung gestützten Mutmaßungen machten Albrecht stutzig. Gegenüber Pater Raimund würde er seine Bedenken vorerst noch verschweigen.

5

Stephan D’Aubert und Pater Aloisius fielen sich im Besucherraum von Mariawald in die Arme, als wollten sie einander nie mehr loslassen. Dann schauten sie sich freudestrahlend an und ein Lächeln flog über ihre Wangen.

„Mensch, Stephan. Drei Jahre ist es her.“

„Eine Ewigkeit.“

„Nichts habe ich so ersehnt wie diesen Augenblick.“

Der nahezu schmerzhaft spartanisch eingerichtete Raum des Klosters, in dem sich die beiden Freunde trafen, bot einen unzulänglichen Rahmen für diese Wiederbegegnung.

Stephan D’Aubert und Alois Schreiber waren bereits in der frühen Kindheit Spielkameraden. Die Familien Schreiber und D’Aubert lebten in freundschaftlicher Nachbarschaft in dem entzückenden Eifelstädtchen Gemünd, wo die Olef in die Urft mündet. In ihrer frühen Kindheit hatte der gemeinsame Hinterhof als idealer Spielplatz gedient.

„Mensch Alois, du alter Götterbote, tut das gut.“

„Komm, setzen wir uns. Erzähl, wie ist es dir ergangen?“

„Mir schwirrt so viel im Kopf herum. Ich muss mich erstmal sammeln. Wo soll ich anfangen?“

Schweigend saßen sie sich gegenüber. Ihre Augen schauten sich minutenlang forschend und neugierig an, als müsste all das entdeckt werden, was mit Worten nicht gesagt werden konnte.

Dann legte Pater Aloisius D’Aubert die Hand auf die Schulter. „Mensch, Stephan“, unterbrach er die Stille, „du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich nach meinem jahrelangen Schweigegelübde nach einer richtigen Unterhaltung sehne, nach einem Gespräch und einem Gesprächspartner, um mal wieder nach Herzenslust frei von der Leber weg zu quatschen. Gut Siehst du aus. So schlank und rank. Trainierst du viel?“

„Ja, natürlich. Was denkst du denn? Das ist mir seit Längerem zu einer unverzichtbaren Gewohnheit geworden.“

Aloisius schüttelte den Kopf und lächelte. „Früher warst du dick, unbeholfen, hilfsbedürftig und wehrlos. Und was mich immer in Wut und Rage versetzt hat, waren die nicht enden wollenden Hänseleien, der ständige Hohn und Spott und die Aggressionen dir gegenüber.“

„Ich bin dir heute noch dankbar, dass du mich damals in Schutz genommen und so manch einen gnadenlos verprügelt hast. Du warst ja viel stärker und größer als ich. Fehlt nur noch, dass du mich daran erinnerst, wie du mir ständig bei den Hausaufgaben helfen musstest, weil ich in der Schule eine einsame Niete war.“

„Gott sei Dank hast du mit vierzehn die Kurve gekriegt, und aus dem schüchternen Stephan ist ein athletischer, attraktiver, beliebter und vor allem ein hochintelligenter Mann geworden. Mir scheint, du bist seit unserer letzten Begegnung noch kräftiger geworden und auch noch ein ganzes Stück gewachsen. So sieht es jedenfalls aus. Schau mich an! Hier im Kloster gibt es keinen Sport. Mein Fitnessprogramm besteht aus fünf Stunden harter körperlicher Arbeit täglich. Versteh das bitte nicht als Beschwerde, ich lebe gern nach den strengen Ordensregeln der Trappisten und bin glücklich damit.“

„Und du? Bist du auch glücklich?“ Fragte Aloisius abrupt.

„Ja, wieso?“

„Ich frage mich, ob ich der Anlass war oder sagen wir besser, ob ich die Schuld dafür trage, dass du dich auch für ein Theologiestudium entschieden hast? Du erinnerst dich: Zwei meiner Onkels, einer mütterlicher- und einer väterlicherseits, sind Priester. Für mich stand von früher Jugend an fest, Geistlicher zu werden. Hier in Mariawald habe ich die idealen Voraussetzungen gefunden, meinen Vorstellungen vom Sinn meines irdischen Daseins zu entsprechen. Wenn ich das noch richtig in Erinnerung habe, hast du mich damals bewundert und in mir ein Vorbild gesehen. ‘Ohne dich hätte ich keinen Zugang zu einem Studium gefunden‘ hast du unmittelbar nach der Immatrikulation an der Uni Bonn zu mir gesagt. Das habe ich noch genau im Ohr.“

„Du brauchst dir doch keine Vorwürfe zu machen. Theologie zu studieren war für mich die beste Entscheidung. Und falls du mich tatsächlich zum Theologiestudium verführt hast, müsste ich Gott und dir dafür dankbar sein. Ja, ich bin glücklich, Alois. Die Theologie in Forschung und Lehre ist meine Welt.“

„Ich freue mich für dich und gratuliere dir von ganzem Herzen zur Professur. Doch bevor wir zum eigentlichen Thema unseres heutigen Treffens kommen, verzeih einem gottesfürchtigen Zölibatapostel noch eine neugierige Nachfrage.“

D’Aubert schaute seinen Freund strahlend an. „Alois, du neugieriger Naseweis, ich sehe dir doch an, was du wissen willst. Ja, es gibt eine Frau in meinem Leben“, sagte er voller Ergriffenheit. „Sie bedeutet mir alles und ich bin verliebt wie nie zuvor. Und so Gott will werden wir in absehbarer Zeit heiraten.“

„Wirklich? Das ist ja ... wie und wo habt ihr euch kennen gelernt?“

„Das kannst du dir nicht vorstellen. Ausgerechnet in meiner Antrittsvorlesung saß ein engelsgleiches Geschöpf unmittelbar vor mir in der ersten Reihe des Hörsaals. Soviel Anmut, Liebreiz und Schönheit hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Ich hatte keine Chance, ich musste mir dieses Meisterwerk göttlicher Kunst immer wieder anschauen. Und glaub mir: Ich musste mich extrem auf meinen Vortrag konzentrieren, der ja für meine Zukunft und meinen beruflichen Erfolg so entscheidend sein sollte. Aber der Ehrgeiz hatte mich gepackt. Ich wollte dieser Frau in der ersten Reihe imponieren.“

„Ist dir ja prächtig gelungen.“

„Naja. sagen wir so: Sie hat einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Gelingen meiner Antrittsvorlesung. Und dabei war Maria, so heißt sie, damals nur einer Laune folgend mit in die Vorlesung gekommen. Ihre Freundin, die Theologie studiert, hatte sie gebeten, sie an diesem Tag zu begleiten.“

„Nicht, dass du denkst, ein Trappisten-Eremit sei vorwitzig, wenn er seine Nase mal ein wenig Duft des normalen Lebens da draußen schnuppern lässt, aber eins interessiert mich brennend: Lassen dir Theologie und Amore überhaupt noch Platz für’s Training? Aber mach’s kurz! Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen.“

„Na, klar. Siehst du doch, oder?“

„Wenn ich dich so anschaue: schlank und elegant wie eine Gazelle. Du scheinst tatsächlich noch ein Faible für die Körperertüchtigung zu besitzen.“

„Jetzt lass aber die Kirche mal im Dorf, Aloisius! Du warst mir früher im Sportunterricht haushoch überlegen und irgendwann wollte ich dir nacheifern. Zusammen haben wir wie die Verrückten Sport getrieben und oft auch übertrieben. Und ich wage zu behaupten, dass ich dich in einigen Disziplinen sogar überflügelt habe. Erinnerst du dich noch an unsere beiden Sportlehrer. Der eine, ich glaube, wir nannten ihn wegen seiner kurzen Beine ‚Shorty‘, hat mir eine große Karriere als Leichtathlet und der andere, Lehrer Disterwald, abgekürzt die ‚Diwa‘, eine vielversprechende Zukunft als Turner prophezeit.“

„Oh, Stephan. Ich wünsche mir so sehr, dass wir bald eine weitere Gelegenheit bekommen, miteinander nach Herzenslust zu plaudern.“

„Sehr gern. Dann erzähle ich dir mehr über meine drei großen Leidenschaften: meine Freundin, mein Glaube, der auch mein Beruf ist, und mein Training. Aber du wirst verstehen, ich platze vor Neugier und Ungeduld. Ich brenne darauf, dass du endlich etwas zu meinem Manuskript sagst.“

„Genau deshalb bist du ja hier“, antwortete Aloisius und legte eine nachdenkliche Pause ein. Eine tiefe Furche legte sich auf seine Stirn, offensichtlich wollte er seine nächsten Worte mit Bedacht wählen. „Bevor ich zum Manuskript komme, lass mich dir vorweg sagen, dass nichts unsere Freundschaft gefährden kann. Egal, was wir zu besprechen haben und was wir diskutieren werden. Ist das klar?“

D’Aubert nickte langsam und bedächtig, als erwarte er ein sehr gewichtiges Wort seines Freundes.

Aloisius fuhr fort: „Ich habe dein etwa vierhundert Seiten starkes Werk in fast allen Passagen nicht nur einmal, sondern mehrmals mit größter Aufmerksamkeit gelesen. Und auch mit zunehmender Ergriffenheit. Ich ziehe meinen Hut, pardon mein Barett! Eine sensationelle und hochwissenschaftliche Leistung. Ich habe dich schon während des Studiums für ein cleveres Kerlchen gehalten, aber dein Manuskript hat mich endgültig überzeugt, dass du auf dem Gebiet der Bibelforschung zu den führenden Wissenschaftlern unserer Zeit gehörst. Also nochmals Chapeau und Hochachtung.“

D’Aubert atmete tief durch. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Wie sehr hatte er dieses Urteil erhofft. Aber auch gefürchtet, es könne bei Aloisius weniger Anklang finden.

Einmal ins Reden gekommen, war Pater Aloisius nicht mehr zu bremsen: „Auch die literarische Leistung verdient Anerkennung. Vor allem bewundere ich deine Fähigkeiten, die kompliziertesten fachspezifischen Themen und Zusammenhänge leicht verständlich für Jedermann, also auch für den Laien, darzustellen. Eben diese Kombination von wissenschaftlicher Perfektion und sprachlicher Genialität verleihen deinem Werk eine verführerische Glaubhaftigkeit und Überzeugungskraft, um nicht zu sagen eine beängstigende Verführungsmagie.“

D’Aubert hob abrupt den Kopf: „Nehme ich da so etwas wie vorwurfsvolle Kritik wahr?“

Ein mühsam hervorgerufenes Lächeln begleitete den Einwand von Pater Aloisius: „Wir, die ‚Unzertrennlichen‘, sind unterschiedliche Theologen geworden. Ich, der defensive, gehorsame, zurückgezogene und Buße tuende Praktiker. Du, der aggressive, wissenschaftlich forschende, Neuland suchende, unruhige Pioniergeist. Sicherlich hat dich deine außergewöhnliche Begabung für Fremdsprachen verführt, die Wurzeln der Bibel, vor allem die des Alten Testaments zu erforschen. Denn wer sich mit den frühesten Quellen der jüdischen und christlichen Glaubensgeschichte beschäftigen will, muss sich mit der hebräischen, der aramäischen, der griechischen, der koptischen und der lateinischen Sprache auskennen. Was musst du in den letzten Jahren geschuftet haben.“ Er legte eine bedächtige Pause ein und holte tief Luft. „Beim Lesen deines Manuskripts hat sich mir eine Frage aufgedrängt. Gewiss hat unsere Freundschaft dazu beigetragen, dass du dich im Studium den Geisteswissenschaften zugewandt hast. Zu meiner Überraschung muss ich jetzt erkennen, dass aus dir auch ein hervorragender Naturwissenschaftler geworden wäre. Seit dem letzten Jahrhundert haben zunehmend physikalische und chemische Untersuchungsmethoden Bedeutung in der Bibelforschung gewonnen. Es ist beeindruckend zu lesen, wie die 1945 in der Nähe der ägyptischen Stadt Nag Hammadi bei Ausgrabungen gefundenen frühchristlichen Schriften oder wie die vor etwa 60 Jahren in unzugänglichen Felsenhöhlen bei Qumran am Schwarzen Meer zufällig von Hirten entdeckten vorchristlichen Schriftrollen an der Technischen Hochschule in Berlin einer Mikroröntgenfluoreszenz-Analyse unterzogen wurden. Du hast dargelegt, wie mit der Radiokarbon-Methode, die die Halbwertzeit von 5730 Jahren des Kohlenstoff-14-Isotops nutzt, das genaue Alter und meist auch die Herkunft von antiken Fundstücken zu ermitteln ist. Natürlich hat auch die Computertechnik Einzug gehalten in die Erforschung alter Schriften. Eigenarten von Schriftzügen und Schreibstilen können mittels komplizierter Computerprogramme analysiert und bestimmten Zeitepochen und Autoren zugeordnet werden. Mein Gott, zu Recht bezeichnet man die Bibel als das Buch der Bücher. Aber, wenn man die Entstehungsgeschichte des Alten Testamentes so kennenlernt, wie du sie in deinem Manuskript beschreibst, wird daraus eine spannungsgeladene Abenteuergeschichte.“

„Hallo, mein lieber Trappistenmönch, mein Selbstwertgefühl platzt gleich wie ein zu dick aufgeblasener Luftballon. Kann es nicht sein, dass dein ungebremster Redeschwall als Druckausgleich für dein jahrelanges Schweigen zu verstehen ist?“

„Stephan, du hast ja recht. Wir sollten uns auf das konzentrieren, was der eigentliche Anlass für dieses Treffen ist. Dein Manuskript hat in mir ein gewaltiges Erdbeben ausgelöst. Die Grundfesten meiner Religiosität drohten tatsächlich zusammenzubrechen. Und ich muss dir etwas gestehen. Obwohl du mich persönlich angesprochen hattest, deine Ausführungen zu lesen und zu beurteilen, war ich so aufgewühlt, dass ich dieses außergewöhnliche Werk meinem Abt vorlegen musste. Er ist ein enger Vertrauter von mir, und ich schätze seine Meinung sehr.“ Während er weitersprach, suchte er in D’Auberts Augen zu lesen, ob ihm diese Offenbarung missfiel. „Eines Nachts und gegen die Klosterordnung stürmte der Abt in meine Klausur, riss mich aus tiefem Schlaf, sah mich entsetzt an und rief auf das Manuskript zeigend: ‚Das ist ein Werk des Teufels’.“

Aloisius nahm zur Kenntnis, dass D’Aubert nicht sauer zu sein schien, sondern gespannt weiter zuhörte. „Ich starrte den Abt an, wollte von ihm wissen, wie er das meine. ‚Wie‘, schrie er. ‚Wäre es nicht wissenschaftlich begründet und nicht von einem habilitierten Theologen geschrieben, müsste man es genau so nennen.“ Aloisius Stimme klang zunehmend erregt. „Und er konnte sich nicht beruhigen. Seiner Meinung nach müsse alles getan werden, um zu verhindern, dass so etwas veröffentlicht würde. Er sähe sich gezwungen, bei unserem Bischof in Aachen vorzusprechen und ihn persönlich mit dem Wesentlichen des verheerenden, so nannte er den Inhalt, Gedankengutes vertraut zu machen.“

„Aber ich wollte doch nur aufklären und der Wahrheit dienen“, unterbrach D’Aubert, doch Aloisius ließ sich nicht bremsen.