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Horst Bosetzky

Eingebunkert

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Isabelle Dominique / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4962-8

1. Kapitel

Jörg Schköna lief Gefahr, keine zwei Stunden mehr zu leben, aber das wusste er noch nicht, als er an diesem Abend in Hannover den letzten ICE nach Berlin bestieg. Er kam von einer Tagung in der Evangelischen Akademie Loccum, bei der es um die Prädestinationslehre gegangen war. Diesem theologischen Konzept zufolge hatte Gott von Anfang an das Schicksal des Universums und aller Menschen vorherbestimmt. Das Drehbuch seines Lebens, so sah es Schköna, war also schon lange vor seiner Geburt geschrieben worden, und er hatte nur die ihm vorgegebene Rolle zu spielen. Auch das, was als sogenannter freier Wille definiert wurde, war von Gott vorher festgelegt worden. Dennoch war er kein gewöhnlicher Schauspieler, denn der konnte jedes Drehbuch, das man ihm vorlegte, vom Anfang bis zum Ende lesen, wusste also, wie es mit ihm ausging, er aber nicht. Und das war gut so, denn dann hätte er diesen Zug niemals bestiegen.

Beim Einsteigen entdeckte er Goldie Broiler, den Comedy-Helden mehrerer Fernsehserien, und ein paar Sitze weiter saß eine Schwarze, die ihm als Wiedergängerin von Miriam Makeba erschien. Sofort hatte er es wieder im Kopf: ›Pata Pata‹ is the name of a dance we do down Johannesburg way. And everybody starts to move as soon as ›Pata Pata‹ starts to play – whoo …

Er rang mit sich, beide anzusprechen. Ein Autogramm von Goldie Broiler wäre im Büro der Brüller gewesen, und warum die Schwarze nach Berlin fuhr, hätte für ihn beruflich interessant werden können. Aber nein, wer in der 1. Klasse fuhr, wollte seine Ruhe haben. Seriosität war angesagt.

Dabei aber ging es am Anfang überaus lustig zu, denn in der Bucht mit dem Tisch saß ihm gegenüber ein Pärchen, das sich in der Bahnhofsbuchhandlung ein Taschenbuch gekauft hatte, in dem es um kuriose Erlebnisse bei Fahrten mit der Bundesbahn ging. Der Mann hielt es so, dass Schköna den Titel lesen konnte: Sorry, wir haben uns verfahren. Auch wer die Autoren waren, konnte er herausfinden: Stephan Orth und Antje Blinda. Der Name Orth sagte ihm etwas, ein Orth hatte Ende des 18. Jahrhunderts den Görlitzer Bahnhof erbaut. Aber der war längst abgerissen worden, und da, wo er gestanden hatte, dehnte sich ein Park, der zum Berliner Drogenumschlagplatz Nummer eins geworden war. Dieser Orth konnte also das heitere Buch nicht geschrieben haben, abgesehen davon, dass ihn die Eltern August genannt hatten.

Schkönas Gegenüber kam langsam in Fahrt. »Eine Durchsage: ›Meine Damen und Herren, beachten Sie bitte: Wagen Nummer 1 bis 6 fahren weiter nach Hamburg. Wagen Nummer 7 bis 11 verbleiben in Göttingen.‹ Dann das Ganze auf Englisch. »›Ladies an gentleman, coaches number 1 to 6 go to Hamburg, coaches number 7 to 11 believe in Göttingen.‹«

Einen Lachanfall löste das bei Schköna keinesfalls aus, zumal ihm erst nach einigen Sekunden einfiel, dass believe mit glauben zu übersetzen war, aber ein wenig schmunzeln musste er doch. Gleich nach Abfahrt des Zuges öffnete er seinen Laptop, um ein wenig zu arbeiten. Er war Amtsrat bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen. Besser war schon der nächste take seines Gegenübers.

»›Liebe Reisende, soeben ist unser Snackverkäufer zugestiegen. Er bietet ihnen nun Sex und heiße Getränke. Unsere Gäste in der ersten Klasse werden auch direkt am Platz bedient.‹«

»Sven, geh doch bitte schnell auf die Toilette!«, kicherte die junge Dame Schköna gegenüber.

»Nadja, du kannst aber auch nie genug kriegen!«, brach es aus Sven heraus, und er wandte sich an Schköna. »Aber wenn Sie Bedarf haben …?«

Schköna hatte Mühe, einen Schweißausbruch zu verhindern. Woher wusste der Mann, dass er schwul war? Musste man seine Bemerkung schon als Beleidigung auffassen? »Nein, danke!«, presste er hervor.

Sven wandte sich nun wieder seiner Lektüre zu und teilte Nadja das mit, was er von den vielen komischen Ansagen der Zugbegleiter besonders witzig fand: »›Wir verabschieden uns jetzt schon von den Reisenden, die in Wolfsburg von uns gehen werden, und entschuldigen uns für Ihre Reise mit der Deutschen Bahn!‹«

»… die von uns gehen werden!«, lachte Nadja.

In diesem Augenblick gab es eine echte Durchsage. »Leider haben wir eine Toilettenstörung. Wir bitten um Ihr Verständnis.«

»Nein, dafür habe ich kein Verständnis!«, schrie Goldie Broiler.

Er sprang auf und eilte zur Toilette, um es trotzdem zu probieren. Doch die Tür war schon abgeschlossen worden und ließ sich nicht mehr öffnen, so sehr er auch an der Klinke riss. Er wurde immer wütender, zumal sein Harndrang ein immenser war. Er trug eine helle Hose, und wenn die vorn Flecken zeigte, war das ein gefundenes Fressen für die BILD-Zeitung und die ganzen Klatsch- und Tratschblätter. Da gab es nur einen Ausweg. Das Dienstabteil war leer, schnell entschlossen schlüpfte er hinein und begann zu pinkeln. Das konnte sich der Zugbegleiter nicht gefallen lassen. Wegen seines Schichtdienstes kam er nie dazu, fernzusehen, kannte also Goldie Broiler nicht als solchen und stürzte sich arglos auf den Star, um ihn aus dem Abteil zu zerren und beim nächsten Halt zur Anzeige zu bringen. Nun hatte Goldie Broiler doch noch große Flecken vorn auf der Hose, und das ließ ihn ausrasten. Er fuhr herum und ging dem Zugbegleiter an die Kehle. Es hätte ungut ausgehen können, wenn nicht in dieser Sekunde eine ältere Lehrerin erschienen wäre und fürchterlich gekreischt hätte.

»Neben mir sitzt ein arabischer Terrorist mit einem Sprengstoffgürtel um den Bauch. Er betet die ganze Zeit zu Allah. Gleich jagt er uns alle in die Luft! Lassen Sie halten, holen Sie die Polizei!«

»Beruhigen Sie sich doch, meine Dame!«

»Nein, sonst …! Ich will hier raus!«

Und ehe sie der Zugbegleiter daran hindern konnte, hatte sie die Notbremse gezogen. Alles flog durcheinander. Der Zug kam zu großen Teilen im Bahnhof von Lehrte zu stehen, und nachdem man die durchgeknallte Lehrerin der Bundespolizei übergeben hatte, konnte es weitergehen.

»Die hat das für den Lehrter Bahnhof in Berlin gehalten«, sagte Schköna. »Und dachte, sie ist schon zu Hause.«

Sven und Nadja verstanden das nicht, und er musste ihnen erklären, dass der alte Lehrter Fernbahnhof wegen seiner prunkvollen Architektur als das Schloss unter den Bahnhöfen gegolten hatte, im Krieg aber zerstört und danach abgerissen worden war. »Jetzt steht der neue Hauptbahnhof an seiner Stelle.«

Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, während sich die beiden frisch Verliebten ihm gegenüber wieder den Anekdoten übers Bahnreisen zuwandten.

»Der Zug hält plötzlich. Durchsage: ›Sehr verehrte Fahrgäste, wir befinden uns hier in einem eingleisigen Streckenabschnitt und müssen den entgegenkommenden ICE vorbeilassen.‹«

Draußen gab es inzwischen ein Unwetter, wie es die norddeutsche Tiefebene seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Es war im Nu so dunkel geworden, dass sich die Blitze am Himmel in allen Verästelungen erkennen ließen.

Der Zugbegleiter schrie um Hilfe, und Schköna wollte ihm zur Hilfe eilen, da brach die Schwarze, die ihm beim Einsteigen wegen ihrer Ähnlichkeit mit Miriam Makeba aufgefallen war, plötzlich zusammen, stürzte auf den Gang und versperrte ihm den Weg.

»Sie kommt aus Liberia und hat hohes Fieber«, rief jemand. »Ebola!«

»Wir kommen alle auf die Quarantänestation der Charité!«

Sekunden später gab es eine weitere Notbremsung, viel heftiger als die erste, und alle, die standen, fanden sich auf dem Boden des Ganges wieder. Einige hatten sich die Handgelenke, andere die Rippen gebrochen. Schköna war auf den recht voluminösen Körper der Schwarzen gestürzt und unverletzt geblieben. Aber er spürte ihren Schweiß und ihr Sputum auf seinen Lippen. Was hatte er gestern gelesen und im Kopfe abgespeichert: Eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung der Ebolaviren erfolgt durch direkten Körperkontakt und bei Kontakt mit dem Blut, Organen oder anderen Körperflüssigkeiten infizierter Personen. Er hetzte zu seinem Platz zurück. Der Laptop! Auf dessen Festplatte gab es Daten, die nicht zu ersetzen waren.

Gerade war er wieder auf seinen Sitz gefallen und hatte angesetzt, dem Pärchen gegenüber, Sven und Nadja, vom Erlebten zu berichten, da ging das Licht aus, und da das Notstromaggregat versagte, war es stockfinster im Zug. Nicht lange, denn draußen flammten Scheinwerfer auf und erhellten auch die Abteile. Maskierte Männer tauchten auf.

»Banden aus dem Osten!«, schrie jemand.

»Nein, das sind Gotteskrieger von den IS-Leuten.«

Wie auch immer, die Gangster hatten Hacken dabei, mit denen sie Fenster und Türen zertrümmerten. Minuten später hatten sie den ICE gestürmt.

Alles griff zum Handy und zum iPhone und wollte der Außenwelt mitteilen, dass hier die Hölle los sei und die NATO eingreifen sollte, doch es gab keine Funkverbindung zur Außenwelt.

Der Zugbegleiter stellte sich dem Anführer der Maskierten in den Weg und wurde mit einer Machete geköpft.

»All your money! Alles Geld her!«, wurde geschrien und in Sprachen wiederholt, die Schköna noch nie gehört hatte. Er hielt dem Banditen, der vor ihm auftauchte, seine 250 Euro hin, doch der interessierte sich nicht für das Geld, sondern stürzte sich auf Nadja. Nicht umsonst hatte man ihn auf Vergewaltigungen programmiert.

Sven wollte sie beschützen. Kopfschuss.

Schköna sprang davon und entdeckte am Ende eines Waggons eine eingeschlagene Tür. Wenn er die erreichte und ins Dunkle sprang, hatte er eine Chance, zu überleben. Er rannte los und prallte gegen den Körper eines Mannes, der wie ein Sandsack von der Decke baumelte. Es war Goldie Broiler, er hatte sich erhängt.

Plötzlich … Es war wie eine Explosion. Hatten die Maskierten einen Sprengsatz gezündet? Nein, ein anderer Zug war auf ihren ICE aufgefahren. Mehrere der hinteren Wagen wurden zusammengedrückt wie Blechschachteln. Die Schreie der Sterbenden und der Schwerverletzten hallten durch die Gänge.

Apokalypse now, dachte Schköna.

Es kam noch schlimmer. In die entgleisten Wagen ihres ICE fuhr ein Güterzug mit Kesselwagen, einer stürzte um und explodierte. Es gab einen so gewaltigen Feuerball und eine derartige Druckwelle, als wäre in der Nähe ein Riesenmeteorit niedergegangen. Schköna hastete weiter und verlor das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, lag er am Fuße des Bahndamms. Schnell realisierte er, dass er, abgesehen von ein paar Schürfwunden an den Armen und im Gesicht, völlig intakt war. Er raffte sich auf, um im nahe gelegenen Wald unterzutauchen. Nur weg von hier! Er lief und lief, so schnell und so lange wie vorher nie im Leben. Nach einer Ewigkeit kam er an den Rand eines abgeernteten Kornfeldes. Gerettet!

Er fiel zu Boden und kroch nur noch.

Da drückte der Jäger, der die halbe Nacht lang auf dem Hochsitz nahebei gehockt hatte, schnell entschlossen ab. Er hatte Schköna für ein Wildschwein gehalten.

2. Kapitel

Florian Hasenfier war den Umgang mit den Medien gewohnt, und so war er nicht sonderlich aufgeregt, als er mit einem Fernsehteam des rbb (radio berlin-brandenburg) am Ende der Woltersdorfer Landstraße aus dem Transporter stieg. Sie parkten am rechten Fahrbahnrand, und Hasenfier scherzte mit der schon etwas ergrauten Journalistin, die ihn interviewen sollte.

»Mit dem linken Bein stehe ich auf Berliner Boden, mit dem rechten bin ich schon in Brandenburg, vielleicht noch in Erkner, vielleicht auch schon auf in Woltersdorf. Vor uns haben wir auf alle Fälle den Flakensee.«

»Die Flaken – waren das ein germanischer Stamm, der hier gesiedelt hat, oder ist das nur ein Druckfehler, und die Flaken sind die Falken? Sie als Biologe …?«

»Das ist wohl eher etwas für die Ethnologen oder die Archäologen, denn Flaken sind Schutzwände aus Flechtwerk.«

»Klar, wo es vom See her immer kräftig weht, da braucht man seine Flaken.«

Die Mitarbeiter luden das Equipment aus, die Kamera, das Mikrofon und einiges anderes, und man überquerte die Straße, um in den Berliner Stadtforst einzudringen. Im Bereich des Wilhelmshagen-Woltersdorfer Dünenzuges lag die Stelle, an der sie drehen wollten.

»Die höchste Erhebung hier in den Dünen sind die Püttberge«, erklärte Hasenfier der Gruppe. »Stolze 68 Meter.«

Der Kameramann, der aus Bad Tölz nach Berlin gekommen war, lachte schallend. »Berliner Größenwahn! Alles, was hier höher als zehn Meter ist, heißt Berg. Von den 68 Metern muss man auch noch die rund 37 Meter abziehen, die Berlin über Normalnull liegt. Bleiben also für die sogenannten Püttberge noch ganze 31 Meter. Toll!«

Hasenfier blieb gelassen. »Hochstapler sind wir Berliner aber nicht, denn der Name pütt heißt ja auf Niederdeutsch klein

»Und unter Dünen verstehe ich auch etwas anderes«, sagte der Tontechniker, der auf der Insel Baltrum aufgewachsen war.

»Unsere hier sind aber auch echt«, beharrte Hasenfier. »Nach dem Ende der letzten Eiszeit wurden sie im Berliner Urstromtal vom Wind aufgeweht. Auf dem Podsol hier wachsen Kiefern und Gräser ganz prächtig.«

Ein junger Mann, der Verschiedenes schleppte, wollte auch mal wahrgenommen werden. »Was für ’ne Pottsau?«

»Podsol – geschrieben wie Podest und sol gleich Sonne – ist ein an Nährstoffen armer saurer Boden, auch Bleich- oder Grauerde genannt, auf dem nur wenig wächst.«

»Sprach der Biologe«, fügte die Journalistin hinzu und fixierte Hasenfier. »Sind Sie nun mehr auf die Flora oder mehr auf die Fauna spezialisiert?«

»Ich weiß nie so richtig, was was ist«, bekannte der Kameramann.

Hasenfier lächelte. »Dann sollten Sie sich zwei Eselsbrücken merken: Flora sind die Pflanzen, Ihre Blumenfrau ist die Floristin, und Fauna, da stellen Sie sich einen fauchenden Löwen vor.«

»Danke, danke!«

Damit waren sie dort angekommen, wo gedreht werden sollte, an einem verborgenen Bunkereingang. Der erinnerte an einen Tiefbrunnen, wie man ihm am Havelufer öfter begegnete, nur war die stählerne Abdeckplatte nicht rund, sondern eckig und wies eine besondere Textur auf.

Die Journalistin brauchte keinen Drehplan, sie hatte den Ablauf im Kopf und gab ihre Anweisungen so routiniert und so voller natürlicher Autorität, dass niemand an Einwände dachte.

»Da klettern Sie jetzt rein, Herr Hasenfier, und: Klappe zu. Ich klopfe dann, Sie kommen wieder heraus – und wir beginnen unser kleines Gespräch …«

Da der Biologe fast zwei Meter groß war, dauerte es eine Weile, bis er im Untergrund verschwunden war. Man beeilte sich, und so dauerte es nicht lange, bis Licht und Ton stimmten. Nach dem verabredeten Klopfzeichen tauchte er dennoch halb erfroren wieder auf.

»Und da unten in dieser Kälte wohnen sie nun, Herr Dr. Hasenfier?«, lautete die erste Frage, die ihm gestellt wurde.

Hasenfier blieb cool. »Ja natürlich, ich hänge mich auch zum Schlafen an den Füßen auf, um es meinen geliebten Fledermäusen gleich zu tun.«

Nun war die Journalistin, so erfahren sie auch war, doch ein wenig perplex und hatte ihre nächste Frage vergessen.

»Äh … schneiden bitte. Was wollte ich Sie noch mal fragen?«

»Warum ich mich so intensiv um diese Tierchen kümmere.«

»Und warum, Herr Dr. Hasenfier, liegen Ihnen die Fledermäuse so sehr am Herzen?«

»Weil es meine Lieblingstiere sind, aber auch, weil ich indirekt durch sie meinen Lebensunterhalt verdiene.«

»Das müssen Sie uns einmal näher erklären …«

»Gern. Seit sechs Jahren haben wir die Flora-und-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU zum Artenschutz, zu der die meisten Bundesländer noch Ergänzungen erarbeitet haben, sodass wir eine Reihe geschützter Arten haben, also nicht nur Fledermäuse, sondern auch Gelbbauchunken, Würfelnattern, bestimmte Schneckenarten, Feldhamster, Molche und die Zauneidechse. Wo die zu Hause sind, da darf nicht oder nur unter ganz bestimmten Bedingungen gebaut werden.«

»Wer denkt da nicht an die Waldschlösschenbrücke in Dresden …«

»Ja, da konnte man anfangs nicht bauen, weil es um den Schutz der Kleinen Hufeisennase – Rhinolophus hipposideros – gegangen ist, einer Fledermausart.«

»Solche Verzögerungen bedeuteten doch immer auch große Kostensteigerungen für den Bauherrn?«

»Genau, und darum suche ich im Auftrag interessierter Firmen auch alle alten Fabrikgebäude, Bunker und Ruinen, die sich auf ihrem künftigen Bauland befinden, nach geschützten Tierarten ab, insbesondere aber nach Fledermäusen, damit sie hinterher keinen Ärger mit den Behörden und den Umweltschützern bekommen.«

»Hier an der Stadtgrenze bei Erkner könnte also nicht mit den Bauarbeiten begonnen werden, wenn Sie Fledermäuse entdecken?«

»Ja, in diesem kalten August könnten sich die Tiere schon zum Winterschlaf eingefunden haben, und wenn die Bagger hier anrücken, könnten sie verletzt oder getötet werden. Also müsste man warten, bis es Frühling wird und wir sie gefahrlos in ein Ersatzquartier bringen können.«

»Nun, da sind wir einmal gespannt, was wir in den Bunkergängen alles entdecken können.«

Der Kameramann und Hasenfier stiegen hinunter, konnten aber keine geschützten Tiere entdecken.

»Filme ich also moderndes Laub, Plastikflaschen und Bierdosen.«

Hasenfier musste noch ein enttäuschtes Gesicht machen und mit dem Fuß in ein paar Glasscherben scharren, dann ging es wieder nach oben.

»Sind Sie nun enttäuscht, Herr Dr. Hasenfier?«

»Ja, weil hier nun eine große Wohnsiedlung entstehen wird und wieder ein Stück Natur verschwindet. Aber das senden Sie bitte nicht.«

»Wozu auch neue Wohnungen?«, brummte der Kameramann. »Wir haben ja eine, und wer noch keine hat, der kann im Park übernachten.«

Hasenfier warf ihm einen bösen Blick zu. »Sie werden lachen, ich kann nicht heiraten, weil wir keine größere Wohnung finden. Ich hause noch in Neukölln in einer billigen Miniwohnung im 19. Stockwerk.« Dass sie auch wegen ihrer begrenzten finanziellen Möglichkeiten auf dem eng gewordenen Wohnungsmarkt keine Chancen hatten, ließ er lieber ungesagt. Wenn er erst die Professorenstelle in Dahlem hatte, dann … Vielleicht nutzte es ihm, im Fernsehen gewesen zu sein … Aber: jetzt auch noch, wo es Dutzende von Sendern gab …? Und ob die, die in seiner Berufungskommission saßen, auch die Abendschau des rbb sahen? Kaum, außer sie hatten dort selber ihren Auftritt.

»Ab in den Sender! Können wir Sie irgendwohin mitnehmen?«

»Wie fahren Sie denn?«

»Immer die Autobahn lang, A10, A113, A100.«

Hasenfier dachte kurz nach. »Es wäre lieb von Ihnen, wenn Sie am Bahnhof Neukölln mal schnell von der Autobahn runter könnten, dann kann ich da in die U7 umsteigen.«

»Okay.«

Es wurmte Hasenfier schon ein wenig, dass er zu unbedeutend war, um direkt vor seiner Haustür abgesetzt zu werden.

Florian Hasenfier war in Neukölln zur Welt gekommen, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Jetzt wohnte er in der Gropiusstadt, die von 1962 bis 1975 auf den Feldern von Britz, Buckow und Rudow hochgezogen worden war, um dem Proletarierbezirk Neukölln auf der grünen Wiese eine lebenswerte Großsiedlung zu bescheren. Vom Bahnhof Neukölln, wo ihn die Fernsehleute abgesetzt hatten, nahm er die U7 Richtung Rudow und stieg Lipschitzallee wieder ans Tageslicht empor. Beim Warten an der Ampel konnte er schon aus einiger Ferne sein Wohnhaus entdecken, Fritz-Erler-Allee 120, denn es war das höchste in ganz Berlin. »Immer hoch hinaus, typisch für dich!«, hatte sein Freund Martin Nehmer gespottet. Nachdem er die breite Lipschitzallee überquert hatte, kam er durch eine kleine Grünanlage auf den Ulrich-von-Hassel-Weg, wer immer das gewesen sein mochte, seine Freundin meinte, es würde sich um einen Widerstandskämpfer vom 20. Juli handeln, und über einen weiteren Grünstreifen zu seinem Hochhaus. Vier Fahrstühle nach oben gab es, er musste aber noch einen Augenblick warten, denn der ältere Herr, der zwei Etagen tiefer wohnte, Karlheinz Evers, hatte Mühe, mit seinem neuen elektrischen Rollstuhl in die Tür zu kommen, und steckte erst einmal fest an der gelb gekachelten Wand daneben.

Hasenfier half ihm, wieder in die richtige Spur zu kommen und sagte dabei im Plauderton: »Gegen die Wand ist ein sehenswerter Film von Fatih Akin.«

»Was ist mit Vati?«, rief die Gattin des Rollstuhlfahrers, die inzwischen mit mehreren im Eingang abgestellten Plastiktüten herbeigeeilt kam.

»Der kommt mit dem Stick an seinem Rollstuhl nicht klar.«

»Er sollte auch auf mich warten. Ich hätte ihn doch geschoben. Der hört einfach nicht, wie ein Kind.«

Es ging aufwärts mit allen, und als Hasenfier eingetreten war in seine kleine Wohnung, ging er erst einmal auf den Balkon, um den herrlichen Ausblick zu genießen. Ganz Berlin lag ihm zu Füßen, und nicht nur das, sein Blick ging hin bis zu den Höhen des Flämings, die den Horizont in Richtung Süd-Südost begrenzten, und lehnte er sich ein wenig über die Brüstung, dann konnte er links die Starts und Landungen auf dem Flughafen Schönefeld beobachten. Weit mehr aber erfreuten ihn die Wiesen, Felder und Wälder zum Spreewald hin. Das Dach von ›Tropical Islands‹ funkelte in der Sonne. Sicherlich war er hier in seinem Hochhaus als Akademiker ein Exot, aber dieses herrliche Panorama machte das wieder wett und ließ ihn auch den Spott seiner Freunde und Kollegen aus den angesagten Wohnquartieren ertragen. Bekam er die Professorenstelle in Dahlem, heiratete er ja eh und zog mit Ann-Kathrin zusammen nach Schmargendorf.

Den restlichen Tag wollte er damit verbringen, sich auf das casting, wie er es nannte, für den neu geschaffenen Lehrstuhl für Wildtierforschung und Artenschutz vorzubereiten. Okay, das sah aus, wie speziell auf ihn zugeschnitten, doch er konnte sich auch darauf gefasst machen, dass sie ihn nicht nur nach Fledermäusen und Flughunden fragten, sondern auch wissen wollten, ob er sich in den anderen Spezialgebieten auskannte, als da waren Mikrobiologie, Molekular- und Zellbiologie, Neurobiologie und Verhalten, Biodiversität, Evolution und Ökologie sowie Pflanzenwissenschaften. Es galt also, altes Wissen wieder aufzufrischen.

Er wollte sich gerade ans Werk machen, da klingelte sein Telefon. Auch das noch! Das konnte nur sein Vater sein, der kein iPhone hatte und auch ungern E-Mails verschickte. Ein wenig ungehalten nahm er ab und meldete sich mit: »Hier bei Hasenfier.«

»Wie, biste det nich selba?«

»Doch, aber das klingt vornehmer, und wärst du’s nicht, hätte ich gesagt, dass ich nur die studentische Hilfskraft bin und der Herr Professor gerade aushäusig ist.«

Die Erwähnung der akademischen Welt sorgte dafür, dass sein Vater viel weniger berlinerte.»Du nimmst vorweg, was ja wohl durchaus nicht so sicher ist.«

»Schon, aber im Sinne einer self-fulfilling prophecy. Aber damit sie sich wirklich erfüllt, müsste ich mich jetzt ein wenig vorbereiten. Ist es denn so dringend, dass du …?«

»Ja, es geht um Leben und Tod.«

Hasenfier erschrak. »Wieder ein Schlaganfall?«

»Nein, das nicht, aber bei mir liegt eine kleine Fledermaus auf dem Dachboden, die mächtig was abgekriegt haben muss, ’ne Menge Verletzungen jedenfalls.«

»O, na dann …! Nicht mit bloßen Händen anfassen!«

»Kannste nich mal schnell vorbeikommen?«, bat ihn sein Vater.

Hasenfier sah sich in der Pflicht und zögerte nicht lange. »Okay, dann hol mich bitte mit dem Auto ab, ich warte unten Ecke Wildmeisterdamm.«

Sein Vater hatte sich in Großziethen, also in Sichtweite der Gropiusstadt, ein altes Bauernhaus gekauft und konnte in einer Viertelstunde bei ihm sein. Sie hätten sich auch ohne Weiteres mit indianischen Rauchzeichen verständigen können. Saß er mit seinem Vater auf dem Balkon, so schaute der ständig in Richtung seines Dorfes, ob es nicht etwa brannte. Hasenfier trank noch einen Schluck Cola, dann trat er wieder ins Treppenhaus und drückte sich einen Fahrstuhl herbei. Neulich war in Spandau ein Rentner bei Reparaturarbeiten in den offenen Schacht gestürzt und dabei zu Tode gekommen. Also gab er Acht, dass die Kabine auch wirklich im 19. Stockwerk angekommen war. Die Tochter seiner Nachbarin hatte eine derart große Fahrstuhlangst, dass sie sich in keine der Kabinen hier wagte, sondern jedes Mal, wenn sie ihre Mutter besuchte, zu Fuß nach oben lief – und das bei einer ausgeprägten Adipositas. Sie war immer halb tot, wenn sie bei ihrer Mutter ankam, lehnte aber jede Bekundung des Mitleids ab und lachte nur.

»Das ist mein Training für den Tower-Run.«

Der fand jedes Jahr in diesem Hochhaus statt. Nach einer Einführungsrunde von 400 Metern auf ebener Erde galt es, 465 Stufen bzw. 29 Etagen zu bewältigen.

Hasenfier war es schon treppab zu viel an Lauferei.

Sein Vater war pünktlich zur Stelle. Man begrüßte sich herzlich. Volker Hasenfier war gelernter Gärtner, hatte an der Späthstraße einen eigenen Betrieb besessen und sich als Rentner in Großziethen niedergelassen. Dass der Sohn die Gärtnerei nicht übernommen hatte, konnte er ihm nur schwer verzeihen, denn ein Biologe war auch nicht so sehr viel mehr als ein Gärtner, wenn auch bei dem noch die Tiere hinzukamen. Aber im Sportverein oder im Freundeskreis vielleicht einmal zu sagen: »Mein Sohn als Professor, der …«, war auch nicht schlecht.

Bald waren sie an Ort und Stelle angekommen und auf den Dachboden hinauf geklettert. Dort lag die Fledermaus, die aus mehreren kleinen Wunden blutete und sich womöglich einen Knochen gebrochen hatte. Hasenfier beugte sich hinunter und sah sofort, dass er ein Exem­plar der Gattung Braunes Langohr – Plecotus auritus – vor sich hatte. Als er das Tierchen anfasste, erschrak er fast, so kalt fühlte es sich an.

»Die berühmte Kältestarre«, sagte er zu seinem Vater. »Die Tiere wollen Energie sparen.« Er betastete den lädierten Flügel. »Flugfähig ist Nepomuk in der nächsten Zeit bestimmt nicht.«

»Steht bei jeder Fledermaus denn dran, wie sie heißt?«

»Nein, das ist mit spontan eingefallen. Hol mal schnell einen Schuhkarton, wo ich sie reinlegen und mitnehmen kann. Ohne Notfallkiste geht das nicht. Und mit ein paar Blättern von deiner Küchenrolle – als Polsterung.«

Der Vater stieg wieder vom Dachboden herunter und kam wenig später mit dem Gewünschten zurück. Hasenfier stach ein paar Lüftungslöcher in den Karton, dann legte er Nepomuk vorsichtig hinein und trug ihn hinunter in die Küche.

»Jetzt braucht er was zum Trinken.«

»Ich habe Whisky, Rum und Gin im Schrank.«

»Witzbold! Ein paar Tropfen lauwarmes Leitungswasser reichen. Aber hast du eine Pipette da?«

Der Vater fasste sich an den Kopf. »Was soll ich mit einer Pipette?«

»Na, um dir zum Beispiel Tropfen in die Augen zu träufeln.«

»Ich habe keine trockenen Augen – die hatte deine Mutter. Aber bei der war so vieles trocken …«

»Vater, bitte!«

»Was ist denn, ich meine den Humor und nicht die … Nein, ich habe keine Pipette!«

»Dann gib mit wenigstens einen sauberen Tuschpinsel.«

Mit dem träufelte Hasenfier der Fledermaus dann von der Seite Wasser in die Maulspalte. »So, jetzt bräuchte ich noch ein paar Mehlwürmer. Frisch und gerade eben zerdrückt.«

»Ich habe weder Würmer im Mehl noch im Stuhl!«, rief der Vater, den das Gehabe um Nepomuk langsam nervte.

»Okay, dann fahre mich bitte schnell zur nächsten Tierhandlung und anschließend nach Hause.«

So geschah es dann; Hasenfier kaufte sich in der nächstgelegenen Apotheke noch eine Pipette und brachte dann Nepomuk bei sich im Badezimmer unter, wo er ihn schnell noch mit den frischen Mehlwürmern fütterte. Er hielt sie ihm mit einer Pinzette hin, und die Fledermaus nahm sie zu seiner großen Freude sofort an. Er schätzte, dass er bei Nepomuk bald den ersten Abflugversuch in die Freiheit wagen konnte.

Wieder versuchte er, sich nun auf das zu konzentrieren, was man ihn bei der Anhörung wahrscheinlich fragte, doch weit kam er auch im zweiten Anlauf nicht, denn nach gut einer halben Stunde klingelte es an seiner Wohnungstür. Es war seine Verlobte, die noch in Schöneberg bei ihrer Mutter wohnte.

Ann-Kathrin begann sofort zu jammern. »Ich hab’s zu Hause nicht mehr ausgehalten, meine Mutter nervt wieder fürchterlich.«

Hasenfier schloss sie in die Arme und erzählte ihr, um sie aufzuheitern, den Witz, der ihm beim Verb nerven spontan eingefallen war. »Jesus kommt dazu, wie eine Frau, die beim außerehelichen Geschlechtsverkehr erwischt worden war, gesteinigt werden soll – und schreitet sofort ein. ›Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.‹ Da kommt schon, hinter seinem Rücken geworfen, der erste Stein angeflogen, und ohne sich umzudrehen, seufzt Jesus: ›Mutter, du nervst!‹«

Die Verlobte fand das »very sophisticated« und quälte sich ein Lächeln ab.

Hasenfier hatte die Umarmung auf einen naheliegenden Gedanken gebracht. »Vorehelicher Geschlechtsverkehr wäre auch nicht schlecht.«

Doch sie machte sich los von ihm. »Ich muss mit meiner Magisterarbeit weiterkommen. Meine Mutter macht mir die Hölle heiß, weil ich nicht recht vorankomme.«

»Mutterbindung!«, höhnte Hasenfier, denn das war ihr Thema: Zu enge Mutterbindung als Ursache psychischer Störungen bei Heranwachsenden.

»Sie mag ja eng sein, aber zu eng ist sie nicht. Bei dir und deiner Mutter, da …« Sie brach ab, weil sie wusste, dass er zu seiner Mutter nie eine rechte Bindung gehabt hatte und froh war, dass sie jetzt mit ihrem Ehemann Nummer 3 in Guben lebte. »Was dich betrifft, da wäre ja eher über eine zu enge Vaterbindung zu reden. Hast du ihn heute auch schon wieder besucht?«

»Ja, aber nur, um Nepomuk zu retten.«

»Einer seiner Enkel?«

»Nein, ’ne Fledermaus.« Hasenfier erzählte ihr von dem, was vorgefallen war, und schloss damit, dass Nepomuk nun bei ihm im Badezimmer wohnte.

Ann-Kathrin schrie auf. »O Gott, der hat sicher die Tollwut!«

Hasenfier blieb gelassen und übte sich schon in seiner Rolle als Dozent. »Die Fledermaustollwut wird in Europa durch zwei Virusvarianten verursacht, die European Bat Lyssaviren (EBL) 1 und 2, die aber mit dem Erreger der Fuchstollwut nicht identisch sind. Die ersten Symptome treten ein bis drei Monate nach der Ansteckung auf: Kopfschmerzen, Erbrechen, Fieber, Brennen an der Verletzungsstelle. Die Viren befallen dann das Zentralnervensystem und lösen Muskelzuckungen und Krämpfe aus, Ekel vor Wasser tritt ein, die Hydrophobie, schließlich Tod durch Atemlähmung bei vollem Bewusstsein.«

»Hör auf!«, schrie die Verlobte. »Wo steckt denn das Vieh?«

»Nepomuk ist kein Vieh, sondern mein Ziehkind. Und wo er steckt? Im Badezimmer.«

»Da geh ich nicht mehr rein.«

Hasenfier fand ihre Hysterie ziemlich nervig und wurde drastisch. »Dann hocke dich auf die Balkonbrüstung, wenn du musst. Die Leute unten werden nur denken, dass ich die Blumen gieße.«

Sie tippte sich an die Stirn. »Du hast sie wohl nicht mehr alle!«

»Sicher, sonst wäre ich ja auch nicht mir dir zusammen. Und wenn du mal Psychotherapeutin bist – ich wüsste da schon die erste Patientin für dich …«

Sie fiel über ihn her, und alles endete im Bett, sodass sie erst nach gut einer Stunde ans Arbeiten denken konnten: Er bereitete sich auf seine Anhörung vor, sie versuchte Ordnung in das Material zu bringen, das sie schon über die Mutterbindung gesammelt hatte.

»Hör mal«, bat sie ihn nach einiger Zeit, »was ich schon habe: Die Mutter sieht im Kind den Sinn ihres Lebens und bindet es übermäßig an sich. Die Angstbindung entsteht, das Kind bekommt Bronchitis und schließlich Asthma

»Na, dann huste mal schön«, murmelte Hasenfier.

Sie ließ sich nicht beirren. »Eine Abnabelung findet nicht richtig statt.«

»Die ist bei mir gelungen. Ich glaube kaum noch, dass ich jemals eine Mutter hatte.«

»Gar keine Mutterbindung ist nun auch nicht gut«, fand sie und wandte sich dem nächsten Kapitel zu. »Die Borderline-Symptomatik als Folge übermäßiger Bindung an einen Elternteil. Infantile Verhaltensweisen … Man will zurück zu den Eltern, weil man Angst hat vor dem Leben, vor Selbstverwirklichung, vor Sex …«

»Da kann ich dich in deinem Fall beruhigen.«

»Danke. Phobien entstehen … Aggressive und angsterregende Fantasien, die man gegenüber der verschlingenden und übermäßig bindenden Mutter entwickelt, werden verdrängt und auf ein anderes Objekt gerichtet …«

»Eine Fledermaus zum Beispiel …«, warf Hasenfier selbstironisch ein. »Aber vielleicht besser als auf dich …«

»Bleiben wir sachlich!« Sie riss sich zusammen und las ihr nächstes Stichwort vor. »Das Kind mit übermäßiger Mutterbindung entwickelt eine Sucht nach der Vergangenheit, nach einem narzisstischen Primärzustand – wie damals im Uterus mit dem warmen Fruchtwasser. Das Leben später wird als einzige Enttäuschung verstanden, und das erzeugt eine gewaltige Aggressivität

»Ich sehe dich schon als Gutachterin im Prozess gegen einen Serienmörder.«

»Warum nicht? Die forensische Psychologie reizt mich schon.«

»Mich reizt eher deine schöne Gestalt …«

Und wieder landeten sie im Bett und hatten hinterher keine Kraft und Lust mehr zum Weiterarbeiten.

»Komm, fahren wir nach Dahlem«, sagte Hasenfier. »Ich möchte mir einmal das Gebäude ansehen, in dem ich morgen auf den Prüfstand muss, und außerdem können wir da gleich essen gehen.«

Ann-Kathrin war einverstanden, und sie machten sich in ihrer alten Schrottkiste auf den Weg.

Hasenfier hatte aus ideologischen Gründen weder Führerschein noch Auto. Das Institut für Biologie lag an der Schwendenerstraße. Hasenfier schätzte, dass sie eine knappe halbe Stunde bis dahin brauchen würden. Sie hatte kein Navi im Wagen, und er meinte, sie würde keines brauchen, denn sein Kopf sei besser als jedes GPS.

»Also: auf der Gutschmidtstraße und dem Buckower Damm zur Moriner Allee, am Britzer Garten vorbei, durch Mariendorf durch zur Attilastraße, von da auf dem Steglitzer Damm und der Albrechtstraße zum Bahnhof Steglitz und Unter den Eichen nach Dahlem.«

»Da ist ja fast anzunehmen, du hast dir das Ortungssystem einer deiner Fledermäuse in den Kopf eingepflanzt.«

»Du merkst aber auch alles!«

Sie waren nach genau 28 Minuten am Ziel, ohne dass sie sich einmal verfahren hätten.

Hasenfier betrachtete den Backsteinbau, der das Zentrum der Biologie an der FU Berlin darstellte, mit leuchtenden Augen.

»Ob das wirklich mal mein Domizil werden wird? Schön wär’s!«

Ann-Kathrin war da ein wenig skeptisch. »Freu’ dich nicht zu früh, umso größer ist nachher die Enttäuschung, wenn’s nichts werden sollte.«

Hasenfier nickte, denn seine beiden schärfsten Konkurrenten, das hatte er schon herausgefunden, waren zwar keine ausgesprochenen Hochkaräter wie etwa alternative Nobelpreisträger, konnten aber auf einen gewissen Ruf verweisen.

Curt Callenberg war erfolgreicher Dozent hier in Berlin und zudem ausgewiesener Wildtierforscher; und Marvin Schocksdorf aus Bremen hatte sich schon als Meeresbiologe hervorgetan und außerdem eine Stelle als Juniorprofessor innegehabt. Beide waren sie habilitiert.

»Hoffentlich kommst du wenigstens auf die Dreierliste«, sagte Ann-Kathrin.

»Ich will auf Platz 1!« Er warf einen Blick zu ihr hinüber. »Aber Pech für dich, denn dann werden wir heiraten, und du musst von deiner Mutter wegziehen. Und wohin dann mit der Bindung? Das ist ja nicht wie bei alten Skiern, wo man die Bindung so ohne Weiteres entsorgen kann.«

»Du bist gemein!«

Hasenfier glaubte nicht an Psi-Phänomene, und auch sie war keine Anhängerin jedweder Parapsychologie, doch beiden gab es zu denken, dass gerade in diesem Augenblick ihr iPhone Laut zu geben begann und ihre Mutter aus der Schöneberger Ebersstraße anrief.

»Du, Schatz, ich fühle mich so einsam und lade euch zum Essen beim Vietnamesen am Bahnhof Friedrichstraße ein. Ich fahre schon mal mit der Taxe hin.«

Hasenfier hatte nicht jedes Wort verstanden, reimte sich aber alles zusammen und machte mit beiden Armen heftige Bewegungen der Abwehr, zog eine schreckliche Grimasse und deutete ein zehnfaches Nein an. Er konnte ihre Mutter auf den Tod nicht ausstehen und hatte zu seinem Freund Martin Nehmer schon öfter gesagt, dass er einmal als SMM enden werde, als Schwiegermuttermörder. Doch Ann-Kathrin hatte nichts Besseres zu tun, als entzückt auszurufen: »Mutti, natürlich, wir kommen gerne.«

Hasenfier blieb nichts weiter übrig, als alles klaglos hinzunehmen, denn immerhin gehörte die Nummer 103 auf der Speisekarte, der gebratene Rotbarsch in Mangosoße, zu seinen Lieblingsgerichten, was halbwegs tröstlich war.

»Schaltest du mal bitte dein Kopf-Navi ein«, bat Ann-Kathrin.

»Ja: immer die B1, also Unter den Eichen und so weiter, dann Potsdamer, Ebert-, Behren-, Glinka- und Niederstädtische Kirchstraße.«

Er hoffte, dass es viele Staus geben würden, doch alles ging ziemlich glatt, und sie standen Gudrun Grapitz schon nach gut 40 Minuten gegenüber. Sie hatte die Figur einer Diskuswerferin und war Grundschullehrerin. »Sehr klug von ihr«, sagte Hasenfier immer, »da hat sie ihre schwere Krankheit, die maligne Logorrhoe, wenigstens zum Beruf machen können.« Und so begann ihm seine Schwiegermutter in spe mit ihrem Sprechdurchfall bald wieder gewaltig auf die Nerven zu gehen. Normale Menschen hätten gesagt: »Ich war beim Arzt, war zum Glück nichts Ernsts«, sie aber machte daraus eine Story von der Länge, die einzelne Folgen einer Fernsehserie hatten.

Hasenfiers iPhone vibrierte in der Hosentasche. Es war Nele aus Jever. Er überflog mit einem schnellen Blick zur Seite, was sie ihm geschrieben hatte.

»Habe Sehnsucht nach dir. Treffen wir uns, wenn du zum Vortrag in Hannover bist?«