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Ute Böttinger

Friedrichsruhe

Ein kulinarischer Krimi

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Visionsi – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4908-6

Inhalt

1. Kalte Vorspeise – Hors-d’oeuvre froid

2. Suppe – Potage

3. Warme Vorspeise – Hors-d’oeuvre chaud

4. Fisch – Poisson

5. Hauptplatte – Grosse piéce/relevé

6. Warmes Zwischengericht – Entrée chaude

7. Kaltes Zwischengericht – Entrée froide

8. Sorbet – Sorbet

9. Braten mit Salat – Rôti, salade

10. Gemüse – Légumes

11. Süßspeise oder Nachtisch – Entremets ou Dessert

12. Würzbissen – Savoury

13. Nachtisch oder Süßspeise – Dessert ou Entremets

Zitat

»Haltet ein festliches Mahl und trinkt süßen Wein!«

(Nehemia 8,10)

Tomahawk-Steak vom Fränkisch-Hohenlohischen Landschwein

Typisch für das Tomahawk-Steak ist der frei geschabte Knochen.

Dazu kommen die kräftige Marmorierung und die dicke Speckauflage.

Gut zwei Wochen lang muss dieses Meisterstück im Trockenraum reifen.

Dann darf es sich Dry Aged Pork nennen.

Im Geschmack: kernig-nussig, was Feinschmecker natürlich zu schätzen wissen.

Nur das Fleisch alter Landrassen wie eben das Fränkisch-Hohenlohische Landschwein kann zum Dry Aged Pork werden. Eine artgerechte Haltung auf einer Schweineweide mit viel Auslauf und damit auch das entsprechende Futter machen dieses Qualitätsfleisch zu etwas Besonderem.

Das nicht viel braucht: Mit grobkörnigem Salz und Pfeffer kräftig gewürzt kommt das Tomahawk-Steak in die heiße Pfanne.

Auf der Schwarte stehend wird das gute Stück scharf angebraten, dann erst kommen die beiden Seiten dran.

Die Würze ganz nach Geschmack: Salbei, Thymian, Rosmarin, ein paar Zitronenzesten vielleicht.

Nach der Pfanne geht es zum Relaxen in den 80 Grad heißen Backofen.

15 Minuten lang.

Dann die Kostprobe für den Gourmet: eine feste Speckschicht, zartes Fleisch und ganz viel Saft.

Prolog

Gregor Dimir traf um fünf Uhr früh in der Großanlage ein. Der Schlachthofvorarbeiter stempelte wie gewohnt und machte sich auf den Weg ins Kühlhaus. Bevor am späten Vormittag die ersten Fränkisch-Hohenlohischen Landschweine zum Schlachten angekarrt wurden, mussten am frühen Morgen die ›Schweine-Restbestände‹ aus dem Kühlhaus verarbeitet werden. Das war sein Job. Die mit blauem ›P‹-Stempel deklarierten Teile waren allesamt für die Zerkleinerungsanlage bestimmt. Neben den an Haken säuberlich akkurat aufgezogenen Hälften gab es auch eine große Wanne mit losen Fleischstücken und Innereien. Gregor Dimir kannte seine Aufgabe. Bis um sieben Uhr, also in gut zwei Stunden, hatte er Zeit, um das Fleisch am Haken und aus der Wanne durch den riesigen Hackwolf zu drehen. Um sieben Uhr kamen die Kollegen zum üblichen Arbeitsbeginn. Gregor Dimir bekam seine einsame Sonderschicht gut entlohnt. Ricarda Brenner hatte ihn vor rund einem Jahr auf diese ›Mehrarbeit‹ angesprochen. Die noch junge Erbin des Imperiums von Rüdiger Brenner wusste ihre väterlichen Fußstapfen gut zu gebrauchen. Brenner wäre stolz auf seine toughe Tochter, die resolut die Interessen des Familienbetriebes durchsetzte. Gregor Dimir war einer der wenigen Arbeiter, die noch von ihrem Vater eingestellt wurden. Er stand ihr auch zur Seite, als nach dem Tod Brenners alle anderen langsam, aber sicher dem Betrieb den Rücken kehrten. Der neue Besen, den Ricarda einsetzte, kam nicht gut an. Böse Zungen sagten ihr psychopathische Züge nach.

Die Fleischteile in der Wanne waren gut einige Tonnen schwer, und Gregor Dimir schaltete die Zerkleinerungsanlage an und machte sich an die Arbeit. Zügig und routiniert wuchtete er die Fleischstücke aus der Wanne aufs Fließband. Bei einem größeren Teil zögerte er kurz und dachte sich: Schon merkwürdig, so eine Schweineschulter, sieht fast aus wie der Körperteil eines Menschen …

Gregor Dimir schaltete kurz vor sieben Uhr den Hackwolf ab. Die große Wanne mit dem fein zerkleinerten Fleisch schob er ins Kühlhaus zurück. Gleich würden die Arbeiterinnen eintreffen, um das Hackfleisch zu portionieren und zu verpacken. Die komplette Charge war für einen großen Discounter bestimmt.




1. Kapitel: Kalte Vorspeise – Hors-d’oeuvre froid

Donnerstag, 16. Juni 2016

»Das glaube ich jetzt nicht. Das ist ja wohl das Allerletzte …!« Petra Scharminski holte tief Luft. Schnaubte trotzdem vor Wut. In gut zwei Stunden sollte laut Skript die Kamera abfahren. Spot an, Fokus auf die Bühne und auf Moderatorin plus Ehrengast. Petra Scharminski stand dennoch unerschütterlich fest mit ihren beiden langen Beinen auf den provisorischen Holzbrettern mitten auf dem Öhringer Marktplatz. Es war heiß und zudem schrecklich schwül an diesem frühen Donnerstagnachmittag. Ungewöhnlich für Mitte Juni. Die Fernsehmoderatorin schwitzte und strich sich wiederholt die inzwischen pappig-fettige Haarsträhne aus dem Gesicht. Und wartete. Wartete auf Olaf Ben Struck. Ihren Ehrengast heute auf der Bühne.

»Bullshit. Wo bleibt dieser Scheiß-Sternekoch?«

Abgemacht war sein Erscheinen zwei Stunden vor Beginn der Veranstaltung. Genug Zeit für die Maskenbildnerin in der provisorischen Garderobe, die im Blauen Saal des Öhringer Schlosses untergebracht war, und für die Korrekturen und Feineinstellungen beim Probelauf auf der Bühne. Ja, reichlich Zeit bis zur Liveübertragung. Erfahrungswerte, die bis jetzt immer geklappt hatten.

»Petra, Liebste, das wird nichts mehr«, rief Regieassistent Norman Renscher von links hinten. »Wir müssen die Reißleine ziehen.«

»Doppelt Bullshit.« Petra Scharminski wusste, was Reißleine ziehen heißt. Dreimal schwebte dieses Damoklesschwert während ihrer 20-jährigen Moderatorenlaufbahn über ihr. Dreimal Desaster.

Ein Aus für die Sendeanstalt, jetzt hier vor Ort anzusagen, war fast so etwas wie eine Vollstreckung. Nicht nur, dass der Programmdirektor Amok laufen würde. Für Scharminski wäre das nun die Garantie für den Abschiebemodus. Was hieße: die Zukunft auf einer Hinterbank im Sender zu verbringen. Schließlich war sie nicht mehr die Jüngste, und die jungen Kolleginnen im Background scharrten schon lange mit attraktiveren Hufen. »Ruf noch mal auf seinem Handy an und natürlich im Hotel.« Sie fauchte Renscher wütend an, wusste aber schon, dass das nichts bringen würde.

»Baby, das mach ich doch schon seit einer Stunde. Der Koch ist weder im Hotel zu erreichen, noch auf dem Handy, und im Krankenhaus bei seiner Frau ist er heute Vormittag auch nicht aufgetaucht.« Norman Renscher wählte wiederholt die Nummer auf dem Display. Fehlanzeige. Das Handy von Struck schien tot, kein Verweis auf die Mailbox. Kein Ton. Kein Mucks. Also dann eben noch einmal das Hotel.

»Hallo? Hier Norman Renscher vom Süddeutschen-West-Sender. Entschuldigen Sie, dass ich schon wieder anrufe, aber Herr Struck ist immer noch nicht da.«

Puh, schon wieder dieser nervtötende Fernsehfuzzi, Melissa Yarata, die am Empfang vom Hotel Residenz am Jagdschloss stand, schüttelte genervt den Kopf.

»Hallo, Herr Renscher und nein: Wir wissen auch nicht, wo unser Olaf Struck abgeblieben ist. Aber genau das habe ich Ihnen schon vor zehn Minuten gesagt.«

»Ja, ja, ja.« Renscher verdrehte die Augen und wiederholte hartnäckig seine Leier: »Frau Yarata, Sie haben doch gesehen, dass Struck heute Morgen das Hotel verlassen hat. Und er hat Ihnen glücklich und frohgelaunt noch zugerufen, dass er nach Öhringen fahren will, um zuerst seine Frau und seinen kleinen Sohn im Krankenhaus zu besuchen und dann seine Auszeichnung auf der SWF-Bühne entgegenzunehmen.«

»Genauso war das, aber auch das wissen Sie ja schon. Gewundert hat mich allerdings jetzt im Nachhinein, dass er schon so früh in der Küche zugange war.«

»Wieso ist das ungewöhnlich?«, hakte Renscher nach.

»Na, als Chef de Cuisine ist es nicht unbedingt sein Job, sich am frühen Morgen um das Frühstück für die Gäste zu sorgen. Dafür gibt es unseren Harald Mann. Er ist der Gardemanager, also für die Kalte Küche zuständig und damit auch für das Frühstücksbüfett. Und natürlich Yvonne, unsere angehende Pâtissière, die für Caroline Struck jetzt eingesprungen ist.«

»Patis… was?« Das war eindeutig nicht Renschers Welt. Am anderen Ende der Leitung verdrehte Melissa Yarata genervt die Augen. »Na, ein Patissier ist quasi der Bäcker in der Küche. Kuchen, Torten, Dessert, Gebäck, Süßspeisen, Eierspeisen – eben das ganze Programm.«

»Okay, okay. Ich geb ja zu, dass ich in solchen edlen Residenzen selten zu Gast bin, ist einfach nicht meins.«

»Muss ja auch nicht. Sollte sich das allerdings ändern, freuen wir uns, wenn wir Sie als unseren Gast begrüßen dürfen«, konterte Melissa Yarata gekonnt charmant. Das ging Renscher natürlich runter wie Öl. Vielleicht schaffte er es ja tatsächlich mal vom einfachen Hiwi zum richtigen Regisseur beim Sender. Lange genug war er schließlich schon dabei.

»Und Norman! Was ist jetzt Sache?« Renscher schreckte auf, als er die Stimme von Petra Scharminski hörte.

»Tja, nix Neues, nada, nothing. Wahrscheinlich hat er die Flatter gemacht, der Sternekoch, zu viele Sterne und Weib und Kind.«

»Hast du sie noch alle?« Scharminski überschlug es die Stimme. »Davon träumen Dutzende Köche hier in Deutschland. In so jungen Jahren so eine Karriere. Ein zweiter Kulinarik-Stern. Weißt du überhaupt, was das bedeutet?« Scharminskis Augen funkelten. Etwas, was Renscher allzu gut gefiel.

»Jetzt, wo du so leidenschaftlich loslegst, Liebes, kann ich es mir in etwa vorstellen.«

Inzwischen kratzte er sich nachdenklich am Kinn. Dass Olaf Struck am Vormittag gar nicht im Krankenhaus auftauchte, obwohl er dies noch im Hotel angekündigt hatte, war schon mehr als merkwürdig.

*

Das würde kein guter Tag werden. Das wusste Friedrich schon, als er den rechten Fuß müde und schwer aus dem Bett manövrierte. Wieder einmal hatten ihn diese schrecklichen Albträume gequält. Es war wie so oft in diesen unruhigen, schwarzen und bleischweren Nächten: Seine Frau stand plötzlich vor ihm und schaute ihn anklagend an. Dieser Blick ging ihm durch Mark, Bein und Blut. Minutenlang musste er sich in der Dunkelheit orientieren, um sich klar zu werden, dass das nicht die Realität war. Alexandra war tot. Schon seit fünf Jahren. Wohl aber in diesem ihrem Haus immer noch präsent. Und wieder einmal fragte er sich, wann er es wohl schaffen würde, dieser Vergangenheit den Rücken zu kehren. Okay, ich habe hier meinen Job und meine Freunde, fühle mich doch wohl in diesem provinziellen, aber schönen Hohenlohe, sinnierte er. Ein weites Land. Und für einen leidenschaftlichen Naturliebhaber wie ihn voller Abwechslung. Streuobstwiesen, Weinberghänge, Steinhalden und Bachklingen. Die vielfältigen Wald- und Hügellandschaften. Die Feuchtwiesen und Heideflächen. Früh am Morgen einfach losgehen, per pedes, und sich von der Landschaft und den Begegnungen überraschen lassen. All das liebte er schließlich an diesem Landstrich im Nordosten von Süddeutschland. Das war sein tägliches Gebet, sein täglicher Trost. Und doch fühlte er sich immer mehr als Fremder, als ›Reingeschmeckter‹. Als Alexandra, die waschechte Hohenloherin an seiner Seite, starb, wurde es ihm an jedem darauffolgenden Tag mehr bewusst: Hier würde er nicht für den Rest seines Lebens bleiben. Schon länger machte er sich Gedanken darüber, ins Sauerland zurückzugehen. Die Brücken zu Iserlohn, wo er aufgewachsen war, waren nie abgebrochen. Ebenso wenig zu Bochum, seiner geliebten Ruhrpottstadt. Dort hatte er seine Laufbahn als Polizist begonnen.

Hallo? Er war doch nicht Karl Friedrich Freiherr von Bühl, wenn er diese melancholischen Gedanken nicht einfach zerstreuen konnte. Genau. Das gelang ihm doch schon seit Jahren. Aber jetzt mit 55 kann man sich doch schon fragen, wie das weitergehen soll mit dem Leben. Wieder diese innere durchdringende Stimme.

Den Antrag auf einen vorzeitigen Ruhestand hatte er schon zigmal im Kopf entworfen. Die konkreten Pläne, was er dann machen wollte, waren längst schon in der Schublade.

*

»Hallo, Chef, sind Sie überhaupt da?« Marie-Lena Dambach kam hereingeschneit wie der kalte Winter. Mitten im Juni. Gut so. Das brachte Friedrich schließlich wieder klare Gedanken auf der Dienststelle in Öhringen, wo er nach seinen Albträumen und drei doppelten Espressi heute Morgen gelandet war.

»Was ist denn los, Kollegin?«

»Na ja, Chef. Los weiß ich noch nicht. Aber wir haben einen ziemlich aufreibenden Anruf bekommen.«

»Was ist denn das für eine Ansage: ein aufreibender Anruf.«

Der Alte ist auf Stänkerkurs, stellte Marie-Lena Dambach mal wieder fest. Sie war zwar der Frischling auf dem Polizeiposten in Öhringen, aber clever genug, um die Befindlichkeiten ihrer Kollegen zu checken. Solche von Vorgesetzten wie diesem Kriminalhauptkommissar Karl Friedrich von Bühl allemal. Schließlich war im Studium an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen die Vertiefung der Rechtspsychologie und da vor allem Täterprofile ihr Lieblingsstudienfach. Da wäre es doch gelacht, wenn sie nicht auch die Profile ihrer Kollegen entschlüsseln könnte. Auch wenn diese ›Psychonummer‹, wie diese unkten, nicht immer gut ankam. Was allerdings an der 29-jährigen Kriminalkommissarin abprallte wie der Ball an der Wand.

»Ich meinte, die Frau war so aufgeregt am Telefon, und das ganze Gespräch war völlig aufreibend.«

»Na dann schießen Sie mal los, Kollegin Dambach.« Friedrich schaute sie erwartungsvoll an und lehnte sich, so gut es ging, in seinem Bürostuhl zurück.

»Caroline Struck vermisst ihren Mann«, begann Marie-Lena zu berichten.

Friedrich konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Das soll vorkommen«, sagte er trocken.

»Gott nee, Chef, nicht das, was Sie denken. Übliche Vermisstenmeldung nach einem Ehestreit oder so. Der ist garantiert nicht stiften gegangen.«

»Also gut, Kollegin, ich bin ganz Ohr«, meinte Friedrich und grinste weiter.

»Caroline Struck ist die Ehefrau dieses tollen Sternekochs vom Nobelhotel in Heiligenwald, Hotel Residenz am Jagdschloss, und die sagt, ihrem Mann sei etwas Schreckliches zugestoßen.« Dambachs Stimme überschlug sich fast.

»Und wie kommt sie darauf?«, hakte Friedrich immer noch ganz gelassen nach.

Von Bühl kannte freilich sowohl das Luxushotel Residenz am Jagdschloss als auch den Sternekoch Olaf Struck sehr gut. War er doch schließlich mindestens einmal im Monat zum Speisen dort. In der Regel mit seinen beiden Freunden Bodo Waldheim und Enrico Cavetti. Erst letzte Woche wieder. Da war Struck schon ganz aufgeregt, weil er im vergangenen Herbst seinen zweiten Kulinarik-Stern einheimste und diese Auszeichnung nun während der Landesgartenschau hochoffiziell in Empfang nehmen sollte. Mit großem Bahnhof natürlich. Für Öhringen bedeutete das: Die gesamte Hohenloher Prominenz war geladen, um diesen Erfolg zu feiern. Schließlich war Struck mit seiner Gourmetküche im Jagdschloss in Heiligenwald bei Zweiflingen, nur wenige Kilometer von Öhringen entfernt, ein Aushängeschild für die ganze Region.

Und Hohenlohe konnte mit bedeutenden Persönlichkeiten nur so punkten. Vor allem Unternehmerpersönlichkeiten. Der Landstrich im Nordosten von Baden-Württemberg wies schließlich im Durchschnitt die meisten Weltmarktführer in ganz Deutschland auf. Multinationale Konzerne wie die Unternehmen für Montage- und Befestigungsmaterial, Hersteller von Ventilatoren, Spezialisten für Verpackungstechnik …

»Hallo, Chef, hören Sie mir überhaupt zu?«

Friedrich schreckte auf. »Sollte der Struck nicht heute am späten Nachmittag auf der SWF-Bühne ausgezeichnet werden?«

»Ja genau, das ist es doch.« Marie-Lena schob sich einen Stuhl an von Bühls Schreibtisch und setzte sich neben ihn. Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten. »Caroline Struck wartet seit heute Vormittag auf ihren Mann. Er wollte zunächst wohl zu ihr ins Krankenhaus kommen, um dann gemeinsam mit dem Chefarzt zu entscheiden, ob sie und Söhnchen David entlassen werden können, um eben zusammen am großen Event heute Abend teilzunehmen.« Marie-Lena hatte sich inzwischen in Rage geredet. »Die Struck wartete über ’ne Stunde, bis sie versucht hat, ihn anzurufen«, holte Marie-Lena Luft.

»Und dann? Lassen Sie hören, Kollegin.« Friedrich war jetzt hellwach.

»Sein Handy war ausgeschaltet, und im Hotel wusste wohl auch keiner, wo er ist«, berichtete Marie-Lena Dambach weiter.

Jetzt rückte sich Kriminalhauptkommissar von Bühl kerzengerade auf seinem Stuhl zurecht und sah seiner Kollegin fest in die Augen. »Und wieso meint die Struck, dass ihrem Mann etwas Schreckliches zugestoßen wäre?«

»Das hat sie nicht weiter ausgeführt. Konnte sie auch gar nicht. Die war ja dann nur noch am Heulen am Telefon.«

»Also, Dambach, dann machen wir beide uns mal auf die Socken und fahren ins Krankenhaus.«

»Aber natürlich, Chef. Ich schau mal, welchen Wagen wir nehmen können, und fahr dann das Gefährt vor, damit der edle gnädige Herr einen kurzen Fußweg hat«, flötete sie und zog leicht spöttisch die Mundwinkel nach oben.

Als waschechte Hohenloherin hatte sie ein ambivalentes Verhältnis zu Blaublütern.

*

Himmel, was hatte man ihm mit diesem Kommissarfrischling da angetan. So eine freche Göre an seine Seite zu setzen. Gut drei Monate war sie jetzt auf dem Kriminalkommissariat Öhringen, dem KKÖhr. Gut, das war noch keine Zeit, um warm zu werden. Aber würde er auf Facebook posten, wäre der Beziehungsstatus: schwierig.

Wie das wohl weitergehen soll mit uns beiden, dachte Friedrich.

Dazu noch auf seine alten Tage. Stopp: mittelalt natürlich. Mit Mitte 50 war er ja schließlich noch ganz gut im Rennen des Lebens. Meistens. Waren sie im Dreiergespann unterwegs – Bodo, Enrico und er – wurde vor allem mit dem jungen weiblichen Geschlecht geschäkert. Wir Männer müssen uns doch beweisen, war das Motto. Das bisschen Spaß durfte ja auch sein. Aber tiefe, ernsthafte, so richtig auf den Grund gehende Gespräche mit einem weiblichen Gegenüber vermisste er schon. Seit Jahren. Eigentlich schon lange, sehr lange Zeit vor Alexandras Tod. Während ihrer Krankheit gab es nur noch ganz wenige dieser Momente, wo sie sich nah waren, geschweige denn über Gott und die Welt reden konnten. Wieder spürte Friedrich diese Beklemmung, die sich wie eine eiserne Faust um sein Herz schloss und ihm das Atmen schwer machte. Vielleicht würde das alles aufhören, wenn er tatsächlich die Brücken hier in Hohenlohe abbrechen würde. Seine gemeinsame und so schwere Vergangenheit mit Alexandra damit wirklich abschließen konnte. Er sehnte sich nach einer Partnerin, die auf seiner Wellenlänge lag. Dieselben Töne anschlug. Die Saiten in ihm zum Klingen brachte. Eine Frau mit Charakter, mit Stil, mit Selbstsicherheit ganz ohne Maskerade. Mit Wärme und einem offenen Herzen. Mit Lebenserfahrung und Bildung. Mit …

Er seufzte schwer.

Vielleicht hatte er eine viel zu hohe Erwartungshaltung? Friedrich musterte Marie-Lena Dambach von der Seite. Sie fuhren vom Revier in der Karlsvorstadt auf die Schillerstraße. Jetzt um die Mittagszeit war wenig los auf den Straßen in der Stadt. Nur an der Ampel am Überweg vom Bahnhof zur Stadtmitte herrschte Hochbetrieb. Ganze Truppen von Fußgängern waren hier unterwegs. Die Landesgartenschau zog schon seit der Eröffnung, dem 22. April, tagtäglich Tausende von Besuchern an. Dreh- und Angelpunkt war der Öhringer Bahnhof. Bahn und S-Bahn spuckten hier im Minutentakt ihre Fahrgäste aus, und am Busbahnhof kamen die Reisegruppen an. Kaum zu glauben, dass Öhringen diese große Zahl an Besuchern überhaupt stemmen konnte. Und das sollte wohl bis 9. Oktober auch nicht abreißen.

»Jetzt laufen die doch tatsächlich bei Rot über die Straße, haben Sie das gesehen? Nicht mal unser blau-weißes Gefährt mit Horn auf dem Dach schreckt die ab!« Die frischgebackene Kriminalkommissarin schnaubte und legte ihre Stirn dabei in Falten.

»Liebe Kollegin, das macht Sie um Jahre älter, wenn Sie sich aufregen«, meinte Friedrich gelassen.

Optisch alt, dachte er, ein Küken ist sie dennoch. Und das war es ja auch, was ihn wurmte. Wie konnte man ihm, Karl Friedrich Freiherr von Bühl, Kriminalhauptkommissar und Dienststellenleiter in Öhringen, diesen Frischling, dazu noch weiblich, an die Brust heften. Da hatte ihm Polizeichef Manfred Deininger in Heilbronn wahrlich einen Bärendienst erwiesen. Seit dem Frühjahr musste er sich nun schon mit Marie-Lena Dambach herumschlagen. Abfinden. Nein, quälen. Dieser Jungspund wusste einfach immer alles besser. Ein frischer Zwerg von der Hochschule, der ständig mit den Hufen scharrte und meinte, sich damit Sporen zu verdienen. Immer vorne mit dabei mit dem Mundwerk. Immer reden, ohne vorher nachzudenken. Also Kommentare ohne Ende. Und immer wie aus der Pistole geschossen.

Hallo, Friedrich! Warst du nicht einfach auch so in deinen jungen Polizistenjahren? Ungestüm, geraderaus, aus dem Bauch halt. Okay. Von Bühl gefiel diese innere Stimme zwar nicht immer, aber dieses Mal musste er ihr recht geben. Ja. Genauso wie diese eingefleischte Hohenloherin Dambach war er auch einmal. Damals im Ruhrpott, in Bochum. In seinen Anfangsjahren bei der Kripo.

»Chef, wir sind da!« Marie-Lena Dambach manövrierte das Dienstfahrzeug rückwärts in einen der Kurzzeitparkplätze vor dem Krankenhaus.

»Liebe Kollegin, das ist ein Storchenparkplatz, haben Sie das nicht gesehen? Und wir beide sind schließlich keine werdenden Eltern«, grinste Friedrich.

Marie-Lena lachte frech zurück und sagte: »So gefallen Sie mir schon viel besser, wenn Sie Ihr hübsches Kinngrübchen zeigen. Dazu noch die blauen Augen und Ihre blonde Haarpracht: wie Robert Redford.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Den Sie ja ganz bestimmt nicht mehr kennen mit ihren jungen Lenzen. Der Knabe ist schließlich auch weit über meiner Generation«, flachste Friedrich und schwang sich aus dem Dienstauto.

Lässig stieg auch Marie-Lena aus dem Wagen, zupfte kess ihren Braunschopf zurecht und blickte ihm tief in die Augen, als er neben ihr stand. »Mit dem bin ich quasi aufgewachsen. Es gab keinen Film von ihm, den meine Mutter nicht gesehen hatte. Und das mehrmals. Pferdeflüsterer. Jenseits von Afrika. Der große Gatsby. Mami war quasi immerwährend in love mit diesem superschönen Schauspieler. Schrecklich.«

*

Auf den drei Bänken vor dem Krankenhauseingang saßen Raucher in Bademänteln oder schlabbrigen Trainingshosen und ausgebleichten Sweatshirts. Zwei hatten sogar fahrbare Infusionsständer an ihrer Seite stehen.

»Unglaublich, aber wahr«, schüttelte Marie-Lena angeekelt den Kopf. Ihr Verständnis für diese Krankenhauspatienten, die sich hier draußen förmlich das Gift in den Körper saugten, war gleich null. Sucht gab es für die Polizistin nur eine: Sport. Den betrieb sie fast schon exzessiv. Im Fitnessstudio, auf dem Mountainbike runter ins Kochertal und dann weiter an die Jagst oder beim Speed Hiking in den Waldenburger Bergen.

»Haben Sie mal geraucht, Chef?«

Friedrich atmete tief ein und stieß die Luft durch die Zähne. »Fast 20 Jahre lang, Kollegin. Aufgehört habe ich, da war ich bei täglich zwei Schachteln Gauloises und 38 Jahre alt und kriegte wohl die Midlife-Crisis. Das hat mich vom süchtigen Leben befreit.«

»Respekt! Das war ja wohl ’ne hohe Dosis von dem widerlichen Dreckszeug. Sieht man Ihnen aber heute wirklich nicht mehr an«, bemerkte sie, und in ihrer Stimme schwang so etwas wie Bewunderung mit.

»Nun, ich habe ja auch, als ich mit dem Rauchen aufhörte, mit dem Laufen angefangen.«

»Richtig«, erinnerte sich Marie-Lena, »Sie sind doch auch schon Marathon gelaufen, hab ich auf dem Revier gehört.«

»Genau. Mein erster 42-Kilometer-Lauf war in Niedernhall, beim ebm-papst Marathon. Da sind wir als Gruppe für den Polizeisportverein angetreten.«

Auch schon wieder einige Jahre her, dachte Friedrich, und schlagartig wurde es ihm wieder einmal bewusst, dass er heuer direkten Kurs auf die 60 nahm. Da war sie wieder, die Wehmut. Von der er heute schon genug hatte.

»Wollen Sie vielleicht zunächst alleine ins Zimmer von Caroline Struck schneien?« Friedrich wartete die Antwort seiner Kollegin nicht ab, sondern nahm zielstrebig Kurs auf die Dame an der Krankenhausrezeption. »Karl Friedrich von Bühl und meine Kollegin Marie-Lena Dambach. Wir kommen vom Kriminalkommissariat Öhringen und wollen zu Frau Caroline Struck. Können Sie uns sagen, in welchem Zimmer wir sie finden?«

Kurz angebunden und Klartext redend. Das war genau und treffend Friedrichs Art. Da kamen wohl die norddeutschen blaublütigen Vorfahren bei ihm durch.

»Caroline Struck, da haben wir sie ja schon«, sagte die Krankenhausmitarbeiterin, während sie noch auf der Tastatur tippte. »Das ist die Wochenstation, Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe. Das Einzelzimmer 304. Soll ich Sie bei Frau Struck anmelden? Das ist ein Service bei Wahlleistungen«, erklärte sie.

»Ja bitte!«, sagte Marie-Lena, die sich jetzt neben Friedrich über die Theke lehnte. Der schaute sie fragend an. »Okay, sie weiß, dass wir kommen. Aber vielleicht hat sie ja gerade den Kleinen an der Brust«, erklärte sie.

Das wiederum beantwortete auch die Frage, die Friedrich an sein weibliches Ermittlergegenstück gestellt hatte. Daran hatte er ja wohl zuerst gedacht. Wohl wissend, dass die Geburtshilfe des Öhringer Krankenhauses weit über die Grenzen von Hohenlohe hinaus vor allem dadurch bekannt und beliebt war, dass Mutter und Kind – und im gebuchten Familienzimmer auch der Vater – rund um die Uhr zusammen sein konnten. Auf Wunsch sogar in einem Bett. Absolute Ruhe und Intimität für frischgebackene Eltern und ihren Nachwuchs waren hier quasi Programm und hatten höchste Priorität. Zudem punktete die Geburtshilfeabteilung mit einem gut eingespielten Team von Ärzten, Hebammen und Krankenpflegepersonal. Viele werdende Eltern, vor allem auch aus dem Raum Heilbronn, entschieden sich deshalb für die Entbindung in Hohenlohe. Ein Aushängeschild für das Öhringer Krankenhaus also.

»Frau Struck erwartet Sie schon«, sagte die Krankenhausmitarbeiterin und legte den Hörer auf die Gabel.

»Na dann mal los. Nehmen wir die Treppe, werte Kollegin. Dann haben Sie heut schon mal den sportlichen Einstieg.«

»Ich war heute früh schon ’ne Stunde im Fitness bei Rolfi«, konterte Marie-Lena.

»Rolfi?« Friedrich zwinkerte ihr eindeutig zu. Marie-Lena zwinkerte zweideutig zurück: »Tja, Chef, der Rolfi ist der Hammer!« Dabei verdrehte sie verträumt die Augen.

»Heißt allerdings genau: Rolfs Fitnessstudio, Firmenname ›RolFit‹ in Langensall. Da bin ich schon seit meiner Rückkehr aus Villingen-Schwenningen fast täglich. Eine umgebaute Scheune mit tollem Ambiente. Nicht so klinisch rein wie viele andere Studios. Und der Service, also die Betreuung ist wirklich nicht von schlechten Eltern.«

Kurz musterte Friedrich sie unauffällig von der Seite. Ihre Figur ist auch nicht von schlechten Eltern, dachte er anerkennend.

Im dritten Stock des Krankenhauses angekommen, mussten sie sich orientieren. Auf dem Flur ging ein junges Paar auf und ab. Die blasse Frau hatte Schweiß auf der Stirn und strich sich immer wieder abwechselnd mit der Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht und über ihren prall gewölbten Bauch. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, und in kurzen Abständen stöhnte sie laut und gequält auf. Der Mann an ihrer Seite wirkte ziemlich hilflos, sprach leise auf sie ein und strich ihr liebevoll mit der Hand über den unteren Teil des Rückens. Am Ende des Gangs war eine große weiße Tür mit der Aufschrift ›Kreißsaal‹ und einem unmissverständlichen ›Bitte läuten und nur Eintreten nach Aufforderung‹. Eine Hebamme kam aus der Tür und stützte die Hochschwangere. »Dann kommen Sie mal, wir haben im Kreißsaal schon alles für die Wassergeburt vorbereitet.« Während der angehende Vater etwas hilflos schaute, leuchtete dagegen das Gesicht der werdenden Mutter.

»Das ist noch keine Option für mich«, meinte Marie-Lena und legte ihre Stirn in Falten.

»Wie. Was. Keine Option?« Friedrich kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

»Mann, Kind und Heim«, gab sie kurz angebunden zurück. Der Anblick dieses jungen Familienglücks war ein Stachel in ihrem Fleisch. Familie gründen! Damit lag ihr Micha, schon seit sie von der Polizeihochschule zurück war, in den Ohren. Noch studierte ihre Jugendliebe an der Musikhochschule in Mannheim. Die Begabung war Micha Mugler quasi in die Wiege gelegt. Er war der Sohn des bekannten Hohenloher Musikers Manfred Mugler. Gründer und Leadsänger der Hohenloher Mundartband ›Sunnâschei‹ aus Forchtenberg. Die Familie Mugler hatte einen kleinen feinen Weinbaubetrieb, eine Weinstube mit der hervorragenden Küche von Gisela Mugler und eine schicke Pension für die Touristen, welche gerade auch zur Landesgartenschau die Region Hohenlohe entdeckten. Tja, und Micha malte sich die gemeinsame Zukunft geradezu rosarot aus. »Ich kann mich ums Baby kümmern, während du die Verbrecher jagst«, war sein Credo. Marie-Lena schüttelte unbewusst den Kopf. Meins aber nicht, sollte das wohl heißen.

*

»Ja bitte.« Vorsichtig drückte Marie-Lena den Türknauf nach unten, nachdem sie höflich angeklopft hatte. Mitten im großen, hellen, freundlichen und mit stimmungsvollen Bildern an der Wand dekorierten Zimmer saß Caroline Struck aufrecht in ihrem Bett. Neben ihr ein fahrbares Babybettchen. Eingewickelt in eine bunte Decke und mit einem kleinen süßen Teddybären auf der Brust schlief der Nachwuchs von Caroline und Olaf Struck sichtlich tief und selig.

»Ist es in Ordnung, wenn wir uns hier mit Ihnen unterhalten?« Marie-Lena flüsterte fast schon ehrfürchtig und schaute dabei den kleinen Wonneproppen an.

»Natürlich. David habe ich gerade gestillt. Er ist also satt und glücklich. Fast so wie ich«, sagte Caroline Struck mit brüchiger Stimme und blickte dabei ihren kleinen Sohn an.

»Sie haben uns heute Mittag angerufen und erklärt, dass Sie Ihren Mann vermissen.« Marie-Lena trat näher an das Bett.

»Ja«, antwortete Caroline Struck. »Aber bitte setzen Sie sich doch«, deutete sie auf die Stühle gegenüber im Zimmer.

»Er wollte wie auch in den letzten Tagen um kurz nach zehn Uhr hier sein.« Caroline Struck war den Tränen nahe. »Wir haben dann immer zusammen den kleinen Strolch hier gebadet.« Jetzt liefen ihr die Tränen über die Wangen. »Ben, ich meine Olaf – ich nenne ihn als Einzige bei seinem Zweitnamen«, sagte sie fast entschuldigend, »also Ben wollte ja ein Familienzimmer für die Zeit hier nach der Geburt von David haben.«

»Familienzimmer?«, hakte Marie-Lena nach.

»Da wären wir alle drei als Paket rundum versorgt gewesen. Auch eine Wahlleistung hier im Krankenhaus«, erklärte Caroline Struck.

Friedrich zog sich instinktiv zurück. Das war wohl jetzt das Terrain der Kollegin. Während sich Marie-Lena einen der Stühle genommen und sich damit neben das Bett von Caroline Struck gesetzt hatte, stützte er seine Hände auf den Fenstersims und schaute in den Himmel mit den dunklen Quellwolken. Da braut sich ganz schön was zusammen, dachte er.

»Ein Familienzimmer wollte ich aber nicht. Bis Heiligenwald und ins Jagdschloss sind es ja nur ein paar Kilometer. Und ich dachte, wenn Ben seinen Job ohne Unterbrechung macht, können wir dann im September einen längeren Urlaub mit dem Kleinen einplanen.«

Jetzt war der Damm bei Caroline Struck gebrochen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte herzzerreißend.

»Wissen Sie, mein Mann ist wirklich zuverlässig. Wenn er sagt, er kommt zu der und der Zeit, ist er auch da. Oder er ruft an und entschuldigt sich, wenn etwas dazwischenkommt«, schniefte Caroline Struck, nahm ein Papiertuch vom Nachttisch und schnäuzte sich die Nase.

»So ist er, seit wir uns kennen.«

Sie schaute jetzt Marie-Lena Dambach fest in die Augen.

»Da ist noch etwas, was mir große Sorgen macht. Dass vielleicht etwas Schreckliches passiert sein könnte.«

»Erzählen Sie«, ermutigte Marie-Lena die junge Frau vor ihr, die in etwa so alt war wie sie selbst. Jetzt kam auch Friedrich an das Bett und hörte aufmerksam zu.

»Seit Wochen war da eine Sache, die ihn wohl beschäftigte. Er war oft mit den Gedanken weit weg, obwohl er sich ganz rührend um mich kümmerte während der Schwangerschaft. Wenn ich ihn darauf angesprochen habe, winkte er nur ab. Caro, meinte er dann, Liebes, glaub mir, es hat nichts mit uns zu tun. Ich fürchte, ich bin da hinter eine richtige Schweinerei gekommen. Aber um etwas zu beweisen, brauche ich noch ein paar Informationen. Und wenn ich die habe, dann könnten hier im beschaulichen Hohenlohe bald ein paar Köpfe rollen.«

Jetzt fiepte das Baby in seinem Bettchen und bewegte die kleinen Ärmchen. Caroline Struck wandte ihrem Sohn sofort ihre volle Aufmerksamkeit zu.

»Wissen Sie, ich habe mir dann aber keine weiteren Gedanken dazu gemacht. Vielleicht hab ich die Aussage von Ben auch irgendwie überhört. Ich war so mit meiner Schwangerschaft beschäftigt, dass ich vieles ausgeblendet habe.«

Jetzt schrie der kleine Wonneproppen aus Leibeskräften, und Caroline Struck hob ihn aus seinem Bettchen und legte ihn bäuchlings auf ihre Brust. »Das ist nur das Bäuchlein, das legt sich gleich«, sagte sie leise. Sie sah nun sehr erschöpft aus.

»Bitte finden Sie meinen Mann. Ich habe plötzlich schreckliche Angst um ihn«, flehte sie die beiden Beamten an und drehte ihren Kopf müde zur Seite. Den Kleinen hatte sie in ihre Armbeuge gekuschelt und liebevoll umschlungen. Er war wieder eingeschlafen.