Gena Showalter

Verrat im Zombieland

Roman

Aus dem Amerikanischen von Constanze Suhr

HarperCollins YA!® Bücher
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

DANKSAGUNG

An Natashya Wilson – natürlich! –, eine außerordentliche Frau und Verlegerin, die von Beginn an an diese Serie geglaubt hat. Du bist unglaublich!

An Blue Romero, der in jeder Beziehung beeindruckend ist.

Jedem, der jemals einen Fehler gemacht hat, von dem er meint, dass er immer darunter leiden wird – kein Sturm kann ewig andauern! Das Licht wird die Dunkelheit verdrängen.

Allen Leserinnen, die riefen: „Wir wollen mehr!“ und: „Was ist mit Frosty?“

Vielen Dank!

An Gott, der Liebe ist und Liebe gibt. Dein Erbarmen wird ewig sein, und ich bin der lebende Beweis.

Komm, hör mal hin,
bevor die Stimme der Angst
als schmerzliche Kunde
ruft zur letzten Ruh
eine schwermütige Jungfrau!
Wir sind nur ältere Kinder, meine Liebe,
die bangen vor der ewigen Wiege.

Draußen der Frost,
der verhüllende Schnee,
die wild tobenden Stürme –
in der rötlichen Glut des Feuers
und der Kindheitsglück-Behaglichkeit
prägt euch die Magie der Worte ein:

Du sollst nicht fürchten den wütenden Sturm.

Aus: Alice hinter den Spiegeln, Lewis Carroll

Rosen sind rot
Veilchen sind blau
Zombies sind tot
und du bald auch

Frosty, Zombiejäger

EINE VORBEMERKUNG VON ALI

Checkt das mal: Ich bin erst achtzehn, kann aber schon den coolsten Lebenslauf aller Zeiten aufweisen!

Ziele: Die ganze Welt vor den zerstörerischen Kräften des Bösen retten.

Fähigkeiten: Einblick ins Geisterreich; den eigenen Geist aus der Körperhülle lösen und mich in einer Geschwindigkeit fortbewegen, von der andere nur träumen können; die Erinnerungen eines Menschen mit einer einzigen Handbewegung verdecken; die Zukunft vorhersagen. Ach, und Energieschübe produzieren, die Zombies in der Luft schweben lassen.

Jawohl. Zombies gibt es. Damit müsst ihr leben.

Ich bin eine Zombiejägerin. Auch wenn es noch andere Z-Jäger auf dieser Welt gibt, ich bin einzigartig. (Was ist? Wenn es stimmt, ist es keine Prahlerei.)

Zwei Dinge, die wir alle können? Allein durch Gedankenkraft ein Feuer in uns in Gang setzen – ohne uns selbst zu verbrennen – und dann mit einer einzigen Berührung unsere untoten Feinde in Schutt und Asche verwandeln.

Kein Neid, bitte!

Nur zur Information: Richtige Zombies sind anders als alles, was ihr in Filmen gesehen oder in Büchern gelesen habt. Es sind Geister, die nur von Geistern bekämpft werden können. Auf gleicher Basis. Sie gieren nicht nach Blut und Hirnmasse, sondern nach dem Wichtigsten, das sie verloren haben: der Essenz des Lebens. Meines und eures Lebens.

Sie sind erbarmungslose Düsternis und wir strahlendes Licht.

Aber okay, okay, zurück zu mir. Ich werde nicht auf meine anderen preiswürdigen Qualitäten zu sprechen kommen … wie zum Beispiel meinen Killerinstinkt. Meinen schwarzen Humor. Oh, oh, außerdem die Tatsache, dass ich Cole Holland für mich gewonnen habe, den bösesten bösen Jungen, den alle Mädchen aus Bama – und wahrscheinlich der ganzen Welt – gern gezähmt hätten. Nein, das werde ich nicht erwähnen. Dafür bin ich zu bescheiden.

Trotz meiner unglaublichen Unglaublichkeit gibt es eins, das ich nicht geschafft habe. Und diese Unfähigkeit zerreißt mich innerlich fast.

Ich konnte meinem Freund Frosty nicht helfen.

Ich habe es versucht. Und wie ich es versucht habe. Vor vier Monaten hat meine beste Freundin und Frostys geliebte Kat Parker das Undenkbare getan und … und ist gestorben. Hat diese Erde verlassen. Den Löffel hier unten abgegeben.

Himmel noch mal, es ist nicht leicht, so was auszudrücken, oder?

Die Agenten – Overalls, wie wir sie nennen – von Anima Industries, der Firma, die entschlossen daran arbeitete, Zombies für ihre Zwecke zu nutzen, haben unser Haus bombardiert und meine Freundin erschossen. (Sollen sie auf ewig verrotten wie ihre Kreaturen!)

Frosty hat jede schmerzvolle Sekunde von Kats Tod miterlebt, unfähig, sie zu retten, und das hat ihn verändert. Den wunderbar respektlosen, sarkastisch humorvollen Jungen, den ich einst bewunderte, gibt es nicht mehr. Jetzt ist er trübsinnig und launisch und wird immer trübsinniger. Im einen Augenblick will er, dass ich meine Fähigkeiten auf ihn anwende und seine Erinnerungen verdecke, im anderen flucht er und beschimpft mich, ich solle nicht einmal daran denken, dem zuzustimmen. Er verschwindet für Tage, manchmal sogar für Wochen, ohne sich bei uns zu melden und uns wissen zu lassen, ob es ihm gut geht. Er trinkt den ganzen Tag, vor allem in den Nächten, und landet dann mit allen möglichen Frauen im Bett. Danach sind sie Müll für ihn wie gebrauchte Taschentücher. Ein Mal und Schluss. Drüber und weg. Abschleppen und loswerden.

Ich weiß, dass er sich dafür hasst. Aber wie kann ich ihm helfen, ihm wirklich helfen, wenn ich es selbst kaum schaffe, über den Schmerz hinwegzukommen?

Es tut immer noch weh, tief in meinem Inneren ist die Trauer ständig anwesend, wie die Backgroundmusik des Films, der in meinem Kopf abläuft. Ein Film in Endlosschleife – die Erinnerung an die Zeit, die ich mit meiner besten Freundin erlebt habe, dem coolsten Mädchen, das ich je gekannt habe.

Das erste Mal, als wir uns sahen. „Ich heiße Kathryn, aber alle nennen mich Kat. Und mach bitte keine Katzenwitze, sonst muss ich dir wehtun. Mit meinen Krallen. Tatsache ist, dass ich seit langer Zeit kein Miau mehr sage.“

Mein erster Tag in der neuen Schule. „Na, so was, seht mal, was die Katze angeschleppt hat. Ist das nicht verrückt? Doch jetzt mal ernsthaft, war nur ein üblicher brillanter Witz von mir. Ich bin ja so froh, dass du hier bist!“

Als sie mir zum ersten Mal gestand, dass sie krank ist. „Meine Nieren sind nicht ganz in Ordnung. Ich muss zur Dialyse. Also ziemlich oft.“

Unser erster Streit. „Ich habe dir von meiner Krankheit erzählt, aber du verrätst mir einfach nicht, was mit dir los ist! Dabei weiß ich, dass irgendwas abgeht. Du verbringst immer mehr Zeit mit Cole. Jedes Mal hast du blaue Flecken, und ich hätte wetten können, dass er dich schlägt, wenn nicht alle anderen, mit denen du herumhängst, genauso aussehen würden. Ich weiß, dass du irgendwo mitmachst, wo Frosty auch mitmacht, und du verheimlichst mir was.“

Wir haben uns schnell wieder vertragen, das haben wir immer. Denn wir waren, wenn auch keine richtigen Schwestern, so doch Schwestern im Herzen. Aber sosehr ich diese Flashbacks von unserer gemeinsamen Zeit auch liebe, ich wünschte, sie würden aufhören. Meine Trauer ist fast nicht auszuhalten. Und wenn ich schon so empfinde, obwohl Cole mich tröstet – und obwohl Kats Geist mich ab und zu besucht –, muss Frosty in ein tiefes Loch von nie endender Verzweiflung gefallen sein. Seine einzige Quelle des Trosts ist ihm genommen worden.

Verdammt! Ich muss mir mal kurz die Augen reiben. Ist wohl ein Staubkorn reingekommen … oder irgendwas.

Eine unbestreitbare Tatsache: Frosty liebt Kat, wie ich Cole liebe. Allumfassend, verzehrend, ohne etwas zurückzuhalten – für immer. Ich hörte, wie er sagte, er habe nichts, für das es sich zu leben lohne, und dass der Tod ihm Frieden bringen würde.

Er hat sich nie mehr geirrt. Und er kann auch nicht so weitermachen. Ich habe einen Blick in die Zukunft werfen können, und das war nicht schön.

Das Schlimmste liegt noch vor uns.

Wir dachten, wir hätten Anima besiegt. Da haben wir falsch gedacht. Wie verdammt traurig ist das? In unserem letzten Kampf haben wir sechs unserer engsten Freunde verloren und konnten uns nur damit trösten, dass Anima Industries zerstört ist und keiner lebenden Seele mehr ein Leid zufügen kann. Wir hätten ahnen müssen, dass die Firma wieder aus dem Grab aufersteht, genauso wie die Zombies, mit denen dort experimentiert wurde.

Wir Zombiejäger müssen zusammenhalten. Sonst gehen wir einer nach dem anderen unter.

Wir müssen … Autsch! Kat! Habe ich vergessen zu erwähnen, dass sie jetzt eine Zeugin ist? Als sie starb, ist ihre Seele aufgestiegen. Sie lebt nun in der Geisterwelt mit meiner leiblichen Mutter Helen und meiner kleinen Schwester Emma. Sie passen auf uns auf, spornen uns an und helfen uns sogar, soweit sie können. Manchmal erhalten sie auch die Erlaubnis, mich zu besuchen.

Ich höre und sehe sie, doch das ist nicht allen Zombiejägern möglich. Ja, ich habe die wundervolle Tat vollbracht und meine Fähigkeit an alle Mitglieder unserer Gruppe weitergegeben – noch eine Spezialität, die ich meinem Lebenslauf beifügen kann –, aber bald darauf haben alle anderen ihre Fähigkeiten wieder verloren. Einfach so, wumm, weg waren sie.

Emma sagte mal mit geheimnisvoller Stimme zu mir: „Es kann nur eine geben.“ Dann brach sie in Gelächter aus und fügte hinzu: „Ihr Zombiejäger … ihr agiert in Geistform, in der Selbstvertrauen die einzige Kraftquelle ist. Für manche Fähigkeiten braucht man mehr davon als für andere. Und im Moment ist nur deins stark genug, sodass du uns siehst. Ja, wir können anderen helfen und uns ihnen durch unser eigenes Selbstvertrauen zeigen, aber dafür benötigen wir die Erlaubnis des Allerhöchsten Richters.“

Und Kat schnippt jetzt mit den Fingern vor meinem Gesicht. Sie hört nicht auf zu reden, obwohl ich ihr mindestens hundert Mal gesagt habe, sie sei wahrscheinlich die schlimmste Zeugin überhaupt, ständig auf sich bezogen … Autsch! Sie hat eine Möglichkeit gefunden, meinen Geist zu kneifen, ohne dass ich meinen Körper verlassen habe.

Sie besteht auf dem Zusatz, dass wir Zombiejäger alles Notwendige tun, um Frosty zu helfen. Und mit „allem Notwendigen“ meine ich „alles Notwendige“. Wir müssen einen Weg finden, ihn zu erreichen, bevor es zu spät ist. Und das werden wir auch.

Hast du das gehört, Kat? Das werden wir!

Wir streben nach dem Besten … sind aber auf das Schlimmste vorbereitet.

Autsch! Und retten Frosty. Ja, ja! Ich hab’s verstanden. Alle haben’s verstanden.

Lasst euer Licht strahlen.

Ali Bell

Autsch! Und Kat Parker

1. KAPITEL

Frosty

Der Tod hat angeklopft, aber ich war nicht zu Hause

Ich krieche aus dem Bett wie eine dieser wandelnden Leichen und reibe mir die zugekleisterten Augen. Hinter meinen Schläfen hämmert es, und ich habe einen Geschmack im Mund, als hätte sich da drinnen irgendwas Pelziges eingenistet und Kinder auf die Welt gebracht, bevor es abgekratzt ist. Auf dem Weg ins Bad, wo ich mir die Zähne putzen und mit literweise Mundwasser spülen will, stelle ich fest, dass ich hier fremd bin. Ohne auf den Schwindel zu achten, der mich plötzlich überfällt, lasse ich den Blick durch das Schlafzimmer schweifen. Blümchenbilder hängen an rosa Wänden, aus dem überdimensionalen Kleiderschrank quellen funkelnde Tops und Röcke, eine Kommode ist mit allen möglichen Schminkutensilien übersät.

Nicht direkt mein Stil.

Ein verschlafenes Seufzen vom Bett her lässt mich zurückblicken, und schon holt mich die Erinnerung wieder ein. Ich habe bei einer Frau übernachtet – der aktuellsten in einer langen Reihe von One-Night-Stands –, die ich aus einem einzigen Grund aufgerissen habe: weil sie Kat ähnelt. Diese spezielle Eroberung hat dunkles Haar und sonnengeküsste Haut … so dachte ich jedenfalls. Jetzt, im grellen Morgenlicht, muss ich feststellen, dass die Haare nicht dunkel genug sind und die Haut eher von der Sonne geprügelt als geküsst aussieht.

Mir zieht sich der Magen zusammen, automatisch balle ich die Hände zu hammerharten Fäusten. Normalerweise mache ich mich so schnell wie möglich aus dem Staub, nachdem der Akt vorbei ist. Nehme mir gerade noch Zeit, um den Reißverschluss meiner Hose zu schließen, bevor ich abhaue. Was soll ich sagen? Ich bin ein echtes Arschloch. Wenigstens bin ich auf meinem Gebiet erstklassig. Das zählt doch was, oder nicht?

Es widert mich an, was ich tue, aber ich werde nicht damit aufhören. Ich glaube, das könnte ich gar nicht. Nach ein paar Whiskys kann ich mir einbilden, die Frau, mit der ich herummache, ist meine süße kleine Kitty Kat. Ich berühre sie wieder, ihr gefällt es, sie bettelt nach mehr, und alles scheint in Ordnung zu sein, weil wir für immer zusammen sein werden. Ich stelle mir vor, wie sie sich nachher an mich kuschelt und Sachen sagt wie: „Du bist der glücklichste Typ der Welt. Eigentlich hast du mich gar nicht verdient, aber mach dir keine Sorgen, das hat keiner.“ Ich würde lachen, weil sie so albern und so anbetungswürdig ist und meine Welt vollkommen im Lot. Am nächsten Morgen wird sie mich auffordern, mich bei ihr zu entschuldigen, weil ich in ihren Träumen Mist gebaut habe.

Sie wird mein Leben lebenswert machen.

Dann wird es Morgen, und mir wird klar, dass nichts von allem passiert, weil sie nicht mehr lebt und ich der Versager bin, der sie nicht hat retten können. Diese Tatsache quält mich ständig. Aber ich hab’s verdient, gequält zu werden. Es ist richtig, dass ich bestraft werde.

Kat hat es verdient, dass ich ihr bis zum Ende treu bleibe – bis zu meinem Ende. Und dieser Mist? Ich trample auf der Erinnerung an sie herum, indem ich mit Frauen ins Bett gehe, die ich nicht kenne, die ich nicht mal mag, und ärgere mich darüber. Sie sind nicht meine Kat, sie werden es niemals sein, und sie haben kein Recht, sich an Kats Eigentum zu vergreifen.

Zur Hölle. Trotzdem haben sie was Besseres verdient.

Was ich hier tue … ist nicht richtig. Das ist echt krankhaft. So ein Typ bin ich gar nicht. Nur Arschlöcher verhalten sich so, vögeln herum und machen sich aus dem Staub. Irgendwann in einem früheren Leben hätte ich so einem Typen wie mir eine Abreibung verpasst.

Fragt mich mal, ob mich das interessiert.

Bevor mein aktueller Fehltritt aufwacht, sammle ich meine verstreuten Klamotten auf und ziehe mich in Windeseile an. Mein Hemd ist zerknittert, an einer Stelle aufgerissen, voller Lippenstift und mit Whisky bekleckert. Ich mache nicht mal meine Hose richtig zu, lasse die Schnürsenkel der Kampfstiefel lose. Ich sehe aus wie einer, der ich tatsächlich bin: ein verkatertes Stück Mist, das auch als Zombie durchgehen könnte. Nachdem ich die Tür nach draußen gefunden habe, stelle ich fest, dass ich mich im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses befinde. Unten werfe ich einen Blick über den Parkplatz, kann aber nirgends meinen Truck entdecken.

Wie zum Teufel bin ich hierhergekommen?

Ich erinnere mich, dass ich in einem Klub war und ein Glas nach dem anderen getrunken habe, mit einer Brünetten tanzte, wieder ein paar Gläser kippte und … ja, okay, mich in ihren winzigen Wagen gequetscht habe. Ich war zu besoffen, um zu fahren. Jetzt muss ich wohl zum Klub zurücklaufen, denn auf keinen Fall werde ich meinen One-Night-Stand wecken, damit sie mich fährt. Dann müsste ich Fragen über meine nicht existierenden Absichten beantworten.

Ich gehe die Straße hinunter. Die Luft ist wärmer geworden, der Winter verabschiedet sich endgültig, um dem Frühling Platz zu machen. Die Sonne geht auf und färbt den Himmel in Gold- und Pinktöne. Das ist einer der schönsten Anblicke, die ich je gesehen habe.

Scheiß drauf.

Die Welt sollte vor Trauer um einen verlorenen Schatz weinen. Zum Teufel, sie sollte Rotz und Wasser heulen.

Wenigstens muss ich mir gerade keine Sorgen machen, dass ich von Zombies angegriffen werden könnte. Diese Plage der Menschheit schleicht sich normalerweise nur nachts heraus, das helle Sonnenlicht ist für diese Monster nicht erträglich.

Ich komme an eine Tankstelle und kaufe mir eine Zahnbürste, Zahnpasta und eine Flasche Mineralwasser. Auf der Toilette kümmere ich mich um dieses pelzige Ding samt Nachwuchs, das immer noch in meinem Mund lauert. Langsam fühle ich mich wie ein Mensch.

Wieder draußen, laufe ich ein bisschen flotter. Je eher ich zu meinem Auto komme, desto schneller kann ich …

„Was machst du denn hier, Hübscher?“, ruft mir ein Typ zu. Seine Freunde grölen, als hätte er was äußerst Einfallsreiches von sich gegeben. „Willst du mal ’nen richtigen Kerl kennenlernen?“

… nach Hause fahren.

Ich befinde mich in einem Viertel von Birmingham, Alabama, das die meisten Kids wenn möglich nicht betreten, weil hier eine hohe Kriminalitätsrate herrscht. Sie haben Angst in den Straßen mit von Graffiti besprühten Häusern, von denen der Putz abfällt, mit Autos, an denen die Radkappen und Reifen fehlen. Sie trauen sich nicht, durch die Gassen zu laufen, in denen Drogenhandel und Prostitution auf der Tagesordnung stehen und hier und da auch Raubüberfälle passieren. Ich halte den Blick gesenkt, lasse die Arme nach unten hängen. Nicht weil ich Angst habe, sondern weil ich in meiner gegenwärtigen Laune nicht übel Lust zu kämpfen habe und dabei womöglich jemanden umbringen könnte.

Als Zombiejäger bin ich gut genug trainiert, um einen „richtigen Kerl“ so weit zu bearbeiten, dass er sich zusammenkauert und nach Mami jammert. Mir eine Gruppe von Punk Kids vorzunehmen oder auch Gangmitglieder wäre wie Fische in einer Tonne abschießen – mit einem Raketenwerfer.

Ja. Ich habe so ein Ding, tatsächlich sogar zwei. Aber ich bevorzuge meine Dolche, weil ich den Gegner lieber im Nahkampf fertigmache.

Mein Handy vibriert. Ich ziehe das Telefon aus der Tasche und stelle fest, dass mein Display von Cole, Bronx und Ali Bell, Coles Partnerin und früher Kats beste Freundin, vollkommen zugetextet ist. Sie wollen wissen, wo ich bin und was ich mache, ob ich bald mal vorbeikomme. Wann werden sie kapieren, dass ich es nicht ertrage, mit ihnen zusammen zu sein? Sie haben ein perfektes Leben wie im Bilderbuch – ein Leben, wie ich es nicht habe und nie mehr haben kann. Sie genießen das Happy End, von dem ich seit der achten Klasse träume – als Kat Parker am ersten Schultag nach den Sommerferien in die Asher Highschool kam. Innerhalb von Sekunden war ich diesem Mädchen verfallen.

Wie Cole und Ali konnten wir nie die Hände voneinander lassen. So wie Bronx und seine Freundin Reeve beteten wir den Boden an, den der andere betreten hatte. Jetzt bleiben mir nichts als Erinnerungen.

Nein, das stimmt nicht. Dazu kommen noch der Schmerz und die Qualen.

Ein Tier von einem Typ tritt plötzlich in mein Blickfeld. Ich sage „Tier“, weil er einen Schatten wirft, der etwa meiner Größe entspricht. Ich bin fast eins neunzig, und meine Muskeln sind auch nicht zu verachten.

Wahrscheinlich glaubt der Typ, er wäre tough. Offensichtlich erwartet er, dass ich mir in die Hose mache und um Gnade bettle. Na, dann viel Glück. Wenn er sich nicht vorsieht, wird er nach einer Auseinandersetzung mit mir nicht nach Hause laufen – sondern kriechen. Aber als ich meinen Blick von seinen Stiefeln löse und den Kopf hebe, verschwindet mein Kampfgeist.

Cole Holland steht leibhaftig vor mir. Mein Freund und furchtloser Anführer. Seit der Grundschule kenne und liebe ich ihn wie einen Bruder. All die Jahre haben wir Seite an Seite gekämpft, wurden verletzt und haben uns gegenseitig wiederholt gerettet. Ich würde mein Leben für ihn geben und er seins für mich.

Zu dumm für ihn, dass ich nicht in der Stimmung bin, um mich mal wieder von ihm aufmuntern zu lassen.

„Tu’s nicht“, sage ich. „Lass es einfach sein.“

„Was sein lassen? Mich mit meinem besten Freund zu unterhalten? Wie wär’s denn, wenn du einfach mal keinen Scheiß redest?“

Ja, wie wär das? „Wieso wusstest du, wo ich bin?“

„Wegen meiner erstaunlichen Superdetektivfähigkeiten, warum sonst?“

„Wenn ich raten müsste, würde ich aufs GPS meines Smartphones tippen.“ Fick die neuen Errungenschaften der Technologie.

Coles Augen sind violett und unglaublich cool, vor allem, wenn sie im Sonnenlicht leuchten – aber sein Blick ist mir ein bisschen zu spitzfindig, während er meinen ramponierten Hemdkragen mustert.

„Lippenstift?“ Er zieht die Augenbrauen hoch.

„Ich bin auf der Suche nach meinem perfekten Farbton“, erwidere ich ausdruckslos.

„Vergiss das Magenta. Deine olivfarbene Haut schreit nach Dunkelrot.“

Er ist noch schlagfertiger als ich.

Mein altes Ich hätte das seelenruhig gehandhabt. Mein neues Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden. „Danke für den Tipp. Ich werd’s mir merken.“ Ich versuche, an ihm vorbeizugehen.

Er stellt sich mir in den Weg. „Komm schon.“

Cole gibt mir einen Klaps auf die Schulter; wenn ich schwächer wäre, hätte der mich wahrscheinlich auf den Betonboden befördert.

„Lass uns was essen. Sieht aus, als könntest du jetzt eher was Handfestes vertragen als einen Drink.“

So wenig Lust ich auch habe mitzugehen, ich will mich nicht mit ihm streiten. Kostet mich zu viel Energie. Sein Jeep ist am Straßenrand geparkt, und ich schiebe mich auf den Beifahrersitz, ohne zu protestieren. Darauf folgt eine zehnminütige Fahrt. Glücklicherweise versucht er nicht, mir ein Gespräch aufzudrängen. Was gibt es auch zu sagen? Die Situation ist, wie sie ist, und nichts kann sie ändern.

Wir landen beim Hash Town, und als ich durch die Tür trete, wünsche ich sofort, ich hätte mich doch gesträubt. Ali, Bronx und Reeve warten am hinteren Tisch auf uns. Reeve und ich standen uns nie besonders nahe; sie war Kats Freundin, und das Zombiejagen ist, wie bei Kat, nicht ihr Ding. Sie kann Zombies weder hören noch sehen, aber nachdem sie uns unzählige Male hat kämpfen sehen, akzeptiert sie es im Gegensatz zu anderen Normalsterblichen. Die Monster sind Realität, und sie leben direkt unter uns.

Reeve hat ihren Dad – das letzte Familienmitglied, das ihr geblieben war, und unser wohlhabendster Sponsor – am selben Tag verloren wie ich Kat. Zum ersten Mal überkommt mich ihr gegenüber ein Gefühl der Nähe. Vielleicht ist diese erzwungene Begegnung nicht das Schlechteste.

Als sie mich allerdings zur Begrüßung anlächelt, kehrt mein anfängliches Unwohlsein zurück. Sie hat dunkles Haar und noch dunklere Augen, und viele Jahre lang hatten Kat und sie so getan, als wären sie Halbschwestern. Jetzt gerade tut es einfach weh, sie zu sehen.

Wem mache ich was vor? Alles tut weh.

„Soll das eine Einmischung sein?“ Ich nehme einen der beiden freien Stühle und gebe der Kellnerin ein Zeichen, mir Kaffee zu bringen. Den werde ich brauchen.

„Nein“, sagt Ali. „Wäre aber offensichtlich notwendig. Du siehst aus wie Hundescheiße, die ein bisschen zu lange in der Sonne gebraten wurde.“

Sie hat schon immer ungefiltert alles rausgelassen, was ihr durch den Kopf geht. Eine schlechte Angewohnheit, die wegen ihrer Weigerung zu lügen noch schlimmere Auswirkungen hat. Und eine Garantie dafür bietet, dass aus jeder Unterhaltung unweigerlich eine Schlacht wird. Aber das ist okay. Die schonungslose Wahrheit ziehe ich höflicher Schmeichelei jederzeit vor.

Cole, der neben ihr sitzt, gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Daraufhin lehnt sie sich an ihn, eine instinktive, völlig natürliche Reaktion.

So war das bei Kat und mir auch immer.

Stechender Schmerz schießt mir durch die Brust, und ich muss mich zusammenreißen, um das Gesicht nicht zu verziehen.

„Die gute Nachricht ist, dass andere so aussehen, wenn sie besonders gut drauf sind“, erwidere ich.

„Oh, mein Freund“, sagt Ali kopfschüttelnd, „ganz bestimmt hast du noch nicht in den Spiegel gesehen.“

Ich zucke mit den Schultern. „Na, wenigstens siehst du gut aus.“

„Das denke ich auch.“

Das hört sich genauso an, als hätte Kat geantwortet. Wir erstarren beide.

Diesmal habe ich meinen Gesichtsausdruck nicht im Griff. Noch schlimmer, ich brauche einen Moment, um meine Atmung zu beruhigen. Die Unterhaltung kommt langsam wieder in Gang, freundschaftliche gegenseitige Beleidigungen machen die Runde.

Ali beugt sich zu mir. „Ich vermisse sie auch“, flüstert sie.

Ich zucke nur wieder mit den Schultern. Das ist alles, was ich im Augenblick fertigbringe.

Rein äußerlich ist Ali genau das Gegenteil von Kats Typ. Sie ist ziemlich groß, hat langes weißblondes Haar, und ihre Augen sind von einem unglaublich hellen Blau. Kat ist – verdammt, sie war – klein und kurvig mit dunklem Haar und faszinierenden braunen Augen, in denen eine perfekte Mischung aus Grün und Gold schimmerte.

Im Märchen wäre Ali die unschuldige Schneeprinzessin und Kat die verführerische böse Königin.

Es könnte keine geben, die schöner ist als meine Kat. Oder geistreicher. Oder witziger. Oder anbetungswürdiger. Und wenn ich meine Gedanken weiter in diese Richtung schweifen lasse, werde ich dieses Gebäude auseinandernehmen, Stein für Stein.

Die Kellnerin erscheint endlich mit der Kaffeekanne und füllt meine Tasse.

„Deine Bestellung kommt in wenigen Minuten, Süßer.“

Ich bekomme einen freundlichen Klaps auf die Schulter, bevor sie sich wieder davonmacht.

„Wir waren so frei, für dich zu bestellen“, erklärt mir Reeve. „Zwei Spiegeleier, vier Scheiben Schinken, zwei Bouletten, zwei Puffer und ein Stapel Pekanpfannkuchen.“ Sie knabbert an ihrer Unterlippe. „Wenn du noch was dazu möchtest …“

„Ich bin sicher, dass ich mit dem bisschen auskomme.“ Ich bin sowieso nicht hungrig. „Wie läuft die Z-Jagd?“

„Besser denn je.“ Ali trinkt einen Schluck Orangensaft. „Erklär ihm, was du vorhast“, sagt sie zu Reeve.

Reeve errötet. „Ich habe mithilfe der Aufzeichnungen meines Dads und mit Alis Blutproben ein neues Serum entwickelt.“

Ali schießt förmlich von ihrem Stuhl hoch. „Es ist der Hammer, weil sie – ein Tusch bitte! – weil sie es geschafft hat, die Essenz meines Feuers herauszufiltern und zu nutzen. Wir impfen die Zombies damit; das wirkt, als hätten sie mich gebissen. Innerhalb von Minuten sind sie praktisch reingewaschen, weil ich nämlich so unglaublich bin … was denn?“ Sie sieht Cole an, der ihr in die Seite gestoßen hat. „Du weißt genau, dass es stimmt. Wie auch immer. Wenn sie vollständig gereinigt sind, werden die Zs zu Zeugen und schweben ins Jenseits.“

„Es ist schon wie ein Wunder, dem man zusieht“, sagt Cole. Alle Zombiejäger können geistiges Feuer produzieren – eine innere Flamme –, die einzige Waffe, die für Zombies wirklich endgültig tödlich ist. Doch nachdem die Firmenchefin von Anima mit Ali experimentiert und sie mit ungetesteten Drogen abgefüllt hatte, entwickelte Ali die Fähigkeit, Zombies zu retten. Eine Fähigkeit, die sie auf die anderen Zombiejäger übertrug, indem sie diese mit ihrem Feuer berührte.

Mehrmals hat sie mir angeboten, mich ebenfalls teilhaben zu lassen, ich habe jedoch abgelehnt. Ich bin nicht daran interessiert, meine Feinde zu retten. Zombies haben Kat gebissen. Das bedeutet, dass ich sie wegen des Gifts sowieso verloren hätte, auch wenn sie nicht durch eine Bombe und den Kugelhagel umgekommen wäre. Aber was mich wirklich umbringt? Das Gift hat dafür gesorgt, dass sie einen noch viel qualvolleren Tod ertragen musste, weil sich ihre Schmerzen dadurch potenziert hatten. Deshalb müssen Zombies vernichtet werden.

Die andere Seite der Medaille? Ich leide nicht nur, wenn ich gebissen wurde, ich leide unglaublich. Unerträglicher Schmerz frisst mich fast auf; ich werde vom Drang, alles in meiner Reichweite zu zerstören, völlig überwältigt. Ich kann auch nur durch das Feuer eines anderen Zombiejägers oder mit einer Spritze mit dem Antiserum geheilt werden – und ich muss innerhalb von zehn Minuten eins von beidem bekommen, ansonsten bin ich erledigt.

„Höre ich da ein Aber heraus?“, frage ich.

Alis Aufregung schwindet wieder. Mit einem Finger streicht sie über den Rand ihres Glases. „Der Vorrat ist begrenzt, deshalb müssen wir uns öfter von den Zs beißen lassen. Je mehr wir gebissen werden, desto länger brauchen wir, um uns zu erholen.“

„Das scheint logisch. Je mehr Bisse, desto mehr Gift, das der Geist reinigen muss.“

„Noch einen Kaffee?“, erkundigt sich die Kellnerin.

Ali und Reeve schrecken hoch, als sie plötzlich ihre Stimme neben sich hören. Ich nicke einfach. Seit ich durch die Tür ins Café kam, bleibe ich in Alarmbereitschaft. Die Kellnerin habe ich die ganze Zeit im Blick gehabt. Die Mädchen, beide relativ neu in unserer Runde, müssen noch einiges lernen.

„Eure Bestellung ist fertig. Ich bring sie gleich“, sagt die Kellnerin, nachdem sie nachgeschenkt hat. Sie entfernt sich wieder, ohne uns diesen „Ihr-seid-echt-Punks“-Blick zuzuwerfen. Wir sind eben Kids (eigentlich) und haben festgestellt, dass alle annehmen, wir reden über Videospiele.

„Wir müssen eine andere Möglichkeit finden, um uns und den Zs zu helfen“, sagt Bronx. „Nach einem Kampf bin ich für eine Woche geschafft.“

„Er fällt im Grunde genommen ins Koma.“ Reeve legt die Wange an seine Schulter, und er streicht ihr unwillkürlich durchs Haar. „Nicht mal Liebesküsse können ihn erwecken“, fügt sie trocken hinzu.

Cole grinst. „Dann musst du irgendwas falsch machen. Vielleicht solltest du nicht seine Lippen küssen, sondern …“

Ali hält ihm den Mund zu. „Wehe, du redest weiter!“

Er zieht ihre Hand weg und knabbert an ihren Fingern. „… sie beißen“, sagt er, um den Satz zu beenden.

Alle lachen. Alle außer mir. Ich rutsche unbehaglich auf meinem Sitz hin und her und werfe einen Blick zur Tür. Wäre es zu unhöflich, jetzt abzuhauen?

Das Essen kommt ein paar Sekunden darauf, die Kellnerin stellt vor jeden einen dampfenden Teller. Meine Freunde hauen rein, als hätten sie monatelang gehungert. Während ich gestern Nacht Kats Andenken beschmutzt und es in Alkohol ertränkt habe, waren die anderen garantiert auf Zombiejagd und in Biss-Kämpfe verwickelt gewesen. Alis Ärmel ist ein Stück hochgerutscht und gibt den Blick auf heftige Blutergüsse frei, direkt über dem Tattoo mit dem weißen Kaninchen.

Auch Cole und Bronx sind voller Blutergüsse, der Anblick versetzt mir einen Schlag. Sie sind ohne mich in den Kampf gezogen. Sie hätten sich ernsthaft verletzen können oder Schlimmeres. Diese Zombieerrettung ist was Neues und genauso unerprobt wie die Drogen, die sie Ali verabreicht haben. Das heißt, wir wissen nicht, was alles passieren kann. Irgendwas hätte fürchterlich schieflaufen können, und ich war nicht dabei, um zu helfen.

Ich unterdrücke einen Fluch. Ich muss unbedingt die Kurve kriegen. Und zwar am besten gestern. Aber so schnell dieser Anfall von Beschützerenergie mich überfallen hat, so schnell ist er auch wieder verschwunden. Meine Freunde kommen gut ohne mich klar. Wahrscheinlich sogar besser ohne mich.

Der Griff meiner Gabel verbiegt sich.

„Also, ich habe noch mehr Neuigkeiten“, verkündet Reeve in die plötzlich entstandene Stille. „Ich habe ein Haus gekauft.“

Bronx schluckt einen Bissen von seinem roten Pfannkuchen hinunter. Er stand schon von jeher auf Süßkram, was mich immer wieder amüsiert. Mit seinem wild abstehenden grünen Haar und den vielen Piercings im Gesicht wirkt er eher wie jemand, der gern rostige Nägel und Glasscherben verdrückt.

„Es hat alles, was wir brauchen. Riesige Schlafzimmer, jedes mit eigenem Bad. Ausreichend für alle in unserer Crew und jeden, den wir rekrutieren. Es gibt einen Fitnessraum. Eine Sauna. Einen In-nenraumpool. Sogar einen Basketballplatz. Außerdem, wenn ich mich darum gekümmert habe, wird es top gesichert sein.“

Mein erster Gedanke: Kat hätte es gefallen, mit der Gruppe zusammenzuwohnen. Himmel, sie hätte auch mein kleines, spärlich möbliertes Apartment geliebt, das ich mit meinem Anteil des Treu-handvermögens von Reeves Dad bezahlt habe. Jeder hat einen Teil bekommen. Wir sind alle reicher, als wir uns jemals hätten erträumen können. Aber das Geld ist für mich genauso ein Fluch wie ein Segen. Was ich nicht mit Kat teilen kann, ist es nicht wert zu besitzen. Das betrifft auch mein erbärmliches Leben.

Ich knirsche dermaßen heftig mit den Zähnen, dass ich schon fast erwarte, ein Stück Backenzahn zu verschlucken. Als ich sie plötzlich wieder vor mir sehe, schließe ich schnell die Augen. Das Bild erscheint so klar und deutlich wie ein Film in Technicolor. Sie sitzt auf meinem Schoß, und ich spiele mit den Spitzen ihres seidenweichen Haars.

„Wenn ich nur noch zehn Tage zu leben hätte“, sagt sie, „was würdest du dann gern mit mir tun?“

Ich merke sofort, was sie beabsichtigt, weiß, dass sie mich vorbereiten will. Sie hat ihr ganzes Leben an einer Nierenkrankheit gelitten und ahnte, dass es bald vorbei sein würde. „Dich festhalten und nie wieder loslassen.“

„Wie langweilig.“

„Dich an mein Bett fesseln.“

Ihre Mundwinkel zucken. „Schon besser.“

Plötzlich ernst, sage ich: „Mit dir sterben.“ Diese Worte waren mit jeder Faser meines Seins so gemeint.

Sie hockt sich vor mich hin und umfasst mein Gesicht, damit ich sie ansehe. Als würde ich jemals den Blick von ihr abwenden. Wenn sie in der Nähe ist, sehe ich nichts anderes.

„Du wirst leben, Frost. Du wirst aufs College gehen und neue Freunde finden, Sport treiben und, ja, dich mit anderen Mädchen treffen.“

„Ich würde niemals irgend so einen Sch…wachsinn machen.“ In ihrer Gegenwart will ich nicht fluchen. Ich möchte keinen schlechten Einfluss ausüben.

„Du wirst jemand anders kennenlernen, jemand Besonderes, und sie …“

„Es gibt niemand anders“, unterbreche ich sie. Ich bin diesem Mädchen von der ersten Minute an verfallen.

Sie dreht den Kopf zur Seite, die sanfte Brise weht ein paar Strähnen ihres Haars durcheinander. „Garantiert wirst du mit ihr nicht so viel Spaß haben wie mit mir, und eure Kinder werden nicht ansatzweise so gut aussehen, wie unsere es getan hätten. Aber ich bin sicher, dass sie dich glücklich machen wird … irgendwann.“

Das wird nicht passieren. Niemals. „Du bist diejenige für mich, Kitten, das wird sich nie ändern.“

Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter und holt mich in die Gegenwart zurück. Ich blicke in Coles violette Augen. Die Besorgnis in seinem ruppigen Gesicht macht mich fast fertig. Er liebt mich. Ich weiß, dass er mich liebt, und er will nur das Beste für mich. Aber ich kann das Beste nicht haben, und ich werde nicht so tun, als gäbe es noch irgendwas anderes, für das es sich zu leben lohnt. Okay, was anderes als Rache.

„Komm mit, um dir das Haus anzusehen“, sagt er. „Such dir ein Zimmer aus.“

Ein Zimmer, das ich nicht mit Kat bewohnen würde. „Ich habe schon eine Wohnung.“ Ich atme tief durch … ein, aus, aber ich kann mich nicht beruhigen. Als ich aufstehe, schlittert mein Stuhl nach hinten. „Ich muss jetzt gehen.“

Ein Muskel zuckt unter Coles Auge.

„Wohin?“

Irgendwo anders hin, wo auch immer, nur weg. „Ich … wir sehen uns dann.“ Ohne einen Blick zurückzuwerfen, marschiere ich aus dem Café.

2. KAPITEL

Milla

Einschenken und auslöffeln

Ich hocke wie ein Gargoyle auf dem Grabstein und warte darauf, dass sich die Geister der kürzlich Verstorbenen erheben. Dass es sich um die Guten, die Zeugen, handelt, brauche ich nicht zu befürchten. Die Zeugen verlassen ihren Körper im Moment des Sterbens und steigen auf. Zombies verharren gewöhnlich noch ein paar Stunden oder sogar ein, zwei Tage, in seltenen Fällen eine ganze Woche. Fragt mich nicht, warum das so unterschiedlich abläuft. Zombiephysiologie ist nicht unbedingt meine Stärke. Alles, was ich weiß, ist, dass diese Kreaturen Zeit brauchen, um Kraft für ihren Auftritt zu schöpfen.

Sie gieren immerfort nach dem, was sie verloren haben, dem Wertvollsten auf dieser Welt. Leben.

Ich habe den Polizeifunk abgehört, bin in Krankenhäuser geschlichen, um die Listen der Verstorbenen einzusehen, ich suche auf Friedhöfen nach Gräbern von Leuten, die am Antifäulnis-Syndrom gestorben sind. In den vergangenen Tagen waren es sechs, und alle sechs werden zu funkelnagelneuen Zombies mutieren.

AS nennen die Ärzte den Tod durch Zombiebiss. Nicht dass irgendwelche Experten im Medizinbereich tatsächlich wissen, dass die Infusion des Bösen der Grund dafür ist, dass sich Hautpartien des Opfers schwarz färben und Eiterbeulen entstehen, während die Organe verrotten … bis ein qualvoller Tod das Leiden beendet. Nun, jedenfalls so lange, bis das eigentliche Elend beginnt. Das ewige Dasein als Untoter.

Niemand würde mir glauben, wenn ich die Wahrheit erzählte. Himmel, ich würde womöglich in einem Raum mit gepolsterten Wänden enden, vollgedröhnt mit Medikamenten. Das ist ein paar Freunden von mir passiert.

Ehemaligen Freunden.

Wie auch immer.

Mit etwas Daumendrücken werde ich heute Nacht alle sechs Zombies erledigen.

Das Vernichten von Zombies ist mein Geschäft, und wie das bei allen so ist, bin ich am zufriedensten, wenn das Geschäft gut läuft.

Und ich brauche dringend was Gutes in meinem Leben. Ich bin die am meisten gehasste Zombiejägerin des Landes. Aus triftigem Grund. Aber obwohl mich meine ehemaligen Freunde hassen, liebe ich sie immer noch, weshalb ich hier bin. Je mehr Zs ich vernichte, desto weniger müssen meine Exfreunde kämpfen. Ich möchte ihnen das Leben erleichtern – um Rivers Leben leichter zu machen.

Jahrelang hat mein Bruder mich beschützt, mich und meine …

Daran darf ich jetzt nicht denken. Es macht mich sofort so depressiv, dass ich mir wünsche, von Zombies gebissen zu werden.

So, noch mal von vorn. Jahrelang hat mein Bruder mich vor unserem gewalttätigen Vater beschützt. Er hat mich versteckt, obwohl er dafür bestraft wurde und die für mich bestimmten Schläge dann selbst bekam. Ich stehe in seiner Schuld. Weit wichtiger, ich bete ihn an. Es gibt nichts, was ich nicht für ihn tun würde.

Stehlen, töten und vernichten? Ja, ja und noch mal ja.

„Kommt schon, ihr Fleischklopse“, murmele ich. „Seht das hier als offizielle Einladung zu meiner Stiefelvorführung.“ Zu meiner Unterhaltung und okay, okay, um ein bisschen Dampf abzulassen, habe ich vor, ihnen die Fäule direkt aus dem Gehirn zu kicken.

Alles, was ich brauche, ist vorhanden. Vor Kurzem habe ich meine Körperhülle verlassen und sie am Eingang des Shady Elms Friedhofs, unter dicken Büschen verborgen, abgelegt. Abnehmender Mond und unheimliche Schatten. (Im Geistzustand wird alles mitgenommen, was ich im Normalzustand dabeihatte. Ich bin also immer noch bis an die Zähne bewaffnet und kampfbereit.)

Trotzdem muss ich vorsichtig sein. Ich darf nicht den kleinsten Kratzer abbekommen. Eine Verletzung im Geistzustand wird auf die Körperhülle übertragen, die durch unsichtbare Kräfte mit dem Geist verbunden ist, egal, wie weit beide voneinander entfernt sind. Das ist normalerweise kein Problem, aber ich bin allein und muss meine Wunden selbst versorgen. Im Grunde bin ich die schlech-teste Patientin der Welt.

Um mich herum summen und zirpen Heuschrecken und Grillen, doch die Insekten sind nicht meine einzige Gesellschaft. Ein paar Gräber entfernt steht eine Gruppe von minderjährigen Kids, sie trinken Bier und spielen Wahrheit oder Pflicht. Ganz entschieden der falsche Ort dafür. Und womöglich auch der falsche Zeitpunkt. Zombies fallen bevorzugt über uns Jäger her – wir sind wohl so was wie deren Katzenminze –, aber Normalbürger verachten sie ebenfalls nicht.

Wenn du mit dem Feuer spielst, kannst du dich verbrennen. Wie wahr.

Meine Nackenhaare stellen sich auf, ich bin voll konzentriert und halte mich ruhig. Manchmal spürt mein Geist etwas, das mein Verstand noch nicht registriert hat.

Zombies auf dem Weg nach oben?

Ich blicke mich um, entdecke aber kein Anzeichen von irgendwelchen Untoten in der Nähe. Ein weiterer störender Normalbürger? Wieder negativ. Nicht dass es was ausmachen würde. Ich könnte tanzen, singen und schreien, für die Zivilgesellschaft bin ich ein unsichtbarer Geist.

Vielleicht ein weiterer Zombiejäger, der mir zu Hilfe kommt?

Ja, träum weiter. Als Ausgestoßene aus Rivers Team bin ich für meinesgleichen so gut wie tot. Und das habe ich verdient. Wirklich. Während meiner aufrichtigen Bemühungen, meinen Bruder zu retten, habe ich schreckliche, tödliche Fehler begangen.

Wer nicht hören will, muss fühlen.

Ich drücke die Fingernägel in den Grabstein unter mir. Das ganze Objekt ist in Blutlinien getaucht, eine Chemikalie, die es ermöglicht, die Dinge der Normalwelt für die Geisterwelt spürbar zu machen. Mein Bruder hortet überall im Land Vorräte davon für den Fall eines Falles. Normalerweise hätte ich ihn angerufen und ihn um das, was ich brauche, gebeten. Er hätte mir versichert, dass ich mehr als genug bekommen könnte. Jetzt muss ich mich heimlich von seinen Vorräten bedienen.

Ein Teil von mir will sich nur noch zusammenkauern und um das trauern, was ich verloren habe. Freunde, ein Zuhause. Von den anderen akzeptiert werden, sich sicher fühlen. Eine Familie haben. Der andere Teil, der stärkere, sagt mir, ich soll es schlucken und weitermachen. Was passiert ist, ist passiert.

Außerdem habe ich ein Ziel, und das hat nicht jeder.

Lachen tönt von der Gruppe der Kids herüber. Ich nenne sie Kids, obwohl sie bestimmt nur ein, zwei Jahre jünger sind als ich. Während sie wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens damit verbringen, Spaß zu haben, bin ich damit beschäftigt, zu kämpfen, um die Welt zu retten. Ich bin neunzehn, durch meine Erfahrungen jedoch schnell reifer geworden.

„Willst du jetzt einen Rückzieher machen?“, fragt einer der Jungs die einzige Brünette aus der Gruppe. „Du kneifst?“

„Ich weiß genau, was du beabsichtigst, Mister Manipulator“, erwidert sie grinsend. „Aber du kannst mich nicht dazu bringen, was zu machen, wenn ich’s nicht will.“

„Hör auf zu quatschen und zeig ihm deine Titten“, sagt ein anderer Junge und bewirft sie mit einer Handvoll Blätter. „Ein Versprechen ist ein Versprechen.“

Die anderen glucksen.

„Zum Glück will ich es auch.“ Sie stellt sich in die Mitte der Gruppe, und während ihr Herausforderer sie mit seiner Smartphone-Lampe anleuchtet, hebt sie ihr Top, um ihre Brüste zu zeigen.

Die Jungen pfeifen und klatschen sich mit High-Fives ab. Die Mädchen buhen und stoßen die Fäuste in die Luft.

Ich will schreien: Hört auf, in der Dunkelheit zu leben, und öffnet eure Augen. Eine ganze unbekannte Welt existiert um euch herum.

Ein Schatten erhebt sich aus dem frisch aufgeworfenen Grab vor mir. Sofort vergesse ich die Kids, greife über meine Schulter und umfasse die Griffe meiner Kurzschwerter. Metall gleitet über Leder, pfeift ein wundervolles Lied, und mir läuft das Wasser im Mund zusammen beim Gedanken an einen Vernichtungskampf.

Wie bei einem Pawlow’schen Hund.

Ein weiterer Finger gräbt sich durch die Erde … bald eine ganze Hand. Die Haut hat eine graue Färbung angenommen, mein Herz hüpft vor Aufregung.

Die Kreatur setzt sich auf den Boden und schüttelt den Kopf, Erdklümpchen fliegen aus dem grau melierten Haar. Ich grinse voller Erwartung, bis ich die offenen Wunden an ihrer Stirn und den Wangen entdecke, aus denen verwesende Muskeln und zersplitterte Knochen vorscheinen. Frische Zombies erscheinen normalerweise fast menschlich und sind nur wegen der roten Augen und der grauen Haut als solche zu erkennen. Warum ist das hier anders?

Sie sieht mich an und verzieht die Lippen, sodass die gelben Zähne und dicklicher schwarzer Speichel zu sehen sind.

Mach sie jetzt fertig, stell die Fragen später.

Sie streckt die Hände nach mir aus und schnappt mit den Zähnen.

„Tut mir leid, Süße, aber ich stehe nicht auf der Karte.“ Ich springe vom Grabstein auf und lande genau an der richtigen Stelle – in ihren Armen. Verrückt vor Hunger, umfasst sie meine Taille, um mich näher heranzuziehen, doch ich schwinge bereits meine Schwerter. Die Klingen kreuzen sich an ihrem Hals, bevor ich in Gefahr gerate, gebissen zu werden. Ihr Kopf klappt zurück, schwarzer Schleim spritzt aus ihrer durchschnittenen Arterie.

Die Kids nebenan spielen weiter ihr albernes Spiel.

Trotz der Enthauptung bewegen sich der Körper und der abgetrennte Kopf des Zombies wie zuvor, Zähne schnappen nach mir, Arme versuchen, mich zu greifen. Zeit, sie für immer ruhigzustellen. Ich kämpfe lange genug gegen Untote, das Entwickeln des Feuers – meine Dynamis – fällt mir so leicht wie das Atmen. Während ich eins meiner Schwerter in die Scheide zurückschiebe und meine Hand flach auf die Brust des Zombies presse, flackern die Flammen bereits bis zu meinen Handgelenken hoch. Eine Minute vergeht, zwei … Dynamis dringt durch ihre Haut in die Venen, verbreitet sich im ganzen Körper der Kreatur. Plötzlich explodiert sie, dunkle Asche fliegt durch die Luft.

Ich wiederhole die Prozedur „Feuer an und warten“ an ihrem Kopf, nachdem ich dafür gesorgt habe, dass ihre Zähne fest auf den Boden gepresst sind. Als erneut Ascheregen mit der kühlen Frühlingsbrise davonschwirrt, stecke ich mein zweites Schwert in den Lederhalter und reibe mir die Hände nach dem exzellenten Job.

Ich muss durch den Kreis der Minderjährigen hindurchgehen, um zum nächsten AS-Opfer auf meiner Liste zu gelangen. Jeder der Jungen hat sich inzwischen mit einem der Mädchen zusammengetan. Die Pärchen liegen auf Decken und machen rum, ohne sich um eventuelle Zuschauer zu kümmern. Verlangen und Neid nagen an mir. Ich hatte seit Ewigkeiten keinen „Freund“. River ist so beschützerisch – war so beschützerisch. Mir dreht sich der Magen um, während ich mich im Stillen korrigieren muss. Jeder, der an mir interessiert war, beschloss ziemlich schnell, dass es den Aufwand und den Ärger nicht lohnte … aber gewöhnlich erst, nachdem ich die Ware geliefert hatte. Wenigstens kann ich mir sagen, dass River der Grund ist, weshalb ich so oft zurückgewiesen wurde, und nicht meine zahlreichen Schwächen.

Jetzt würde es River nicht mehr interessieren, ob ich alles vögele, was atmet. Oder vielleicht auch alles, was nicht atmet.

Ich hätte sein Vertrauen in mich niemals missbrauchen dürfen, hätte niemals versuchen sollen, sein Leben zu retten, indem ich das Todesurteil für Ali Bell unterschrieb, der Freundin des Teamleaders der anderen Zombiejäger-Gruppe. Doch zu der Zeit erschien es mir in Ordnung, ein Leben gegen ein anderes zu tauschen. Wenn es nur so gelaufen wäre. Ali hat überlebt, aber zwei Unschuldige mussten dran glauben. Kat Parker und Dr. Richard Ankh. Ich weiß nicht, ob ich mir jemals vergeben kann, welche Rolle ich dabei gespielt habe.

Streich das. Ich werde mir das niemals vergeben.

Zu meiner Linken höre ich ein Grunzen; ich wirbele herum und sehe, dass zwei weitere Zombies aus den Gräbern gestiegen sind. Zwei Zombies, die ich nicht auf meiner Liste hatte. Was zum Teufel … Während ich mit wild klopfendem Herzen die Kurzschwerter aus den Scheiden ziehe, begutachte ich meine neuen Gegner. Zwei männliche Untote. Der eine extrem korpulent, der andere klein und dünn. Beide haben diese graue Haut, genauso wie die weibliche Untote sind sie bereits in stark verwestem Zustand.

Doch sie kommen auf mich zu, ohne zu straucheln, ihr Knochengerüst ist noch nicht zu brüchig, um zusammenzufallen.

Ich schieße nach rechts, sie verfolgen meine Bewegungen aufmerksam. Gut. Ich bewege mich weiter weg, locke die beiden von den Zivilisten fort … übersehe dabei jedoch einen kleinen Grabstein auf meinem Weg. Ich stolpere, lande auf meinem Hintern und schnappe nach Luft. Nur für eine oder zwei Sekunden liege ich flach auf dem Boden, aber das reicht. Die beiden stürzen sich auf mich. Ich mache eine Rolle rückwärts, springe mit gezückten Schwertern auf und ritze beiden gleichzeitig den Bauch auf. Die Innereien quellen heraus, aber keinen der Zs scheint es zu stören, dass ich sie ausgenommen habe. Sie kommen näher.

Ich kicke einem in die Leisten, sodass er zur Seite stolpert, während ich mit einem einzigen Hieb meines Schwertes dem anderen den Kopf abschlage. Der Kopflose, jetzt hinter mir, bekommt meine Haare zu fassen und reißt mich zurück. Idiot! Er kann nichts weiter, als seine Krallen ausstrecken. Ich stoße ihm meinen Ellbogen in die Brust und trete nach ihm. Als er zur Seite taumelt, hacke ich seinen linken Arm ab, wirbele herum und lasse den rechten folgen. Beide Gliedmaßen fallen mit einem dumpfen Schlag auf den Boden.