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Claus von Kutzschenbach

Sollbruchstelle 65

Der schwierige Übergang ins Rentenalter - eine Erzählung

Inhalt:

Vorwort

1) Phantomschmerz

2) Übergänge

3) Ausgestoßen

4) Rache

5) Resignation

6) Reaktivierungsträume

7) Loyalität

8) Leidenschaft

9) Justierung

10) S-Kurven

11) Generationen

12) Zeit

13) Windstärke 9

14) Lernen

15) Elba

16) Zukunft

Über den Autor

Dieses Buch widme ich meiner Frau, Silvia von Kutzschenbach, und dankbar allen, die sich in diesem Buch vielleicht wiedererkennen.

Vorwort

Wie ist das, wenn man als Freiberufler plötzlich 65 wird und die offizielle Regelaltersgrenze zum Rentenbezug erreicht hat? Eigentlich nicht erwähnenswert. Leben und Arbeit gehen weiter.

Doch wenn kurz vorher ein geschäftlicher Einbruch erfolgt und ein wichtiges Ehrenamt verloren gegangen ist, kommt man ins Grübeln. Zumal man gleichzeitig von der Umwelt immer häufiger als Rentner oder älterer Herr eingestuft wird.

Da muss man durch, es gibt keinen Weg daran vorbei. Was einem in so einer Phase alles widerfahren kann, welche Gedanken unweigerlich kommen und warum manch guter Rat für die „Best Ager“ ins Leere läuft, steht in diesem Buch.

„Sollbruchstelle 65“ ist eine Selbstbeobachtung: Ich beschreibe, was ich in dieser Phase erlebt habe und meinen Versuch, diese Sollbruchstelle 65 ungebrochen hinter mich zu bringen.

Gleichzeitig befinden sich sehr viele in einer ähnlichen Situation und suchen für die Zeit 65+ noch Orientierung. Doch besonders schwer mit einer neuen Lebens-Orientierung tun sich die, die trotz großer beruflicher Erfolge in reifem Alter noch vor ihrem Rentenalter plötzlich aus ihren Organisationen ausgesondert und entsorgt werden. Bitter: Wie jetzt noch aktivierende und sinnvolle Zukunftsentwürfe finden, wenn die Lebensmitte längst überschritten ist und die nachrückende Generation Positionen besetzt und Aufgaben übernimmt, für die man sich aber selbst noch leidenschaftlich engagieren möchte, dies jedoch für immer verwehrt ist? Nicht lustig.

An diese Menschen und ihre Schicksale habe ich beim Schreiben besonders oft gedacht. Ich kenne einige von ihnen - ihre Gedanken, Gefühle und Lebensläufe.

Wie geht man denn allgemein mit solchen Einschnitten um? Wie vermeidet man, in solchen Lebensphasen und Sollbruchstellen einzuknicken, zu zerbrechen, zu verbittern oder einfach nur zu resignieren? Da muss es doch noch etwas anderes geben, das kann’s doch nicht gewesen sein …

Von diesen Überlegungen und Erkenntnissen handelt dieses Buch. Geschichten und Einsichten aus der Managementwelt gehören dazu. Geschichten, die sich so oder so ähnlich tatsächlich ereignet haben. Begebenheiten bei Kunden habe ich allerdings so verfremdet, dass sich allenfalls die Betroffenen selbst wiedererkennen. Und die guten Freunde und Gesprächspartner, die man in diesem Buch identifizieren kann, haben die entsprechenden Texte vorher gelesen und sind mit der Veröffentlichung einverstanden.

Dieses Buch zu schreiben war nicht leicht, hat mich oft gefordert und mir schließlich doch viel Freude gemacht. Viel Freude, manchen Aha-Effekt oder leises Schmunzeln wünsche ich beim Lesen nun auch Ihnen!

Claus von Kutzschenbach

Wiesbaden, Juli 2015

1) Phantomschmerz

Der Phantomschmerz trifft mich oft und heftig: Hier blitzt eine kleine Idee auf, dort sehe ich eine Chance, da könnte man ein Brett an die Wand dübeln und mit einer Öffnung im Bücherregal noch ein weiteres Gleis verlegen mit einer Kurve vor der nächsten Wand … Und wieder erscheint das Bild meiner alten blauen Märklin E-Lok aus den 50er Jahren in meinem Kopf … gebraucht gekauft strahlte sie mich einst, als ich noch ein Kind war, unter dem Weihnachts-baum an. Ich sehe sie, ich spüre ihr Gewicht aus Gusseisen, ich rieche diesen typischen Geruch (aus verbranntem Staub und Kohlebürsten oder was immer das war), höre sie über die alten Metallgleise rumpeln … und plötzlich, wenn ich ein Foto von ihr auf meinem PC-Bildschirm sehe, fühle ich einen kleinen Stich. So schön war sie, so einzigartig und nostalgisch exotisch mit ihren hierzulande nicht üblichen Bullaugen an der Seite (es war ein Modell einer niederländischen Lokomotive) und ansonsten überall schon ein wenig abgestoßen - so zuverlässig, kraftvoll und schnell zog sie den D-Zug mit den neun blechernen Schürzenwagen (internationale Schlaf- und Speisewagen, Post- und Gepäckwagen, 1.- und 2.-Klasse-Wagons - Raritäten!), die ich auf Flohmärkten zusammengekauft habe, … alles fort.

Fort und weg ist sie. Und mit Ihr weitere einundzwanzig Lokomotiven, über hundert Wagen, zig Meter Gleise, Weichen, Signale, Oberleitung, Figuren, Autos, Bäume, Häuser … All das, was ich mir in knapp sechzig Jahren zusammen gesammelt und -gekauft habe, was stets meine Fantasie beflügelt hat, was zu großartigen Eisenbahnprojekten als Kind und später mit eigenen Kindern geführt hat … weg. Verpackt in mehreren großen Koffern und Kisten, zu einem Auktionshaus gebracht und rund tausend Euro dafür bekommen - locker das Zehnfache wäre das alles wert, wenn man nur in etwa Anschaffungspreise berechnet hätte. Hat man aber nicht: Modelleisenbahn ist out, die Preise der Sammlerstücke sind erst abgebröckelt, dann rasant abgestürzt - ein Überangebot im Markt bei immer weniger Liebhabern des alten Blechspielzeugs.

Das Drama an der Sache, der wirkliche Phantomschmerz, ist allerdings die aufgegebene Hoffnung. Die Hoffnung, man könnte ja, wenn nur genügend Platz und Zeit vorhanden wäre, wieder die Eisenbahn aus den Koffern und Kisten im Keller holen, könnte kühne Brückenbaukonstruktionen ertüfteln, raffinierte Schattenbahnhöfe anlegen, ein einfaches Blocksystem mit Magneten berechnen, Landschaften bauen, könnte sich satt sehen an der Modell-Idylle und -Illusion in H0, könnte Züge fahren lassen und ein wenig und versinken in einer romantischen, selbst geschaffenen Miniatur-Spielwelt … Diese Hoffnung ist passé. – Hoppla, ich bin doch längst erwachsen, beruflich reichlich eingespannt, habe doch dafür überhaupt keine Zeit?!

Doch der Phantomschmerz überfällt mich ohne Vorwarnung: Wenn ich Gleise sehe, ein leer stehendes Geschäft (wie viel Platz hätte man da für eine Eisenbahnanlage), oder wenn eben plötzlich aus der unerfindlichen Tiefe meines PC ein Foto meiner blauen, gusseisernen Märklin-E-Lok aus den 50er Jahren auftaucht …

Aufgegebene Hoffnung: Nicht den tatsächlichen Aufbau oder das Spielen mit der Modelleisenbahn vermisse ich, sondern die Hoffnung, das in meinem Leben mit diesen Sammler-Schätzen noch einmal wieder tun zu können.

Dazu muss man wissen, dass dieses Eisenbahnthema mit der blauen E-Lok (und anderen) mein bisheriges Leben lang im Hintergrund völlig magnetisiert hat. Wenn für den Eisenbahn-Aufbau weder Zeit, noch Platz noch andere operative Hoffnungen waren, zeichnete ich ersatzweise Eisenbahnpläne. Es galt, romantische Vorstellungen von Landschaften und Eisenbahn mit real existierenden Räumen und möblierter Einrichtung zumindest planerisch zu realisieren und gleichzeitig stets die Gesetze der Gleisgeometrie und ihrer Radien zu befolgen, notwendige Steigungswinkel für Überführungen oder Tunnelprofile zu beachten. Das konnte mich stundenlang beschäftigen, es lenkte von vielem ab. Während meines Studiums, dann auch später in meinem Leben als Angestellter immer wieder - und ja: Die alte Schablone für das Planen einer Anlage mit Märklin-Metallgleisen, die habe ich noch. Die habe ich nicht weg gegeben. Ebenso wenig wie einige Blöcke Millimeterpapier für Pläne. Warum habe ich gerade die noch behalten? Ein Fünkchen von Doch-noch-Hoffnung? Dumm.

Und dadurch wurde das ganze Drama ausgelöst: Umzug in unsere vermutlich letzte und erste eigene Wohnung. Sie nimmt die ganze Fläche einer ehemaligen Büroetage ein, ist schön, hell für zwei Personen großzügig geschnitten - und mein Arbeitszimmer dort hat eine durchgehende (Büro)-Fensterfront, ist aufgeräumt, quadratisch, praktisch, gut und nur mit dem Nötigsten möbliert. Es lässt sich konzentriert darin arbeiten und bietet Raum für intensive Beratungsgespräche mit Kunden.

Weil das so ist und auch so bleiben soll, gibt es in dieser Wohnung keine Chance mehr, Eisenbahnphantastereien auszuleben. Im Keller ist nicht einmal mehr Platz für die Eisenbahnkisten und -Koffer. Und überhaupt: Als Freiberufler, der nach wie vor aktiv Kunden beraten und Geld verdienen will, ist so ein Energie- und zeitraubendes Hobby wie der Aufbau und der Betrieb einer Modelleisenbahn sowieso völlig daneben. Und überdies: Eine große Anlage zerstört sich schon während des Wachstums bald selbst durch Staub und Kurzschlüsse, die im üppig wuchernden Wirrwarr verschiedener Drähte unter der Anlage immer schwieriger zu orten sind. Und außerdem: Das lange gebückte Stehen oder Kauern beim Aufbau einer Anlage hat früher schon mal Rückenschmerzen bereitet, die Mikro-Arbeit beim Zusammensetzen von Kleinstteilen geht nur mit vollkommener Nahsicht und ruhiger Hand. Das alles wird nicht besser werden. Meine Entscheidung war wohl überlegt: Weg mit der Eisenbahn.

Meine Frau hatte noch weise den Kopf geschüttelt und gemeint, ich könne doch um Gotteswillen die Eisenbahn behalten. Nein. Ich wollte mich bewusst vom Ballast und der Romantik der Vergangenheit befreien. Loslassen, um nun einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Und das habe ich nun davon: Phantomschmerz.

Nun ist ja Loslassen an sich für mich weder neu noch schmerzlich. Im Gegenteil: Ich lasse gern Dinge und Erfahrungen hinter mir zurück, bin offen und freue mich mit kaum spürbarem Bangen auf Neues. Neue Eindrücke, Umgebungen, Beziehungen, Eroberungen (auch Reinfälle - ja!) und weiß Gott was noch alles. Ich bin im Inneren neugierig und gewöhne mich schnell ein, kann mich anpassen - denke ich zumindest.

Immerhin sprechen die Fakten dafür: gut ein Dutzend Mal weiträumig und deutschinterkulturell umgezogen zwischen Alpenrand und Schleswig-Holstein, Karriere in sechs verschiedenen Unternehmen gemacht, seit zwanzig Jahren Managementberater und -Trainer mit allen Aufs und Abs eines freiberuflich agierenden Einzelkämpfers, am Ende dann auch noch vier Jahre Präsident meines Berufsverbandes und vor meiner dritten Amtszeit abgewählt (viel richtig gemacht, aber kein Gespür für Vereinsbefindlichkeiten). Ja, manchmal will ich es gegen guten Rat auch mal darauf ankommen lassen, will es wissen - auch vor dem Risiko der Niederlage: Das schreckt mich nicht, ich klammere nicht, kann loslassen, trauere guten alten Zeiten nicht nach.

Aber offenbar nicht in allem. Einschneidend in meinem bisherigen Leben war der Verzicht auf Volleyball, andere Mannschaftssportarten und Joggen - rauf und runter über Waldwege auf dem Taunuskamm. Das alles hatte ich nicht unbedingt professionell, aber leidenschaftlich betrieben. Doch meine Knie machen das seit einigen Jahren nicht mehr mit. Dieser Verzicht war und ist heftig. Ein deutlicher Verlust an Lebensqualität. Vielleicht auch da ein kleiner Phantomschmerz? Immer dann, wenn so ein Volley- oder Basketball in meine Nähe kullert dann wollen einige Reflexe mit Lust und spontaner Leidenschaft voll ausgelebt werden.

Und dazu noch drei aktuelle Alltagsbegebenheiten in dichter Folge, die ich mit schrägem Grinsen weitererzähle, damit im Freundeskreis allerdings oft Bestürzung auslöse, teilweise wohl auch Mitleid:

Begebenheit Nummer eins: Ich entere einen Stadtbus, einigermaßen voll, und eine hübsche junge Frau, vermutlich morgenländischer Herkunft, steht auf und bietet mir mit einem respektvollen Lächeln ihren Sitzplatz an …

Begebenheit Nummer zwei: Ich habe es an einer Ladenkasse sichtlich eilig und höre von der Kassiererin mittleren Alters und ausladender Leibesfülle hinter dem Fließband an der Kasse eingezwängt im breiten Hessisch: „Ja, die Rentner, die ham immer ka Zeit, die Rentner“.

Begebenheit Nummer drei: Hab’ ich vergessen (sorry), da war irgendetwas mit einem langen Schuhlöffel, und dass man sich im Alter auch nicht mehr so tief bücken will …

Ja super!

Es ist ja schließlich doch ein Unterschied, ob man freiwillig loslässt, weil man etwas Besseres vorhat, weil man etwas bewusst riskiert, weil man andere Ziele, andere Erfahrungen machen, ein neues Leben (oder so) beginnen will, oder ob man plötzlich losgelassen wird und irgendwo aufschlägt, wo man nach bisheriger Lebensauffassung und aktueller Gefühlslage nun wirklich nicht hingehört (besser: noch nicht hingehören will): Im Seniorenstatus.

Schon melden sich die Oberschlauen und auch der Oberschlaue in mir: Pfeif drauf, finde Dich damit ab, hänge da nicht ’rum, suche Dir neue Ziele, finde dein „neues Zeit-Alter“ und finde heraus, „warum es gut ist, dass wir immer älter werden“ (so Lothar Seiwerts Buch), lass’ es zu, spüre in dich hinein, lass’ dich erleuchten, folge deiner Bestimmung, das Universum führt dich (O-Ton meiner Lieblings-Esoterikerin). Tenor von alledem: Das Leben sei in jeder Phase lebenswert und begeisternd.

Jau. Sehe ich genauso. Theoretisch.

Habe ich bisher auch immer gekonnt. Das Neue war jedes Mal attraktiv, hatte viel mehr Zugkraft war viel mehr sexy als das Bisherige. Man kann nur dazu gewinnen. Ja, diese Erfahrung habe ich fröhlich und mehrfach gemacht.

Ach, apropos sexy: Da schleicht sich ja neuerdings so eine unbewusste, lästige, melancholisch stimmende Gewissheit bei mir ein, dass man für attraktive weibliche Wesen im gebärfähigen Alter kaum noch begehrenswert sei. Dass die eine oder andere erträumte Romanze schon im Ansatz nicht mehr zu Träumen verleitet, wenn man im Bus von ebendiesen Wesen mitleidig einen Platz angeboten bekommt. Was sagt man nur dazu, wie wird mann damit fertig?

Und bei all diesen Betrachtungen nicht den Phantomschmerz vergessen, der sich nach meiner immerhin ureigenen, freien Eisenbahn-Entscheidung entwickelt hat. Eine für mich nun völlig neue Erfahrung.

Was macht man nun damit?