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Titelseite

 

 

 

 

Meiner Mutter und meinem Vater
in Liebe gewidmet,
und danke für all die Bücher

Geheimakte

 

 

 

 

Darauf sprach der Herr zu Mose:
 

Sag zu Aaron: Streck deinen Stab aus und schlag damit auf die Erde in den Staub! In ganz Ägypten sollen daraus Stechmücken werden. Sie taten es.

Aaron streckte die Hand aus und schlug mit seinem Stab auf die Erde in den Staub. Da wurden Stechmücken daraus, die sich auf Mensch und Vieh setzten.

In ganz Ägypten wurden aus dem Staub auf der Erde Stechmücken.

 

2. Buch Mose, Kap. 8, 12-13

 

Kohlenstoff wird herrschen.

 

Mildred Dresselhaus

Teil 1

1

28. SEPTEMBER 23:58 (WEZ + 1).

Hook Hall, Surrey, Großbritannien

Mitternacht im Herzen Englands. Geisterstunde. Mit schrillem Kreischen stieß eine Eule auf eine Maus herab und zerfetzte ihre Beute. Feucht schimmerte im Mondlicht das Blut an ihrem Schnabel.

Das riesige historische Gebäude von Hook Hall stand leer. Seit dem Tag, als es von der Regierung Ihrer Majestät requiriert worden war, um zum topgeheimen Hauptquartier des Globalen Nichtstaatlichen Gefahrenabwehr-Komitees1 umfunktioniert zu werden, hatte es niemandem mehr als Zuhause gedient. Nun lag es mitten im Zentrum eines Komplexes moderner Laboratorien und militärischer Einrichtungen, die sich in der Dunkelheit um den ehrwürdigen Bau ausbreiteten wie stumme Höflinge um eine vornehme alte Lady.

Die Stille war jedoch nicht von Dauer. Ein tiefes Brummen durchdrang plötzlich die Finsternis, und am Hauptweg begann das größte der Gebäude zu erglühen.

Im Inneren des kathedralengroßen Baus, der gewaltigen sogenannten Zentralen Feldanalyse-Kammer (ZFAK), wurde die Energie hochgefahren, und ein riesiger Stonehenge-Ring aus einzelnen Teilchenbeschleunigern – jeder so groß wie ein Schiffscontainer – erwachte zum Leben.

»Mein ganz persönliches Stonehenge«, sprach Dr. Al Allenby – das chaotische Erfindergenie, das hinter der Maschinerie steckte – zu sich selbst. »Jeder sollte so ein Stonehenge haben.«

Von den Fenstern eines Labors aus, die einen Blick über die Ringanlage boten, schickte ein sehr kleiner Junge ein inbrünstiges Privatgebet gen Himmel.

Finn (voller Name Infinity Drake) stand kurz vor seinem dreizehnten Geburtstag. Er hatte sandfarbenes Haar, das (wie einst bei seinem Vater) wirr in diverse Richtungen wuchs, und tiefblaue Augen (wie einst seine Mutter). Vor zwei Jahren war er zum Waisen geworden. Er stand auf Videospiele, wissenschaftliche Abgefahrenheiten und tödliche Zeitvertreibe, so wie jeder andere Junge auch. Dank seiner versehentlichen Verstrickung in die Operation Scarlatti2 im vergangenen Frühjahr war Finn jedoch – anders als jeder andere Junge – nur 9,8 Millimeter groß.

Unter ohrenbetäubendem elektrostatischem Knistern und Summen begannen weiße Blitze wie Zuckerwattefäden um den Ringkern herumzuwirbeln, als der Kreis aus Beschleunigern einen Zyklon aus purer Energie entfachte. Noch ein letzter Energieschub, und sie würden ein perfektes, subatomares Magnetfeld erzeugen.

Hoch über dem Ring in seine Kommandokapsel eingezwängt, rezitierte Dr. Allenby (allgemein bekannt als Al) den Gedichtauszug, mit dem er sich die entscheidenden Sequenzierungscodes merkte, die er vor aller Welt geheim hielt.

»Aber hinter meinem Rücken vernehm ich stets

Den geflügelten Zeitenwagen sich eilig nahen

Und dort im Jenseits sich vor uns erstrecken

Die Wüsten der unermesslichen Ewigkeit …«

(Um dann im Kopf hinzufügen: »… wo B Beschleunigung bedeutet und E die Klammern öffnet und wieder schließt, und alle anderen Vokale anheimfallen der Missachtung.«)

In seinem Hirn ratterten mehrere Berechnungen gleichzeitig, und im Nu tippte er eine Serie von Zahlen in sein Kontrollpult ein …

WHUUUUUUUUMMMM!

Aus dem wirbelnden Lichtgewitter wurde ein konstanter Lichtbogen, der sich gleich darauf mit einem mächtigen Blitz zur »heißen Zone« transformierte – eine pulsierende Kugel aus weißem Licht, in deren Inneren die Abstände zwischen Atomkernen und ihren Elektronen drastisch verringert werden würden, wodurch jegliche Materie, die sich innerhalb der Kugel befand, auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Größe schrumpfte: eine als Boldklub-Prozess3 bezeichnete Meisterleistung der Physik, die nur Al wirklich kapierte.

»OH, YEAH, BABY!«, schrie er – völlig unangemessen angesichts der Umgebung und der Anwesenheit zahlreicher angesehener Wissenschaftler, Soldaten und politischer Funktionsträger.

Sein Boss Commander James Clayton-King, Vorsitzender des Globalen Nichtstaatlichen Gefahrenabwehr-Komitees, gab nur ein resigniertes Seufzen von sich und schloss kurz die Augen.

Um an diesen Punkt zu gelangen, hatten sie Monate länger gebraucht, als Al vorhergesehen hatte, und viele Fehler hatten ihren Weg begleitet. Aber nun endlich, dachte Al, hatten sie es hinbekommen. In wenigen Augenblicken würde er beweisen, dass er in der Lage war, ein lebendes Säugetier zu schrumpfen, um dann den Prozess wieder umzukehren und es erfolgreich in seine ursprüngliche Größe zurückzutransformieren. Lebend. Unzählige Versuche waren an unzähligen Objekten unternommen worden – bis hin zu lebenden Pflanzen.

Womit jetzt nur noch ein Test mit lebenden Säugetieren blieb.

Wofür eine weiße Maus ausgewählt worden war, die man betäubt und rundum mit Überwachungsgeräten gespickt hatte.

Sie hatten sie »Fluffy« getauft.

Der Grund dafür, warum Al so hart Tag und Nacht geschuftet hatte, waren sein Neffe Finn und dessen drei Teamgefährten der Operation Scarlatti, die er nun hoffentlich allesamt wieder in ihre normale Größe zurückverwandeln konnte.

Auf einen Befehl von Al setzte ein Techniker oben in der Kontrollgalerie der ZFAK die Förderanlage in Bewegung, mit denen Objekte der heißen Zone zugeführt wurden. Fluffy glitt auf dem Band voran und tauchte schließlich in das perfekte Lichtgebilde ein.

Fasziniert verfolgte Finn, wie sich die Oberfläche der »heißen Zone« kräuselte und die weiße Maus auf »Nano«-Größe geschrumpft wurde – sprich: auf nur ein Hundertfünfzigstel ihrer ursprünglichen Größe, genauso wie einst Finn. Als Nächstes würde man den Prozess dann umkehren und Fluffy wieder in ihre normale »Makro«-Größe zurückverwandeln. Wenn alles klappte, wären die vier Nanomenschen, einschließlich Finn, als Nächstes an der Reihe.

Gemeinsam verfolgten sie die Show, während die Hoffnungen sich förmlich überschlugen.

»Komm schon, Fluffy«, flüsterte neben Finn Captain Kelly von der SAS-Spezialeinheit, einst ein Zwei-Meter-Schrank aus Muskeln und Narbengewebe, aktuell auf dreizehn Millimeter geschrumpft und so überzeugt, dass das Experiment klappen würde, dass er schon einen Flug nach Schottland gebucht hatte, wo er die nächsten paar Wochen damit verbringen wollte, in Begleitung einer Kiste Whisky zwischen den Western Isles herumzusegeln.

»Hau rein, Fluff!«, stimmte die elf Millimeter große Delta Salazar mit ein – die beste und coolste Pilotin der US Air Force, die wie immer ihre Pilotensonnenbrille trug. Sie hatte ihre Nanokollegen so nahe an sich herangelassen wie kaum jemanden zuvor in ihrem Leben. Doch nun konnte sie es gar nicht mehr abwarten, nach Hause zu fliegen und ihre Schwester Carla wiederzusehen.

Sogar ihr Zehn-Millimeter-Ingenieur Stubbs, steinalt und mit Hang zu Schwarzseherei und Trübsalblasen, hatte sich bereits ein Ei gekocht, für den Fall, dass alles gut ging (ein zünftiges Partyessen hätte nur seinen Magen durcheinandergebracht).

»Polarität umkehren!«, schrie Al.

Finns Herz schlug wie eine Trommel. Er konnte es gar nicht erwarten, endlich wieder groß zu sein, eine Tür zu öffnen, seinen dämlichen Hund Jo-Jo zu drücken, mit seinem besten Freund Hudson herumzukicken und …

Plötzlich wurde alles violett vor seinen Augen, als eine gigantische, noch beachtlich fitte Lady von vierundsechzig Jahren in farblich harmonierender Oberbekleidung und Hose ihm den Blick auf das Geschehen versperrte.

»Möchte jemand noch ein paar Kekse?«

»OMA! WEG DA!«, kreischte Finn.

Niemand im Universum besaß eine verblüffendere Fähigkeit zu stören als Violet Allenby – Finns Oma und Als Mutter. Wie ein Magnet wurde sie von jedwedem Fernseher angezogen, um dann dort vor dem Bild zu staubsaugen, und immer fragte sie viel zu laut, wer das denn gerade nun am Telefon wäre.

»Ach, bin ich im Weg?«, fragte sie, während sie wie ein Koloss über ihnen aufragte.

»JAAAHAAA!« Finn zeterte, bis sie weiterzog, um dem Technikpersonal noch mehr Kekse anzubieten – was ihre Art war, sich von jeglichem Gedanken daran, was möglicherweise schiefgehen konnte, abzulenken.

In dem Moment, als Al die Energiezufuhr zur »heißen Zone« kappte, kam das Henge wieder zum Vorschein, und der rotierende Zyklon verflüchtigte sich vor aller Augen in einem Feuerwerk aus Millionen Lichtblitzen.

Während das Gleißen verblasste, wurde im Zentrum des Henge Fluffy samt dem Gewirr an Überwachungsgeräten wieder sichtbar … in voller Größe.

Jubelrufe von den Technikern. Begleitet von donnerndem Applaus.

»Ja!«, schrie Finn.

Delta nahm ihn vor Begeisterung in den Schwitzkasten.

Kelly fing an, hopsend auf der Stelle herumzutanzen, bevor er sich Stubbs schnappte und ebenfalls in den Schwitzkasten nahm.

Unten in der ZFAK klappte Al die Plexiglaskuppel seiner Kommandokapsel auf und flitzte die Leiter hinunter.

Piiieeeeeeeeeeeeeeeeep … ertönte ein Alarm.

Al rannte in die Mitte des Henge.

Piiieeeeeeeeeeeeeeeeep …

Fluffy war sehr ruhig.

Piiieeeeeeeeeeeeeeeeep …

Al untersuchte sie.

Piiieeeeeeeeeeeeeeeeep …

Als Finn sah, wie sich die Schultern seines Onkels senkten, wusste er es gleich.

Piiieeeeeeeeeeeeeeeeep …

Fluffy war tot.

2

29. SEPTEMBER 07:04 (Ortszeit WEZ + 8).

Song Island, Taiwan (umstritten)

Über dem Südchinesischen Meer brach die Morgendämmerung an.

Song Island lag etwa 150 Meilen südwestlich von Taiwan, 150 Meilen südöstlich von Hongkong und war Teil einer vergessenen Inselgruppe – unbewohnt, unberührt, unbehelligt, sah man von dem gelegentlichen Besuch eines durchgeknallten Nationalisten oder einer vorbeifahrenden Marinepatrouille ab. Drei Staaten erhoben Anspruch auf die Insel; und seit 1948 war das umstrittene Territorium Gegenstand eines Prozesses der Vereinten Nationen, wenngleich die Song-Island-Akte ganz unten im Stapel lag – halb vergessen von der diplomatischen Gemeinschaft, die Besseres zu tun hatte. Schließlich handelte es sich um nichts anderes als einen karstigen Zuckerhut aus Kalkstein – einen riesigen Felskegel, der sich wie ein wunder Daumen aus den tiefsten Tiefen der azurblauen See emporstreckte, ausgedörrt von der Glut der Sonne, von Taifunen gepeitscht und fast ohne eine Spur von Leben. Freilich, es gab ein paar nistende Seevögel auf der felsigen Oberfläche und kümmerliche Flecken von Vegetation, aber zum überwiegenden Teil handelte es sich einfach nur um eine 200-Meter-Säule aus nacktem, ödem Fels …

… doch im Inneren?

Kaparis gewöhnte sich gerade ein. Es gab nichts, was dem Gefühl gleichkam, in ein neues Hauptquartier umzuziehen: Immer hatten sie diesen unwiderstehlichen »Neuen-topgeheimen-Operationszentralen«-Geruch. Und selbst Kaparis musste zugeben, dass dieser Ort etwas ganz Besonderes war. Die Schöpfung seines exzentrischen Leibarchitekten Thömson-Lavoisiér konnte sich eines zwei Kilometer langen Systems aus in den Meeresboden hineingebauten Tunneln, Bunkern und Laboratorien rühmen, einer tauchfähigen Waffenplattform, eines Unterwasserfluchtfahrzeugs und – die Crème de la Crème – einer persönlichen Liege- und Befehlskammer für Kaparis und seine eiserne Lunge, in der er sein Leben verbrachte, seit er 2001 infolge eines medizinischen »Unfalls« völlig gelähmt war.

Die Kammer war direkt in den Zuckerhut gebaut worden und beherbergte nicht nur die »übliche« gewölbte Batterie aus Panoramabildschirmen sowie die um den Kopf angebrachte Multiopticon-Kugelapparatur (die ihm ein Blickfeld von 360 Grad und die Kontrolle sämtlicher Schirme via Blickerfassungssystem ermöglichte), sondern darüber hinaus auch ein Fenster. Nicht weiter bemerkenswert, bis man sich darüber bewusst wurde, dass sich die gesamte Kammer wie ein Fahrstuhl innerhalb des Felskegels hoch- und runterfahren ließ. In der einen Minute konnte Kaparis einen eindrucksvollen Blick über das Südchinesische Meer und die umgebenen Inseln genießen und schon in der nächsten bis sechs Meter unter die Meeresoberfläche hinabfahren, um die einheimischen Haie zu betrachten.

Alles in allem war er entzückt. Seine Augen huschten über die Oberfläche des Opticons, als er seinen Butler bemerkte.

»Heywood?«

»Ja, Meister?« Heywood, ein großer Mann von tadelloser Erscheinung, trat vor.

»Was halten Sie von etwas Einheimischem zum Dinner?«

»Natürlich, Meister.«

Heywood drückte auf eine Taste. Auf der Suche nach einer stimmungsvollen Musik ließ Kaparis die Augen über die Bildschirmbatterie schweifen und rief schließlich eine Aufführung des Mikado von Gilbert und Sullivan auf.

Die Haie zogen ihre Kreise.

Auf dem Meeresboden glitt ein Tor auf, und ein Beamter der taiwanesischen Küstenwache wurde hinausgestoßen (er hatte versucht, seinen Vorgesetzten zu melden, die sich nach Zahlung eines ordentlichen Sümmchen Bestechungsgeldes bereit erklärt hatten, der Insel fernzubleiben). Verzweifelt begann er zur Oberfläche zu schwimmen.

Die Haie entblößten ihre Zähne … um dann ihr Entzücken auf die einzige Weise zum Ausdruck zu bringen, die sie kannten. Und der Chor sang:

»Nun siehe, der Oberste Lord Henker

Eine Person von noblem Rang und Titel

Ein ehrenwerter und mächtiger Beamter

Mit Aufgaben von besonderer Wichtigkeit!

Verbeugt Euch! Verbeugt Euch!

Vor dem noblen Lord, vor dem noblen Lord

Vor dem Obersten Lord Henker!«

Üppige Blutschleier drifteten durchs Wasser, und das, was von dem Küstenwachenbeamten noch übrig war, sank auf den Meeresboden hinab.

Kaparis ließ seine Kammer wieder aufsteigen und überprüfte dann via Video-Lifefeed die Fortschritte seines Agenten in Shanghai. Alles stand kurz vor dem Abschluss, das Vector-Programm unmittelbar vor der Vollendung. Er konnte sich schon die Last vorstellen, die ihm von den Schultern fiel. Die langen Monate des Ringens, die langen Monate der Anstrengungen und vorzüglichen Leistungen in seinen Geheimfabriken unter der nigrischen Wüste … sie hatten nun in der Produktion von zweiundfünfzig Robotern gemündet. Den verteufelt hoch entwickeltsten Robotern, die jemals erdacht und entworfen worden waren.

Endlich war Kaparis wieder auf dem Weg der Genesung und gewann Abstand zu seinen Erinnerungen an Infinity Drake und all den Schaden, den er während der Scarlatti-Episode hatte anrichten können.

Endlich würde er die Menschheit beherrschen, die Welt unterwerfen …

Alles, was ihm noch zu tun blieb, war, die Früchte seines Genies zu genießen. Als die Kammer die Wasseroberfläche durchbrach, flutete das Sonnenlicht herein, und einen Moment lang fühlte Kaparis sich wieder frei – so frei wie die Seetölpel und Seeschwalben, die nun um den Felsen kreisten. In diesem Augenblick vergaß er sich, und ein Gedanke perlte an die Oberfläche seines Geistes: Ich … bin … glücklich …

Piiieeeeeeeeeeeeeeeeep …

Ein Alarm ertönte.

Die Blase zerplatzte.

 

29. SEPTEMBER 07:22 (ORTSZEIT WEZ + 8).

Kung Fu Noodles, Stand 22,

Schnellrestauranthalle D, Sektor 9,

Verbotene Stadt: 23. Industrielle Entwicklungszone Shanghai, China

Die Schnellrestauranthalle war gewaltig. Hinter Dutzenden von Theken standen Angestellte mit lächerlichen Papierhütchen auf dem Kopf und bedienten Hunderte von Kunden, überwiegend Nachtarbeiter, die gerade von der Schicht kamen. Die Luft war heiß und von Essensdunst geschwängert.

Baptiste entdeckte den Zivilpolizisten in dem Moment, als dieser die Halle betrat: ein gepflegter, seriöser Typ, der beiläufig die Handvoll westlicher Besucher abcheckte, die sich in der Halle aufhielt. Einschließlich Baptiste. Der Polizist ließ kurz den Blick auf den Schirm eines Palmtops sinken, bevor er auch schon durch den Sitzbereich auf ihn zumarschiert kam.

Als er sich näherte, tippte Baptiste auf das Display seines Smartphones und initiierte eine Notverbindung. Instinktiv tastete seine freie Hand nach dem Füllfederhalter, der im Frontfach seiner Umhängetasche steckte.

Der Polizist zückte seinen Dienstausweis und sagte etwas auf Mandarin zu ihm.

Fast zeitgleich übertrug Song Island die Übersetzung direkt auf ein winziges Audiogerät, das hinter Baptistes Ohr implantiert war. »Er fragt nach deinem Namen.«

»Jaan Baptiste.«

Baptiste. Anfangs war es nur ein Spitzname gewesen. An den Wänden von Kaparis’ Akademie – eine Schule für Tyros, die sich in einem verlassenen Kloster hoch oben in den Karpaten befand – waren viele religiöse Szenen erhalten geblieben, darunter auch eine Ikone von Johannes dem Täufer. Mit seinem schmierig-fettigem Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und seinem seidenweichen Teenagerbart glich »Baptiste« dem toten Heiligen fast bis aufs Haar.

Die Tyros, sämtlich zwischen zwölf und siebzehn Jahre alt, stellten Kaparis’ Fußvolk dar, das er heimlich in den Waisen- und Armenkrankenhäusern der Welt ausgewählt und in die Karpaten gebracht hatte, um sie dort zu trainieren und einer NRP4-Behandlung zu unterziehen.

»Reisepass?«, fragte der Polizist, nunmehr auf Englisch.

»Im Hotel.« Während Baptiste in bulgarischem Akzent antwortete, ging er im Kopf bereits die sechs Arten durch, mit denen er den Polizisten mit bloßen Händen umbringen konnte.

»Hotelname?«

»Tiger Star.«

 

»Das ist gerade vom Polizeihauptquartier Shanghai reingekommen …«, hörte Kaparis Li Jun berichten.

Von ihrer Monitorbank am Rand seiner Befehlskammer aus postete Li Jun Kaparis das Bild von Baptiste auf den Schirm, das der Polizist soeben an sein Hauptquartier geschickt hatte. Die bescheidene junge Tyro hatte es zu Kaparis’ Cheftechnikerin gebracht.

Kaparis schäumte vor Wut.

»Glücklich …« Sein kurzer Moment der Gefühlsduselei war bestraft worden. Vom Schicksal. Die folgenden Geschehnisse würden den Ausgang des gesamten Projektes entscheiden.

Was tun?

Es bestand eine Fifty-fifty-Chance, dass Baptiste als sein Agent enttarnt werden würde. Die Hälfte aller Geheimdienste auf der Welt hielt nach den Tyros und ihren verräterischen Irisvernarbungen Ausschau. Baptistes Tarnung könnte auffliegen. Doch wenn sie die Operation Vector nun abbrachen und wieder von vorn anfingen, würden Monate, ja sogar Jahre sorgsamer Planung und Vorbereitung umsonst gewesen sein.

Wie nah sie dran waren? So nah wie noch nie zuvor. Einundfünfzig der zweiundfünfzig Bots waren bereits in Position gebracht. Der letzte – derjenige, der voller ausführbarer Programmdateien5 steckte – stand kurz davor, aktiviert zu werden. Das Hirn der ganzen Operation. Das Ass.

Was tun?

Jeder ist seines Glückes Schmied, so sagte man. Aber so wie Kaparis es sah, was es mit dem Schicksal etwas anderes. Das Schicksal musste man überfallen, einschüchtern und bezwingen. Kaparis rühmte sich, dessen Meister zu sein. Einer der sehr wenigen. Einem Gott auf dem Olymp gleich.

Ein köstlicher Schauder durchfuhr ihn.

»Spiel das Ass aus.«

 

»Haben Sie dieses Restaurant schon zuvor besucht?«, fragte der Polizist.

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Baptiste.

Der Polizist rief das körnige Bild einer Überwachungskamera auf den Schirm seines Palmtops, das Baptiste vor der Theke von Kung Fu Noodles zeigte.

»Das sind Sie letzte Woche. Und im letzten Monat insgesamt sechs Mal. Kommen Sie mit«, sagte der Polizist und führte ihn aus der Schnellrestauranthalle hinaus, um ihn anschließend auf den Rücksitz eines zivilen Streifenwagens zu verfrachten. Instinktiv langte Baptiste in seine Umhängetasche. Er war noch nicht verhaftet. Der Polizist stieg vorne ein und griff zum Funkgerät, um auf seine Befehle zu warten.

Aber Baptiste erhielt seine zuerst.

»Setz ihn frei. Vollende Vector, um jeden Preis.«

Baptiste entspannte sich. Die Zeit des Handelns war gekommen. Er holte einen luxuriösen Mont-Blanc-Füller aus der Tasche und zog die Kappe ab, als wollte er sich eine Notiz machen.

 

 

Der Alpha-Execute-Bot erwachte.

 

XE.CUTE.BOT52: ONLINE

 

Ein Befehl traf von Kaparis’ Kommandozentrale auf Song Island ein.

 

KAPARISCOMM>>XE.CUTE: TERMINIERE LEBENSFORM KOORDINATEN: 4578377/46294769

 

XE.CUTE.BOT52: KILL

 

Der Polizist beendete seine Funknachricht und wandte den Kopf zu Baptiste um. Aber das erste Wort hatte es noch nicht über seine Lippen geschafft, als …

Ttsss.

Fast geräuschlos drang er in sein Hirn ein.

Ohne mehr als eine mikroskopisch kleine Eintrittswunde an der Schläfe zu hinterlassen.

Das Gesicht des Polizisten verzerrte sich … und erstarrte.

3

29. SEPTEMBER 10:14 (WEZ + 1).

Hook Hall, Surrey, Großbritannien

Der Morgen danach war 150-mal enttäuschender als sämtliche Morgen zuvor, die sie in Nanogröße verbracht hatten.

Finn, Delta, Kelly und Stubbs saßen stumm an einem winzigen Tisch, der extra für sie angefertigt worden war, und taten eine ziemliche lange Weile nichts anderes, als Löcher in die Luft zu starren.

Scarlattis Söhne, wie sie sich selbst gerne nannten (obwohl eine Tochter unter ihnen war), lebten in einem »Apartment-Block«, den man aus Pflanzenfaser-Anzuchtschalen zusammengebaut hatte: Tabletts aus jeweils vierzig Viereckzellen. Das Ganze wiederum steckte in einem zwei Quadratmeter großen Glaswürfel (einer ausrangierten Isoliereinheit aus der Abteilung zur Bekämpfung von Biogefahren), um sie vor Insekten und anderen Bedrohungen in Labor 1 zu schützen. Das Ganze firmierte unter der Bezeichnung Nanokomplex. Zuerst hatten sie nur eine Woche lang dort bleiben sollen. Dann war von zwölf Tagen die Rede gewesen. Schließlich von drei Wochen, höchstens.

Nun waren schon fünf Monate vergangen.

Doch einen Vorteil hatte die Sache: Je länger sie auf das warteten, was sie sich am meisten wünschten, desto mehr bekamen sie von allem anderen. Sie konnten ihre Biosphäre verlassen und betreten, wie es ihnen gefiel (solange sie ausgeklügelte Sicherheitsprozeduren befolgten), und in der neuen Beschleuniger-Anordnung ließ sich alles schrumpfen, was das Herz begehrte. Sie erfreuten sich an den feinsten Speisen, erlesenen Konsumgütern und erstklassigen Freizeitaktivitäten. Finn hatte seinen eigenen Privatzoo mit seinen Lieblingsinsekten, ein Labor und einen Skatepark; und in einem Gefrierschrank in Labor 2 hatte man sogar einen Skihang angelegt. Das Nonplusultra jedoch waren eine von Plexiglas überdachte Straße und ein Modellbahnschienennetz, das es ihnen erlaubte, sich sicher über die gesamte Anlage fortzubewegen. Außerdem hatte Finn noch einen roten Mini zum Herumfahren geschenkt bekommen, den er heiß und innig liebte (auch wenn die Geschwindigkeit auf Omas Anweisung hin gedrosselt worden war).

Aber jetzt im Moment wollte das alles nichts helfen.

Diverse Leute hatten bereits angerufen, um ihnen Mut zu machen: Oma, Commander King und – über Videoverbindung – der Premierminister. Sogar Hudson hatten sie geschickt. Es gab nicht viele Kids, die in der Lage gewesen wären, den von Natur aus coolen »Jeans-und-Kapuzen«-Look zu vermasseln, aber mit seinen langen Haaren, den dicken Brillengläsern und der Art, wie er immer unbehaglich aus der Wäsche guckte, gehörte Hudson eindeutig dazu. Er war in das Boldklub-Geheimnis eingeweiht, weil er auf dem Höhepunkt der Ereignisse mit in die Operation Scarlatti hineingezogen worden war und sich dabei als Held erwiesen hatte, wenn auch als ein ziemlich schräger.

»Was für ein Reinfall … voll für die Tonne die Aktion, was? Ich wette, ihr habt euch schon so drauf gefreut, wieder groß zu sein, stimmt’s?«, sagte Hudson, als er ankam und sich im Nano-Apartement-Block umschaute.

»Hmmm«, brummte Kelly und sah sich nach einer Waffe um, um ihn zu erschießen.

»Das muss ganz schön an euch nagen …«, brachte Hudson seine Vermutung laut zum Ausdruck.

Was für Delta der Zeitpunkt war, ihn höflich zu bitten, sie allein zu lassen, »um das Ganze erst mal zu verdauen«.

»Wenigstens hat er nicht angeboten, eines seiner Gedichte für uns zu schreiben6«, sagte Finn, als das Nano-Team wieder alleine war.

Stubbs gab ein gereiztes Grunzen von sich. »Wir bewegen uns hier am äußersten Rand des menschlichen Begriffsvermögens. Wir könnten noch Jahre hier festsitzen, ach was, Jahre … Jahrz…«

»Was weißt du schon, du alter Knacker!«, unterbrach Delta ihn.

»Ziemlich viel, eigentlich«, sagte Stubbs abwehrend.

Zweifel begann sich wie ein großer schwarzer Aal in Finns Magengrube zu regen.

Sei du selbst. Vertrau dir selbst. Mach einfach weiter. So hatten die drei großen Lebensregeln seiner Mutter gelautet. Aber wie konnte man man selbst sein, wenn man in einem Körper steckte, der die falsche Größe hatte? Was brachte das Vertrau dir selbst, wenn man ganz und gar von anderen Menschen abhing? Und wie konnte man einfach weitermachen, wenn man so offensichtlich im Schlamassel steckte? Als er sich über all dies bei Christabel beklagt hatte – ihre Gemeindepastorin, die seit der Beerdigung seiner Mutter zu einer guten Freundin geworden war –, hatte sie geantwortet: »Halte dich an sie. So wie dir deine Mom drei Lektionen hinterlassen hat, schau, was für Lektionen du aus dem ziehen kannst, was du gerade durchmachst.«

Doch alles, was er bisher gelernt hatte, war: Je mehr du etwas willst, desto weiter entfernt es sich von dir.

»Ich vermute, dass du schon bessere Geburtstage erlebt hast, Finn«, sagte Stubbs und sah dabei mehr denn je wie eine deprimierte Schildkröte aus.

Kelly gab ein hohles Lachen von sich und verpasste dem alten Mann für seine Miesepeterei einen Klaps auf den Rücken. Stubbs konnte so gut wie alles reparieren. Aber wenn er es mit menschlichen Gefühlen zu tun bekam, stand er so ziemlich auf dem Schlauch.

»Danke … aber der ist erst morgen«, sagte Finn.

»Hey, ein Geburtstag ist immer noch ein Geburtstag. Was möchtest du machen?«, fragte Delta, bestrebt, die Stimmung aufzuhellen. Normalerweise war sie anderen gegenüber auf Abstand bedacht, aber ihre jüngere Schwester Carla war im gleichen Alter wie Finn, wodurch er für sie de facto zu so etwas wie einem jüngeren Bruder geworden war.

Finn zuckte die Achseln. Was gab’s mit neun Millimetern schon großartig zu feiern? Nicht einmal die Schule durfte er deswegen sausen lassen. Stattdessen nahm er aus der Ferne per Skype am Unterricht teil, wobei Hudson ihn brav per Laptop mit herumtrug (und eine hoch ansteckende Hautkrankheit als offizielle Begründung für Finns Abwesenheit herhalten musste). Es war Oma, die auf dieses Arrangement bestanden hatte. »Damit er wie jeder andere Junge ein normales Leben führen kann«, hatte sie gesagt, woraufhin Finns Antwort gelautet hatte: »WIE UM ALLES IN DER WELT KANN MAN MEIN LEBEN FÜR NORMAL HALTEN! ICH BIN NEUN MILLIMETER GROSS!«

Und richtig gemein fand er, dass die anderen an einem neuen militärischen Forschungsprojekt arbeiten durften, während er die Schulbank drückte. Es wurde als das »nCraft« bezeichnet, und Finn durfte eigentlich nichts davon wissen.

Bei einer Körpergröße von nur einem Zentimeter bestand ein großes Problem darin, dass man viel Zeit verplemperte, um sogar nur moderate Entfernungen zurückzulegen. Also gab es das Bestreben, ein neues Gefährt zu entwickeln, das sich den vollen Vorteil der auf Nanogröße extrem verbesserten Kraft-Masse-Relation zunutze machte. Al missbilligte eigentlich jegliche militärische Anwendung seiner Technologie, aber Stubbs und die anderen bastelten trotzdem aus reiner Langeweile mit daran herum.

Dass Finn sauer war und frustriert, konnten sie jedoch verstehen.

»Schmoll nicht, du wirst schon darüber hinwegkommen. Man kann über alles hinwegkommen«, sagte Kelly.

»Weißt du eigentlich, wie viele Autos ich geklaut hab, als ich dreizehn war? Ich hab die Hälfte meiner Teenagerzeit im Jugendknast verbracht – und schau mich jetzt an!«, warf er sich in die Brust und spreizte stolz seine gewaltigen, von zahlreichen Kämpfen vernarbten Arme, als wäre er ein braver Musterbürger.

»Das sag ich Carla auch immer«, haute Delta in die gleiche Kerbe. »Zwischen dreizehn und siebzehn muss man ganz schön leiden, aber dann – das kannst du mir glauben! – wird das Leben viel viel besser.«

»Oh, toll«, mokierte sich Finn.

»So was sagen die Leute immer zu Teenagern«, sagte Stubbs. »Aber so wie ich mich erinnere, kommst du nie so richtig über die Traumata deiner Teenagerzeit hinweg. Das Schikaniertwerden … der Liebeskummer … die Einsamkeit …«

»Neun Millimeter groß zu sein …«, fügte Finn hinzu.

»Hey! Wenn ich eine Kindheit in einem Philadelphia-Waisenhaus überstanden habe, kannst du auch das hier überstehen. Du brauchst nur ein wenig Hilfe und Unterstützung, stimmt’s?«, sagte Delta und blickte zu Kelly und Stubbs.

»Da hat sie recht«, sagte Kelly, um dann großzügig hinzuzufügen: »Und wenn dir mal danach ist, dass ein wenig Schwung in die Bude kommt, sag einfach Bescheid! Von uns findet sich immer jemand, der dich an die Schienenstränge fesselt oder auf dich schießt …«

»Ich könnte dich von einem Flugzeug abwerfen«, schlug Delta vor.

»Oder wir verbannen ihn. Als Akt mentaler Grausamkeit«, ließ auch Stubbs sich nicht lumpen.

»Das würdet ihr wirklich für mich tun? Danke, Leute«, sagte Finn und musste schließlich lächeln.

Sein nPhone7 gab einen Laut von sich.

Er öffnete den Rucksack und blickte aufs Display.

 

Biste da? Skypen?

»Was ist los? Du siehst aus wie eine Leiche auf Urlaub.«

Argwöhnisch starrte ihm wenige Minuten später das Mädchen durch die Kameralinse entgegen, das tagtäglich mit ihren dunklen Haaren, den strahlenden Augen und geistreichen Witzeleien seinen Skype-Schirm ausfüllte.

»Was los ist? Nichts ist los«, antwortete Finn und fragte sich, wie Carlas emotionales Radar über so eine enorme Entfernung nur funktionieren konnte.

Im Hintergrund war normalerweise immer ihr Zimmer zu Hause in den Staaten zu sehen. Doch jetzt blickte er in ein Hotelzimmer, das sich in Kunning, China, befand, wo sie mit dem Pennsylvania Jugendorchester auf Tournee war. Hinter ihr auf dem Bett lagen ihr Gepäck und ein Cellokasten.

Was sie von China aus sah, war eine nachgebildete Kasernenstube, die extra innerhalb des Nanokomplexes errichtet worden war. Carla war im Glauben, dass Delta auf einem Luftwaffenstützpunkt in England festhing, um dort an einem geheimen Projekt zu arbeiten – und dass Finn nur ein Kind war, das dort auf dem Stützpunkt zusammen mit seinem Onkel lebte. Als Delta sie einander vorgestellt hatte, hatten sie sich auf Anhieb verstanden, obwohl sie nicht so sehr Seelenverwandte waren als vielmehr Gegensätze, die sich anzogen. Carla wusste alles, was Finn nicht wusste (und auch gar nicht wissen wollte), vor allem über Kunst sowie das Leben im Allgemeinen; und Finn wiederum wusste alles über Natur und Naturwissenschaften, wovon sie keine Ahnung hatte.

Was Carla jedoch ebenfalls nicht wusste, war, dass jeder, den sie über die Kamera sah, nur etwa einen Zentimeter groß war.

»Da stimmt doch hundertpro was nicht.«

»Ich hab ein Haustier verloren«, griff Finn zu einer Notlüge.

»Ein Haustier? Ihr dürft Haustiere auf einem Luftwaffenstützpunkt halten?« Sie klang eindeutig skeptisch.

»Nur ’ne Maus.«

»Eine Maus? Wie hieß sie denn?«

»Fluffy. Spielt keine Rolle.«

»Natürlich spielt es eine Rolle. Mir ist mal ein Hamster gestorben. Mir ist fast das Herz gebrochen. Weiß Delta davon?«

»Klar. Woraufhin sie zu mir gesagt hat, dass das Leben trotzdem viel schöner ist, als man denkt.«

»Wie überaus gönnerhaft! Die denken, dass wir einfach nur Kinder sind! Die haben keine Ahnung, wie das Leben für uns ist«, lamentierte Carla herum, die es stets ausgiebig genoss, sich von ihrer Schwester und Erwachsenen im Allgemeinen anwidern zu lassen.

»Was ist passiert? War es Altersschwäche?«, fragte sie mit sanfter Stimme.

»Nee, mein Onkel hat sie umgebracht«, erwiderte Finn. »Es war schon spät, sie haben sich was hinter die Binde gekippt, und dann ging eine Keilerei los …«

Sie musste gegen ihren Willen lachen.

»Oh, HAHA … du gehst deinen Gefühlen aus dem Weg!«

Irgendjemand rief etwas aus dem Hintergrund. »Carla, wir müssen los!«

»Okay!«, rief sie zurück und wandte sich Finn dann wieder lächelnd zu.

»So, das war’s. Wir fahren zum Flughafen. Du hättest sehen sollen, woran wir hier neulich vorbeigefahren sind – hier gibt’s doch tatsächlich eine Zwergenwelt! Ein Vergnügungspark voll mit kleinen Leuten zum Begaffen. Kannst du dir so was Grausames vorstellen?«

»Ehrlich gesagt nicht«, erwiderte Finn ohne eine Spur von Ironie in der Stimme.

Finn wünschte sich, er könnte mit ihr gehen … wünschte sich, er könnte überallhin gehen und mit wem er wollte.

Carla schnappte sich ihre Sachen und wollte gerade den Bildschirm zuklappen, als sie plötzlich innehielt und gestand: »Weißt du, irgendwie hab ich häufig das Gefühl, als wäret ihr beide auch in so einer Art Vergnügungspark eingesperrt … ist das nicht so was von superschräg?«

»Haha! Wieso das denn?«, erwiderte Finn, um Zeit zu schinden.

»Ich weiß auch nicht, all die verrückten Geschichten und so. Außerdem habe ich dich niemals außerhalb dieser Kasernenstube gesehen …«

»Na ja, ist ja auch ein Geheimstützpunkt«, sagte Finn.

»Eben. Immer diese große Geheimniskrämerei bei euch beiden!«

»Carla!«, rief die Stimme aus dem Hintergrund erneut, und sie winkte ihm zum Abschied zu.

Puh, dachte Finn.

Als Finn die Kasernenstubenkulisse verließ und wieder ihre Nano-Unterkunft betrat, verstummten Delta, Kelly und Stubbs urplötzlich. Er hasste es, wenn Erwachsene das taten.

»Was?«, sagte Finn. »Worüber habt ihr euch unterhalten?«

»Ach, nichts«, antwortete Delta.

»Lügnerin«, sagte Finn.

»Wir haben uns darüber unterhalten«, sagte Kelly, »dass wir als Team zusammenhalten müssen. Alles braucht seine Zeit.«

»Ich weiß«, meinte Finn. Zumindest was das anbelangte, konnte er sicher sein.

»Dein Onkel wird irgendwann die Antwort finden«, brachte Stubbs fast widerstrebend vor.

»Ist auch besser für euch, wenn ihr dran glaubt!«, ertönte auf einmal eine dröhnende Stimme, während sich ein Schatten über sie senkte, als wäre irgendwo über ihnen plötzlich eine große Wolke aufgezogen.

Die vier winzigen Gestalten blickten zum Riesen empor und beteten um gute Nachrichten.

»Ich hab die Antwort einfach noch nicht«, machte Al unter einem Chor von Seufzern die Sache kurz. »Wer hat jetzt Lust auf einen zünftigen Sonntagsbraten?«

 

Da er sowieso nichts Besseres vorhatte, willigte Finn ein, den Sonntag zusammen mit Al bei Oma zu verbringen. Schon wenig später rasten sie in Als unvergleichlichem De-Tomaso-Mangusta-Sportwagen8 über die Landstraßen zwischen Hook Hall und dem Dörfchen Langmere dahin und freuten sich darüber, wie der Wagen das Herbstlaub auf dem Asphalt aufwirbelte und den Mercedes des Geheimdienst-Begleitteams locker hinter sich ließ.

Finn saß in einem Nanokabuff (oder »nKab, wie Al die Dinger gerne nannte), das an Als Brusttasche festgeklemmt war.

Für die Nano-Crew hatte nicht nur eine Möglichkeit gefunden werden müssen, untergebracht und gehört zu werden, sondern von Zeit zu Zeit auch den Laborkomplex zu verlassen, und nKabs waren die Antwort darauf. Dieses ganz besondere nKab war wieder einmal eine von diesen exzentrischen Lösungen, wie sie für Al so typisch waren, sprich: ein altmodischer Sony-Kassetten-Walkman von annähernd Taschenbuchgröße, den man für die Unterbringung von Nanomenschen umgebaut hatte. Es gab ein Sofa, getöntes Glas, damit sie hinaussehen konnten, eine direkte Audioverbindung zu Al über die Ohrhörer und einen eingebauten Lautsprecher für den Fall, dass sie sich in einem etwas weiteren Radius verständlich machen mussten.

»Erzähl mir, was mit Fluffy schiefgelaufen ist. Vielleicht kann ich ja helfen«, sagte Finn.

»Ungefähr drei Gramm«, erwiderte Al.

»Drei Gramm?«, fragte Finn.

»Korrekt«, sagte Al. »Wir haben Fluffy geschrumpft und dann wieder rückskaliert – in absolut perfekter Weise, jedes Atom, jedes Molekül genau am richtigen Platz. Und trotzdem … am Ende war Fluffy mausetot und drei Gramm leichter. Es ist, als wären die elektrischen Interaktionen und Reaktionen, die einen Körper in Gang halten – der Stoff des Lebens – irgendwie abhandengekommen. Wir müssen einfach nur das Warum, Was, Wo und Wann eingrenzen, und dann werden wir in der Lage sein, etwas dagegen zu unternehmen. Aber im Moment haben wir keinen Schimmer … sondern nur drei fehlende Gramm.«

Die Unterhaltung setzte sich fort, als sie später an diesem Nachmittag mit Oma im Wald spazieren gingen – was erneut für Kopfschmerzen beim Geheimdienstteam sorgte. Al war als Topziel für eine Entführung eingestuft worden, aber Oma lehnte hartnäckig jedwede weiteren Sicherheitsmaßnahmen ab. Sich irgendwelchen Schurken zu beugen, gab es für sie einfach nicht – und ein Geheimnis in Als fehlenden drei Gramm auch nicht.

»Diese drei Gramm sind ganz offensichtlich die Seele«, sagte Oma. »Das Göttliche.«

»Mutter! Als Frau eines Wissenschaftlers, Mutter von zwei weiteren Wissenschaftlern und als ehemalige medizinische Fachkraft, glaubst du da wirklich, dass …«

»Wage es ja nicht, dich in unflätiger Weise über den einfachen, aufrechten Glauben auszulassen!«, protestierte Oma lautstark. »Die Leute haben ein Recht auf mystische Erfahrungen!«

»Lasst uns nicht schon wieder darüber streiten!«, flehte Finn, war das doch ein Thema, das ihnen während eines Großteils seines Lebens mindestens drei Mahlzeiten pro Woche versaut hatte.

Wäff!, stimmte Jo-Jo zu, der vorausrannte und in Finn ein spontanes Bedauern aufkommen ließ, dass er sich nicht für den Hund als Transportmittel entschieden hatte. Eine Sache, die er ansonsten häufig tat. Im Fell direkt unter Jo-Jos Ohr sitzend, lenkte er ihn dann mit einfachen Befehlen. Jo-Jo war die beste, planloseste Promenadenmischung, die jemals das Licht der Welt erblickt hatte. Er konnte sich keinen Reim auf Finns physisches Verschwinden machen – genauso wenig, wie er sich einen Reim darauf machen konnte, was eigentlich Wolken waren –, aber er konnte Finn immer noch riechen und hören, was alles war, was er zu seinem Glück brauchte.

Vorsichtig kamen Oma und Al wieder aus ihrer Deckung.

»Wenn’s nichts Übernatürliches ist, wie lautet dann deine naheliegendste Vermutung, was die fehlenden drei Gramm anbelangt?«, fragte Finn Al vom nKab aus.

»Ich halte es für am wahrscheinlichsten, dass wir es mit einer Wechselwirkung zwischen Dunkler Materie, Lichtgeschwindigkeit und elektrochemischen Reaktionen innerhalb von lebenden Körpern zu tun haben«, erwiderte Al.

»Dunkle Materie?«, fragte Oma.

»Ja, Dunkle Materie, auch bekannt als Dunkle Energie. Das ist ein mysteriöser Stoff, aus dem fast das ganze Universum besteht. Aber niemand weiß, was es ist oder wie es funktioniert. Niemand außer uns. Wir haben entdeckt, dass das Schrumpfen normaler Materie – Atome und all so was – mit einem proportionalen Schrumpfen Dunkler Materie einhergehen muss, denn andernfalls würde man unglaublich schwer werden bzw. bleiben, so schwer wie im ungeschrumpften Zustand.«

»Aber wo ist sie?«

»Wer weiß? Sie ist nicht zu beobachten, wir können nicht einmal zu experimentieren anfangen – und ohne Experiment sind wir nichts anderes als Affen, die in ihren eigenen Exkrementen herumstochern.«

»Entzückend!«, sagte Oma.

»Stell dir Dunkle Materie als einen Schatten vor – in diesem Fall einen Schatten, der fünfundneunzig Prozent unseres Körpergewichtes ausmacht. Wenn du kleiner wirst, wird auch der Schatten kleiner. Aber das ist nur eine Vermutung.«

»Hat mein Dad nicht an Dunkler Materie gearbeitet?«, fragte Finn.

Oma versteifte sich plötzlich und rief nach Jo-Jo, der das Haus erreicht hatte und nun an der Hintertür kratzte.

Oma redete nicht gerne über Finns Vater, Ethan Drake, der vor Finns Geburt während eines Laborunglücks verschwunden war.

Das Feuer hatte ihn so vollständig verzehrt, dass man nichts anderes mehr von ihm gefunden hatte als den Spharelit9-Stein, den er um den Hals getragen hatte. Denselben Stein, den Finns Mutter getragen hatte, bis sie vor zwei Jahren an Krebs gestorben war, und der nun um Als gigantischen Hals neben dem nKab hing.

»Niemand weiß genau, womit dein Dad beschäftigt war, als er von uns ging«, sagte Al. »Wir haben noch einige seiner Aufzeichnungen aus dieser Zeit, aber deine Mom hatte dich gerade erst bekommen, und die meisten seiner Assistenten waren mit ihren Prüfungen beschäftigt.«

»Ich wusste gar nicht, dass er Aufzeichnungen hinterlassen hat. Kann ich sie lesen?«, sagte Finn.

Al runzelte die Stirn. Dreizehn Jahre hatte er damit zugebracht, sich in ihnen zu vergraben; und vermutlich konnte er sie mittlerweile auswendig herbeten.

»Tee! Wir müssen reingehen und den Kessel aufsetzen, bevor es dunkel wird«, unterbrach Oma sie, bestrebt, die Dinge in ihrem Sinn voranzutreiben.

Aber Al war noch voll bei der Sache, und ganz offensichtlich war es keine angenehme.

»Sie sind kompliziert, Finn. Ein heilloses Durcheinander sogar. Jede Menge Sachen, die wie Antworten aussehen, es aber nicht sind. Das ist nicht das, was du dir wünschst«, brachte er geheimnisvoll und etwas verlegen hervor.

»Und Kuchen! Wir haben noch jede Menge Kuchen«, ließ Oma nicht locker, während sie ihre Schlüssel herausholte und aufsperrte.

»Was soll das heißen? Wirst du sie mir nun zeigen oder nicht?«, sagte Finn.

»Vielleicht. Eines Tages.«

»Sherry!«, beendete Oma das Ganze und trieb sie ins Haus.

 

Als sie schließlich wieder in Labor 1 zurückkehrten, war es bereits spät geworden.

Al öffnete den Sony Walkman und wünschte Finn am Rand des Nanokomplexes eine gute Nacht.

»Wir werden das Experiment morgen erneut versuchen und jeden Tag, so lange, bis wir’s richtig hinkriegen«, versprach er, während er zum Abschied winkte und dann davonging.

Während Finn verfolgte, wie er sich entfernte, empfand er auf einmal Trost. Sein Onkel mochte vielleicht eine Brille tragen, die mit Klebeband zusammengehalten wurde, aber er war beruhigend riesig – sowohl was seinen Verstand anbelangte als auch seinen Körper.

Alles lag im Dunkeln, und Finns Vermutung nach waren die anderen schon ins Bett gegangen.

Dann hörte er eine Stimme.

»Fühlst du dich jetzt besser, Noob?«, sprach Delta aus der Finsternis Finn mit seinem Spitznamen an.

Dann plötzlich – PLING! – gingen sämtliche Lampen auf einmal an. Geblendet stand er da.

»Was zum …«

Als Finns Augen sich langsam wieder an das Licht gewöhnten, konnte er drei Gestalten, einige Luftballons und … ein Ding erkennen.

»Überraschung!«

4

29. SEPTEMBER 22:58 (WEZ + 1).

Hook Hall, Surrey, Großbritannien

Delta haute ihm auf den Rücken.

»Happy Beinahe-Birthday!«, grinste Kelly.

»Wir dachten, wir heitern dich mal auf«, sagte Stubbs in todernstem Ton.

Sie traten zurück, um Finn das Ding begutachten zu lassen.

Die anderen hatten es während des letzten Monats getestet. Finn hatte zuvor bereits ein paar Teile davon erhascht, Baupläne auf Computerschirmen, aber noch nie zuvor hatte er das ganze Gerät zu Gesicht bekommen.

»Das nCraft?«, sagte Finn.

»Wie ich sehe, hast du aufgepasst«, sagte Kelly.

»Sag Hallo zum X1-Experimental-Nanodüsengleiter«, murmelte Stubbs ehrfurchtsvoll.

Delta biss sich vor Aufregung auf die Lippen, als wäre ihr gerade die beste Geburtstagsüberraschung aller Zeiten gelungen.

»Der Kerl ist ein Genie«, sagte Kelly und rubbelte Stubbs über das verbliebene Haar.

»Das Ding ist pfeilschnell und lässt sich auf einem Stecknadelknopf wenden!«, sagte Delta.

»Es ist …« Finn versuchte, es in Worten auszudrücken. »… ein bisschen hässlich.«

Lange Gesichter. Finn dachte, Kelly würde gleich losheulen oder ihm eine verpassen.

»Das ist doch kein Schönheitswettbewerb!«, schrie er.

Das Teil, fand Finn, sah aus wie einer jener Tiefseefische, die sich in der ewigen Finsternis der Ozeangräben entwickelt hatten. In ihrem Maßstab etwa so groß wie eine Limousine war es mit zwei Glotzaugen von Scheinwerfern sowie einem Frontkühlergrill ausgestattet, der aussah wie ein aufgerissenes Riesenmaul. Es hatte diverse stummelartige Tragflügel und Steuerruder, die wie Flossen aussahen, und eine schwanzförmige Heckpartie mit einer schwarz versengten, hässlich aussehenden langen Abgasdüse. Die Unterseite war gleichmäßig mit Gruppen kleiner Schubdüseneinheiten übersät, die wie hässliche Pockennarben aussahen.

»Ich will nicht gemein sein«, sagte Finn entschuldigend. »Ich sage ja nur, dass es wie ein hässlicher Käfer aussieht, und wenn ihr damit in Produktion geht …«

»Es ist nur ein Prototyp, Mann!«, rief Kelly. »Glaubst du etwa, wir würden dich auch nur in die Nähe des neuen X2-Modells lassen?«

»Ach, so oberflächlich«, seufzte Delta.

»Hey, ich bin immer noch zwölf«, sagte Finn und warf einen Blick auf seine Uhr. »Jedenfalls noch so gerade eben. Da erwartet man von mir, oberflächlich zu sein.«

»Nun, wenn das so ist«, sagte Stubbs, »gehe ich also auch nicht davon aus, dass du Lust auf eine Spritztour hättest.«

Mit diesen Worten legte er einen kleinen Schalter an der Außenhülle des Gefährtes um. Im Inneren traten Computer und Kreiselgeräte in Funktion, eine Düsenturbine sprang jaulend an, und der Käfer erwachte zum Leben.

Lichter leuchteten überall auf seinem Körper auf, und dann schwebte er, von einem Luftkissen getragen, vom Boden empor, während er Schwanzpartie und Flügel streckte, um absolut stabil in der Luft zu liegen.

»Wow«, sagte Finn völlig geplättet.

»Wir haben ihn nur für eine Nacht ausgeliehen. Zu niemandem ein Wort, vor allem nicht zu Al«, warnte Kelly ihn.

»Beachte die außergewöhnliche Stabilität«, begann Stubbs, ganz versessen darauf, die technischen Spezifikationen zu erläutern. »Ein zentrales Düsentriebwerk treibt einen Kompressor an, der die Kaltgasschubdüsen am gesamten Rumpf versorgt, die wiederum kontrolliert und gesteuert werden von einem vollautomatischen intelligenten Düsenführungssyst…«

»Okay, okay, ich will!«, sagte Finn.

Unter dem schrillen Summen, das das Düsentriebwerk unter ihnen von sich gab, und dem Fauchen diverser Schubdüsen, stiegen sie stetig dem Dach der Zentralen Feldanalyse-Kammer entgegen. Auf dem Oberteil des Käfers befand sich eine offene Kabine, die mit vier Sitzen, einem Überrollkäfig, einer Windschutzscheibe und diversen kruden Bedien- und Kontrollelementen ausgestattet war. Finn hatte das Gefühl, in einem flachen Sportwagen zu sitzen, nur dass die Fahrt so sanft und ruhig war, als würde man sich in einer Blase fortbewegen. Darüber hinaus war das Gefährt mit einer Lafette für ein M249-Minimi-Maschinengewehr ausgerüstet, um die Verteidigung gegen Insekten und andere Bedrohungen zu ermöglichen, die ihnen in der Außenwelt begegnen mochten.

Sie mussten vorsichtig sein. Labor 3, in dem sich das Gefährt eigentlich die ganze Zeit befand, galt als striktes Sperrgebiet. Aber die diensthabenden Techniker befanden sich allesamt in Labor 2, und Stubbs und Kelly hatten einige ihrer Überwachungsvorrichtungen manipuliert, um den Käfer dann über das Modellbahnschienennetz hinauszuschmuggeln – erst zum Nanokomplex und anschließend in die riesige leere Weite der ZFAK.

Finn genoss gerade die Aussicht, während sie über dem Ring aus einzelnen Teilchenbeschleunigern in die Höhe stiegen, als Delta plötzlich sagte: »Okay, festhalten«. Im nächsten Moment schossen auch schon ihre Hände vor und rammten die beiden Steuer-Joysticks nach vorne.

Finns Kopf flog nach hinten. Über ihm raste die Decke des ZFAK vorbei, während seine Innereien vergeblich seinem Skelett hinterherzukommen versuchten, als Delta eine harte Kehrtwende flog, um nicht am Ende der Halle gegen die Hangarwand zu krachen. In Deckenhöhe schossen sie wieder durch das ZFAK zurück, gingen dann in den Sturzflug und … WUSCH! Auf halber Strecke zum Boden zwang Delta den Käfer in eine 90-Grad-Kurve, ohne den geringsten Gedanken an ein Bremsmanöver zu verschwenden, da sich sämtliche Düsen auf einen Schlag so ausrichteten, dass sie den Schub exakt im richtigen Winkel lieferten. Finn saß nur noch da und schnappte nach Luft.

Gleich darauf schoss Delta auch schon auf die mit Computern vollgestopften Arbeitstische zu, die den Bereich der Beschleuniger säumten. Runter ging’s im Tiefflug über die Tische und im Slalom um Beschleuniger und Monitore herum, dass die Blätter und Notizzettel nur so aufwirbelten. Und noch einmal tiefer, um im irren Achterbahnflug unter Tischen und zwischen Stuhlbeinen hindurch dahinzujagen, bevor sie wieder in den leeren Raum emporschossen.

Finn schwirrte der Kopf. Sie flogen nicht: Sie waren pure Bewegung. Seine pure Euphorie versuchte gerade die jäh aufkommende Erinnerung an seinen Horrorflug mit der Scarlatti-Wespe im letzten Frühjahr zu verdrängen, auf deren Rücken er festgesessen hatte, als plötzlich … WUSCH! … Delta die Umkehrschubdüsen aufriss und den Käfer abrupt in der Luft zum Stehen brachte. Finn wurde so hart nach vorne geschleudert, dass er dachte, ihm käme die Lunge hoch – ganz zu schweigen von seinem Abendessen.

Inmitten plötzlicher Lautlosigkeit holte er tief Luft und warf einen Blick auf die Uhr an der Hallenwand. Es war Mitternacht, sein Geburtstag: Jetzt war er an der Reihe. Er grinste.