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Gabriele Diechler

Vom Himmel das Helle

Roman

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Christoph Neubert

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © George Mayer – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-3870-7

Erstens: Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod.

(1. Korinther 15,26)

 

 

 

 

Zweitens : We must start living from the heart.

(Kiesha Crowther)

Prolog

 

Ich bin immer davon ausgegangen, dass es nichts Schöneres gibt, als sich zu verlieben, bis einem das Herz beinahe vor Glück zerspringt.

Doch was bedeutet es, wenn der Mann deines Lebens ein Geist ist? Was ich erlebte, war keine Einbildung, sondern verstörende Realität. Als ich Mark das erste Mal wahrnahm, hielt ich mich für verrückt. Ich sprach offensichtlich mit einem Phantom, denn ich hörte jemanden sprechen, sah ihn aber nicht. Eine Weile versuchte ich zu ignorieren, was passierte. Ich war überarbeitet, da konnte es schon mal vorkommen, dass man Stimmen hörte. Ich würde mich schon wieder fangen. Doch Marks Stimme blieb, es gab ihn, er sprach zu mir und schließlich verliebte ich mich in ihn. Nach und nach begann ich zu verstehen, dass man von der Liebe heimgesucht werden kann, um ein neues, inneres Zuhause zu finden.

Bei Almut lag der Fall anders, sie war in eine verhängnisvolle Affäre verstrickt, die stündlich an Brisanz gewann.

Lieben oder nicht lieben war nicht länger eine gewöhnliche Frage für sie. Es war eine Entscheidung auf Leben und Tod.

Was ich damit zu tun habe? Ich bin die Notfallpsychologin, die man mit dem Fall Almut Lohmann betraut hat. Ich, Lea Einsiedel, soll alles aufklären.

 

Die Geschichte, die ich erzähle, nahm ihren Anfang, als ich Almut wieder sah. Wir kannten uns aus Schulzeiten. Zumindest kannte ich Almut, auch genannt die Heißbegehrte. Almut besaß die Fähigkeit, vierundzwanzig Stunden unverhohlen Freude zu zeigen. Sie lachte so laut – heute würde ich sagen, sie war manisch vergnügt – dass alle aufschreckten. Das Schlimmste für sie war es, unauffällig zu sein.

Ob sie mich damals bemerkte, ist fraglich. Ich war eine von vielen. Nichts Besonderes. Ich war klein, pummelig und vor allem war ich still.

Im Vergleich zu Almut, der Begehrten, kam ich mir oft zurückgeblieben vor. Ich lebte in einem Schneckenhaus, mit meinen Büchern, den strengen Eltern und krittelte an mir herum, während Almut groß war, gut sichtbar und einen federnden Gang hatte. Alles an ihr sah schnittig aus.

Während ich noch einen unsinnigen inneren Kampf mit mir führte, war Almut schon in die Schlacht des Lebens gezogen und trug erste Siege nach Hause. Vor allem bei den Jungs. Ihre knospenden Brüste halfen ihr dabei. Und ihre Leichtfertigkeit. Ganz klar, Almut war der Star.

Doch wegen dieser Attribute und aufgrund ihres Wesens war sie in der Schule zwar von den meisten bewundert, aber auch von nicht wenigen gehasst worden. Oft hassen wir die, die wir beneiden, weil wir nicht so sein können wie sie.

Damals ist lange her und was das Heute anbelangt, kann ich sagen, ich bin kein Mauerblümchen mehr. Und plötzlich ist Almut wieder mitten in meinem Leben. Diesmal haben wir sogar etwas gemeinsam. Wir haben beide einen geheimnisvollen Liebhaber.

Eins

 

Ich war früh aufgestanden, weil draußen jemand an seinem Auto herumschraubte. Nach etlichen erfolglosen Startversuchen des Hobby-Mechanikers, begann ich zu akzeptieren, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Ich schlug die Decke zur Seite, tapste ins Bad, duschte lange und stand wenig später in der Küche. Während ich darauf wartete, dass der Teekessel pfiff, begutachtete ich meine widerspenstigen Haare im Fensterglas. Heute Morgen waren sie noch schwerer als sonst zu bändigen. Notdürftig zupfte ich hier und da eine Strähne zurecht und gab dann auf. Der Teekessel pfiff, ich goss heißes Wasser in die Kanne, in der drei Teebeutel schwammen und blickte dabei gelangweilt aus dem Fenster.

An jenem Morgen, bevor die Geschichte mit Almut begann, schienen sich die Häuser ringsum auszudehnen. Unzählige Fassaden und Dächer, dazu Mengen von Autos und Mopeds. Um mich herum nur Stein und Blech. Die Stadt dehnte sich in eine seltsame Unendlichkeit. Unendlichkeit? Mit dem Wort hatte ich nie wirklich etwas anfangen können. Alles schien endlich zu sein. Meine Partnerschaften, meine Erfolgssträhnen im Job und natürlich das Leben selbst. Leider. Das bekam gerade ich, die ich eng mit der Mordkommission zusammenarbeitete, ständig vorgeführt.

 

An jenem Tag geschah zweierlei: Ich musste eine berufliche Niederlage hinnehmen und traf einen faszinierenden Mann namens Mark. Mark war dafür verantwortlich, dass ich eine verwirrende Erfahrung machte. Eine, die selbst mir Angst einjagte, die ich mich mit sämtlichen Abwehrmechanismen bestens auskenne: mit den tief liegenden Schichten und Funktionen des Gehirns sowie mit dem großen Zusammenspiel physiologischer Reaktionen, die die Aktivität der biologischen Systeme des Körpers überwachen.

Doch alles der Reihe nach.

Als ich an diesem Morgen ins Büro kam, stand fest, dass unser aktueller Fall zu den Akten gelegt werden würde. Ich bin dafür bekannt, nicht so schnell aufzugeben und selbst die kleinste Nische nach Brauchbarem zu durchforsten. Doch diesmal hatte es nicht gereicht. Eine Frau, die ein fremdes Kind zuerst entführt und später offenbar erdrosselt hatte, war spurlos verschwunden. Das Kind hatte man gefunden. Doch es gab keine Zeugen und kaum brauchbare Hinweise. Anfangs klang alles nach einem schrecklichen aber interessanten Fall. Doch wie ich es auch anging und was ich auch tat, ich konnte nichts ausrichten. Wir landeten in einer Sackgasse und ich nahm es persönlich. Ein enttäuschendes Gefühl.

Als ich spät am Abend heimkam, kochte ich mir einen Tee und mit dem Becher in der Hand und meinen Lieblingskeksen unterm Arm enterte ich mein Büro, um zur Ruhe zu kommen. Da saß ich also, ziemlich mitgenommen von der Arbeit, noch immer das Bild des toten Kindes im Kopf, und knabberte an meinen Keksen, während ich nachdachte. In letzter Zeit wurde mein Beruf immer mehr zur Belastung. Ich fühlte mich ausgepowert, überanstrengt, innerlich leer. Der unaufgeklärte Fall heute hatte mir den Rest gegeben. Ich dachte zum ersten Mal darüber nach, alles hinzuschmeißen, um etwas völlig Neues zu beginnen. Nicht länger nur mit Toten konfrontiert zu sein, erschien mir plötzlich derart verführerisch, dass ich ein Jahr Auszeit oder sogar eine späte Karriere als Illustratorin oder Sounddesignerin – für beides interessierte ich mich sehr – nicht mehr ausschließen mochte. Doch das war natürlich ein völlig schräger, unannehmbarer Gedanke. Schließlich musste ich die Miete und die Leasingraten für den Wagen zahlen und für meine Reisen in ferne Länder sparen, die mir so am Herzen lagen.

Außerdem lag es nicht nur an meiner Arbeit. Wo ich schon mal dabei war, reinen Tisch zu machen: Wann hatte ich das letzte Mal Herzflattern verspürt und mich in den Armen eines Mannes vergessen? Musste eine gefühlte Ewigkeit her sein. Plötzlich überflutete mich eine Welle puren Verlangens. Wo und wann hatte ich das Glück verloren? Wieso klappte es nicht mit den Männern? Ein drängendes Gefühl wie dieses würde ich nicht mit Schokokeksen stillen können.

Mitten in meine Überlegungen hinein hörte ich plötzlich eine Stimme. Warm und sehr verführerisch. Es war die Stimme eines Mannes und Hören ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck dafür, was mir geschah. Rückblickend vermute ich, dass ich das, was ich wahrnahm, nicht mit den Ohren registrierte, – eindeutig das Organ, das fürs Hören zuständig ist –, sondern mit einem anderen Teil meines Körpers. Welcher genau es war, kann ich nur vermuten. Am ehesten das Herz. Ich nahm etwas wahr, das mich an die Gegenwart eines Mannes denken ließ, obwohl sich niemand außer mir im Raum befand. Jemand nannte mich beim Namen, ohne dass ich ihn sah. Aber ich fühlte, dass dieser Jemand mich kannte und vermutlich deshalb meinen Namen mit seinem Gefühl nachbildete. Eine Art Blaupause legte sich als zweite Gegenwart über meine erste. Ich griff nach dem letzten Keks und biss, eher mechanisch, als tatsächlich gewollt, hinein.

»Hallo, Lea.« Kurze Pause. Dann: »Denk nicht so viel nach. Sorgen und Ärger lohnen nicht. Außerdem graben sie nur unschöne Falten in deine süße Stirn. Hab Vertrauen.« Ich ließ den Keks fallen und fuhr herum wie von der Tarantel gestochen. Mit dem Rest Normalfunktion, der mir geblieben war, stellte ich fest, dass bei mir die Region der Amygdala, das Angstzentrum mitten im emotionalen Teil des Gehirns, das wir mit Reptilien gemeinsam haben, aktiviert war. Die nackte Angst hatte mich so energisch gepackt, wie ich es selten erlebte.

Mein Leben schien einen Moment still zu stehen, absolut still, bevor ich weiter nachdachte. Was passierte gerade? Wer oder was hatte mich angesprochen und mir diesen Satz, dass ich mir keine Gedanken machen soll, zugeflüstert? Und wieso erwähnte derjenige meine süße Stirn? Mit unverhohlenem Misstrauen sah ich mich in meinem Büro um. Dem Raum, den ich täglich aufsuchte und der mein eigentliches Zuhause war. Schon deshalb, weil ich in ihm die meiste Zeit des Tages und oft genug der Nacht zubrachte. Doch es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Ich sah meine Ordner in der prall gefüllten Bücherwand, die ich seit ewigen Zeiten vergrößern wollte, den Papierkorb, der längst geleert gehörte, meinen PC, den Drucker, den Scanner, das mit Erinnerungszetteln gespickte Telefon und all den Kram, den ich seit jeher kannte und deshalb gar nicht mehr richtig wahrnahm. Nirgendwo im Raum zeichnete sich eine vage Struktur zwischen Licht und Dunkelheit ab, die mir fremd vorgekommen wäre. Da gab es nur mich und die Dinge um mich herum. Nichts war ungewöhnlich oder gar beängstigend.

»Ach ja. Ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Wie unhöflich«, sprach die fremde Stimme weiter. »Ich heiße Mark. Wir sind uns leider nie begegnet, als ich noch einen Körper hatte. Schade eigentlich.«

Ich hörte einen lang gezogenen Seufzer und schluckte schwer. Litt ich plötzlich unter Wahnvorstellungen und bildete mir Geister ein, die mit mir sprachen?

»Du bist nicht verrückt, Lea. Der Einzige, der hier ungewöhnlich ist, bin ich.« Mark lachte aufmunternd. »Als Erstes: Mich gibt’s wirklich. Ich bin zwar vor ewigen Zeiten verstorben – wann genau, spielt keine Rolle –, aber ich existiere. Und zweitens: Ich bin hier, um dir zu helfen«, erklärte er. Seine Stimme hatte erstaunlich viel Kraft. Sie klang tief und männlich. Das nahm mich gleich gefangen. Zweifellos sprühte Mark vor Energie. »Du spürst mich schon eine ganze Weile in deinem Leben, deswegen deine seltsame Unruhe. Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, mit dir Kontakt aufzunehmen.« Ich lachte gequält auf. »Du irrst. Ich spüre dich nicht, Mark«, ich zögerte, weil ich zum ersten Mal den Namen einer mir unbekannten Existenz aussprach. Wenn man jemanden kennenlernt und ihn beim Namen nennt, ist das immer ein besonderer Augenblick. Nicht umsonst werden Verkäufer dahingehend geschult. Die Nennung des Namens schafft Intimität und verbindet. »Wie auch immer, ich weiß nicht, worum es hier geht«, sagte ich, darum bemüht, ruhig zu bleiben. Mark ließ sich von meinem kurzen Statement nicht aus der Ruhe bringen und gab mir stattdessen weitere Informationen. »Ein schwieriger Fall wartet auf dich, Lea. Er wird dir einiges abverlangen, aber auch etwas verdeutlichen.« Mark schwieg einen Moment, als müsste ich das Gesagte erst verdauen. Und genau das versuchte ich auch. Ich bemühte mich durchzublicken und etwas zu begreifen, das mir unbegreiflich erschien. Ich wollte verstehen, was vor sich ging. Doch wie schnell schaffte es ein Mensch, sich klarzumachen, dass es Geister gab? Mark wandte sich erneut an mich. Mit besonnener Stimme sprach er auf mich ein. »Ich bin hier, um den Fall, den ich gerade erwähnt habe, gemeinsam mit dir zu lösen«, prophezeite er.

Ich sollte einen neuen Fall mit jemandem namens Mark lösen, der bereits tot war, sich mir aber trotzdem mitteilen konnte? Ein langsam rotierender Kreis schien sich, einer unentrinnbaren Schlinge gleich, um mein Gehirn zu ziehen. Ich war kurz davor durchzudrehen. Das, was ich gerade erlebte, gab es nicht. Weder diesen Fall. Noch einen Geist, der mit mir sprach.

Doch Mark lächelte nur. Zumindest fühlte es sich in meinem Inneren so an, als täte er es. Und dann erzählte er mir mit kurzen, einprägsamen Worten das Nötigste über den Tod, das Sterben und das, was danach kam. »Ich bin keineswegs tot«, erzählte Mark behutsam. »Das Leben ist unendlich. Aber das wissen nur wenige Menschen. Ich lebe nicht weiter, Lea. Wer weiterlebt, hat eine Unterbrechung erfahren, sonst gäbe es das Wort ›weiter‹ ja nicht. Ich lebe, das ist die ganze Wahrheit«, erklärte er. »Nur eben anders, als du es dir vorzustellen wagst.«

»Als Geist, vermute ich mal«, murmelte ich zaghaft und unterdrückte gleich darauf ein hysterisches Lachen. Gut, mein Leben war gerade eine Herausforderung. Aber war ich tatsächlich derart überlastet, dass ich mir Geister einbildete? Mark schien meine Gedanken pfeilschnell aufzufangen.

»Geist?« er lachte vibrierend auf. Jedenfalls fühlte sich irgendetwas in mir an, als täte er genau das. »Das Wort gibt es ausschließlich in der materiellen Welt. In deiner, Lea. In meiner existiert es nicht. Das ist etwas für euch, die ihr noch in der Dualität zu Hause seid. Gut und schlecht, schwarz und weiß, heiß und kalt. Tot oder lebendig.« Was redete Mark da über Dualität und die materielle Welt. Was, um Himmels Willen sollte es denn sonst noch geben, außer dem, was ich und alle anderen, mit denen ich zu tun hatte, kannten? Ich schluckte und fasste mir an den Kopf. Doch ich tappte ins Leere. In die unheilschwangere Luft neben meinem Schädel.

Zwei

 

Ich will nichts von dem, was passierte, vorwegnehmen. Deswegen beginne ich ganz von vorne und erzähle alles der Reihe nach.

Es begann im Grunde mit dem Besuch, ach was, dem Überfall meines Vaters. Der machte sich schon immer schlecht als Hintergrund in meinem Leben. Bereits zu Zeiten, als ich noch ein Kind war, und jetzt, im tiefen Erwachsenenalter, erst recht. Immer, wenn ich an ihn dachte, fiel mir als Erstes ein, wie lähmend seine Gegenwart war. Und so ahnte ich bei seinem unerwarteten Auftauchen – am Tag, nachdem mir Mark zum ersten Mal »begegnet« war, – dass es weder harmlos mit uns beginnen noch versöhnlich enden würde, sondern, wie zu erwarten, erbärmlich. »Renate hat mich, selbstredend grundlos, hinausgeschmissen«, begann er seine Erläuterungen, während er als schattenhafter Umriss in meiner Tür stand. »Und ich bin die nächste Anlaufstelle«, stellte ich richtigerweise fest. Mein Lächeln fiel mager aus, denn ich ahnte das Schlimmste. Der Schatten in der Türöffnung nahm noch mehr als zuvor die fast drohende Gestalt meines Vaters an und wandte sich ins Licht, der endgültigen Realität zu.

»Der Mensch taugt ja nicht zum Einzelgänger«, versuchte mein Vater mir auf die Sprünge zu helfen. Ich wich zurück und ließ ihn hinein. Was blieb mir auch anderes übrig? Ich wollte schließlich nicht unhöflich sein. »Trotzdem sollte man sich gründlich überlegen, mit wem man unter einem Dach lebt«, warf ich ein. Mir gelang bestimmt nicht die einfühlsamste Begrüßung, aber ich war wenigstens ehrlich. Papa ließ nicht locker. »Denk dran, dass du früher bei mir und deiner Mutter gewohnt hast. Geben und nehmen heißt es in der Bibel, nicht wahr?« Er stellte sein Gepäck ab, einen abgewetzten Lederkoffer und einen silbernen Trolly und verbarrikadierte so meinen Flur. Dann sah er mich erwartungsvoll an. »Ach ja, und da wäre noch das Geld, das ich dir damals, nach der Trennung von Berthold geliehen habe, Lea!« Das Gepäck zurücklassend, trat mein Vater schnurstracks an mir vorbei in das Herz meiner kleinen Wohnung, die gerade für mich ausreichend war: für meine Büchersammlung im Wohnzimmer, meine Kräutertöpfe auf der Fensterbank in der Küche und mein kleines Büro, das mein Job als Notfallpsychologin notwendig machte. »Das mit dem Wohnen bei dir, meinst du damit die Zeit seit meiner Geburt?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen. Es war geradezu lächerlich. »Selbstverständlich«, klärte mein Vater mich auf und drehte sich mit Schwung nach mir um.

»Ich wusste nicht, dass das bereits eine Leistung und ein besonderes Entgegenkommen ist.« Ich schüttelte gut sichtbar den Kopf, doch es machte ihm – grobstofflich gestrickt, wie er nun mal war – natürlich nichts aus. »Die Entscheidung, Vater zu werden, ist durchaus eine Leistung, meine Liebe«, begann er sein Referat. »Besonders, wenn man einen Beruf wie meinen ausübt. Ich wollte deiner Mutter diese Erfahrung natürlich nicht nehmen. Auch wenn ein Kind nach der kompletten Änderung des Alltags verlangt.«

Ich schluckte weitere Kommentare gerade noch hinunter und blickte auf den sich behände dahinschlängelnden Rücken, der die Küche ansteuerte. Mein Vater war eine giftige Schlange, die sich bei mir einnistete.

Ich würde uns einen starken Kaffee aufbrühen, Eier in die Pfanne werfen und in Ruhe mit ihm reden. Zu mehr war ich weder verpflichtet, noch in der Lage. Schließlich hatte ich einen anstrengenden Tag hinter mir. Doch es kam natürlich anders.

 

Mein Vater hatte das Wohnzimmer als neuen Lieblingsplatz auserkoren, sich ins Sofa plumpsen lassen und plauderte munter vor sich hin. Wir hatten Spiegeleier mit Speck und danach Pfirsiche mit geschlagener Sahne gegessen und saßen seit drei Stunden im Wohnzimmer und redeten. »Im Übrigen hast auch du nur noch mich!« Er versuchte, mich an meinen Single-Status zu erinnern, was völlig unnötig war. »Oder läuft da was mit irgendeinem Kerl, von dem ich nichts weiß? Seit dem Ende mit Berthold scheint bei dir ja irgendwie der Wurm drin zu sein.« Die Trennung von Renate schien meinen Vater weniger mitzunehmen als angenommen. Vermutlich war er eher beleidigt als betroffen. »Lass mich aus dem Spiel, Papa. Diesmal geht es um dich.« Doch genau das hatte mein Vater nicht vor. Er wusste, wie schwierig es für mich war, eine Beziehung am Laufen zu halten. Deshalb fühlte er sich bemüßigt, mir hin und wieder Tipps zu geben, lautstarke Tipps, wie man eine glückliche führte. Weil er mit Mama bis zu ihrem Tod, der uns alle bei ihrem Alter von knapp über sechzig überrascht hatte, verheiratet geblieben war, gab er sich als Profi aus. Dabei lag es einzig und allein an ihr, dass das Ganze nicht auseinandergebrochen war wie angeschlagenes Porzellan. Meine Mutter hatte in spirituellen Büchern über Hingabe und Demut gelesen und darin Trost und Hoffnung gefunden. Nicht Erfüllung, sondern lediglich die Motivation, nicht alles hinzuschmeißen. Also hatte es all die Jahre über irgendwie geklappt. Seinerseits war keine Leistung dazu erforderlich gewesen. Ihrerseits schon, aber darüber hatte Mama nie wirklich gesprochen. In ihrer Generation galt noch der Satz: Man leidet, schweigt und lebt irgendwie weiter. Als gäbe es so was wie ein Anrecht auf Glück gar nicht. Ich spürte jedes Mal, wenn ich sie zu Gesicht bekam, was oft genug der Fall war, wie die Dinge standen. Schlecht, elendig schlecht. Kein Wunder. Papa war ein Neurotiker, der jedem den letzten Nerv zog. Ohne Betäubung. Selbstverständlich bekam er von seinen Macken nichts mit und lebte munter wie eine Biene, die sich auf ein frisch geöffnetes Marmeladenglas gesetzt hatte, in die Tage hinein.

Bei mir sah es schon anders aus. Ich las keine spirituellen Bücher, war bereits weit in den Vierzigern und dazu ziemlich ausgebrannt. Was meine letzte erwähnenswerte Beziehung anbelangte, die hatte mit einem Immobilienmakler stattgefunden, der Objekte und Kunden in Mallorca betreute. Weshalb unsere Beziehung anfangs ganz gut klappte. Wenn man sich nur hin und wieder sah, gab es wenig Gelegenheit zu streiten. Trotzdem verlief das mit uns mehr oder weniger im Sand. Manchmal hatte ich das Gefühl, er verdingliche mich, meinen Körper, meine Empfindungen und Gedanken, genauso wie die Häuser, die er anbot und mit glänzendem Gewinn veräußerte.

Aber da selbst die Bewegung von Körpern im All ein chaotisches Phänomen ist, nahm ich für mich nichts Anderes in Anspruch. Leben ist wie ein Ball, den man in die Luft wirft und der durch die Einwirkung von Luft, der Objekte um ihn herum und des Zufalls irgendwo landet.

Als ob all das nicht reichte, kam jetzt also mein Vater dazu und machte sich in meinem Wohnzimmer breit. So hatte ich mir den neuen Mann in meinem Leben, mit dem auch eine gemeinsame Adresse nicht ausgeschlossen war, nicht vorgestellt – ja, ich geb’s zu, das ist eine gewagte Vorstellung wenn man die vierzig überschritten hatte, aber ich hing nun mal an meinem Bild des Glücks.

Ich tapste zurück in die Küche, richtete Käse- und Schinkenbrote, weil mein Vater noch immer Hunger verspürte und redete weiter mit ihm. Die Zeit verging und ich brachte es natürlich nicht übers Herz, ihn abzuweisen. Offenbar war sein Leben in letzter Zeit zu einem dieser miserablen Fertiggerichte verkommen, die nicht schmeckten. Doch das hätte er mir gegenüber natürlich nie zugegeben. Und abgesehen von mir, wen hatte er denn noch? Mit Renate würde es definitiv nichts mehr werden. Die hatte bereits einen Neuen, erzählte er hastig und auch ein wenig betroffen und gekränkt.

»Sie hat einen schmierigen Advokaten an Land gezogen. Mit ordentlich Geld unterm Hintern, dafür aber schlechten Manieren. Na ja, Renate hat’s ja mit dem Verwöhnen: teure Urlaube, Kleider, Schuhe … Dürfte für ihn kein Thema sein. Sie kann also ihre Marotten in Ruhe weiter füttern!« Papa verdrehte angewidert das Gesicht und ich musste an seinen überfüllten Kleiderschrank denken. Er kaufte selbst wie eine Frau ein. Ach was, wie eine Diva. Aber das waren natürlich alles Schnäppchen, weshalb er sich als Einkaufsgenie betitelte, nicht als Süchtigen.

»Hast du vielleicht noch einen Cognac?«, rief er von seinem Platz gleich am Fenster des Wohnzimmers. Und was tat ich? Durchstöberte meine Bar und schenkte ein. »Ich weiß, Lea, du hast deine Arbeit und dein Leben«, entgegnete mein Vater nach dem zweiten Glas Weinbrand. Er war dazu übergegangen, mit schlurfenden Schritten durchs Wohnzimmer zu wandern. Er wusste genau, dass da kein Leben nach der Arbeit war, außer dem Fernseher, dem Kühlschrank und einem Stapel Bücher. »Apropos Leben. Was gibt’s Neues an der Männerfront? Ist Entspannung in Sicht?« Er ließ nicht locker und sah mich forschend an. »Findest du nicht, du solltest mal wieder über deinen langen Schatten springen und einen ran lassen?« Papa quiekte auf wie ein Schweinchen und ich drehte mich weg. Nur die Ruhe bewahren. Vielleicht sollte ich doch mal in einem von Mamas zurückgelassenen spirituellen Büchern schmökern. Ich hatte Hilfe dringend nötig.

Mein Vater ging mit einer Systematik, die seinesgleichen suchte, daran, meinen Kopf mit seinen Wörtern vollzustopfen. Hast du dies, kannst du mal das, mach das doch mal so, ich hab halt mehr Erfahrung und so weiter und so fort. Er trompetete ständig in meine Ohren. Kaum über die Schwelle meiner Wohnung getreten, tapezierte er mein Leben mit seinen Launen und Vorstellungen, und das, wo ich gar nicht renovieren wollte.

Viele Jahre lang hatte ich mir ernsthaft darüber Gedanken gemacht, es hinge vielleicht damit zusammen, dass mein Vater in seinem kreativen Beruf bereits alles an Spielfreude und Spontaneität auslebte. Da blieb im privaten nur noch ein Rest an Funktionalität übrig, den er uns, meiner Mutter und mir, als ungenießbaren Happen zuwarf. Aber was brachte das Grübeln außer neuen Falten?

Jetzt hieß es, die Klippen des Lebens elegant zu umschiffen, ohne die gegnerische Flotte komplett zu vernichten und selbst Schiffbruch zu erleiden. Wie ging man mit einem Mann um, der einen gottgegebenen Anspruch auf die Rolle des Leithammels erhob? Schon nach einigen wenigen Stunden mit ihm war ich mir sicher, dass wir zwei zusammengepferchte, vom Schicksal überrannte Gefühls-Asylanten waren. Familienuntauglich.

»Ich habe mal einen Plan erstellt, wer was wann zu tun hat. Im Haushalt, meine ich.« Das durfte doch nicht wahr sein. Jetzt schrieb er mir schon vor, wie ich zuhause vorzugehen hatte. Dabei war er noch gar nicht richtig eingezogen. »Ich habe ja noch mein Sportprogramm und hin und wieder ruft auch noch mal ein Kunde an. Ich muss also sehen, wie ich klar komme.« Papa senkte seinen Blick und ich wusste Bescheid. Er, der Pensionist, musste sehen, wie er klarkam. Natürlich, Papa war studierter Kunsthistoriker und Restaurateur gewesen. Zwar wurde er auch heute immer wieder mal kontaktiert, weil er wirklich eine Koryphäe war. Aber offiziell war er in Pension. Ich vermutete, dass das der Grund war, weshalb Renate ihn rausgeschmissen hatte. Nicht die Pension, sondern die immer noch eintrudelnden Anrufe und Anfragen, ob er eines der teuren Kunstwerke retten könne. Sein penibles Wesen einschließlich seiner Neurosen wurden unerträglich, wenn er arbeitete. Sie waren zwar die kostenlose Draufgabe, das i-Tüpfelchen, das ihn zu einem Ass machte. Doch so lange ich denken konnte, hatte Papa seine Arbeitswut nicht kaschieren können, sie stand im Mittelpunkt seines Lebens. Er liebte seine Lacke, Farben, Pigmente, Lösungsmittel und seine Essig-Sammlung, auf die er schwor. Mehr als alles andere. Sogar mehr als seine Frauen. Die waren die Dreingabe. Dieses Sammelsurium hatte unsere Wohnung früher wie ein Trümmerfeld aussehen lassen. Auch das war Mama stillschweigend, aber gehörig auf die Nerven gegangen.

Natürlich sah es auch bei mir bald wie in einer Praxis aus, in der kunstvoll operiert wurde, denn selbstverständlich war mein Vater bereits an dem Tag, an dem er bei mir vorstellig geworden war, mit Sack und Pack eingezogen. »Das kleine Kämmerchen neben deinem Schlafzimmer reicht mir völlig!«

»Das ist mein Büro, Papa!«, hob ich an, verstummte aber schnell. Verflixt, ich saß längst in der Patsche. Was machte es da schon aus, dass Papa gleich einen Anruf erhielt. Kaum hatte er das Telefon zurückgelegt, da fing er auch schon damit an, mit Elefantendung das schadhafte Werk eines Künstlers aufzufüllen. Wo hatte er den Dung nur her? Sein scheußlicher Gestank drang durch alle Ritzen und Spalten der Türen. Ich wusste, dass mein Vater nach dem ersten Wort von mir damit ankommen würde, was mit dem Elefantendung zu verdienen sei. Vermutlich eine Menge. Wogegen ich lediglich ein überschaubares Einkommen verbuchte.

Was trieb ihn nur dazu, bei mir wohnen zu wollen? War es die Einsamkeit? Angst vorm Alter? Oder etwa die Erinnerung an gute alte Zeiten mit mir, als ich klein und rotznäsig war und er etwas versäumt hatte? Das konnte er jetzt, noch immer holprig im Umgang mit mir, sicher nicht nachholen. Er hätte sich ein Penthouse mieten können. Er hatte Geld. Aber er knauserte, als müsse er sich jeden Bissen vom Mund absparen. Die Frage, die ich mir am meisten stellte, lautete: Wohin würde unser erzwungenes Zusammenleben führen?

Drei

 

Die Lage verschärfte sich, als ich einen neuen Fall übernahm. Es war der Fall, den Mark mir angedeutet, oder sollte ich besser sagen, angekündigt hatte.

Der Himmel war an diesem Tag gestreift von grauen Wolkenstrichen und zitternder Dunst lag über den zuvor noch glühenden Steinen der Häuser und Straßen. In diesem Sommer gab es ungewöhnlich viele und vor allem starke Gewitter. Hochwasser, Wassereinbrüche und Überflutungen waren die Folge. Ich machte mir manchmal darüber Gedanken, wo das alles hinführen sollte, aber ich konnte natürlich nichts daran ändern.

Viel mehr als das Wetter beschäftigte mich, dass ich es bei meinem neuen Fall mit einem Mord zu tun hatte, von dem Mark gewusst hatte, bevor es zur Tat kam. Wie war das möglich? Und wieso hatte Mark den Mord dann nicht verhindern können? Zusätzlich zu einem Toten gab es eine Frau, die übel zugerichtet worden war. Es war die Ehefrau des Mordopfers. Man hatte sie mit brutal verpflastertem Mund im Eichenschrank ihres Wohnzimmers gefunden. Gott sei Dank hatten die Nachbarn Alarm geschlagen, weil sie die Frau des Toten, die jeden Mittag ins Fitnessstudio zu fahren pflegte, an jenem Tag nicht zu Gesicht bekommen hatten. Wären die neugierigen Nachbarn nicht gewesen, hätte die Frau des Opfers sich alsbald zu ihrem Mann gesellen können. Als man sie fand, röchelte sie zum Erbarmen laut. Der Rest ihres Körpers sah leider auch sehr mitgenommen aus. Blut, wohin man blickte. Dazu Quetschungen, Prellungen, Schürfwunden, eine gebrochene Nase, ausgerissene Haarbüschel. Doch das Schlimmste war ihr psychischer Zustand. Sie hatte ein schweres Trauma erlitten, zitterte und vibrierte am ganzen Körper und sprach kein Wort.

Als ich sie sah, wusste ich sofort, wen ich vor mir hatte. Das fein gezeichnete Gesicht, etwas älter zwar, aber immer noch erkennbar schön, sprang mir sofort ins Auge. Das störrische, wild gelockte Haar, aber vor allem ihre Hände waren mir ebenfalls gut bekannt. Sie hatte schon damals die Angewohnheit gehabt, mit ihren Fingern herumzuspielen und tat es noch immer. Kein Zweifel, die Frau, der ich gegenübersaß, war Almut. Wir hatten miteinander die Schule besucht. Ob sie mich wieder erkannte?

Ich wartete darauf, dass bei ihr der Groschen fiel. Dass sie mich zweifelnd oder grübelnd ansah. Doch es passierte nichts. Sie begegnete mir wie einer Fremden. Ich tröstete mich damit, dass es eine Ewigkeit her war, seit wir uns das letzte Mal begegnet waren.

Der Typ, oder wer immer dafür verantwortlich war, dass Almut, die früher Müller geheißen hatte und heute den Nachnamen Lohmann trug, aussah, wie sie aussah, hatte ganze Arbeit geleistet. Ich dachte mal wieder, nicht zum ersten Mal natürlich, dass sich das, was ich vor mir sah, nur aufgrund eines ungeheuren Irrtums zugetragen haben konnte. Ansonsten wäre es doch nie möglich, dass Menschen anderen Menschen derartiges antaten. Und dann kamen mir Marks Worte in den Sinn. Es gäbe keinen Tod, hatte er behauptet. So ein Unsinn! Schließlich konnte ich mich ständig davon überzeugen, dass es ihn gab. Mordopfer waren tot, wurden begraben, beweint oder auch nicht und schließlich irgendwann vergessen. Das Leben war erloschen, vorbei, finito. Das war’s. Ich seufzte und verbannte Marks seltsame Worte aus meinen Gedanken.

 

Immer wenn ich mich in die begleitende Aufklärung eines Mordfalls verbeiße wie ein tollwütiger Hund in seinen Gegner bricht alles um mich herum zusammen. Mein Restleben versinkt im Unsichtbaren. Ich bohre meine Gedanken tief in kriminal-psychologische Hintergründe hinein und existiere außerhalb dessen kaum noch. Vom Essen und Trinken einmal abgesehen. Es ist jedes Mal wieder eine heikle Situation.

Ich arbeitete im Grunde auf dieselbe Art und Weise, wie mein Vater. Präzise und besessen. Das verband mich mit ihm. Doch genau deshalb versuchte ich vermutlich, es zu ignorieren. Ich wollte nicht so sein wie er. Ich wollte ich sein.

Dieses Mal war es schlimmer als je zuvor, denn es ging um jemanden, den ich kannte. Es ging um Almut. Vielleicht wollte ich ihr nach all den Jahren – denn nun hatte ich eine berechtigte Chance dazu – imponieren. Der Gedanke, endlich auf einer Ebene mit der Vielbewunderten sein, war verführerisch. Ich wollte Almut Lohmann gefallen. Freundschaft für damals schließen. Rückblickend sozusagen. Das war der Grund, weshalb ich verschwieg, dass ich das Opfer kannte. Denn hätte ich es zugegeben, wäre mir der Fall vermutlich wegen Befangenheit entzogen worden. Da ich es darauf nicht ankommen lassen wollte, sagte ich nichts.

 

Mark, der Geist, der trotz allem existierte, war gerade erst in mein Leben getreten. Doch das hatte ich an den äußersten Rand meines Bewusstseins gedrängt, weil ich es nicht verstand. Offenkundig hatte ich es bisher lediglich mit meinem Vater und seinen lästigen Fragen nach den Männern, die in meinem Leben eine viel zu kleine Rolle spielten, zu tun. Und der Tatsache, dass ich Almut unter menschenunwürdigen Umständen wiedersah. Das reichte mir, denn es war Aufregung genug. »In deinem Dasein gibt es keine Sicherheiten, keine Wärme, keine Ausgeglichenheit und wohl auch keine Kinder mehr«, behauptete Papa täglich, seit er bei mir wohnte. »Das mit dem Nachwuchs ist selbstverständlich das geringste Übel«, konstatierte er, der es mit Kindern ohnehin nicht so hatte. »Dein Beruf allerdings? Tsss«, lachte er schnippisch auf. »Mord und Totschlag, derart grausige Dinge bestimmen deinen Tagesablauf. Das ist doch nichts Richtiges für eine Frau wie dich!« Was Eine-Frau-wie-dich bedeuten sollte, wusste ich beim besten Willen nicht. Wenn er mich neuerdings für derart zart besaitet hielt, dann war ihm das früher jedenfalls völlig entgangen. Da hatte er mich wie ein Stück ungeschliffenes Holz behandelt, dem höchstens die Spaltung durch eine Axt etwas anhaben konnte. Ich schnaufte und fuhr mir mit meiner verschwitzten, unberingten Hand durchs Haar. Hinter meinen Ohren entfaltete sich schwach der Duft eines frühlingshaften Parfüms, dem eine seltsame Note nach Dung anzuhaften schien, je länger ich es auf der Haut trug. Am liebsten hätte ich Papa an den Kopf geknallt, dass ich mit dieser Geruchsbeimischung, die ich seinem Elefantendung zu verdanken hatte, niemals jemanden aufreißen konnte. Aber was hätte es gebracht? Er hätte noch nicht mal begriffen, worauf ich hinauswollte. Schließlich war er ein Meister im Nicht-verstehen-Wollen.

Mein Vater war nicht einfach. Doch das Wiedersehen mit Almut nahm mich derart in Anspruch, dass ich ihn für eine Weile fast vergaß. Almuts Schicksal nahm mich magisch gefangen.

Vier

 

Almut sah ihn auf sich zukommen wie ein verstörtes Tier, das einen riesigen Schatten hinter sich herzieht. Seine Hände, die in dünnen Gummihandschuhen steckten, wie sie Ärzte trugen, wuchsen seltsam ungelenk aus seinem Körper. Wie Unkraut, das man nicht unter Kontrolle bekam. In seiner rechten Hand befand sich eine bereits entsicherte Schnellfeuerpistole. In der linken trug er ein Glas Wasser und mehrere Tabletten. Ein perfides Geschenk an sie. Im Wohnzimmer brannte die Stehlampe neben der Couch. Ein kleiner Lichtkegel, der das dunkle Zimmer aus der Anonymität heraushob. Ansonsten herrschte bedrückende Dunkelheit, denn draußen schien der Tag viel zu früh in unnatürliche Abendstimmung zu versinken. Almut schluckte und hörte, wie ihr der Speichel überlaut die Kehle hinunter rann. Ihr Leben geriet mit einem Mal in einen Raum ohne Maß. Sie spürte, wie alle Fasern ihres Körpers sich anspannten, obwohl sie ruhig bleiben sollte. Ruhig in einer Situation wie dieser. Sie checkte im Bruchteil einer Sekunde, dass sie das, was auf sie zukommen würde, nur durchstehen konnte, wenn sie es schaffte, einen Teil von sich abzukapseln. Auslagern als eine Art Parallelleben. Eines, mit dem sie, Almut Lohmann, nichts zu tun hatte und von dem sie so wenig wie möglich in ihr Bewusstsein ließ. Es war die einzige Chance, die sie hatte. Wenn ihr das misslang, war sie verloren. Was hier und gerade jetzt vor sich ging, war keine Situation, auf die sie ihr bisheriges Leben vorbereitet hatte. Das war das Ex­tremprogramm. Ein abartiges Spiel zwischen zwei Menschen. Ihm und ihr.

Er stand vor ihr, die Arme ausgebreitet, um sie mit seiner Existenz zu umschlingen, und zögerte. Nicht aus Mitgefühl, aus Kalkül. Offenbar war es noch nicht soweit. Als Erstes würde er ihr die Tabletten zum Lunch reichen. Danach blieben ihr einige Minuten Restzeit. Vielleicht fünf, sechs, mit ein bisschen Glück sogar sieben. Minuten des Wahnsinns, die ihr das Blut in den Adern gefrieren lassen würden, während ein Wust seltsamer Gedanken in ihrem Gehirn die Welt ringsum endgültig auslöschte. Das Letzte, was sie wahrnahm, war der Sturm, der draußen wahllos an allem rüttelte und zerrte. Windböen, die alles in die Knie zwangen, sich alles unterordneten. Sie registrierte es wie von fern, wie durch eine Art Filter, das Maß dafür, was länger für sie wichtig war und was nicht. Danach drang das Nichts in ihren Körper und erschuf ein Duplikat ihrer Selbst. Einen zweiten Körper, von dem sie nie gewusst hatte.

Er kam den letzten, entscheidenden Schritt auf sie zu. Sie sah seine Füße, die in tadellosem Zustand waren. Seine schmalen Knöchel, die Vorhut der Waden. Borstige schwarze Haare auf seinem Fleisch. Das Knistern seines Hemdes, das blütenweiß, ohne Blut, ohne Schweiß, ohne alles auf ihm lag. Er war so unbefleckt. So rein. Barfuss war er über den Teppich gehuscht. Als wisse er, dass er nicht hierher gehörte, dass er ein Kind der Finsternis und der Verdammnis war. Er lächelte schroff, zog sich plötzlich Socken über und bückte sich zu ihr hinunter, wie man sich zu einem hilflosen Kind hinbewegte. Sie spürte, wie er ihr Handgelenk packte und sie zwang die Tabletten hinunterzuwürgen. Eine nach der anderen verschwanden sie im dunklen Loch, ihrem weit aufgerissenen Mund. Anfangs verschluckte sie sich. Wieder und immer wieder. Er schwieg dazu. Vollkommen ruhig. Nach etlichen Versuchen gelang es ihr, die Tabletten hinunter zu schlucken. Das Wasser, das er ihr in den Mund goss wie in einen Brunnen, der seit Langem ausgetrocknet war, rann ihr an den Mundwinkeln vorbei, das Kinn hinunter. Zwischen dem Schweiß ihrer Brüste suchte es sich einen Weg, bis es am Bauch festklebte und aufhörte zu sein. Es schien so, als könnte ihr Leben an diesem Tag nicht länger auf sie warten. Es überflutete sie, als habe das Hochwasser sämtliche Schutzdeiche aufgeweicht und zum Bersten gebracht.

»Ich warte, bis die Wirkung der Tabletten einsetzt«, versprach er und lächelte genauso harsch wie zuvor. Sie spürte ein unmerkliches Nicken, als müsse sie sich bei ihm bedanken. Als wisse sie im Detail, was auf sie zukam. Als sei das der zweite Versuch nach einer erfolgreich verlaufenen Generalprobe. Aber das stimmte nicht. Das hier war live. Das hier war das erste Mal, dass ihr jemand Gewalt antat. Das hier war nicht gespielt, es war eine Aufführung in Echtzeit.

»Es wird trotzdem wehtun, höllisch wehtun. Aber es geht nicht anders. Wir haben keine andere Wahl«, schien er zu versprechen. Sein Gesicht zwang sich zu einem gewöhnlichen Blick. Den Blick, den er tagtäglich trug. Es gelang ihm nur halbherzig, dieses Starren zu halten. Doch als er nach weiteren qualvollen Minuten aufstand, seinen Körper aus dem wuchtigen Sessel hob und erneut zum zweiten Anlauf zu ihr hinüberkam, entglitt ihm sein Gesicht in eine Grimasse. Ihr Leben hatte so lange einer Festung geglichen, die niemand einnehmen konnte. So lange. Bis jetzt.

»Augen schließen!«, befahl er. Kein Zaudern. Kein Zögern. Kein Mitgefühl. »Niemand soll mir dabei zusehen, wie ich dieses wunderschöne Gesicht demoliere. Es tut mir leid, fürchterlich leid.« Seine Stimme brach wie einer der Äste draußen als Folge des unbändigen Sturms, der sich hier drinnen in dem weitläufigen Wohnsalon fortsetzen sollte. Sie sah in Zeitlupentempo, wie seine Hand nach hinten stob, als müsse sie Anlauf nehmen. Die Finger ballten sich in einer einzigen Geste, rotteten sich zusammen. Die Faust war geboren. Hastig gehorchte sie ihm und schloss die Lider, bevor der erste Schlag sie frontal traf. Sofort spritzte eine Fontäne Blut aus ihrer Nase. Sie spürte es warm und klebrig an sich festwachsen. Dann ging alles ganz schnell. Er schlug auf sie ein, drosch auf ihr Gesicht, prügelte ihren Körper. Sie rollte sich zusammen, instinktiv, wie ein Tier. Er schlug sich in eine Spirale aus Zorn, Wut und ungenannter Gewalt. Wie von Sinnen. Wie ein Tier, auch er. Almut spürte, wie die Tritte in die Nieren sie erschütterten, dann folgten die in den Magen. Ein Feuerwerk an Schlägen, das niemals aufhören würde. Niemals, das wusste sie genau.

Fünf

 

Der deutsch-israelische Psychoanalytiker Erich Neumann, der 1933/34 bei Carl Gustav Jung eine tiefenpsychologische Ausbildung absolvierte, hatte in einem seiner Bücher definiert, dass Mörder und Ermordete zusammengehörten. Dieser Satz fiel mir plötzlich zu wie ein lange verloren geglaubter Schlüssel, nach dem ich nicht gesucht, den ich aber gefunden hatte. Es passierte, als ich meinem Vater dabei zusah, wie er fasziniert auf das Foto eines schwarz-grünen Würfels starrte. Offenbar das Werk eines bedeutenden Künstlers. Ich hatte Mark fast vergessen und das war gut so. Ich war wieder ich selbst. Alles schien normal zu sein. Ich lebte wie die anderen Menschen um mich herum auch. »Diese Art von Bildern ist am schwersten zu restaurieren«, erklärte Papa mir mit einem fachmännischen Runzeln im Gesicht. »Das Finish ist zu perfekt. Denk mal an einen Kratzer im Autolack. Den verspachteln und den richtigen Glanzgrad treffen …« Er schüttelte schwer den Kopf und klopfte dabei mit spitzen, flachen Bewegungen auf das Foto in seiner Hand. »… praktisch unmöglich.« Er erzählte noch von einem Symposium des Guggenheim-Museums, an dem er vor kurzem teilgenommen hatte. Da hatte Renate, die Untreue, ihn noch begleitet. Geradezu gebettelt habe sie darum, mitkommen zu dürfen, vertraute er mir an. »Schließlich war sie der Star an der Seite des hoch angesehenen Experten. Die Frau neben mir.« Papa rümpfte die Nase angesichts der deprimierenden Erinnerung, die sich in seinen Augenblick drängte. »Renate hat mich übrigens gleich am ersten Abend in eine Duftoper geschleppt. ›Green Aria‹ von Laudamiel und Stewart Matthew. Das hatte im Guggenheim Premiere.«

»Und wie funktioniert eine Duftoper?« Ich hatte keinen blassen Schimmer, war aber halbwegs interessiert.

»Ganz einfach. Licht aus. Dunkelheit rein. Und dann ein Feuerwerk an Musik und Parfüm aus Duft-Mikros.«

Ich seufzte angetan. »Eine Symphonie für die Sinne. Muss berauschend sein.«

»Schön wär’s. Es hat bestialisch gestunken.«