Cover

Johanna Alba • Jan Chorin

Gloria!

Ein Papst-Krimi

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Johanna Alba / Jan Chorin

Johanna Alba, geboren 1973, ist Kulturjournalistin und Kunsthistorikerin. Sie hat unter anderem in Rom studiert und dort in einer Künstler-WG gleich hinter dem Vatikan gewohnt. Heute schreibt sie für verschiedene namhafte Magazine über Literatur, Kunst und Geschichte.

 

Jan Chorin, geboren 1971, ist Historiker und hat sich auf europäische Religions- und Geistesgeschichte spezialisiert. Die Autoren sind miteinander verheiratet und leben mit ihren zwei Kindern in München.

Über dieses Buch

Wir sind Papst!

 

Eigentlich ist Papst Petrus II. bekannt für seine unermüdlich gute Laune. Doch im Moment gibt es wenig, worüber sich der sonst so lebenslustige Römer freuen könnte: Es ist Fastenzeit – ein willkommener Anlass für Schwester Immaculata, Haushälterin Seiner Heiligkeit, ihn auf Diät zu setzen. Und ohne Caffè und Cornetti ist Petrus nur ein halber Papst.

Erst als beim Frühjahrsputz eine Kiste mit Knochen gefunden wird, bessert sich die päpstliche Laune: Handelt es sich um die Gebeine des heiligen Petrus? Auf der Karfreitagsprozession will der Papst die Reliquien präsentieren. Aber dann fällt ein Schuss, eine Frau stürzt in die Katakomben, und statt des Heiligen-Schädels hält Petrus eine billige Kopie in den Händen. Doch wer immer hinter dem Anschlag steckt – er hat seine Rechnung ohne den Papst und dessen legendäre Spürnase gemacht!

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Illustration: Ruth Botzenhardt)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25755-1 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-46051-5

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-46051-5

«Ich aber sage dir:

Du bist Petrus, und auf diesen Felsen

werde ich meine Kirche bauen,

und die Mächte der Unterwelt

werden sie nicht überwältigen.»

 

Matthäus 16,18

Prolog

Vatikan – Ostern 1949

Er konnte sie nicht sehen, aber sie war bei ihm, wie sie immer bei ihm gewesen war. Er hörte ihre kurzen Schritte, die kleinen Steinchen, die unter ihren Füßen davonrollten. Die Petroleumlampe hatte er abgestellt und tastete mit beiden Händen in der Nische. Jetzt war sie neben ihm. Sie trug einen Korb mit Lappen und Tüchern, einen Pinsel, eine Schachtel. Er kniete nieder, um zu beten.

Wie lange Zeit würde ihnen bleiben?

Wie lange Zeit würde ihm noch bleiben?

Vorsichtig griff er in den Staub, spürte Splitter, Scherben, Erde. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Seine Hände schlossen sich um etwas Hartes, seine Daumen bohrten sich in eine Vertiefung – mit einem Ruck hob er den Totenkopf ins Licht.

«Madre», flüsterte er – dann versagte ihm die Stimme. «Madre – kommen Sie schnell.»

Sein Entschluss stand fest. Die Menschheit war nicht reif für dieses Wunder. Nicht in diesen finsteren Zeiten. Er, Papst Pius XII., würde schweigen. Mochte einer, der nach ihm kam, das Mysterium verkünden. Es war Madres Idee gewesen, das Geheimnis zu bewahren. Und sie hatte recht, seine Haushälterin, wie sie immer recht behalten hatte in den letzten dreißig Jahren. Während er noch benommen vor der Nische kniete, hatte sie ihm schon den Schädel aus der Hand genommen. Sie half ihm auf, schob seine Brille gerade, klopfte ihm den Schmutz von der Soutane. Er ließ es geschehen.

Schweren Schrittes stieg er den Weg hinauf, ins Dunkel zurück. Er blickte sich nicht um, sah nicht, wie sie da stand, Madre Pascalina, unerschütterlich in ihrer schwarzen Ordenstracht. Wie sie im Schein der Lampe den Schädel abbürstete, die feuchte Erde mit den Nägeln abkratzte, den Knochen mit einem Tuch polierte.

Wie sie lächelte, plötzlich.

Und mit einer einzigen raschen Bewegung dem Toten einen Zahn aus dem Kiefer brach.

Passion

Fastenzeit

I

Vatikan – zur Zeit des Pontifikats Petrus II.

Der Teppich verschluckte ihre Schritte. Still, sehr still, war es hier oben. Durch die kleinen Dachfenster fiel staubiges Licht auf den dunklen, nachtschwarzen Läufer. Ab und zu war ein fernes Knarzen zu hören, ein Seufzen der schwachen Holzdielen unter ihnen. Ein kurzes Trappeln, wie von eiligen Füßen. Ein Kratzen und Scharren. Dann wieder nichts.

Sie standen vor einem verschlissenen, goldgelben Vorhang. Und Schwester Immaculata setzte eine Miene auf, als wollte sie gleich das Evangelium verkünden. «Hier sind wir also», sagte sie zufrieden und wies mit großer Geste auf die Reste des Brokatstoffes. «Hier beginnt der Flur der toten Päpste!»

Es war ein höchst ungleiches Pärchen, das dort am frühen Morgen Aufstellung genommen hatte, bewaffnet mit Schrubbern, Putzeimern und großen Staubwedeln. Immaculata, Haushälterin des Papstes, erste und letzte Instanz im Vatikan, hatte ihr strenges Nonnenhabit durch eine blütenreine Schürze und ein schwarzes Kopftuch ergänzt. Einziger Schmuck war ein silbernes, schlichtes Medaillon, das ihr an einer Kette um den Hals hing, und in dem – wie Papst Petrus mutmaßte – sicher die Schlüssel zum Himmelreich aufbewahrt wurden.

Padre Francesco, ohne Medaillon, sah neben ihr so aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Die braunen Locken standen ihm wirr um den Kopf, auf seinen Wangen spross ein Dreitagebart. Der junge Franziskanerpater, Privatsekretär des Papstes, hatte die Gefahr unterschätzt. Während sich Papst Petrus in auffallender Eile direkt nach der Morgenandacht hinter einem dicken Berg Aktenordner vergraben hatte, war Francesco zufällig noch einmal an der Küche vorbeigegangen. Dort hatte ihn Immaculata abgepasst. Heute begann der Frühjahrsputz – Francesco erinnerte sich mit einem gewissen Schauder an das vergangene Jahr –, und nun gab es kein Entrinnen mehr.

Für niemanden.

«Ich … hatte den Flur der toten Päpste immer für einen Mythos gehalten», sagte Francesco. «Für eine Art Hausmärchen des Vatikans. Die Geschichte von dem Zwischengeschoss, direkt über den päpstlichen Gemächern … die vollgestopften Kammern mit den Möbeln der verstorbenen Päpste … die Galerie der abgelehnten Papstporträts …»

«Selbstverständlich gibt es den Flur der toten Päpste», sagte Immaculata. «Und es ist außerordentlich schmutzig dort. Leider bin ich körperlich nicht mehr in der Lage, selbst überall nach dem Rechten zu sehen. Und gewöhnliches Hauspersonal kann man natürlich nicht mit dieser Aufgabe betrauen. Darum habe ich dem Heiligen Vater vorgeschlagen, dass sein Privatsekretär diese Aufgabe übernimmt. Ihr Auftrag, Padre, lautet: Spinnweben entfernen, abstauben, Schmutz eliminieren. Und zwar so zügig, dass Sie bis zur Morgenbesprechung wieder beim Heiligen Vater sein können.»

«Aber … ist es den toten Päpsten nicht egal, ob bei ihnen sauber gemacht wird?»

«Der Vatikan ist ein Hort der Verwesung und des Verfalls. In religiöser Hinsicht – und auch physisch», verkündete Immaculata mit dramatischer Stimme. Sie händigte ihm einen Staubwedel aus und schüttete seinen Putzeimer mit einem kräftigen Schwall Weihwasser auf, den sie noch vor Morgengrauen aus dem Petersdom geholt hatte. «Innere und äußere Reinigung tut not, gerade in der heutigen Zeit.»

Seit die Fastenzeit angebrochen war, wirkte Immaculata geradezu beschwingt. Nun endlich hatte sie die Möglichkeit, Papst Petrus auf Diät zu setzen, ohne dass er sich wehren konnte. Sie entstammte dem strengen Orden der Bußfertigen Begonninen, in dem Freudlosigkeit, wie der Papst immer vermutete, Voraussetzung zur Aufnahme war. Die Wochen vor Ostern waren für sie der Höhepunkt des Jahres:

Fasten, Putzen, Herrschen!

«Und hier oben lagert wirklich alles, was die Päpste nach ihrem Tod hinterlassen haben? Alle privaten Gegenstände?», fragte Francesco.

«Zumindest die der Päpste der letzten zweihundert Jahre.»

«Ich dachte immer, diese Dinge liegen im Vatikanischen Archiv.»

«Wenn die Päpste ein gottgefälliges Leben geführt hätten, könnten sie ihren Nachlass guten Gewissens in das Archiv bringen lassen. Zum Nutzen der Historiker und Theologen, die dort forschen. Aber der eine oder andere Pontifex hatte durchaus Anlass, die Nachwelt im Dunkeln zu lassen. Zumindest, was sein Privatleben betrifft.»

«Ich verstehe.» Francesco gab sich einen Ruck und zog mit seiner rechten Hand den goldenen Vorhangstoff beiseite, während er in der linken den Putzeimer und den langen Staubwedel aus Straußenfedern balancierte. Hinter dem Vorhang kam eine dunkel gebeizte Tür zum Vorschein, an der sich weder Knauf noch Schloss befand.

«Sie müssen sich bücken», sagte Immaculata. «Ganz unten in einer Ritze ist eine Feder. Damit lässt sich die Tür entriegeln.»

Vorsichtig strich Francesco am Holz entlang, bis er unter seinen Fingern einen Spalt fühlen konnte. Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf einen langen Gang frei. Das Zwischengeschoss war viel niedriger als die päpstliche Wohnung; durch schmale Fenster auf der rechten Seite drang nur wenig Licht in den Gang. Links reihte sich eine Tür an die nächste.

Immaculata deutete auf die Wandschränke zwischen den Türen. «Hier befinden sich die Kleider der Verstorbenen. Ich werde die Mottenkugeln austauschen und bei Johannes XXIII. nachsehen, ob nicht das eine oder andere Gewand für Petrus in Frage kommt. Figürlich hat er sich Johannes ja leider angenähert. Sie kümmern sich einstweilen um die Abstellkammern. Die Putzsachen habe ich Ihnen gegeben. Hier ist noch eine Taschenlampe. Es gibt kein Licht in den Räumen.»

Francesco nickte beklommen und ging auf die erste Tür zu. Zu seinem Erstaunen ließ sie sich ohne Schwierigkeiten öffnen, schwang jedoch, kaum hatte er den Raum betreten, knarrend zurück und fiel ins Schloss. Für einen Augenblick war es völlig dunkel um ihn. Er knipste die Taschenlampe an und sah sich Auge in Auge mit einem riesigen Engelskopf, der den Mund zu einem verzückten Lächeln geöffnet hatte. Daneben entdeckte er noch einen Engel. Und noch einen. Die himmlischen Heerscharen gehörten zu einem prachtvollen barocken Schrank und trugen auf ihren Flügeln mächtige Regalbretter. Und darauf lagen ganze Jahrhunderte päpstlicher Kopfbedeckungen: weiße Kegel, kleine Käppchen, goldene Reifen. Und eine zerknautschte rote Mütze mit plüschiger Krempe: «Johannes XXIII.» stand auf einem handbeschriebenen Schild, das an der Mütze baumelte. Francesco beleuchtete sie neugierig: Der weiße Fellrand kräuselte sich, bewegte sich ruckartig hin und her und hopste auf ihn zu. Francesco konnte einen Schreckensschrei nicht unterdrücken.

«Es wimmelt dort drin vor Mäusen», hörte er Immaculata durch die geschlossene Tür rufen. «Aber ich habe Fallen aufgestellt …»

Francesco ließ den Lichtkegel durch den Raum gleiten. Neben dem Regal standen mehrere große Truhen. «Papst-Nachthemden ab dem Ersten Vatikanischen Konzil», stand auf der einen. «Elektrische Eisenbahn, Paul VI.» auf der daneben. Dem Engelsregal gegenüber befand sich ein weiterer hölzerner Barockschrank, der, wie Francesco mit einem kurzen Blick hinein feststellte, Bettwäsche und goldbestickte Pantoffeln enthielt. Alles sorgfältig verpackt, nummeriert, aufgeräumt.

Hier gab es nichts mehr zu tun.

Francesco fuhr mit seinem Straußenfederwedel pflichtschuldig über Regalbretter, Papstmützen und Truhen. Erleichtert nahm er seinen Eimer und trat den Rückweg an.

Dann hörte er ein Scharren.

Erschrocken fuhr er herum. Die Taschenlampe fiel zu Boden und erlosch, sein Fuß erwischte den Putzeimer, dessen Inhalt sich ins finstere Nichts ergoss.

Francesco bückte sich und fischte die Lampe aus der Pfütze. Sie war kaputt. Vorsichtig richtete er sich auf. Die Tür musste gleich hinter ihm sein. Er drehte sich um, streckte die Arme aus und tappte einige Schritte in die Dunkelheit. Seine Finger berührten Holz, dann einen metallenen Türknauf.

«Gepriesen sei der Herr», murmelte Francesco. Er griff nach dem Knauf und zog. Kräftig. Vor ihm krachte es, hinter ihm rumste es, und mit einem kräftigen Schlag in den Nacken erledigte ihn jemand von hinten. Francesco taumelte, ließ die Taschenlampe zum zweiten Mal fallen und hielt schützend die Hände über den Kopf. Über ihm fiel etwas mit lautem Gepolter zusammen.

Dann wurde es plötzlich hell.

Im Türrahmen zeichnete sich Immaculata ab, schwarz, wie ein Schattenriss.

«Was ist das für ein Lärm hier?», fragte sie ungnädig. «Und warum liegen Sie unter den Skiern von Johannes Paul II. auf dem Fußboden? In einer Wasserpfütze?»

Francesco blickte auf und sah, dass er nicht die Tür zum Flur, sondern zu einem wuchtigen, dunklen Wandschrank geöffnet hatte. Die Skier waren dort wohl angelehnt gewesen und umgefallen. Er rappelte sich auf, stellte die Bretter wieder in Reih und Glied. Und riskierte dabei einen Blick in das Schrankinnere. «Immaculata! Sehen Sie mal!»

Energisch trat die Haushälterin heran und zog die Tür ganz auf. Durch Francescos Rütteln waren die Regalbretter heruntergefallen, mehrere schwere Bücher im Ledereinband lagen durcheinander. Und ganz unten, im Schrankboden klaffte ein Loch. Immaculata leuchtete mit ihrer Taschenlampe hinein, direkt auf einen hölzernen Kasten. Francesco kniete nieder und hob ihn heraus. Er musste leer sein, so leicht, wie er in seinen Händen wog. Auf allen vier Seiten war eine verwitterte Figur mit einem großen, runden Kopf eingeschnitzt. Den Deckel zierte, kaum erkennbar, ein verschnörkelter Schlüssel.

Francesco klappte die Schatulle auf.

Und gleich wieder zu.

Neben ihm schrie Immaculata so laut, dass man es im ganzen Apostolischen Palast hören konnte.

II

Giulia war ärgerlich.

Der erste warme Frühlingstag – und sie war so erkältet, dass sie nicht einmal über den Rand ihrer Sonnenbrille schauen konnte. Mit einem wollweißen XXL-Schal hatte sie versucht, das Beste aus ihrem Zustand zu machen. Trotzdem fror sie, während sie in ihrem roséfarbenen Flatterkleid über den Petersplatz stöckelte. Scharf zeichnete sich die Kuppel des Doms vor dem knallblauen Himmel ab. Die Bettler legten ihre Decken unter den Kolonnaden zusammen; die ersten Geschäftsleute saßen auf den sonnigen Säulensockeln und blätterten in ihren Zeitungen.

Giulia vergrub sich etwas tiefer in ihren Schal und bog in die Via Ottaviano ein. Dort schoben gerade die Souvenirhändler die Postkartenständer und Rosenkranzhalter nach draußen. Und die Schweizergardisten an der Porta Sant’Anna nahmen erfreut Haltung an, als Giulia mit Schwung zwischen ihnen hindurchwehte.

Ihren Ausweis brauchte sie schon lange nicht mehr vorzuzeigen. Jeder kannte sie hier: Contessa Giulia Santini, Leiterin des Pressesaals des Heiligen Stuhls. Und unbestritten eine der attraktivsten Frauen der ganzen Stadt.

Gerade heute hatte die liberale Zeitung La Repubblica der päpstlichen Pressesprecherin eine Doppelseite gewidmet – unter der Überschrift: «Bezaubernde Giulia – Glaube in seiner schönsten Form.» Darin war nur flüchtig von ihrem Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Kirchengeschichte die Rede, von ihren Promotionsstipendien in Harvard und Oxford. Von ihren Fremdsprachenkenntnissen in Arabisch und Japanisch und ihrer Herkunft aus altem römischem Adel. Dagegen sehr ausführlich von der Kürze ihrer Röcke («Madonna Santa!»), der Länge ihrer Locken («bellissimi!») und den «tiefen Einblicken», die sie bei Pressekonferenzen gewährte. Kurz: Der ganze Artikel war ein einziges Ärgernis für Giulia gewesen. Und endete mit dem Aufruf: «Ragazzi Romani, worauf wartet ihr? Diese Traumfrau Gottes ist noch Single!»

Als sie gerade die Schranke passierte, klingelte ihr Handy. «Mamma?»

«So geht das nicht weiter, Giulietta.»

«Ja, Mamma. Ich habe mich auch über den Artikel geärgert.»

«Aber sicher wieder nur, weil sie deine Grundkenntnisse in Chinesisch und deinen Auslandsaufenthalt im Jemen vergessen haben. Nein, mein Kind. Damit muss endgültig Schluss sein.»

Giulia sah ihre Mutter vor sich: Um diese Uhrzeit trug sie sicher noch die Lockenwickler im Haar, hatte aber über ihrem Morgenrock bereits die Perlenkette angelegt und tat einen tiefen Zug aus ihrer elfenbeinernen Zigarettenspitze.

«Mamma, ich …»

«Keine Widerworte. Du bist fünfunddreißig Jahre alt und wirst hier angepriesen wie eine … eine …»

«Mamma, ich habe wirklich keine Zeit. Der Heilige Vater …»

«Nein, du wirst mich ausreden lassen. Schluss jetzt. Meine einzige Tochter ist mit fünfunddreißig noch immer nicht verheiratet, nur weil sie neumodischem Firlefanz über Liebe und Partnerschaft anhängt. Eine arrangierte Ehe muss nichts Schlechtes sein. Die Zuneigung wächst mit den Jahren. Seit Jahrhunderten haben wir es in unserer Familie nicht anders gehalten. Dein Papà und ich –»

«Ja?»

«Unterbrich mich nicht. Auf jeden Fall habe ich viel zu lange zugesehen. Ich möchte noch bei Sinnen sein, wenn ich mein erstes Enkelkind in den Armen halte …» Ein theatralisches Schluchzen unterbrach ihren Redeschwall. «Du denkst daran, dass du Ostermontag zu meinem kleinen Fest nach Frascati kommst!»

«Mamma, das ist doch noch Wochen hin. Und wie du weißt, ist zu Ostern im Vatikan immer ziemlich viel los …»

«Du kannst dich den familiären Verpflichtungen nicht immer und ewig mit dieser Papst-Ausrede entziehen. Andere Leute müssen auch arbeiten. Also, sei nicht kompliziert und zieh dir etwas Hübsches an. Du klingst außerdem erkältet. Sieh zu, dass du bis dahin wieder fit bist. Es wird ein großes Fest. Es sind auch viele nette junge Männer aus unseren Kreisen eingeladen. Denen du vielleicht diesmal nicht gleich deine Promotionsurkunde unter die Nase hältst.»

«Ich muss jetzt wirklich auflegen, Mamma. Die Morgenbesprechung bei Papst Petrus fängt in …»

«Natürlich, du hast immer etwas Besseres zu tun, als mit deiner Mutter zu plaudern.» Sie klang beleidigt. «Wir sehen uns also Ostermontag, Giulia-Antonia.»

Nach dieser Drohung legte sie auf.

III

Neben der Eingangstür zur päpstlichen Wohnung war ein blankpoliertes Emailleschild angebracht:

«Petrus II. – Heiliger Vater» stand neben dem mittleren Klingelknopf.

«Padre Francesco – Privatsekretär» war bei dem untersten der drei Knöpfe zu lesen.

Und ganz oben, in etwas größeren Buchstaben, hieß es:

«Schwester Immaculata – Leiterin der päpstlichen Küche, des päpstlichen Haushaltes sowie der hauswirtschaftlichen Abteilungen Seiner Heiligkeit.»

Giulia drückte auf «Heiliger Vater» und wartete.

Das Türschild hatte Immaculata in Auftrag gegeben. Wo man läutete, war allerdings egal, da es immer auch in Immaculatas Küche und in ihrer Zelle – so nannte sie ihr durchaus nicht kleines Schlafzimmer – klingelte. Sobald es an der Tür schellte, rückte sie ihre Haube gerade und ergriff, um den Störenfried auf ihre Unabkömmlichkeit hinzuweisen, einen Besen, einen Topfdeckel oder ein Bügeleisen. Dann schritt sie energisch zur Tür, wo sie das kleine Metallplättchen vor dem Guckloch beiseiteschob, den Besucher musterte und einer gründlichen Befragung unterzog. Die Sicherheitskontrollen der Schweizergarde mochten in der Lage sein, Attentäter und Spione zu erkennen. Doch weit größere Gefahr ging von Süßwarenhändlern, Weinlieferanten oder fragwürdigen Klerikern aus, mit denen Petrus nicht etwa über katholische Morallehre, sondern die Fußballtabelle der Seria A zu diskutieren pflegte.

«Heiliger Vater!», sagte Giulia erfreut. Nicht Immaculata öffnete ihr, sondern Petrus selbst. Sein sonst so freundlich-wohliges Gesicht trug einen mürrischen Ausdruck. Über seiner stattlichen Römernase hatte sich eine steile Falte gebildet.

«Good morning! My name is pope!», sagte Petrus grimmig.

«Beinahe richtig», erwiderte Giulia und trat ein. «Besser würden Sie vielleicht sagen: ‹May I introduce myself, I am the Holy Father …› – aber ich bin mir fast sicher, dass man Sie auch so erkennen wird.»

Die Englandreise des Papstes im vergangenen Herbst war ein einziger Triumph gewesen. Hunderttausende hatten Papst Petrus auf den Straßen Londons zugejubelt, seine Messe im Wembley-Stadion war überfüllt gewesen. So viele verlorene Schäfchen, die sich nach ihrem Hirten sehnten – das hatte Petrus gerührt. Dass sich die englischen Christen schon vor Jahrhunderten von Rom gelöst hatten, pflegte er von nun an großzügig zu übersehen. Ein Irrtum der Geschichte, wie er gerne ausführte, den man schließlich korrigieren könne. Tatsächlich verlor die anglikanische Kirche seit Jahren an Mitgliedern, während die römisch-katholische Kirche auf der Insel wuchs und blühte. Und der Besuch des lebensfrohen, fußballbegeisterten Papstes hatte einen weiteren Schub gegeben.

Geärgert hatten ihn allerdings die launigen Bemerkungen, mit denen die Presse sein Englisch kommentiert hatte. Um für seine Herde auf der Insel künftig ein noch besserer Hirte zu sein, hatte Petrus beschlossen, bei Contessa Giulia Sprachunterricht zu nehmen. Seine Pressesprecherin hatte in Oxford studiert. Außerdem verfügte sie über die nötige Sensibilität, um ihrem Chef widerzuspiegeln, dass er beständig Fortschritte machte – auch wenn es tatsächlich nur sehr langsam voranging. Denn Petrus hatte schließlich niemals mehr werden wollen als Stadtpfarrer im römischen Arbeiterviertel Trastevere, aus dem er stammte. Und dafür benötigte man keine Fremdsprachenkenntnisse, sondern ein großes Herz, eine laute Stimme und abends einen vollen Teller Pasta.

«Immaculata ist auf dem Dachboden», sagte Petrus. «Heute ist großes Reinemachen. Du erinnerst dich vielleicht noch an den entsetzlichen Frühjahrsputz im letzten Jahr? Jetzt hat sie sich den Flur der toten Päpste vorgenommen. Vermutlich räumt sie dort schon einmal ein Eckchen für mich frei.»

«Sie sehen aber auch wirklich schlecht aus.» Giulia blickte auf den voluminösen Bauch des Heiligen Vaters, der sich trotz der Fastenzeit noch stattlich unter seinem Habit wölbte. «Was gab es denn heute?» Sie kramte nach einem Taschentuch.

«Immaculata hat irgendwelche mittelalterlichen Fastenvorschriften ausgegraben: drei Bissen Brot zu jeder Mahlzeit. Und drei Schluck Wasser.»

«Im Mittelalter haben sie in der Fastenzeit Bier getrunken. Kann es sein, dass in der Vorschrift eigentlich von drei Schluck Bier die Rede war?»

Petrus grinste. «Ein interessanter Gedanke. Ich werde das überprüfen.»

«Und Sie halten sich an Immaculatas Speiseplan?»

«Natürlich nicht. Aber um des lieben Friedens willen haben wir einen Kompromiss geschlossen: Verzicht auf Fleisch und Süßigkeiten jeder Art.»

«Auch auf Zucker?»

Petrus seufzte. «Auch auf Zucker.»

Giulia nickte bedeutungsschwer. Ohne Zucker im Caffè und ein stärkendes Cornetto am Morgen war Petrus nur ein halber Papst – eine willkommene Gelegenheit für Immaculata, die Regentschaft im päpstlichen Haushalt zu übernehmen.

Giulia bemühte sich um Trost. «In der Heiligen Schrift heißt es: ‹Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht.›»

«Ich weiß. Matthäus, 6. Kapitel. Dort heißt es übrigens auch: ‹Jeder Tag hat genug eigene Plage.› Vermutlich hatte Jesus auch eine Haushälterin.»

«Ich habe da was für Sie.» Giulia zog eine braune Papiertüte hinter ihrem Rücken hervor. «Ein Fasten-Cappuccino – ohne Zucker, aber mit extra viel Milch. Außerdem ein Diät-Hörnchen – ohne crema. Ich schlage vor, dass Sie den Cappuccino jetzt gleich trinken, um in bessere Stimmung zu kommen. So kann man ja nicht arbeiten. Dann üben wir unregelmäßige Verben. Und dann gibt es das Diät-Hörnchen.»

«Wirklich – so etwas gibt es? Ein Diät-Hörnchen?» Petrus schob seine Pressesprecherin in das Arbeitszimmer, schloss die Tür hinter ihr und griff behände nach Tüte und Pappbecher. Dann ließ er sich aufseufzend in seinem kardinalroten Lieblingsohrensessel nieder und bedeutete Giulia, ebenfalls an dem kleinen Frühstückstisch Platz zu nehmen. Von einer Minute auf die andere hatte er sich von einem Griesgram in Papst Petrus zurückverwandelt. Sein rundes Gesicht strahlte Zufriedenheit und Freundlichkeit aus, die Spitze seiner großen Römernase war leicht bemehlt, als er sie wieder aus der Tüte zog. «Es riecht phantastisch.»

«Erst die Verben.»

Petrus suchte nach einer Möglichkeit, den Unterrichtsbeginn hinauszuzögern und deutete auf die Morgenzeitung. «Beinahe nur Unerfreulichkeiten heute. Jedenfalls im Sportteil.»

«Immer noch unser nationales Drama?»

«Natürlich.»

Seit Monaten kannten die Gazetten kaum ein anderes Thema: Die italienische Nationalmannschaft hatte sich nicht für die anstehende Europameisterschaft qualifiziert. Wehklagen («Mit dem Staatsbankrott hätte man leben können. Aber das!») und Anklagen («Eine Verschwörung der Schiedsrichter!») überall, in den Medien, den Bars und auch im päpstlichen Wohnzimmer.

«Immerhin durfte ich heute Morgen auch Erfreuliches lesen», fuhr Petrus fort. «Welche Ehre, dass du überhaupt noch bei mir vorbeischaust. Selbst mit Schnupfennase bist du der ‹Glaube in seiner schönsten Form›, wenn ich die Repubblica richtig verstanden habe. Ob Immaculata das schon gelesen hat?»

«Sie liest nur fromme Zeitschriften.» Giulia räusperte sich. «Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter.»

«Ich verstehe.» Petrus, dankbar über die Ablenkung, vertiefte das Thema nur zu gern. «Sie will dich schon wieder verheiraten?»

«Was heißt schon wieder? Immer noch! Und ich bin mir sicher, dass sie einen Kandidaten im Auge hat. Meine Mutter plant ein Fest. Tante Eugenia wird neunzig. Der ganze römische Hochadel wird dabei sein. Lauter gutaussehende Langweiler.» Sie schnäuzte sich.

«Ich könnte mir eine Einladung organisieren und dich retten, sollte dir einer der Herren auf die Nerven gehen. Wann steigt die Party denn?»

In diesem Augenblick gellte ein Schrei durch die Wohnung. Giulia zuckte zusammen. «Das war Immaculata!»

«Vermutlich hört sie mein Arbeitszimmer ab und hat das Stichwort ‹Party› nicht verkraftet.» Petrus trank ungerührt seinen Cappuccino. «Nein, meine Liebe: Dieser Schrei war ein plumper Versuch, mich vom Genuss meines Kaffees abzuhalten. Solche Vorfälle musste ich schon öfter erleben.»

Immaculata stand da im Türrahmen, mit Schürze und Schrubber, die gelben Putzhandschuhe bis über die Ellenbogen gestreift. Sie wirkte verstört.

«Heiliger Vater …» Immaculata suchte nach Worten. «Auf dem Dachboden … liegt eine … Leiche!»

IV

«In mein Arbeitszimmer», kommandierte Petrus. «Auf den Teppich!»

Behutsam trug Francesco einen ziemlich großen Holzkasten herein, den er mit seinen ausgestreckten Armen gerade umfassen konnte. Er stellte ihn auf dem prachtvollen, mit päpstlichen Wappen verzierten Teppich ab, der vom Lieblingsohrensessel des Heiligen Vaters bis zum Schreibtisch reichte. Hinter ihm zupfte Immaculata die Teppichfransen gerade.

Alle schwiegen.

«Wir schließen am besten die Vorhänge», sagte Petrus, zog die Gardinen zu und knipste die Stehlampe an. Warmes, gelbes Licht erhellte den Raum. «Irgendwo gegenüber sitzt bestimmt ein Schweizergardist, um mich zu bewachen. Und sicherlich hat er ein Fernglas dabei.»

Giulia kniete sich auf den Teppich und pustete etwas Staub von der Kiste.

«Ein Reliquienschrein», sagte sie dann. «Überall ist dieser kleine Mann mit dem großen Kopf zu sehen. Und das hier», sie fuhr die Zeichnung auf der Oberseite nach, «soll wohl ein Schlüssel sein …»

Auch Petrus kniete sich hin, bekreuzigte sich und öffnete den Deckel. Immaculata sagte gar nichts, sondern umklammerte ihren Schrubber.

Der Totenschädel war glatt, wie poliert und von elfenbeinerner Farbe. Hohläugig starrte er sie an. Makellos. Das Gebiss war vollständig erhalten, nur in der rechten unteren Zahnreihe klaffte eine Lücke.

«Sollten wir das nicht … einem Wissenschaftler überlassen?», fragte Francesco.

«Unsinn.» Petrus hob den Schädel heraus und legte ihn auf den Teppich. «Es muss nicht jeder wissen, dass sich auf meinem Dachboden eine Leiche befindet.»

«Aber das ist doch gar keine Leiche», sagte Giulia. «Der Schädel liegt in einem Reliquienschrein. Das sind ganz sicher die Gebeine eines Heiligen. Schließlich ist der ganze Petersdom voll von Knochen!»

«Eben.» Petrus seufzte und näherte sich vorsichtig auf allen vieren dem Schädel, bis seine Nase beinahe gegen die schimmernde Knochenwand stieß. «Genau wie du sagst: Heiliges Gebein ruht normalerweise im Petersdom. Und nicht auf meinem Dachboden! Solange wir nicht wissen, um wen es sich hier handelt, sollten wir diskret mit diesem Vorfall umgehen.»

«Sie vermuten, dass es gar keine Reliquien sind?»

«Der Vatikan ist kein schlechter Ort, um eine Leiche verschwinden zu lassen», sagte Petrus. «Jedenfalls eine Leiche, die nur noch aus einem Gerippe besteht. Wie du ganz richtig festgestellt hast: Im Vatikan wimmelt es nur so von Knochen. Schließlich wurde der Petersdom auf einem Gräberfeld erbaut. Und im Mittelalter hat man in jeder freien Ecke Reliquien aufbewahrt – einheimische Knochen aus den Katakomben und ausländisches Gebein aus dem Heiligen Land. Nicht zu vergessen der Keller – ich meine die Krypta –, wo meine ehrwürdigen Vorgänger bestattet liegen. Aber all diese Knochen lagern, wie gesagt, im Petersdom. Nicht auf meinem Dachboden! Das irritiert mich. So, und jetzt packen wir weiter aus. Wer möchte sich beteiligen?»

Giulia und Francesco knieten sich neben ihn. Immaculata, immer noch bleich, suchte nach einer Ausrede. «Ich halte es für pietätlos, diesen armen Verstorbenen einfach … auszupacken. An diesem gottlosen Tun werde ich mich nicht beteiligen!»

Petrus griff beherzt in die Kiste und holte mehrere kleine Päckchen hervor. Sie waren unförmig und länglich; die äußerste Schicht bestand aus rotem Stoff, der mit goldenen Schnüren zusammengehalten wurde.

«Bitte – für jeden eins.» Petrus verteilte die Pakete an Francesco und Giulia. Schweigend nestelten sie an den Kordeln und wickelten die Stoffschichten ab.

«Humerus», sagte Giulia und hielt einen langen Knochen hoch, der im Licht der Schreibtischlampe milchig schimmerte.

«Bitte?» Petrus hatte sich für ein kleineres Päckchen entschieden und untersuchte irritiert ein winziges Knöchelchen, das ihm beinahe durch die Finger geglitten wäre.

«Humerus ist die lateinische Bezeichnung für den Oberarmknochen. Was Sie dort in der Hand halten, dürfte zu den Zehen gehören. Ossa digitorum pedis.»

«Du kennst dich mit Knochen aus, meine Liebe?»

«Ich habe Kunst studiert. Theoretisch und praktisch. Wir hatten ein Anatomieseminar. Um den menschlichen Körperbau kennenzulernen. Damit wir ihn besser zeichnen können.»

«Ich schlage vor, wir packen das Ganze vollständig aus», sagte Petrus. «Der Schädel kommt hierhin – neben den Schreibtisch. Und diese Zehenknöchelchen hier lege ich Richtung Sessel – so. Dazwischen kommt alles andere. Die Contessa kennt den richtigen Platz.»

Der Teppich füllte sich rasch. Petrus und Francesco wickelten aus, Giulia drapierte die Knochen am richtigen Ort.

«Das war’s», sagte Petrus schließlich und reichte Giulia eine Rippe. «Fehlt etwas?»

«Na ja, einige größere Teile. Hüfte, Wirbelsäule, Oberschenkel.» Nachdenklich betrachtete die Contessa ihr Werk. «Kräftiger Unterkiefer. Ein Mann, vermute ich.»

«Aber wer?»

Petrus hob den Reliquienschrein hoch, trug ihn zu seinem Schreibtisch und stellte ihn in den Lichtkreis der Schreibtischlampe.

«Im Innendeckel ist ein Wappen angebracht», sagte er dann. «Eingeritzt in das Holz. Man sieht es zunächst nicht.»

Giulia und Francesco kamen dazu und beugten sich über das Kästchen.

«Ein Papstwappen», sagte Giulia. «Über dem Wappenschild ragt eine Tiara auf. Und hinter dem Schild kreuzen sich zwei Schlüssel.»

Petrus klappte den Deckel etwas weiter auf, sodass die Schnitzerei deutlicher zu sehen war. «Und auf dem Wappen selbst sehen wir eine Taube, die einen Ölzweig im Schnabel trägt … das ist doch das Wappen von …»

«… Pius XII.!», schrie Immaculata. Sie warf den Schrubber zu Boden, sank auf die Knie und zog einen Rosenkranz aus den Falten ihres Habits. Dann begann sie, ehrfürchtig zu den Knochen gewandt, zu beten: «Gegrüßet seist du, Maria …»

«Unsinn», sagte Giulia bestimmt. «Pius XII. ist in der Krypta des Petersdoms bestattet. Ich bin kein Pathologe, aber eines weiß ich genau: Pius ist 1958 gestorben. Und diese Knochen hier sind viel älter.»

Immaculata hatte das Beten eingestellt, griff wieder nach ihrem Schrubber und richtete ihn anklagend auf Petrus. «Ich möchte sofort wissen, wessen Leiche hier auf dem Fußboden liegt. Sollte es sich um einen Heiligen handeln, werden wir die Knochen einer ordnungsgemäßen Verehrung zuführen. Ansonsten verschwinden sie sofort aus meiner Wohnung.»

«Es ist meine Wohnung», sagte Petrus freundlich. «Und was die Leiche betrifft: Wir können sie nicht einfach verschwinden lassen. Wenn irgendwo eine nichtidentifizierte Leiche gefunden wird, muss man die Polizei holen. Die rücken dann mit der Mordkommission an und stellen alles auf den Kopf.»

«Was niemand möchte», sagte Giulia. «Immaculata möchte es nicht – weil sie hinterher putzen und aufräumen muss. Und der Heilige Vater möchte es auch nicht – weil dann ganz Rom erfährt, wie es bei Papstens zu Hause aussieht. Denn die Polizisten werden es sich nicht nehmen lassen, in der Bar über ihre Nachforschungen zu plaudern. Also sollten wir selbst herausfinden, wer hier auf dem Teppich liegt.»

«Unser einziger Anhaltspunkt», sagte Francesco, «ist das Piuswappen. Was wissen wir denn über Pius XII.?»

«Er war Papst von 1939 bis 1958», sagte Giulia. «Ein ziemlich umstrittener Papst. Aber er hatte es auch nicht einfach. In seiner Zeit wimmelte es von Irren.»

Immaculata erhob sich. «Fromme Katholikinnen», sagte sie feierlich, «verehren ihn auch deshalb, weil er das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verkündet hat. Durch Pius XII. ist nun für alle Zeiten geklärt, dass Maria nicht starb, sondern direkt in den Himmel auffuhr.»

«Damit wäre jedenfalls klar», sagte Giulia, «wem diese Knochen nicht gehören.»

«Außerdem», fuhr Immaculata fort, «ist Papst Pius XII. wegen seiner gottesfürchtigen, begnadeten Haushälterin heute noch in aller Munde: Die Ordensschwester Madre Pascalina aus Bayern ist mein unbedingtes Vorbild. Sie beriet ihn in kirchlichen Angelegenheiten, sie unterstützte ihn in allen Lebensfragen und erledigte sogar seine Korrespondenz. Papst Pius» – sie straffte sich und blickte anklagend zu Petrus – «legte außerordentlich viel Wert auf ihre Meinung. Man sagt, Madre Pascalina sei die eigentliche Macht gewesen im Vatikan. Man nannte sie auch ‹Papessa›, die Päpstin, und –»

«Heiliger Vater!», schrie Francesco erschrocken. «Was ist denn passiert?»

Petrus war plötzlich auf dem Teppich zusammengesunken. Er betete direkt neben den Knochen und wirkte, was nicht häufig vorkam, ernst und völlig in sich gekehrt. «Die Grabungen», flüsterte er, «denkt an die Grabungen!»

Francesco hatte sich neben den Papst gekniet, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und blickte hilfesuchend zu Giulia, die nervös ihre Armreifen drehte.

«Pius XII. hat damals geheime Grabungen unter dem Petersdom angeordnet», flüsterte sie. «Um das Petrusgrab zu finden. Angeblich wurde es auch gefunden. Aber es waren keine Knochen drin, die von Petrus stammen konnten …»

«Lies!», sagte Petrus leise und reichte Francesco ein Zettelchen. «Das habe ich eben in dem Schrein gefunden. Ganz unten, auf dem Boden. Unter einer letzten Schicht Papier.»

Francesco hielt den Zettel ehrfurchtsvoll vor sich. «Oh! Es ist Latein!»

«Gib schon her», sagte Giulia. «Steht nicht viel drauf. Ich übersetze mal: ‹Geborgen in den Nekropolen des Vatikans zum Osterfest 1949. Nicht reif ist die Welt für diesen Fund. Verborgen sei er, bis Gott ihn der Menschheit schenkt.›»

Sie ließ die Hand sinken. «Sie meinen … es handelt sich hier … um …»

«Petrus», sagte der Papst leise. «Es sind die Gebeine des Apostels. Kniet euch zu mir, meine Freunde.»

Verwirrt kniete sich Francesco an den Rand des Teppichs. «Ich … verstehe das nicht, Giulia sagte doch gerade, das Grab war leer …»

«O mein Gott», sagte Giulia und kniete sich ebenfalls nieder. Sie fühlte sich völlig frei im Kopf, ihre Erkältung war auf einmal wie weggeblasen. «Dann hat Pius die Knochen also tatsächlich gefunden. Aber er hat sie nicht rausgerückt, sondern versteckt. Hier in der päpstlichen Wohnung … das ist unglaublich – das ist eine Sensation!»

«Wir werden der Welt die wahren Reliquien zeigen», sagte Petrus plötzlich entschlossen. «Es ist ein Zeichen des Herrn, das er durch mich, seinen unwürdigen Diener, den Menschen gegeben hat. In Zeiten der Finsternis, in denen die Menschheit nicht mehr glauben kann, zeigt uns Gott ein Wunder. Und von diesem Wunder werden wir verkünden.»

Er stand auf.

Stadt und Erdkreis, Kirche und Welt würden künftig anders zu ihm aufschauen. Er war nicht länger der dicke Priester aus Rom, den Gott der Herr – warum auch immer – zum Papst gemacht hatte. Er, der den Namen des Apostels führte, hatte nun auch seine Gebeine gefunden. Alpha und Omega, Anfang und Ende berührten sich. Alles würde anders sein von nun an. Die Knochen waren ein Zeichen des Herrn. Sie zeigten ihm, dass er auf dem richtigen Weg war.

«In drei Wochen ist Karfreitag. Denkt an die Prozession im Kolosseum, meine lieben Freunde. Den Kreuzweg. Bei dieser Gelegenheit werden wir den Menschen die Reliquien präsentieren. Und die ganze Christenheit wird zusehen.»

«O nein!» Wie eine Furie kam Immaculata aus ihrer Ecke geschossen. Mit energischer Geste verteilte sie großzügig Weihwasser aus ihrem Putzeimer über die Gebeine. «Wenn Papst Pius XII. und seine gottesfürchtige Haushälterin Pascalina es für richtig befanden, den heiligen Petrus zu schützen, dann werden Sie ihn nicht der ungläubigen Masse im Kolosseum zum Fraß vorwerfen.»

Petrus, in Gedanken versunken, bemerkte sie nicht einmal.

«Hören Sie», Immaculata stellte sich direkt vor den Papst und klopfte herrisch mit ihrem Schrubber auf den Boden. «Die Reliquien werden den Vatikan nicht verlassen. Nur über meine Leiche!»

«Das ist Gotteslästerei», fuhr Immaculata drohend fort. «Eitles, sündiges Treiben. Der Herr wird Sie strafen, wenn Sie es dennoch tun. ‹Stolz kommt vor dem Untergang und hochmütiger Sinn vor dem Fall› heißt es in der Bibel. Der Herr wird Sie verdammen und mit Höllenfeuer überziehen. Sie werden die ganze katholische Kirche in den Abgrund ziehen. Ganz Rom wird brennen, ach, die ganze Welt wird Schaden nehmen, wenn Sie es tun. Sie werden noch an meine Worte denken.»

Petrus blickte ihr nach, dann schleppte er sich zu seinem Lieblingsohrensessel und versank in den Polstern.

Giulia und Francesco antworteten nicht. Sie starrten auf die bleichen Knochen auf dem päpstlichen Teppich, uralt und heilig.

Er unterbrach sich. Seine Worte kamen ihm plötzlich kraftlos vor.

Schottland, Schloss Balmoral

Diskret musterte der Butler die Königin, bereit, die hohen Flügeltüren rasch zu schließen, um royaler Unpässlichkeit vorzubeugen. Doch Ihre Majestät schien entschlossen, dem rauen Klima der Hochebene zu trotzen. Langsam rührte sie in ihrer Teetasse und blickte hinaus auf den ehemals grünen Rasen von Schloss Balmoral, der inzwischen die Farbe von brackigem Moorwasser angenommen hatte.

Das Gesicht von Sir Alan Bell, Chef des MI6, hätte durchaus charismatisch gewirkt, wäre es nicht von großen, getönten Brillengläsern verborgen gewesen. Damit sah Sir Alan so langweilig aus, dass man ihn sofort wieder vergaß. Für einen Spion konnte das nur von Vorteil sein, weshalb die Mitarbeiter des MI6 diesen modischen Fehlgriff für eine raffinierte Tarnung hielten. Begleitet wurde Sir Alan von seinem Vatikanexperten, Dottore Inglese, einem kleinen, zappeligen Männchen mit Glatze.

Sir Alan Bell nickte. «Leider sehe ich mich nicht in der Lage, diese Gerüchte zu entkräften, Majestät.»

«Nun ja.» Sir Alan räusperte sich und setzte eine bedrückte Miene auf, die zusammen mit der faden Wirkung seines Brillengestells eine Aura ungeheurer Melancholie verbreitete. «Zumindest muss man bezweifeln, ob der Erzbischof noch mit voller Überzeugung an die Idee der englischen Staatskirche glaubt. Doch das eigentliche Übel muss man wohl darin erblicken, dass der Erzbischof mit seiner Haltung nicht allein steht. Ich möchte es so sagen: Wenn es nur der Erzbischof wäre – dieses Problem ließe sich lösen …»

«Der Erzbischof ist alt. Wie schnell fängt man sich im Frühjahr eine Erkältung ein, die sich rasch zu einer Lungenentzündung ausweitet? Oder denken Sie an die Risiken des Straßenverkehrs, Majestät.»

«Nein. Denn der Erzbischof ist nicht allein. Seit Jahren verzeichnen wir eine Übertrittswelle zur römisch-katholischen Kirche, die immer weiter anschwillt. Die Zahl der Gottesdienstbesucher bei den Päpstlichen ist bereits größer als in der Kirche von England. Und der Vatikan fördert diese Entwicklung nach Kräften: Schon vor längerer Zeit hat er in London ein Ordinariat errichtet, das übertrittswillige Mitglieder der Kirche von England unterstützen soll. Und der Höhepunkt war natürlich der Papstbesuch im letzten Herbst.»

«Vermutlich jubelten sie ihm gerade deshalb zu», wagte Sir Alan zu bemerken.

«Uns liegen Informationen vor», sagte Sir Alan, «dass der Erzbischof weitere Schritte plant. Radikale Schritte. Majestät wissen ja, dass der Heilige Vater jedes Jahr am Karfreitag eine Prozession anführt. Einen sogenannten Kreuzweg. Die Gläubigen folgen dem Leidensweg des Heilands.»

Die Königin saß immer noch völlig ruhig in ihrem Sessel, hatte aber ihre Stimme leicht erhoben. Sir Alan wusste diesen Ton einzuordnen. Normalerweise kam es danach zu Parlamentsauflösungen, nicht selten auch zu Kriegserklärungen.

Nun mischte sich der Vatikanexperte ein: «Majestät müssen bedenken, dass der Kreuzweg in die ganze Welt übertragen wird. Live. Er stellt einen Höhepunkt im Kirchenjahr dar. Und er findet an einem ganz besonderen Ort statt.»

«Nein, Majestät. In den Ruinen des Kolosseums. Ein Ort von besonderer Symbolkraft. Dort, so hält sich die Legende, wurden in der Antike die ersten Christen getötet. Im Auftrag der Cäsaren. Aber die Cäsaren sind tot – und das römisch-katholische Christentum lebt. Das Kolosseum steht für Leiden, aber auch für Todesmut und Triumph. Der Erzbischof von Canterbury weiß das natürlich.»

«Es gibt auch gute Nachrichten», beschwichtigte Sir Alan. «Dem MI6 ist es gelungen, einen Agenten im Umkreis des Papstes zu platzieren. Wir können also recht genau beobachten, was der Heilige Vater plant.»

«An welche Aktivitäten dachten Majestät?», erkundigte sich Sir Alan.

«Normalerweise bevorzugt der MI6 eher …»

«Und der Erzbischof von Canterbury?»

Sir Alan nickte zufrieden. «Dürfen wir hierbei auch Lösungen ins Auge fassen, die …»

Abrupt wandte sie sich ab und nahm sich mit spitzen Fingern ein Gurkensandwich. Sir Alan konnte abtreten.