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Über dieses Buch:

Der Antiquar Simon Schuster ist Spezialist für wertvolle Bücher. Deswegen erkennt er sofort, dass sich hinter der geheimnisvollen Textpassage, die seine Tochter Claudia zufällig gefunden hat, mehr verbirgt, als es scheint. Ist das der Schlüssel zum legendären Schatz des Hofnarren Johann Ernst Schneller? Nur Eingeweihte wissen von dessen Intrigen und Machtkämpfen am Hof des Kurfürsten Friedrich August des Zweiten. Der Fall des Hofnarren ist tief – auf Verrat folgt Freitod. Aber seine List wirkt über den Tod hinaus. Vater und Tochter entschlüsseln Zug um Zug das rätselhafte Versteckspiel, das der machthungrige Narr hinterließ. Doch nicht nur sie sind seinem Geheimnis auf der Spur …

»Detlef Bluhm ist eine wunderbar geplottete, von a-moralischer Bosheit funkelnde caper novel gelungen. Ganz und gar un-deutsch, mit hochplausibler krimineller Energie und robuster, fröhlicher Gier.« – Nürnberger Nachrichten

Über den Autor:

Detlef Bluhm wurde 1954 in Berlin geboren. Er arbeitete als Buchhändler und Verleger und ist seit 1992 Geschäftsführer des Verbandes der Verlage und Buchhandlungen in Berlin-Brandenburg. Seit 2003 ist Detlef Bluhm Vorsitzender des Literaturhauses Berlin. Seine Romane und Sachbücher sind in sechs Sprachen übersetzt worden. Neben seinen vielfältigen Herausgebertätigkeiten betreibt Detlef Bluhm unter dem Pseudonym Kater Paul auch einen Blog, der sich der Kulturgeschichte der Katze verschrieben hat:

https://katerpaul.wordpress.com/

Die Website des Autors: www.detlefbluhm.de

Der Autor bei Facebook: https://de-de.facebook.com/people/Detlef-Bluhm/100000135608953

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Neuausgabe Oktober 2015

Copyright © der Originalausgabe 1999 bei Gustav Kiepenheuer Verlag GmbH, Leipzig

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung eines Bildmotivs von © Thinkstock/Marc Osborne

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-386-6

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Detlef Bluhm

Das Geheimnis des Hofnarren

Roman

dotbooks.

Glücklicherweise bestand der einzige Verschluß des Deckels aus zwei verschiebbaren Riegeln. Diese stießen wir zurück, zitternd und atemlos vor ängstlicher Erwartung. Im nächsten Augenblick lag gleißend ein Schatz von unberechenbarem Wert vor uns. Als das Licht der Laternen in die Höhlung fiel, blitzte uns von einem wirren Haufen von Gold und Edelsteinen ein Glühen und Flimmern entgegen, das unser Auge völlig blendete.

EDGAR ALLAN POE
Der Goldkäfer

31. 10. 1662
Ich bin mit einem Auftrag für Lord Sandwich und Sir H. Bennet beschäftigt, wir sollen nach Mr. Baxters Geld suchen, das dieser in einem Keller im Tower versteckt hat.

7.11.1662
Zum drittenmal im Tower gegraben, bis 7 Uhr abends, wieder vergeblich.

SAMUEL PEPYS
Tagebuch

1. Kapitel

»Wie ich gestern schon gesagt habe, der Morgen ist immer klüger als der Abend!«

Simon Schuster schreckte zusammen. Er saß gerade beim Frühstück auf der Terrasse, als Claudia von ihrer morgendlichen Fahrradtour durch den Grunewald zurückkehrte, die sie oft unternahm, wenn sie im Haus ihres Vaters übernachtet hatte. Ihre lauten, in seinem Rücken gesprochenen Begrüßungsworte trafen Simons Kopf wie kleine Hammerschläge. Er konnte an diesem Morgen auf die doppelsinnige Weisheit der angehenden Volkskundlerin gut und gern verzichten. Gestern nacht, nach seiner Geburtstagsfeier und endlich allein, hatte Simon sich noch eine Verkostung der als Geschenk ins Haus gekommenen Whisky-Raritäten gegönnt, und jetzt spürte er deutlich, daß er statt dessen besser hätte ins Bett gehen sollen.

Claudia gab ihrem Vater einen Kuß auf die Stirn und setzte sich an den gedeckten Tisch. Nach ihrem Frühsport hatte sie ausgewaschene Jeans und ein rotes T-Shirt angezogen. Ihre schwarzen Locken fielen bis auf die Schultern und waren noch naß vom Duschen.

»Du siehst aus, als hättest du gestern eine Zigarre zuviel geraucht«, kommentierte sie beiläufig seine Verfassung.

»Die Tochter sollte jetzt besser schweigen«, knurrte Simon und fuhr ohne aufzusehen fort, einen Rollmops zu sezieren.

Claudia nahm ihr Frühstücksei aus dem Wärmebehälter, griff sich das Feuilleton der Sonntagszeitung und sah, daß Julia für Simon ein reichhaltiges Katerfrühstück zubereitet hatte: Spreewälder Gurken, Spiegelei mit Schinken, Würstchen mit Senf, Rollmöpse, Bouillon mit Nudeln, grünen Tee und frisch gepreßten Orangensaft. Sie überflog einen Artikel über den gestern beendeten Kongreß der Deutschen Gesellschaft für europäische Ethnologie und bemühte sich, die Seiten der Tageszeitung möglichst leise umzuschlagen. Wenn Simon sie in der dritten Person anredete, war Vorsicht geboten. Sie beobachtete verstohlen ihren Vater, der gepeinigt im Lokalteil blätterte, und ihr fiel ein Zitat von Elias Canetti ein: »Dort lesen die Leute zweimal im Jahr die Zeitung, übergeben sich und gesunden.« Sie wußte nicht, ob er diesen Satz kannte, beschloß aber, ihn jetzt besser nicht danach zu fragen.

Simon war weder rasiert noch gekämmt. Das von grauen Strähnen durchzogene Haar sah aus wie ein Heuschober nach einem Sommergewitter. Aber Claudia ließ sich von diesem bedauernswerten Anblick die Sonntagsstimmung nicht verderben. Es war erst kurz nach zehn, und doch hatte die kräftige Sommersonne die Feuchtigkeit der Nacht aus dem Garten fast vollständig vertrieben. Claudia schloß die Augen und lehnte sich behaglich in ihren Rohrsessel zurück. Sie genoß die Ruhe, das leise Rauschen des Rasensprengers, das vom Nachbargrundstück herüberklang, und dachte nur ungern an den Fontanekreis, der sich in wenigen Stunden wie an jedem ersten Sonntag im Monat nachmittags im Haus treffen würde. Sie wußte, daß Simon dann wieder fit sein würde, und sah ihn schon vor sich, wie er, gestützt auf seinen Ebenholzstock mit dem ziselierten Silbergriff, die Gäste begrüßte und dabei jedem einzelnen das Gefühl gab, er freue sich über sein Kommen ganz besonders.

Simon war kaum mittelgroß, er wurde von den meisten Männern und nicht wenigen Frauen überragt. Aber seine wachsamen dunklen Augen, das auffällig scharf geschnittene Gesicht, die unaufdringliche Eleganz der Kleidung und seine Fähigkeit, jeden Gast mühelos plaudernd in einen Zustand zu versetzen, den Claudia in einer Mischung aus Bewunderung und Ironie als das »Mysterium der großen Harmonie« bezeichnete, kurz, Simons äußere Erscheinung und seine vertrauenstiftende Ausstrahlung ließen ihn fast überall zum Mittelpunkt werden. Dies galt natürlich um so mehr, wenn er sich in der Rolle des Gastgebers befand.

Simon stand auf und murmelte etwas von »sich frisch machen«. Aber Claudia hörte nicht hin, sie war in Gedanken bei dem erstaunlichen Text, den sie ihrem Vater nachher zeigen wollte. Wenn er, geduscht und rasiert, wieder seinen Platz am inzwischen abgedeckten Tisch auf der Terrasse eingenommen haben würde, um die erste Zigarre des Tages zu rauchen. Claudia liebte diese Stunde, wenn Simon nur für sie Zeit hatte. Sie tauschten dann Belanglosigkeiten aus, sprachen über gelesene Bücher, mitunter stritten sie auch. Heute würde sie ihm von einem ganz besonderen Leseerlebnis berichten.

Wie immer schaute Simon erst nach dem Duschen in den Spiegel des Badezimmers, denn der Anblick seines verschlafenen Gesichts rief ein beängstigendes Gefühl der Fremdheit in ihm hervor. Nach der Rasur betrachtete er sich lange und nicht unzufrieden; die 54 Jahre waren ohne tiefe Spuren an seinem schmalen, nahezu faltenlosen Gesicht vorbeigegangen. Er ging zurück in das direkt angrenzende Schlafzimmer, wo schon seine Kleidung bereitlag. Egal, wie spät es nachts wurde und was und wieviel er auch getrunken hatte, immer legte er sich vor dem Schlafengehen zurecht, was er am nächsten Tag anziehen wollte; eine aus seiner Kindheit stammende Angewohnheit, die der Enge der damaligen Wohnverhältnisse entsprang. In das Kinderzimmer paßte kein Wäscheschrank, deshalb waren die Anziehsachen der drei Geschwister in dem großen Kleiderschrank untergebracht, der im kombinierten Wohnschlafzimmer der Eltern stand. Dort holten sich die Geschwister vor dem Zubettgehen ihre Kleidung für den nächsten Tag und hängten sie im Flur auf.

Durch eine hohe Doppeltür gelangte er in die obere Bibliothek. Dort waren auf einem großen, alten Barwagen seine Whiskyflaschen deponiert, Zigarren lagerten in einem dunkelbraunen, regelmäßig gemaserten Humidor aus Zedernholz. Das fahrbare Möbel, Claudia nannte es etwas respektlos »den Altar«, hatte in den zwanziger Jahren dem Hotel Adlon gedient und war auf sehr verschlungenen Wegen in Simons Haus gelangt. Nachdem er eine leichte Morgenzigarre ausgewählt und angeschnitten hatte, ging er zum zweiten Mal an diesem Sonntag die Treppe hinunter ins Erdgeschoß.

Im Salon richtete Julia bereits alles für den Nachmittag her. Sie war seit über fünf Jahren bei ihm als Aushilfe im Antiquariat beschäftigt und kümmerte sich auch um den Haushalt. Zeitgleich mit Julia hatte ihr Mann Ferdinand bei Simon die Arbeit aufgenommen. Als Packer und Fahrer war er inzwischen für die Buchhandlung in der Knesebeckstraße unersetzlich geworden. Simon schätzte sehr, daß Ferdinand auch alle das Haus und den Garten betreffenden Arbeiten umsichtig erledigte. Ferdinand war damals gerade aus dem Gefängnis gekommen. Eine befreundete Bewährungshelferin hatte den Kontakt zu Simon vermittelt, der anfänglich einige Bedenken wegen der Nachbarn gehabt hatte, denn einen verurteilten Trickbetrüger stellte man in Grunewald nicht ohne weiteres ein. Schließlich hatte Simon beschlossen, das ungewöhnliche Experiment zu wagen. Er bereute es nicht, und als Zugabe profitierte sein soziales Gewissen davon.

Simon saß noch keine Minute auf der Terrasse, als Claudia sich mit einem Buch in der Hand zu ihm setzte.

»Simon, sag mir bitte etwas zu dieser Ausgabe.«

Er nahm das Buch in die Hand und erkannte es schon an seinem außergewöhnlichen Einband.

»Du hast es aus der oberen Bibliothek«, sagte er mit ärgerlichem Unterton; er sah es nicht gern, wenn sie, ohne zu fragen, seine Bücher auslieh. Claudia zuckte nur ungeduldig mit den Schultern.

»Na gut.« Simon blätterte das Buch auf. »Das ist die ›Insel Felsenburg‹ von Johann Gottfried Schnabel.« Er vergewisserte sich durch einen Blick auf den Haupttitel, bevor er ergänzte: »Und zwar die 7. Auflage von 1751 in einem besonders schönen Einband der Zeit.«

Claudia schaute ihn fragend an.

»Diese Ausgabe wird erst durch ihren Einband wirklich wertvoll, eine wunderbare Arbeit. Blaues Maroquinleder, das ist das Leder von der Kapziege, und ein sehr originell gestaltetes Supraexlibris, das im Gegensatz zum Exlibris auf die Vorderseite des Bucheinbandes geprägt wurde. Seit dem 16. Jahrhundert in Europa weit verbreitet. Dieses hier bezeichnet den Besitzer des Buches allerdings nicht namentlich, sondern charakterisiert ihn lediglich durch einen Eselskopf, ein Kartenspiel und drei Spielwürfel, etwas skurril. Also, was interessiert dich an dem Buch?«

Claudia nahm es ihm aus der Hand, schlug eine Seite auf und zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Textpassage.

»Lies selbst.«

Simon griff erneut nach dem Buch und las laut: »Auf der äusersten Felsen-Höhle gegen Osten war ein bequemliches Wacht-Hauß erbauet, welches wir nebst denen dreyen dabey gepflantzten Stücken Geschützes in Augenschein nahmen, und uns anbey über das viele im Walde herum lauffende Wild sonderlich ergötzten. Nur ein Narr kann es errathen. Der Schlüssel liegt bei KWD und auch bey meinem Ruhm. Man grabe tief nur 200 Schritt von der Allee bey Numero 57. Drey Fundsachen: Kisten, Bibel und Gesang-Buch, nebst andern gewöhnlichen Geschencken vor die Jugend empfangen hatte, zu rechter Zeit den Rückweg auf Alberts-Burg antraten.«

»Das reicht«, unterbrach ihn Claudia. »Was sagst du dazu?«

Simon las den Text noch einmal langsam im stillen und sagte schließlich: »Der letzte Satz ergibt keinen rechten Sinn. Was soll das?« Er schaute seine Tochter an. »Ich bin Buchhändler und Antiquar, kein Germanist. Ich habe keine Ahnung.«

Claudia schob ihm eine Fotokopie hin. »Dann lies bitte im Vergleich dazu den hier markierten Text.«

Simon las wieder laut: »Auf der äusersten Felsen-Höhle gegen Osten war ein bequemliches Wacht-Hauß erbauet, welches wir nebst denen dreyen dabey gepflantzten Stücken Geschützes in Augenschein nahmen, und uns anbey über das viele im Walde herum lauffende Wild sonderlich ergötzten, nachhero in dem Robertischen Stamm-Hause aufs köstlichste bewirthet wurden, doch aber, nachdem diese Gemeine in jedes Hauß eine Englische Bibel und Gesang-Buch, nebst andern gewöhnlichen Geschencken vor die Jugend empfangen hatte, zu rechter Zeit den Rückweg auf Alberts-Burg antraten.«

Danach schlug Simon das Buch nochmals auf und verglich beide Texte eingehend. »Hier ist ein Textteil ausgetauscht worden. Der Text auf der Kopie macht Sinn, der im Buch nicht. Merkwürdig.«

»Richtig! Es handelt sich in deiner Ausgabe exakt um folgende Passage: ›Nur ein Narr kann es errathen. Der Schlüssel liegt bei KWD und auch bey meinem Ruhm. Man grabe tief nur 200 Schritt von der Allee bey Numero 57. Drey Fundsachen: Kisten‹. Diesen Text gibt es in keiner anderen Ausgabe der ›Insel Felsenburg‹. Die Kopie stammt aus einem Exemplar dieses Buches in der Staatsbibliothek, genauer gesagt aus der 7. Auflage von 1751. Es hat mich einige Mühe gekostet, eine Kopie von dieser Seite zu bekommen. Und ich habe noch fünf weitere Ausgaben bis hin zur Reclamausgabe von 1979 geprüft. Nirgendwo findet sich diese Passage. Dein Buch ist ein Unikat.«

Claudia lehnte sich zufrieden zurück. Sie konnte ihren Vater selten verblüffen. Heute war es ihr gelungen.

»Bist du sicher?«

»Ich habe das genau gecheckt.«

Simon verschluckte gerade noch rechtzeitig eine Bemerkung über unnötige Anglizismen, die nur zu einem sinnlosen Streit geführt hätte, hielt die betreffende Seite gegen das Licht, strich mit der Hand über die Buchstaben und prüfte den Bucheinband.

»Kein Zweifel, diese Passage ist gedruckt wie der Rest des Buches, sie ist auch in der gleichen Schrifttype gesetzt. Der ursprüngliche Besitzer muß einen textlich geänderten Druckbogen beim Buchdrucker bestellt und diesen gegen den Originalbogen vertauscht haben. Dann hat er alles neu oder auch erstmals in die hier vorhandene Form binden lassen. Anders kann ich mir das nicht erklären. Aber wozu? Und wie bist du überhaupt auf diesen Text gestoßen? Die ›Insel Felsenburg‹ gehört doch wohl kaum zu deiner Studienlektüre.«

»Irrtum. Im Rahmen einer interdisziplinären Projektarbeit zum Thema ›Die europäische Wirklichkeit und ihre utopischen Gegenbilder in den deutschen Robinsonaden des 18. Jahrhunderts‹ …«

Simon machte eine abwehrende Geste.

»O. K. Jedenfalls hatte ich im Zusammenhang mit diesem Projekt einige Passagen aus der ›Insel Felsenburg‹ zu bearbeiten, dazu gehörte auch diese Seite. Du erinnerst dich vielleicht, daß ich letzten Sonntag hier noch Anzeigenrechnungen geschrieben habe. Danach wollte ich meine Textanalyse beenden und bemerkte, daß ich mein Buch in der Uni vergessen hatte. Deshalb nahm ich deine Ausgabe zur Hand. Bei der Lektüre fiel mir die Formulierung auf, die du gerade gelesen hast. Ich erinnerte mich genau, daß diese Sätze nicht in meiner Ausgabe standen. Und da habe ich aus Neugier einen Textvergleich angestellt. Das Ergebnis hast du gerade gesehen.«

Simon schüttelte den Kopf. Er hatte dafür einfach keine Erklärung.

»Seit einer Woche zermartere ich mir den Kopf, was das bedeuten soll. Mir ist nur eine Erklärung eingefallen. Es handelt sich offensichtlich um einen chiffrierten Hinweis auf drei vergrabene Kisten. Vermutlich ist es eine geschriebene Karte, eine Art Plan. Wer immer diese Textpassagen eingefügt hat, er hat an einer bestimmten Stelle drei Kisten vergraben. Man vergräbt nur etwas, wenn es sehr wertvoll ist, oder belastend, was weiß ich aus welchen Gründen noch.«

»Claudia!« Simon lachte, nahm seine Zigarre und zündete sie sorgsam an. »Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, daß du das hier für einen Schatzplan hältst?«

»So weit will ich ja noch gar nicht gehen. Aber auszuschließen ist das nicht. Jedenfalls sollten wir uns darum kümmern.«

Simon schüttelte wieder den Kopf. »Wir sollten uns darum kümmern!? Wir haben doch überhaupt keine Anhaltspunkte, keine geographischen Hinweise, nur diese nebulösen Angaben. Wo sollen wir denn suchen?«

»Wir haben das Buch«, antwortete Claudia ruhig.

Nachdenklich verfolgte er die kräftigen Rauchwolken seiner Zigarre. Natürlich würde er die Recherchen seiner Tochter noch einmal sorgfältig überprüfen. Aber warum sollte Claudia sich irren? Sie war in dieser Beziehung sehr verläßlich. Was für eine Schnapsidee! Aber er kannte ja seine Tochter. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte … Und merkwürdig war es schon. Jedenfalls würde es nicht schaden, etwas über den ursprünglichen Besitzer des Buches herauszufinden.

»Habe ich dir jemals von Tom erzählt, Tom Morgan?« Claudia verneinte. »Tom ist ein alter Freund. Ich habe ihn damals in London kennengelernt. Er arbeitet im British Museum. Dort befindet sich die größte Exlibrissammlung der Welt mit weit über 100 000 verschiedenen Exponaten.

Zeichne dieses Exlibris nach oder pause es ab, jedenfalls brauche ich eine faxfähige Kopie. Ich werde Tom fragen, ob er den Inhaber des Exlibris ermitteln kann. Dann sehen wir weiter.« Simon schaute auf die Uhr. »Verdammt! Gleich kommt die Stipendiatin. Geh doch inzwischen Julia etwas zur Hand. Und stell das Buch bitte wieder in die obere Bibliothek, nein, leg es einfach auf meinen Schreibtisch.«

Claudia lächelte. Äußerlich wirkte Simon völlig ruhig. Aber sie spürte, wie sein Gehirn angefangen hatte zu rotieren, angeregt vom Tabak und einem ungewöhnlichen Sonntagsrätsel.

Während Simon seinen Gedanken nachhing, fiel sein Blick auf die Einfassung der Terrasse, und wie immer begann er sich zu ärgern. Das bröckelnde Gemäuer mußte dringend erneuert werden, jeder Winter hinterließ neue Spuren. Die kleine Steintreppe, die zum Garten führte, entsprach schon lange nicht mehr dem Standard der Baubehörde. Und auch mit dem Dach des kleinen Hausmeisterhäuschens mußte bald etwas geschehen. Weil er schon dabei war, fiel ihm wieder ein, daß das Haus innen seit über zehn Jahren nicht mehr renoviert worden war. Zwar sprach ihn niemand direkt darauf an. Aber einige Mitglieder des Fontanekreises ließen ihn ab und zu spüren, daß sie eine behutsame Verschönerung der unteren Räumlichkeiten für überfällig hielten. »Denken Sie nur, Herr Schuster, ich habe gerade mein Haus komplett renovieren lassen, von polnischen Facharbeitern, die nur zehn Mark für die Stunde verlangt haben!« hatte ihm unlängst die Witwe eines wohlhabenden Patentanwaltes zugeflüstert.

Simon hatte die Zigarre gerade abgelegt, als Claudia die diesjährige Stipendiatin des Fontanekreises, Franziska Reinicke, auf die Terrasse führte.

»Herzlich willkommen in Berlin, Sie haben ja wunderbares Wetter mitgebracht«, begrüßte Simon die Schriftstellerin, die ein Jahr in Berlin verbringen würde. Er lud sie ein, Platz zu nehmen, und Claudia fragte nach ihrem Getränkewunsch. Beim Austausch der üblichen Höflichkeitsfloskeln nahm Simon die Stipendiatin in Augenschein. Sie war 32 Jahre alt, das wußte er schon aus den Bewerbungsunterlagen. Doch dem unscheinbaren Paßfoto glich sie wenig. Sie hatte kurzgeschnittenes hellblondes Haar und trug ein gelbes, geblümtes Sommerkleid, nicht zu kurz, aber doch kurz genug, um ihre schlanken, langen Beine zur Geltung zu bringen. Mit ihren blauen Augen beobachtete sie ruhig und aufmerksam das Geschehen, die vollen Lippen wurden durch eine etwas zu kleine Nase betont. Sie stammte aus Meißen und arbeitete als freie Literaturkritikerin. Bisher war ein Band mit Erzählungen erschienen, nun sollte in Berlin ihr erster Roman entstehen.

»Sie kommen direkt vom Bahnhof Zoo?«

»Ja, ich habe nur einen kleinen Koffer dabei. Mein Gepäck ist hoffentlich inzwischen hier eingetroffen?«

»Ist schon vorgestern angekommen. Ich habe es gleich zu Ihrem Gastgeber bringen lassen. Sie kommen bei Dr. Hartwig Malz unter, einem pensionierten Bankdirektor mit einem traumhaften Anwesen. Er wohnt nur ein paar Straßen weiter. Ich stelle Sie nachher vor.«

Franziska sah sich um und sagte dann zu Simon: »Ihr Anwesen«, sie betonte das Wort für Simons Geschmack etwas zu stark, »ist aber auch nicht von schlechten Eltern. Ich habe gehört, daß Sie eine Buchhandlung haben. Kann man denn heutzutage als Buchhändler noch so viel Geld verdienen?«

»Das ist ein abendfüllendes Thema. Über die wirtschaftliche Situation des Buchhandels können wir uns gern noch einmal in Ruhe unterhalten, wenn es Sie interessiert. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Das Haus gehört einer Stiftung. Und mit dieser Mitteilung sind wir eigentlich schon beim Fontanekreis, dem Sie Ihr Stipendium verdanken. Ich nehme an, daß Sie mit den Angelegenheiten des Fontanekreises noch nicht besonders vertraut sind.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Lassen Sie mich deshalb die Stunde, die wir noch für uns haben, dazu nutzen, Sie ins Bild zu setzen.« Dann begann er seinen üblichen, kleinen Vortrag. »Seit fast genau 65 Jahren trifft sich der Fontanekreis jeden ersten Sonntag im Monat in diesem Haus. Er wurde von Charlotte von Falkenberg gegründet als Zusammenkunft literarisch Interessierter, die hier in Grunewald ansässig sind. Früher stand das Werk Theodor Fontanes im Mittelpunkt der Treffen, doch das ist schon lange her. Frau von Falkenberg war verheiratet mit dem berühmten Volkskundler von Falkenberg, einem angesehenen Professor, der sich im Dritten Reich den Theorien der Nazis nicht anschließen wollte und aufs Abstellgleis geschoben wurde. Er starb allerdings schon kurz nach dem Krieg. Frau von Falkenberg und ihr Mann waren Stammkunden in der Buchhandlung meiner Eltern, die ich später übernommen habe und, wie Sie schon wissen, heute noch betreibe. Als ich nach absolvierter Lehrzeit in einer Hamburger Buchhandlung, Praktika bei verschiedenen Verlagen und einem anschließenden Aufenthalt in London in der Buchhandlung meiner Eltern anfing, lernte ich sie kennen. Sie mochte mich sofort gut leiden, und ich war fasziniert von ihrer Belesenheit. Um es kurz zu machen: die Ehe der Falkenbergs blieb kinderlos, es gab keine nahen Verwandten. Frau von Falkenberg beschloß, ihr Haus und Vermögen in eine Stiftung einzubringen, deren Zweck es ist, die Treffen des Fontanekreises hier über ihren Tod hinaus weiterführen zu können. Sie ernannte mich zum Vorstand auf Lebenszeit mit Wohnrecht in dem Haus nach ihrem Tod, und als es soweit war, erbte ich einen kleinen Verlag, der nichts anderes als die von Professor von Falkenberg schon vor dem Krieg begründete ›Deutsche Zeitschrift für Volkskunde‹ herausgibt. Das war vor fünfzehn Jahren. Kurz danach habe ich den altväterlich klingenden Titel der Zeitschrift abgeändert in ›Berliner Blätter für europäische Ethnologie‹. Um den Verlag und die Zeitschrift kümmert sich inzwischen meine Tochter Claudia, die selbst Volkskunde oder, wie es eben heute heißt, Europäische Ethnologie studiert. Das Verlagsbüro ist übrigens hier im ersten Stock untergebracht. Noch vor ihrem Tod haben Frau von Falkenberg und ich den Fontanekreis als eingetragenen Verein etabliert und die Stipendien eingeführt. Ich wollte etwas für Nachwuchsautoren tun, und wir konnten den Fontanekreis für diese Idee begeistern. Die guten persönlichen Beziehungen von Frau von Falkenberg zum damaligen Kultursenator haben die immer noch gültigen Regeln der Stipendien ermöglicht: ein aus vier Personen bestehendes Gremium des Vereins, der ›Ausschuß‹, wählt jedes Jahr einen Stipendiaten aus, der Kultursenat sichert die Grundfinanzierung des Stipendiums, und der Fontanekreis stockt diese monatliche Zuwendung auf und gewährt für ein Jahr Unterkunft.«

Simon schaute wieder auf die Uhr. Er rückte seinen Stuhl ein wenig vom Tisch ab und erhob sich.

»Ich möchte Ihnen jetzt noch schnell das Haus zeigen.«

Franziska Reinicke stellte ihr Glas auf den Tisch und nahm ihre Handtasche.

»Claudia und ich werden Sie im Laufe des Tages den Mitgliedern des Fontanekreises und den heutigen Gästen vorstellen. Ach, das hatte ich vergessen: der Fontanekreis hat exakt 50 Mitglieder; der schon erwähnte ›Ausschuß‹ lädt zu jedem Treffen des Fontanekreises etwa 15 Gäste ein, es kommen also immer ungefähr 45 bis 50 Personen. Für die Treffen des Fontanekreises benutzen wir nur das Erdgeschoß und den Garten.«

Simon ging voraus. Die drei großen Zimmer mit Gartenblick waren durch breite, offenstehende Flügeltüren miteinander verbunden.

»Dieses mittlere Zimmer nennen wir den ›Salon‹. Sie haben ja schon bemerkt, daß man durch die Diele zunächst in diesen Raum gelangt. Und hier rechts«, Simon ging wieder voran, »befindet sich das ›Spielzimmer‹. An den Tischen wird zumeist Bridge oder Black Jack gespielt, um kleinere Beträge.«

Franziska folgte Simon, der sie nun durch den Salon in die Bibliothek im Erdgeschoß führte. Während in Salon und Spielzimmer die Wände voller Bilder hingen, »keine herausragenden Gemälde, aber doch Werke des 18. und 19. Jahrhunderts«, wie Simon bemerkte, war die Bibliothek vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestellt. In der rechten Fensterecke des Raumes war ein Stehpult aufgebaut, davor standen halbkreisförmig mehrere Stuhlreihen.

»Hier werden Sie heute abend lesen. Wie telefonisch schon besprochen, stelle ich Sie kurz vor. Sie haben dann anschließend dreißig Minuten Zeit für Ihre Lesung. Gewöhnlich ergibt sich danach ein lebhaftes Gespräch, das ich nach einer weiteren halben Stunde zu beenden pflege; einige ältere Mitglieder möchten dann nach Hause gehen und wollen nicht so unhöflich sein, das während der Diskussion zu tun. Aber rechnen Sie ruhig damit, daß man Sie später im kleinen Kreis weiter befragen wird.«

In diesem Moment tauchte Julia in der Tür auf.

»Simon, Sie sollten jetzt besser kommen. Die ersten Gäste treffen ein.«

»Danke, Julia. Sie«, wandte er sich an Franziska, »halten sich am besten in Claudias Nähe. Sie wird sich um Sie kümmern.«

Franziska und Claudia folgten Simon und nahmen dann im Salon auf einer Sitzgruppe am Fenster Platz.

»Ihr Vater erwähnte vorhin, daß nachher im Spielzimmer Black Jack gespielt wird, um kleinere Beträge. Um welche Beträge geht es da eigentlich?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich habe noch nie mitgespielt. Hier hat wohl noch nie jemand viel gewonnen oder verloren. Es gibt Limits, ich denke, der Einsatz beträgt ein oder zwei Mark pro Spiel. Sie wollen doch nicht etwa mitspielen?«

»Warum nicht? Bin ich nicht Gast wie die anderen?«

»Eigentlich schon. Aber ich habe noch nie erlebt, daß eine Stipendiatin mitgespielt hat. Ist der Gedanke nicht ein wenig merkwürdig, daß Sie Stipendiengelder verspielen oder Ihre Förderer abzocken könnten?«

Franziska mußte lachen.

»Vermutlich haben Sie recht.«

Die meisten Mitglieder des Fontanekreises trafen wie im. mer pünktlich ein. Deshalb war an jedem ersten Sonntag im Monat schwerste Begrüßungsarbeit zu leisten. Alle Mitglieder, und vor allem die eingeladenen Gäste, sollten, dazu fühlte sich Simon verpflichtet, persönlich willkommen geheißen werden. Da nun aber innerhalb von höchstens fünfundzwanzig Minuten an die fünfzig Menschen eintrafen, blieb für jede Begrüßung nur eine halbe Minute Zeit. (Simon hatte sich das Problem einmal rechnerisch bewußtgemacht.) Im Winter und während der Übergangszeiten war es einfacher. Mäntel, Hüte und Regenschirme mußten abgenommen und versorgt werden. Dabei half ihm meistens Julia. Die Gäste kamen so untereinander ins Gespräch und waren beschäftigt, bis sie von Simon empfangen wurden. Aber jetzt im Sommer fiel diese Ablenkung weg. Doch er genoß diese Herausforderung, diesen Zwang zum kommunikativen Expreßdienst. Simon hatte für jeden Besucher ein persönliches Wort, knüpfte an ein kürzlich geführtes Telefonat an, erkundigte sich nach Kind oder Hund öder danach, ob der letzte Besuch in seiner Buchhandlung zufriedenstellend verlaufen war, bestellte Grüße oder bat um »einige Minuten nachher«, bevor er sich dem nächsten Gast zuwandte. Dabei mußte er natürlich verhindern, daß seine Erkundigungen und Fragen ausführlich beantwortet wurden, oft schnell ein vorläufig letztes Wort finden, ohne daß sich sein jeweiliger Gesprächspartner abgeschoben fühlte. Aber in dieser Beziehung war Simon perfekt.

»Hallo, Simon«, Dr. Hartwig Malz reichte ihm freundschaftlich die rechte Hand und umfaßte mit der linken seinen Arm. »Ich habe dich letzten Sonntag in Hoppegarten vermißt. Es war ein herrlicher Renntag mit überraschenden Ergebnissen.«

Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der »Hypobank Berlin Dresden« war mittelgroß und ziemlich beleibt. Sein volles, schlohweißes Haar trug er wie immer etwas zu lang, selbst für einen Bankier im Ruhestand. Und der schlecht sitzende Anzug von mäßiger Qualität ließ kaum vermuten, daß er es war, der kurz vor seinem Rückzug aus dem aktiven Berufsleben die spektakuläre Fusion der beiden Bankhäuser in Berlin und Dresden eingefädelt hatte. Er sah eher aus wie ein pensionierter Finanzbeamter. Aber hinter der biederen Fassade verbarg sich ein erfahrener Stratege, dessen persönliche Kontakte in alle Bereiche des öffentlichen Lebens hineinreichten und der hinter den Kulissen der offiziellen Geschäftswelt immer noch eine gewichtige Rolle spielte.

Die beiden verband eine Art Freundschaft, obwohl sich Simon oft über das ungehobelte Selbstbewußtsein ärgerte, das Hartwig Malz ständig an den Tag legte. Der pensionierte Bankdirektor war auch Mitglied im Vorstand des Hoppegartener Rennvereins und ständiger Nutzer eines Tisches auf der Clubtribüne der Galopprennbahn. Simon teilte dessen Leidenschaft für den Galopprennsport und war an den Renntagen oft Gast an seinem Tisch. Nur am vergangenen Sonntag hatte er keine Zeit gehabt.

»Du weißt ja, daß ich selbst es am meisten bedauere, wenn ich einen Renntag verpasse. Du mußt mir nachher noch alles in Ruhe erzählen. Inzwischen«, Simon hielt seine Hand immer noch fest und ging mit ihm zwei Schritte in Richtung Salon, »kannst du dich mit unserer neuen Stipendiatin bekannt machen, die deine kleine Einliegerwohnung für ein Jahr beziehen wird. Franziska Reinicke sitzt dort bei Claudia, die euch einander vorstellen wird.«

Schon wandte sich Simon dem nächsten Gast zu.

Der Abend war wie im Flug vergangen, die letzten Gäste hatten das Haus kurz nach Mitternacht verlassen. Simon saß mit Claudia auf der Terrasse. Das Außenthermometer zeigte immer noch knapp über 20 Grad an. Eine Flasche Whisky stand auf dem Tisch.

»Macallen, 22 Jahre, cask strenght.« Claudia betrachtete das Etikett. Sie las: »›Especially selected by Ralph Knyrim for Alte Tabakstube am Schillerplatz in Stuttgart.‹ Du bist ein ganz schöner Snob!«

Simon nahm die Flasche, goß zwei Gläser ein und fügte einen Schuß stilles Wasser hinzu, um die hochprozentige Einzelfaßabfüllung auf Trinkstärke zu verdünnen. Er ignorierte ihre Bemerkung, um die drohende Diskussion über luxuriöse Genüsse zu vermeiden. Sie wären dann vermutlich auch auf Zigarren und Pferderennen gekommen, alles Leidenschaften, über die Claudia ganz anders dachte als ihr Vater. Und wenn Claudia Alkohol getrunken hatte, wuchs ihre ohnehin ausgeprägte Streitlust spürbar.

»Wie kam Franziska Reinicke eigentlich dazu, sich an den Black-Jack-Tisch zu setzen und mitzuspielen?« lenkte Simon ab. »Das hat es noch nie gegeben.«

»Dein Freund Dr. Malz hat sie aufgefordert zu spielen. Oder sie hat ihn dazu gebracht. Er war jedenfalls sehr angetan von ihr. Sie hat sogar 150,- Mark gewonnen, wie sie mir vorhin stolz erzählt hat. Und wie gefällt dir Franziska?« fragte Claudia etwas spitz.

»Höre ich da irgendeinen Unterton in deiner Frage?«

»Na, über ihre Beine müßtest du dir inzwischen ein Urteil erlauben können. Du hast sie schließlich heute den ganzen Tag über immer wieder betrachtet.«

»Sei bitte nicht albern. Franziska könnte meine Tochter sein!«

»Gerade dieser Altersunterschied stört doch Männer in deiner Lebensphase überhaupt nicht.«

»Ich wollte mich jetzt eigentlich mit dir noch einmal über unser Gespräch von heute vormittag unterhalten, nicht über die Beine der neuen Stipendiatin.« Simon holte ein Lederetui aus der Jackettasche und entnahm ihm eine Havanna. Claudia lächelte ihren Vater belustigt, aber auch neugierig an.

»Wenn es sich, was ich mir nicht vorstellen kann, bei diesem Text wirklich um einen Hinweis auf irgend etwas Interessantes oder Wertvolles oder gar um einen Schatz handelt, dann müssen wir uns einige Informationen besorgen. Ich glaube, daß es darüber ein Gesetz gibt und …«

Claudia unterbrach ihn: »Alle damit zusammenhängenden Fragen sind in den Denkmalschutzgesetzen der Länder geregelt. Eine Broschüre, in der diese Ländergesetze enthalten sind, gibt es beim Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz im Bundesministerium des Innern. Ein Exemplar liegt oben auf meinem Schreibtisch. Die wichtigen Passagen sind bereits gelb markiert. Du kannst dich bei der Lektüre darauf beschränken.«

Simon reagierte etwas ungehalten: »Gibt es noch weitere Informationen, die ich haben sollte?«

»Hey, heute früh hatte ich keine Zeit mehr, es dir zu erzählen. Du wolltest ja in Ruhe nachdenken. Und mehr habe ich auch noch nicht.«

»Schon gut. Fährst du noch nach Hause?« Claudia hatte zwar von ihrer Mutter eine kleine Eigentumswohnung in Wilmersdorf geerbt, aber die Souterrainwohnung im Haus des Vaters nicht aufgegeben. Hin und wieder übernachtete sie dort.

»Ja, ich rufe mir jetzt ein Taxi. Ach so, ich habe vorhin das Supraexlibris nachgezeichnet. Liegt auch auf dem Schreibtisch. Du kannst es morgen deinem Freund faxen.«

Simon blieb noch einen Moment allein sitzen. Nachdem er endlich in das Haus eingezogen war, hatte er den ersten Sonntag im Monat kaum erwarten können. Als Gastgeber des Fontanekreises war er fast vor Stolz geplatzt. Inzwischen dachte er immer häufiger darüber nach, wie er sich dieser Verpflichtung entziehen könnte, aber auch heute fand er keinen Ausweg. Viele Mitglieder des Fontanekreises ödeten ihn einfach an. Ihre überzogene Selbstsicherheit, das ritualisierte Engagement für kulturelle Angelegenheiten, die nichtssagenden Gespräche, die er sich die ganze Zeit anhören mußte … manchmal hatte er Lust, alles hinzuschmeißen.

Aber es waren seine besten Kunden, in der Buchhandlung und im Antiquariat. Er und der Fontanekreis, das war eine Zweckgemeinschaft, aus der er schlecht aussteigen konnte, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen.

Simon goß noch ein wenig Whisky nach.

2. Kapitel

Von der Diele führte eine Tür in Simons Antiquariat. Es war ein reines Versandgeschäft, nur Stammkunden besuchten ihn hin und wieder nach vorheriger Terminabsprache. Hier katalogisierte er seine Ankäufe, schrieb Rechnungen und sortierte die Bestellungen, die Julia dann packte und von ihrem Mann auf die Post bringen ließ. Strenggenommen befand sich das Antiquariat im ganzen Haus verstreut, denn zwei Räume im Erd- und Obergeschoß beherbergten nicht Simons private Bibliothek, sondern Bücher, die zum Verkauf standen. Die eigenen, sofern man bei einem Antiquar überhaupt von eigenen Büchern sprechen kann, waren in seinem Schlafzimmer und im Verlagsbüro im ersten Stock untergebracht.

Wenn er aber vom Antiquariat sprach, meinte Simon diesen zur Straße gelegenen Raum, in dem er sich am liebsten aufhielt. Um den Verlag brauchte er sich kaum zu kümmern. Dessen Geschäfte führte Claudia, im Lektorat unterstützt von Friedrich Klage, Professor für europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität, Claudias Lehrer und Herausgeber der »Berliner Blätter für europäische Ethnologie«. Die Zeitschrift erschien viermal jährlich, der Abonnentenstamm hatte sich in den letzten Jahren zwar etwas verringert, reichte aber zusammen mit einigen treuen Anzeigenkunden aus, um das ganze Unternehmen kostendeckend zu gestalten. Sogar ein bescheidenes Gehalt sprang für Claudia dabei heraus. Im letzten Jahr allerdings zeichnete sich dank einiger unerwarteter Anzeigenaufträge für die GmbH sogar ein kleiner Gewinn ab, den Claudia und Simon, Gesellschafter zu gleichen Teilen, aber nicht ausschütteten, sondern noch vor Ende des Geschäftsjahres in neue Computer investiert hatten. Ungefähr die Hälfte der Arbeitszeit verbrachte Simon in seiner Buchhandlung in der Knesebeckstraße.

Zwei Tage nach dem Augusttreffen des Fontanekreises saß Simon im Antiquariat und arbeitete an einem neuen Versandkatalog, den er noch vor der Frankfurter Buchmesse an ausgewählte Kunden verschicken wollte. Er sortierte gerade seine Buchbestände zum Thema Tabak. Über zweihundert verschiedene Werke aus drei Jahrhunderten hatte er in den letzten Jahren angekauft. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, die Bücher in einem Spezialkatalog anzubieten. Er bekam immer häufiger Anfragen nach antiquarischer Tabakliteratur, denn die in Amerika grassierende Renaissance der Zigarre hatte auch Europa erreicht. Simon bedauerte, daß er sich nun von diesem Bestand würde trennen müssen, aber so ging es ihm immer. Als Simon gerade eine telefonische Bestellung entgegennahm, ging ein Fax ein. Er sah sofort, daß es von Tom Morgan kam.

»Lieber Simon,
wie schön, wieder einmal von Dir zu hören. Ich muß es noch einmal sagen: Schade, daß wir uns im März auf der London Bookfair verpaßt haben, aber ich konnte meine Dienstreise nicht verschieben. Vielleicht im nächsten Jahr.

Nun schnell (da in Eile) zu Deiner Anfrage. Ein Glück, daß unsere Exlibrissammlung inzwischen elektronisch erfaßt ist. Ich brauchte nur die Suchbegriffe Eselskopf, Karten und Würfel in verschiedenen Variationen eingeben und habe sehr schnell Auskunft erhalten. Der von Dir gesuchte Besitzer heißt Johann Ernst Schneller und wurde am 14. 4. 1700 in Berlin geboren. 1750 trat er in Dresden in den Dienst Kurfürst Friedrich Augusts II. von Sachsen. Am 31. 8. 1756 entzog er sich seiner Verhaftung wegen Verdachts auf Hochverrat durch Selbstmord.

Mehr habe ich in der Eile nicht finden können, aber nun kannst Du ja selbst recherchieren. Wozu brauchst Du das? (Verzeih meine Neugier.)

Herzliche Grüße aus London

Dein Tom«

Dresden also. Ärgerlich! Vor einer Woche hatte er von einem jungen Berliner Kollegen knapp 50 Titel über Dresden angeboten bekommen, Bücher und Karten. Wo hatte er nur dessen Adresse? Simon mußte fünf Minuten suchen, bis er die Telefonnummer endlich in seinem alten Karteikasten fand. Er erreichte nur einen Anrufbeantworter und bat um Rückruf.

Dann stieg er die Treppe zum Verlagsbüro hinauf. Claudia telefonierte offensichtlich gerade mit Professor Klage. Simon setzte sich auf die kleine Ledercouch, das Fax von Tom in der Hand, und wartete. Die Fenster des Büros lagen in nordöstlicher Richtung zum Garten hin. Die Sonne schien noch ins Zimmer. Simon begann zu schwitzen. Es waren bestimmt 30 Grad hier oben. Heute sollten es draußen sogar 33 Grad werden. Im Antiquariat war es wesentlich erträglicher. Claudia legte auf und setzte sich zu Simon.

»Der Klage geht mir langsam auf den Wecker. Immer, wenn ich ein paar junge Autoren für die Zeitschrift vorschlage, stellt er sich an.«

Simon reichte ihr das Fax. Er wollte sich im Moment nicht in den Konflikt zwischen Claudia und Professor Klage hineinziehen lassen. Es war auch für Simon nicht zu übersehen, daß die gute Zusammenarbeit, das bisherige Einvernehmen zwischen Claudia und ihrem Professor, in letzter Zeit gelitten hatte. Simon spürte, daß sie sich von Klage abnabeln, eigene Wege gehen wollte. Bei einer normalen Studentin wäre das kein Problem gewesen, aber Claudia war Klages Schülerin und gleichzeitig seine Verlegerin, eine ungewöhnliche Konstellation. Als Simon noch die Zeitschrift betreut hatte, war Klage oft im Verlagsbüro gewesen und hatte so auch Claudia kennengelernt, als sie noch ein kleines Mädchen war. Schließlich war es Simons Idee gewesen, Claudia schon während ihres Studiums in die Verlagsarbeit einzubinden. Er sah nun ein, daß er sich in nächster Zeit doch wieder in die Verlagsgeschäfte einmischen und zwischen den beiden vermitteln mußte.

»Das ist toll«, Claudia klatschte in die Hände, »ich hätte nicht erwartet, daß wir so schnell mit unserer Arbeit anfangen können. Dein Londoner Freund ist ja ein Schatz! Wie geht es jetzt weiter?«

»Habe ich dir einmal von Hans Hilbrecht erzählt?«

»Ich erinnere mich dunkel.«

»Hans Hilbrecht ist Jurist und Professor an der TU Dresden. Wir haben uns wenige Wochen nach der Wende hier in Berlin kennengelernt, ich erinnere mich nicht mehr, wer den Kontakt vermittelt hat. Hans beschäftigt sich privat seit Jahrzehnten mit der Geschichte Dresdens und hatte ein Manuskript über die Stadtgeschichte bei sich, als wir uns das erste Mal trafen. Er wollte es damals unbedingt in einem Westverlag publizieren und bat mich um Rat. Ich habe ihn an meinen alten Freund Fritz Berg verwiesen, der das Buch dann auch verlegt hat. Sehr erfolgreich übrigens, im letzten Jahr ist die dritte Auflage erschienen. Er hat mich danach ab und zu hier besucht, ich war auch zweimal bei ihm in Dresden zu Gast. Also, ich werde Hans Hilbrecht anrufen und fragen, ob wir uns treffen können. Er kann uns bestimmt etwas über diesen Johann Ernst Schneller erzählen. Sowie ich Hans erreicht habe, sage ich dir Bescheid.«

Wieder im Antiquariat, fiel Simon beim Katalogisieren ein Buch aus dem Jahr 1751 in die Hand: »Deutliche und ausführliche Nachricht vom Rauch- und Schnupf-Taback, worinnen von dessen Nahmen, Uhrsprung, Pflantzung, Principiis chymicis, Würckungen in der Medizin und Chirurgie, vom Rauchen und dessen Mißbrauch und erfolgenden Schaden, vom Nutzen des Rauchens, vom wahren und schädlichen Gebrauch des Schnupff-Tabacks gehandelt wird.« Es folgte noch ein Untertitel. Simon schmunzelte. Er liebte spätbarocke Buchtitel. Plötzlich fiel ihm ein, daß dieses Buch im gleichen Jahr wie seine Ausgabe der »Insel Felsenburg« erschienen war, sich also auch in der Bibliothek von Johann Ernst Schneller befunden haben könnte. Beide Bücher hatten das gleiche Format. Da kam ihm eine Idee, wie er Hans Hilbrecht sein Interesse an Schneller erklären könnte. Denn der Dresdner Jurist würde ihn bestimmt danach fragen. Eine Idee, die auch unter anderen Gesichtspunkten sinnvoll erschien. Er meldete sich telefonisch bei seinem Buchbinder und vereinbarte einen Termin für den nächsten Tag.

Später rief der junge Antiquar an. Er hatte die Bücher, Karten und Stadtansichten noch nicht veräußert. Nachdem Simon sich nun doch am Ankauf des gesamten Konvoluts interessiert zeigte, feilschten sie eine Weile um den Preis und einigten sich schließlich. Der junge Kollege versprach, in den nächsten Tagen zu liefern.

»Es kommt Zug in den Kamin«, stellte Simon fest und lehnte sich zufrieden zurück.

3. Kapitel

Nach einem späten Frühstück packte Simon die »Insel Felsenburg« und das alte Tabakbuch in seine Aktentasche und rief ein Taxi. An der Haustür schlug ihm die Sommerhitze wie eine Wand entgegen. Mächtige Kastanien überkronten die Straße und verwandelten sie in eine flirrende Landschaft aus Licht und Schatten; die drückende Hitze konnten sie jedoch kaum mildern.

Simon stieg in der Goltzstraße im Bezirk Schöneberg aus und betrat den Flur des renovierungsbedürftigen Altbaus, in dem es angenehm kühl war. Im Hinterhaus hatte Werner im dritten Stock seine Buchbinderei eingerichtet. Werner Schultz war ein Riese von fast zwei Metern mit gigantischen Händen. Simon begrüßte ihn wie immer sicherheitshalber ohne Handschlag. Die beiden hatten sich an der Freien Universität kennengelernt. Werner hatte sein Studium der Philosophie bald abgebrochen und war, der Theorie überdrüssig, bei einem Buchbinder in die Lehre gegangen. Später übernahm er dessen Geschäft. Er beschäftigte sich hauptsächlich mit der Restaurierung wertvoller, alter Bücher. Glücklicherweise hatte Werner für Simon gerade zwei schwer beschädigte Bücher aus dem 18. Jahrhundert aufgearbeitet, und Simon konnte nun dessen handwerkliches Geschick wie schon oft ausgiebig loben, ohne übertreiben zu müssen – für Werner fast wichtiger als die Bezahlung.

»Ich habe eine große Bitte, die du wahrscheinlich als eine Art Anschlag empfinden wirst«, leitete Simon sein Anliegen ein und packte die beiden Bücher aus. Wie immer ließ er Werner Zeit, sich die mitgebrachten Bücher in Ruhe anzuschauen. Simon hatte sein Erstaunen erwartet.

»Was bringst du mir diese beiden Herrlichkeiten? Nicht einmal eine Schönheitsoperation ist hier nötig.« Für Werner waren alle restaurierungsbedürftigen Bücher Patienten und er der behandelnde Arzt. Simon hatte keine Ahnung, wo Werners Neigung zu dieser medizinischen Betrachtungsweise herkam.

»Wenn man jedes Buch für sich nimmt, hast du recht. Ich möchte, daß du die Buchblöcke vom Einband trennst und sie gegeneinander vertauscht wieder neu einbindest. Auch die beiden Titelprägungen auf den Buchrücken, glücklicherweise sind sie fast gleich groß und bei beiden Büchern aufgearbeitet, müssen vertauscht werden, natürlich ohne daß man es anschließend bemerken kann, ein Laie jedenfalls nicht. Glaub mir«, Simon reagierte schnell auf Werners entsetztes Gesicht, »ich brauche die Bände schnell zurück und habe einen sehr wichtigen Grund dafür.«

»Du bist verrückt, du bist doch Antiquar! Wie kannst du so in das Leben dieser schönen Bücher eingreifen wollen? Du zerstörst ihre Geschichte!«

Simon hatte die Reaktion vorausgesehen. Werner war in dieser Beziehung außerordentlich empfindlich.

»Werner, ich habe dich noch nie um so etwas gebeten. Ich weiß natürlich genau, daß man den Büchern das eigentlich nicht antun darf. Aber ich habe wirklich sehr schwerwiegende Gründe.«

»Unmöglich!« Werner stand ärgerlich auf und ging zum Fenster. »Erstens kann ich eine so offensichtlich überflüssige Arbeit nicht annehmen und zweitens schon überhaupt nicht unter diesem Zeitdruck. Weißt du denn …«

»Natürlich«, Simon unterbrach ihn, »natürlich weiß ich, daß du dafür eigentlich mehr Zeit brauchst, nicht nur Arbeitszeit, sondern Ruhezeit für die Patienten, für die Materialien, für die Klebstoffe, die Papiere. Aber ich habe diese Zeit nicht. Ich muß die Bücher so schnell wie möglich zurückhaben, jedenfalls das Tabakbuch in dem Maroquineinband. Du willst doch nicht, daß ich damit zu einem Kurpfuscher gehe?«

»Das ist Erpressung!«

»Montag?«

Werner kam vom Fenster zurück und begutachtete traurig beide Bücher noch einmal in Ruhe. Simon hatte gewonnen.

»Also gut, Montag.«

Simon schlenderte ziellos über den Markt auf dem Winterfeldtplatz, den er seit vielen Jahren nur noch hin und wieder besuchte. Früher, als er hier in der Nähe wohnte, gehörte der Einkauf auf dem Markt zu seinem wöchentlichen Ritual. Es waren Monate seit seinem letzten Besuch vergangen. Er genoß es, sich vom Marktgeschehen treiben zu lassen, von den vielen Besuchern, den lauten Stimmen der Händler, den Gerüchen und den bunten Bildern, die sich seinen Augen boten. An seinem alten Imbißstand aß er ein Würstchen, wie immer freundlich begrüßt von der Inhaberin, die nun wohl schon mehr als ein halbes Leben hier im Kiez ihren Imbiß betrieb.

Zwangsläufig erinnerte er sich an seine Frau Hanna, die er hier auf dem Markt kennengelernt hatte und die jetzt schon fünfzehn Jahre tot war. Mit seinem Freund Hubert gestorben bei einem Autounfall auf der Kantstraße. Auch Claudia und er selbst hatten im Auto gesessen, auf dem Rücksitz. Sein schwer verletztes Knie behielt einen dauerhaften Schaden, seitdem brauchte er einen Stock als Gehhilfe.

»Ich habe Sie lange nicht gesehen.« Die Wurstfrau hatte gerade niemanden zu bedienen. »Wohnen Sie überhaupt noch in Berlin?«

»Ja natürlich, in Wilmersdorf. Ich komme leider nur noch selten hier vorbei.«

Eine kleine Gruppe hungriger, jugendlicher Touristen unterbrach ihr kaum begonnenes Gespräch. Mit dem Versprechen bald wiederzukommen und einem Abschiedsgruß ging Simon zum U-Bahnhof Nollendorfplatz.

Man erwartete ihn in der Buchhandlung erst später, denn er hatte für das Gespräch mit Werner sicherheitshalber ein Essen eingeplant, falls dieser sich heftiger gegen den Auftrag gesträubt hätte. Er wäre auch gern mit Werner essen gegangen. Aber er wollte ihm jetzt nicht die Gelegenheit geben, es sich noch einmal zu überlegen.